Berthold Auerbach
Spinoza
Berthold Auerbach

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12. Cartesianer

Spinoza und Oldenburg standen lächelnd vor Meyer, der in einem länglichen Glase voll Wassers eine fratzenhafte gläserne Teufelsgestalt auf und niederschweben, sich drehen und verbeugen ließ, indem er auf den elastischen Stöpsel drückte und dabei allerlei Beschwörungsformeln der Magie deklamierte; bald ging er aber von dem Spiel zu der Bemerkung über: »Ist die ganze Philosophie eigentlich mehr als der angefangene hohle Begriff, das gläserne Teufelchen im Glase?« Niemand antwortete darauf und er fuhr, zu Spinoza allein gewendet fort: »Wie gefällt dir das cartesianische Teufelchen? Vor zweitausend Jahren hätte der Schöpfer eines solchen Wunders ein Religionsstifter werden können, und im verborgensten Winkel der Erde würden ihm noch heute Loblieder gesungen und würde seine Hilfe angerufen.«

»Das ist sehr zu bezweifeln,« war die Antwort; »ohne eine neue weltbewegende Idee hat kein sogenannter Wundermann sich im Andenken erhalten; das cartesianische Teufelchen ist winzig gegen die Wunder, welche jüdische Kabbalisten verrichtet haben sollen.«

»Erzähle doch,« bat Meyer, und Oldenburg machte ein saures Gesicht als Spinoza begann.

»In meines Vaters Hause ist eine alte Magd, namens Chaje – sie ist aus Deutschland und voll von Märchen- und Wunderglauben der deutschen Juden – sie hat mir einst erklärt, warum man zu Prag das Lied am Freitag abend, worin Israel eine mystische Ehe mit dem Sabbat schließt, zweimal singt. Es lebte vorzeiten in Prag ein großer Kabbalist, der hohe Rabbi Löw genannt; dieser formte aus Lehm eine menschliche Gestalt, hinten am kleinen Gehirn ließ er eine Öffnung, in welche er ein Pergament legte, darauf der unaussprechliche Name Gottes geschrieben war. Sogleich erhob sich der Kloß und ward ein Mensch; er verrichtete seinem Schöpfer alle Dienste eines Knechtes, er holte Wasser, spaltete Holz und dergleichen mehr; man kannte ihn in der ganzen Judengasse unter dem Namen: der Golem des hohen Rabbi Löw. Jedesmal am Freitag abend nahm ihm sein Herr das Pergament aus dem Kopfe, dann war er wieder Lehm bis Sonntag Morgens. Einst hatte der Rabbi diese Verrichtung vergessen, alles war in der Synagoge, man hatte soeben das sabbatliche Minnelied begonnen; da stürzten Frauen und Kinder in die Versammlung und schrieen: der Golem, der Golem zerstört alles. Sogleich befahl der Rabbi dem Vorsänger, mit dem Schlusse des Gebetes inne zu halten, jetzt sei noch Rettung möglich, später aber könne er nicht mehren, daß die ganze Welt zerstört würde. Er eilte nach Hause und sah wie der Golem eben die Pfosten seines Hauses erfaßt hatte, um das ganze Gebäude einzureißen; er sprang hinzu, nahm ihm das Pergament und toter Lehm lag wieder vor seinen Füßen. Von dieser Zeit an singt man in Prag das sabbatliche Brautlied stets zweimal. Der hohe Rabbi Löw hat gewiß nicht an Cartesius gedacht, und doch hatte sein Golem so viel Leben als alle Menschen, wenn man sich mit der neuen Ansicht vereinigt: der Zusammenhang zwischen Seele und Körper sei so locker, daß er jeden Augenblick aufgehoben und wieder hergestellt werden könne.«

Meyer schien die polemische Schlußwendung nicht zu beachten, denn er sagte: »Wenn ich meinen Briefwechsel zwischen Adam und Eva herausgebe, soll dein Golem einen Ehrenplatz darin bekommen.«

Mit offenbarem Mißmute wendete sich Oldenburg an Spinoza: »Meyer mag immerhin auf derlei seltsame Geschichten Jagd machen, die er wie seine Schmetterlinge und Käfer aufspießt und systematisch ordnet; für meinen Geschmack liegt in der von dir erzählten Legende etwas jüdisch Vergrämtes. In der Judengasse einen von der Kabbala geschaffenen Weltzerstörer auftreten lassen! Hatte man ihn noch nach der freispielenden Weise der Volkssagen eine Liebschaft mit einem Mädchen anknüpfen lassen, die jedesmal am Sabbat vergebens seiner harrt, oder hätte man ihn zum Großwesir oder zu einem anderen Minister avancieren lassen, den sein Meister buchstäblich jeden Augenblick in Staub verwandeln und wieder zum großen Herrn erheben kann, da wäre doch auch noch Poesie oder Satire bei der Sache; so aber gefällt mir der Golem unseres Herrn und Meisters dort viel besser; sieh nur, seine Verbeugungen sind so graziös, daß ihn keine Dame am Hofe des XIV. Ludwig darin übertrifft.«

»Herr und Meister,« wiederholte Spinoza, »das ist zu viel, ich bin weder sein Knecht noch sein Lehrjunge.«

»Was muß ich hören?« fragte Meyer verwundert, »wie lange ist es her, daß du mit mir begonnen hast sein System zu erforschen, und du willst schon darüber hinaus, während ich noch froh bin, ihn nur zu verstehen?«

»Mir wird's bange um unsere Freundschaft,« setzte Oldenburg hinzu, »du hast ja oft gesagt, zwischen Freunden müsse eine Gleichheit der geistigen Mittel vorhanden sein, und ich konnte es noch nicht einmal dahin bringen, das System ganz zu fassen. Allerdings waren es anfangs hauptsächlich die wunderlichen Äußerlichkeiten, die mich zu der neuen Lehre des Cartesius hinzogen; ich forschte gern mit ihm in den Eingeweiden eines Kalbes, die er seine Bibliothek nannte, es gab da allerlei überraschende Erscheinungen; aber bis zum Lebenspunkt seines philosophischen Systems konnte ich nie hinandringen. Ich verriegelte meine Tür, ich verhing meine Fenster, setzte mich in einen einsamen Winkel und bannte meinen Geist auf das Buch; durch zwei, drei Sätze, eine halbe Stunde, ja auch eine Stunde folgte ich ihm ganz, da hüpfte, ohne daß ich es wußte, ein fremder Gedanke zwischen den Zeilen herum, ein früheres Erlebnis, ein Wunsch, besonders aber die Erinnerung an ein Mädchen, das ich damals heiß und innig liebte, hatte sich zwischen die Propositionen, Axiome und Korolarien hineinverirrt, und ich merkte erst spät, daß ich den letzten Grund der Dinge hatte erforschen wollen, und nicht von den Alltäglichkeiten weg konnte. Ich legte dann das Buch weg, griff nach einem anderen oder ging fort und zerstreute meinen Ärger und meine Grillen.«

»Wie kommt es aber, daß du für einen so enthusiastischen Anhänger des Cartesius giltst und mitunter auch ein solcher bist?«

»Da muß ich etwas weit ausholen. Eigentlich bin ich dadurch am meisten Cartesianer, daß ich fast denselben Wirrwarr durchgemacht habe, wie der Stifter dieser Schule selbst. Mein Vater war Pastor in meinem Geburtsorte; von meiner Kindheit an saß ich in seiner Bibliothek und las alles durcheinander, Hexengeschichten, wirkliche Historien, anatomische, alchimistische und theologische Werke, es war mir alles gleich, wenn ich nur etwas zu lesen hatte. Als ich älter wurde, geriet das durcheinandergeschüttelte Wissen in eine furchtbare Gärung; Religionszweifel kamen dazu, ich hatte an keinem Dinge und an keiner Beschäftigung mehr ein wahres Behagen. Nach meines Vaters Tode führte ich einige Zeit, zum großen Ärger der ehrsamen Bürger meiner Vaterstadt, ein ziemlich lockeres Leben, aber auch das gefiel mir nicht mehr; ich schnürte mein Bündel und ging als Freiwilliger unter die Fahne Gustav Adolfs. Bei der Kontribution, die das schwedische Heer von meiner Vaterstadt eintreiben wollte, ward ich als Vermittler gebraucht, und erlangte hierdurch ein ziemliches Ansehen bei meinen Mitbürgern. Das Kriegshandwerk – denn weiter war es nichts – ward mir auch bald entleidet. Mitten im Lager wie auf dem Marsche überraschte mich wieder der Zweifel an allem Glauben, für dessen Unterschiede man hier so blutig kämpfte. Das war ein ewiges Morden, man wußte zuletzt gar nicht mehr wofür; der aberwitzigste aller Gemeinbegriffe, die Bravour, machte sich allein und ganz für sich geltend. Man sah, wie Hugo Grotius sagt, Städte und Länder als Leichen, auf daß man sich nicht mehr über den Tod eines einzelnen grämen sollte. – Ich zweifelte lange, ob ich recht täte, ein geringfügiger Umstand entschied endlich; ich nahm meinen Abschied und ging auf die Universität nach Utrecht. Studenten und Professoren waren damals auch in zwei Heereshaufen geteilt; du kannst dir denken, daß ich nicht lange schwankte und mich gegen den frommen Pfaffen Gisbert Vötius für die Partei des Regius entschied. Dieser lehrte die neue Philosophie des Cartesius. Ich war damals erst einundzwanzig Jahre alt, voll Übermut und abenteuerlichen Sinnes, und da ich als ehemaliger Offizier auch eine ziemlich gute Klinge führte, gewann ich bald unter den Studenten eine gewisse Autorität.«

»Ja, ich darf wohl sagen,« fiel hier Meyer ein, »ich habe Oldenburg getreulich darin sekundiert, den Vötianern den Glauben beizubringen, daß sie prädestiniert seien, sich von uns Zirkumflexe und allerlei andere Kainszeichen ins Gesicht schreiben zu lassen.«

»Wie hattet ihr doch eine weit lebendigere Jugend als ich!« schaltete Spinoza mit einem Seufzer ein. »Das ist die Frage,« erwiderte Meyer und Oldenburg fuhr in seiner Erzählung fort: »Als Regius stets bitterer von Bötius Vater und Sohn ohne Geist verfolgt wurde, zogen wir eines Abends vor das Haus seiner Magnifizenz und führten dort eine Katzenmusik auf. Ich wurde, als einer der Rädelsführer, relegiert, Meyer schlüpfte mit heiler Haut durch, und so war ich nun der Märtyrer einer Lehre, die, wie ich später einsah, Regius selber nicht recht verstanden hatte. Ich trieb mich noch einige Zeit in Holland herum, hielt mich mehrere Monate bei Cartesius selber auf, ich kenne fast alle einzelnen Sätze seiner Lehre, aber die erforderliche innere Beschaulichkeit, um das Keimen dieses an den Gittern der Mathematik sich hinaufrankenden Getriebes zu belauschen, die konnte ich mir nie recht aneignen.«

»Mir ging es auch oft so,« sagte Meyer, »daß ich von meiner philosophischen Kreuzfahrt, auf welcher ich das heilige Grab hatte erobern wollen, unverrichteter Sache, oder wie unser Sprichwort sagt, mit dem Strumpf auf dem Kopfe zurückkam.«

»Oldenburg hat das Streben besser als ein Streben nach Beschaulichkeit bezeichnet,« entgegnete Spinoza, »Blick' umher, bald hier bald dort erkennst du Täuschung, Wahn und Irrtum; was bürgt dir dafür, daß nicht alles, was sich dir darstellt, was du mit freiem Bewußtsein in dich aufgenommen, und was deine Seele von jeher erfüllt, nichts als Wahn und Täuschung ist? Was ist so fest und tief eingesenkt, das nicht der Zweifel auflockern könnte? Darum schließe die Augen, sage dich los von allem, was um und an dir ist, und jetzt, so zurückversenkt in dein bloßes eigenes Selbst, die ganze Welt der Erscheinungen ins Nichts zurückgeschleudert – bist du vielleicht selber auch ein Nichts? Woher weißt du, daß du wirklich existierst? ... Hier bist du an dem äußersten Endpunkt des Zweifels und hier ruft dir eine innere Stimme zu: ich, ich bin, denn ich denke, ich bezweifle mein Sein, ich, das Denkende, das Bezweifelnde in mir, ich bin – und wenn alles um mich her in Wahn und Schatten zerfließt. Hast du mit dem Zweifel begonnen, so darfst du bei keinem willkürlichen Ruhepunkt innehalten: warum denn nur an den höheren geistigen Dingen zweifeln, gibt dir die Körperwelt eine festere Gewißheit, weil sie sich deinen Sinnen darstellt? Sind denn die Sinnentäuschungen nicht noch zahlreicher als die Täuschungen unseres Herzens und unserer Phantasie? Kannst du dich nicht als rein geistiges körperloses Wesen denken, kannst du nicht alles, was dir vorher Gewißheit war, wie zum Beispiel daß dein Körper wirklich existiere, als Vorurteil ablegen, so wirst du vergebens nach unumstößlicher Wahrheit ringen. Kannst du es aber, und hast du so den Mittelpunkt deines Selbstbewußtseins erfaßt, nun wohlan! so öffne die Augen, laß sie herantreten all die Dinge, die sich ehedem in deinen Gedanken befestigt hatten, nichts laß ungeprüft beharren, du hast einen Maßstab für die Wahrheit und Existenz eines jeden Dinges: was sich dir so unumstößlich herausstellt wie das Bewußtsein deines eigenen Selbst, das allein ist Wahrheit.«

»Ich verstehe dich,« sagte Meyer, »du kommst auf den Grundsatz der Alten hinaus: der Mensch ist das Maß der Dinge; der innere Mensch wie der äußere ist Maßstab, wie man ja auch in die Bilder Menschenfiguren setzt, um an ihnen die Größenverhältnisse der Gegenstände zu veranschaulichen. Der Mensch ist das ideale allgemein gültige Ellenmaß der Welt.«

»Wenn aber einer in fortgesetztem Zweifel spräche,« fiel hier Oldenburg ein, »noch habe ich keine vollkommene Gewißheit von jener Grundwahrheit, die mir als Norm dienen soll, und ich weiß noch immer nicht, ob mir wirklich ein Erkenntnisvermögen innewohnt?«

»Der spräche entweder gegen sein eigenes Bewußtsein, oder wir müssen annehmen, daß es Menschen gäbe, die innerlich von Geburt oder durch Vorurteil, das heißt also durch irgend einen äußern Grund, geistig erblindet sind. Denn diese denken sich selber nicht; bejahen oder bezweifeln sie etwas, so wissen sie nicht, daß sie dies tun; sie sagen, sie wüßten nichts, und selbst das, daß sie nichts wüßten, wüßten sie auch nicht. Sie sagen das nicht so absolut, denn sie fürchten zu bekennen, daß sie als Nichtwissende existieren, so daß sie am Ende schweigen müssen, wenn sie nicht etwas anerkennen wollen, das doch Wahrheit in sich schließt. Kurz, mit solchen kann man von Wissenschaft nicht reden, denn im täglichen Leben und Verkehr zwingt sie die Notwendigkeit anzuerkennen, daß sie sind, daß sie ihren Vorteil suchen, und sogar eidlich das eine bezeugen und das andere ablehnen. Beweist man ihnen aber sonst etwas, so wissen sie nicht, ob der Beweis da ist; verneinen, bejahen oder streiten sie, so wissen sie von alledem nichts, sie sind also seelenlose Automaten. Für den vernünftigen Menschen aber sind die Beweise die Augen des Geistes. Wir können die unsichtbaren Dinge, die nur Gegenstand des Denkens sind, mit keinen anderen Augen sehen als mit den Beweisen.«

»Du wirst ja ganz eifrig,« sagte Meyer, »Lucian hat das Ganze mit einem Scherze abgemacht, indem er einen radikalen Zweifler als Sklave verkauft werden läßt und dieser noch unter der Peitsche seine Sklaverei bezweifelt.«

»Wozu aber bei Cartesius,« fragte Oldenburg wieder, »dieses unerquickliche Würfeln mit Vierecken, Dreiecken und allen Teufelsecken?«

»Die mathematische Beweisführung,« entgegnete Meyer, »ist die einzig richtige. Die Definitionen sind die genauen Darstellungen dessen, was mit dem Namen und den Eigenschaften eines Gegenstandes bezeichnet wird; die Postulate und Axiome, mit denen der Beweis geführt wird, sind solche Gemeinbegriffe, daß, wer nur das Abc weiß, übereinstimmen muß.«

»Du mußt es noch näher und bestimmter fassen,« ergänzte Spinoza. »Die Definitionen drücken nur das Wesen einer Sache aus, ihre Eigenschaften können nicht aus den Definitionen, sie können nur aus der Erfahrung erlernt werden. Mit den mathematischen Gesetzen allein können wir alles, alle Vorgänge des Denkens und der Erscheinungswelt erfassen und verfolgen. Alles ist notwendige und ewige Folge seines Urgrundes. Die mathematischen Wahrheiten allein haben dieselbe innere Notwendigkeit und äußere Evidenz wie das Bewußtsein unserer selbst. Auf dieselbe Weise, wie ich bestimmt weiß, daß ich bin, weiß ich auch, daß die drei Winkel eines Dreiecks gleich seien zwei rechten. Das Verwickelte der höheren mathematischen Beweise ändert an der Sache nichts, da sie alle auf denselben einfachen und unumstößlichen Prinzipien beruhen, und jedes Mittelglied ihres notwendigen Fortschritts so unumstößlich ist, als das Prinzip an sich. Die Zahl als solche ist erste und feste Begriffsbildung, sie sieht von den Besonderheiten der Dinge ab und faßt nur ihr Bestehen: Äpfel, Bäume, Menschen, Tiere lassen sich darunter fassen. Dem weiterschreitenden Aufbau reicht die Zahl nicht mehr aus und er macht aus der einen Begriffsabstraktion eine zweite, er setzt Buchstaben statt Zahlen. Wie weit ab liegen nun die Einzelgegenstände, und doch muß man wieder jeden Augenblick zu ihnen zurückgreifen können, in der Aufstellung des Gesamtdenkens aber wären sie hinderlich, hier ist man nur mit dem reinen Gedanken –«

»Und wem da oben schwindelt, der bleibe auf dem Boden,« schaltete Meyer scherzend ein, und Oldenburg fragte näher eingehend: »Glaubst du, daß es eine mathematische Psychologie geben kann?«

»Nenne es immerhin so,« nahm Spinoza wiederum auf, »die Bedingungen und Bewegungen unseres Denkens und Empfindens haben ebenso feste Normen wie alles Naturdasein; sie sind ebenso berechenbar, sie müssen es sein; nur hindert uns, daß wir selbst es sind –«

»Und Gewohnheit und Affekte uns einen Strich durch die Rechnung machen,« ergänzte Meyer. »In dir ist Cartesius zum zweiten Male Renatus. Wiedergeboren. Cartesius hieß mit dem Vornamen Renatus, und dieses Wortspiel findet sich in einem Gedichte vor dem ersten Werke Spinozas, das Ludwig Meyer mit einer Vorrede versah. Hat der Meister die Eingeweide eines Kalbes seine Bibliothek genannt, so hast du eine viel bessere. Ihr habt beide die scharfe Waffenführung in Feindeslager gelernt. Daß den Cartesius die Jesuitenschule und dich die Talmudschule bildete und weckte. Welche wunderbare Wege hat die Geschichte. Aber ich sehe dich noch weiter gehen. Ich sehe noch, wie du gleich unserem Admiral Tromp mit einem Besen auf dem Hauptmast durch das Weltmeer segelst, zum Zeichen, daß du das Lebenselement von herrschsüchtigen Vorurteilen gesäubert hast.«

Spinoza ging leicht auf die neckische Art des Freundes ein und suchte, bei dem Gegenstande bleibend, nur noch zu erklären, daß eben jener Strich durch die Rechnung gewissermaßen Gegenstand derselben sein müsse, daß die Affekte nicht verworfen, sondern als Naturgesetze erkannt werden müssen.

Meyer versuchte es auf alle Weise, das Geistesgetriebe Spinozas sich zu zerlegen, er kam deshalb auf dessen Studiengang mit ihm zu sprechen. »Ich habe darüber nachgedacht,« sagte er eines Tages zu ihm, »was du mir unlängst über das Studium des Talmuds gesagt hast, und glaube darin den Grund zu finden, warum ihr Juden so leicht jede Begriffsleiter hinauf- und hinabklettern könnt; überspringt ihr auch zwei oder drei Sprossen, ihr tretet doch nie fehl. Das kommt gewiß vom Talmudstudium, das euch schon früh an ungebundene Geistesgymnastik gewöhnt. Wir aber, ich darf nur mich zum Beispiel nehmen, wir werden ganz anders traktiert; soll ein in uns liegender Gedanke zur Welt gebracht werden, da kommen die katechetischen Hebammen, und nach den eingelernten Künsten und Handgriffen wird der Embryo zu Tage gefördert, darauf legt man ihn in Baumwolle und bindet ihn in ein Kissen, damit er ja nicht erfriere, und wenn er größer wird, lernt er am Laufbande gehen.«

»Ich kenne eure Unterrichtsweise zu wenig,« entgegnete Spinoza, »und kann auch nicht recht begreifen, wie eine Religion mit dogmatisch-historischer Basis auf sokratische Weise entwickelt werden kann; in dem, was du aber von den Juden sagst, magst du wohl recht haben. Es ist ihnen schon oft gelungen, gleich David mit einem aus freier Hand geworfenen Schleuderstein einen gepanzerten und im regelrechten Fechten geübten Kämpen niederzustrecken; aber dieser Mangel an Disziplin ertötete auch meist alle wahre, streng geordnete Wissenschaftlichkeit unter den Juden. Mein Bestreben ist, mich von jenem vagabundarischen Geistesleben zurückzuziehen und den Bau einer Wissenschaft von Punkt zu Punkt zu verfolgen. Cartesius ist hiebei mein verlässiger Geleitsmann.«

Wie wundersam ist es, daß an einem Baume die tausend Blüten allzumal aufbrechen, sie sind nur ein Blütenkelch und die zahllosen Bäume nur ein Blütenbaum, dem Menschenauge aber als Tausende sich darstellend. So auch erschließen sich im Menschengeiste die Blüten allzumal, es ist ein einziger Trieb, der die Erkenntnis, die Tatkraft, die Güte und die Liebe erschließt, wir aber vermögen sie nur vereinzelt wahrzunehmen.

Das Reich der Erkenntnis und das Glück der Freundschaft erschloß sich Spinoza zugleich, ja sie waren eins, denn Erkenntnis ist das freudige Erfassen des Gesetzes außer uns, das Bestreben und Bewußtsein der Übereinstimmung mit ihnen, und Freundschaft ist die lebendige Betätigung desselben in fester Erscheinung und mit gleichem Drange uns zustrebend.

Noch ein drittes regte sich mächtig in Spinoza, das er nicht zu nennen wagte.


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