Berthold Auerbach
Spinoza
Berthold Auerbach

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4. Die Synagoge

Noch lag ein leichter Nebel über den Straßen Amsterdams, die goldenen Buchstaben der Worte בית יעקב (Jakobshaus) über dem Portale der Synagoge auf dem Burgwall glänzten nur matt, aber schon drängten sich in großer Anzahl Männer und Frauen durch die sieben Säulen, welche die Vorhalle der Synagoge bildeten. Auch Baruch, sein Vater und der Fremde waren dort. Am inneren Eingange trat jeder vor eines der zwei Marmorbecken neben den beiden Türpfosten, drehte den messingenen Hahn des Brunnens und wusch sich die Hände: Baruch beobachtete hiebei die Vorschrift des Talmuds, daß er die rechte Hand zuerst wusch. Darauf stieg man drei Treppen hinab, denn jede Synagoge muß in der Tiefe sein, weil geschrieben steht: Aus der Tiefe ruf' ich zu dir Jehovah (Ps. 130,1.). Jeder der Anwesenden legte dann ein großes wollenes Tuch, dessen Enden drei blaue Streifen durchliefen, und an dessen vier Ecken Schaufäden herabhingen, über die Schultern; die Frömmsten, und unter ihnen auch Baruch, bedeckten noch den Hut damit. »Wie schön sind deine Gezelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!« (3. Buch Mos. 25, 5.) sang ein gut eingeübter Knabenchor; und hier wurden diese Worte nicht zur Ironie, denn das einfach erhabene Innere des Gebäudes war schön geziert. Am oberen Ende auf der Seite gegen Osten, wo einst die heilige Stadt Jerusalem gestanden, und wohin der Jude beim Gebete sein Angesicht kehrt, dort wurden von zwei steinernen Löwen die Tafeln gehalten, auf denen die zehn Gebote eingegraben waren. Sie standen über der heiligen Lade und rings umher im Halbkreise waren blühende Mandel- und Zitronenbäume in buntbemalten Kübeln aufgestellt. Denn alljährlich, seitdem sie vertrieben waren aus ihrem spanischen Vaterlande, sendete man hinüber nach der katholischen Halbinsel, holte Bäume mit dem vaterländischen Erdreich, in dem sie aufgesproßt waren, und schmückte damit die Synagoge; man mochte sich dann auf einige Stunden zurückträumen in die heimischen Gefilde. Das lange Frühgebet, das der Vorsänger laut sprach, bot Muße genug zu allerlei Betrachtungen; doch als er endlich das »Schema Israel« (5. Buch Mos. 6, 5.) begann, sie! die ganze Gemeinde mit lauter Stimme ein; es war kein harmonisch gebundener Gesang, das ganze Gebäude erdröhnte wie von wildem Feldgeschrei; denn das war ja ihr Schlachtenruf, mit dem sie das Leben und den Tod tausendfach besiegten: Höre Israel, Adonaj unser Gott ist ein einiger Gott! Der Geist aller wollte sich mit Macht hineindrängen in den unerforschlichen Urgrund des Gottesdaseins. Auch Baruch drückte seine zitternden Augenlider fest zu, seine Hände ballten sich krampfhaft, alle Nerven durchzuckte ein heiliges Beben, das ganze Bewußtsein mit seinen nach der Außenwelt strebenden und von ihr angezogenen Strahlen wurde zurückgedrängt in den einen Lichtpunkt, wo es sich findet in Gott. Mit himmelwärts gekehrtem Antlitz sprach er den Vers, indem er nach der Vorschrift der alten Weisen sich alle die Todesgefahren und Qualen vor das innere Seelenauge führte, die er für den Glauben an die Einheit Gottes freudig zu ertragen bereit war. Wie mit frischem Himmelstau getränkt fühlte er seine ganze Seele durch diese Erhebung. – Das Frühgebet war zu Ende, die beiden Flügeltüren der heiligen Lade wurden geöffnet, eine schimmernde Reihe von Gesetzesrollen, die in Goldbrokat gehüllt und mit Goldblech und Edelsteinen geschmückt waren, zog die Blicke der Versammlung nach der heiligen Stätte, wo von den drei angesehensten Männern der Gemeinde wechselsweise die Namen der Städte und Länder genannt wurden, in denen glaubensstarke Juden sich dem Opfertode geweiht; die vorzüglichsten unter diesen Märtyrern wurden aufgezählt, und zum Schluß das Totenregister des letzten Jahres verlesen. Rahel Spinoza war mit unter den ersten derselben, ihr Name wurde mit Segen genannt und der milden Stiftung erwähnt, die sie für die Talmudschule »Gesetzeskrone« hinterlassen hatte. Mit wehmutsvollem Blicke sah Baruch seinen Vater an, denn in das heilige Andenken an seine Mutter mischte sich die rätselhafte Erwähnung ihrer moriskischen Abstammung. – Die heilige Lade wurde wiederum geschlossen und Rabbi Isaak Aboab trat an den in der Mitte der Synagoge stehenden Altar. Es war ein schmächtiges, blatternarbiges Männchen mit hoher Stirne und weit herausliegenden grauen Augen, ein roter Bart umgab Wangen und Kinn: »Und wandl' ich auch im Todesschattentale, ich fürchte kein Ungemach, dein Stab und deine Stütze, die halten mich aufrecht« (Ps. 23, 3,), sprach er mit schnarrender Stimme. Ein Doppeltext aus dem Talmud wurde noch hinzugefügt und im Verlaufe der Rede fand der gewählte Ausdruck »dein Stab und deine Stütze« die sinnreiche Erklärung, daß unter »Stab« das geschriebene und unter »Stütze« das mündliche Gesetz verstanden werden müsse. Der Prediger stieg dann mit seinen Zuhörern hinab zu dem, »der lebendig eingesargt im Kerker sein Leben verwimmert; die verwilderten Haare seines Hauptes sind sein einziges Ruhekissen, ob es Tag ist oder Nacht, ob der Frühling erblüht oder der Herbstwind die gelben Blätter von den Bäumen pflückt, er weiß es nicht; Moder und Nacht umgibt ihn, aber innen im Herzen ist lichter, wonniger Tag, denn Gott wohnet drin. In seiner Einsamkeit umschwebt ihn ein zahllos Heer von Engeln, die ihn hinwegtragen aus den starren Kerkermauern, weit weg über alle Welten bis zu dem Throne Gottes, wo er anbetend ruht.« Alle Grade der Folter schilderte der Rabbi seinen Zuhörern bis zu jenem höchsten Grade, wo durch Niedertropfen von Wasser auf den Wirbel der Kern der Seele selber angegriffen wird. »Wehe!« rief er, »unsere Augen haben noch all das unnennbare Leid gesehen, das der Herr über uns verhängt; nein, nicht Wehe laßt uns ausrufen, sondern Preis und Dank Ihm, der sie alle erhoben hat sich zu weiden im Glanze seiner Majestät.« Der Übersetzer von Eriras »Himmelspforte« schilderte hier die Wonnen der ewigen Glückseligkeit in all ihrer Überschwänglichkeit und pries jene Lehre, vor der die Engel sich beugen und das Weltall zittert; er schilderte jenes Sichversenken in die Lehre Gottes und seiner Schöpfung, welche den, der in ihren mystischen Kern gedrungen, hienieden schon mit himmlischer Glückseligkeit begabt und ihm Kraft verleiht, zu schaffen und zu zerstören. Mit dem üblichen Schlusse, daß Gott bald seinen Messias senden und Israel wieder in sein Erbteil einsetzen möge, schloß er seine Rede.

Rabbi Saul Morteira, dessen hohe, wohlbeleibte Gestalt uns schon gestern begegnet ist, trat nach ihm an den Altar. »Er verschlingt den Tod auf ewig, und Gott der Herr wischt die Tränen von jeglichem Angesichte und die Schmach seines Volkes wird er abtun von der ganzen Erde« (Jes. 25, 8.), begann er mit leiser Stimme: »Ich sehe mich um in dieser Gemeinde und wieder hat ein Jahr ihre Reihen gelichtet, wieder wird ein Jahr kommen, und mit ihm dieser Tag der Trauer und der Freude, und mancher von uns ist von seiner Stätte gewichen, vielleicht auch ich! Auch ich! Herr, hier bin ich, antworte ich, so du mir rufest.« Bei diesen Worten schlug sich der Rabbi mit beiden Händen auf die Brust, daß die Töne in seinem Munde erzitterten. Er sprach noch lange von der Urplötzlichkeit des Todes und dem Kummer der Überlebenden, schwer verhaltenes Schluchzen ward von der vergitterten Galerie der Frauen vernommen, und auch hie und da aus der Versammlung der Männer; nur wenige, die eine Trauerrede am Sabbat gesetzeswidrig fanden, blieben ungerührt. Auch Baruch standen die hellen Tränen in den Augen, es waren Tränen der Sehnsucht, er fühlte sich seinem Gott so nahe, so innewohnend, daß er zu sterben wünschte, um nie wieder von ihm losgerissen zu werden. »Dränget die Seufzer zurück, die eurer Brust entsteigen wollen, denn Gott der Herr wischt die Tränen von jeglichem Angesicht,« rief der Rabbi. Von der Anwendung seines Textes auf das Schicksal einzelner ging er aus das von ganz Israel über: »denn der Herr wird abtun die Schmach seines Volkes von der ganzen Erde; aber nur die, so das reine göttliche Wort im Herzen wahren, dürfen seiner Verheißungen harren.« Er knüpfte eine geistvolle, aber ziemlich unumwundene und scharfe Polemik gegen das Christentum an diese Worte; mit bitterer Heftigkeit eiferte er aber gegen den klügelnden Menschenverstand, der sich vermesse, selbst das Unerforschliche zu ergründen: »Im Talmudtraktat Chulin wird erzählt: Der Kaiser Hadrian verlangte einst von Rabbi Jehosuah, er solle ihm den Unerschaffenen zeigen, sonst müsse er seine Lehre und seinen Glauben für nichtig halten. Es war ein heißer Sommertag, da führte der Rabbi den Kaiser hinaus ins Freie: Sieh hinauf dort in die Sonne, sprach er zu dem Fürsten. Ich kann nicht, erwiderte dieser, es blendet mein Auge. Sohn des Staubes, sprach der Rabbi, den Strahl eines einzigen Geschöpfes kannst du nicht ertragen, und du willst den Schöpfer schauen?« So erzählte der Redner und schloß Parabeln aus dem Talmud an, wie die (auch aus dem Neuen Testamente bekannten und hier teilweise veränderten) von den Arbeitern im Weinberge und von den Klugen und Törichten, die des Erlösers harren. Mitunter knüpfte er auch höchst ergötzliche Anekdoten daran, die den Zuhörern ein unwillkürliches Lächeln abnötigten. Die Kirche und ihre Diener standen damals noch nicht in jenem frostigen, orakulösen Verhältnisse zu ihren Angehörigen, besonders aber die jüdische Kirche, die alles bieten wollte und mußte, durfte sich auch dem göttlichen Spaß nicht entziehen. Eine heitere Behaglichkeit sprach aus den Mienen aller, als der Rabbi geendet hatte; hier und dort wendete sich einer zu seinem Nachbar, und gab durch Gebärden oder kurze Ausrufe seinen Beifall kund. Es sind Juden, die selten in lenksamer Empfänglichkeit sich ihres Selbst entäußern, vielmehr alles, selbst das Wort ihrer Lehrer mit dem Maßstabe des geoffenbarten Gesetzes und ihrer eigenen Vernunft messen. Darum war es ihnen auch unlieb, nun noch eine Predigt hören zu müssen, denn schon hatte ein Mann mit gedrungener Figur und seiner weltmännischen Gesichtsbildung die von Rabbi Saul Morteira verlassene Stelle eingenommen.

Es war der Mann mit der beispiellosen Frühreife und Universalität des Geistes, der schon in seinem achtzehnten Jahre als angesehener Rabbi auftrat, der, Arzt und Staatsmann, mit Hugo Grotius über die Schönheiten der Theokritschen Idyllenpoesie und mit Rabbi Isaak Aboab über die Mischung der Metalle bei der Bildsäule Nebukadnezars kontroversierte. Es war Rabbi Menasse ben Israel, dessen Frau, eine Enkelin des hochberühmten Don Isaak Abrabanels, ihre Abstammung in gerader Linie bis auf David, König in Israel, zurückführte. –

Mit der linken Hand drückte Rabbi Menasse sich einige Sekunden lang die Augen zu, dann begann er mit klangvoller Stimme, die mächtig aus allen Ecken der Synagoge widertönte: »Haus Jakobs, kommt und laßt uns wandeln im Lichte des Herrn (Jes. 2, 5.). Es erneuert sich heute der Tag, an dem wir dieses Haus einweihten, das wir dem Herrn erbaut, da er uns hier eine Ruhestätte finden ließ vor der Hand unserer Dränger; aber nicht durch die Kraft unserer Hände haben wir alles dieses erreicht. Wenn Gott das Haus nicht bauet, vergebens ist die Mühe der Bauleute. Wir haben dem Herrn hier ein Haus erbaut; aber, o daß sich diese Wände ausdehnten und hinausrückten, so weit das Himmelszelt über die Erde ausgespannt ist, und daß meine Stimme hindränge in alle Welten, daß ich mit Donnersgewalt den Widerhall wecken und ihm diese Worte in den Mund legen könnte, daß ein Echo es dem andern zuriefe: Haus Jakobs, kommt und laßt uns wandeln im Lichte des Herrn. – Ich selbst, ihr wißt es alle, ich hatte einen erlauchten Vater, er wurde endlos gemartert und rettete nichts als das nackte Leben aus den Händen derer, die sich Christen nennen; aber schauet nicht mehr zurück in die finsteren Kerker, sondern blicket auf zum Lichte, das uns allerorten entgegenstrahlt.«

Der Verfasser des Buches »Die Rettung Israels« fuhr in begeisterter Rede, wenngleich oft in schwankenden und gewählten Ausdrücken fort, die Notwendigkeit der Anschließung der Juden an die allgemeine Zeitbildung und deren Bestrebungen darzutun. Unter dem »Lichte des Herrn« begriff er den Klassizismus nicht minder als die Lehre Mosis. Er eiferte gegen die polnischen Juden und Aschkenasim, deren verdüsterte Sitten und niedrige Stellung er hauptsächlich ihrem Mangel an wahrer Wissenschaftlichkeit zuschrieb, und endlich erfreute er die Gemeinde mit dem Amen.

Eine Gesetzesrolle wurde nun unter Freudengesängen aus der heiligen Lade genommen; als sie an Baruch vorübergetragen ward, faßte er den Saum des Goldbrokats, in den sie eingehüllt war, und drückte ihn inbrünstig an seine Lippen. Die Thora wurde auf dem Altar auseinander gerollt, und zu jedem Abschnitte, den der Vorbeter las, war je einer der drei Prediger aufgerufen worden, um den Segen darüber zu sprechen. Beim vierten Abschnitte erhob der Vorbeter seine Stimme laut und rief: Es erhebe sich unser Lehrer und Meister (Doktor und Magister) Rabbi Baruch ben Binjamin!« Baruch Spinoza, der mit diesem Ehrentitel zur Thora gerufen wurde, ward feuerrot; er verließ seinen Synagogenstuhl und begab sich an den Altar, wo er mit zitternder Stimme den Segen sprach. Ein jeder in der Synagoge verwunderte sich über die Beispiellosigkeit, daß diese Ehre einem Jüngling von fünfzehn Jahren zu Teil wurde; nur wenige waren, die solches für unerhörten Mißbrauch hielten, denn Baruch war geliebt von allen die ihn kannten. – Mit dem langen sogenannten Mussaph (hinzugefügtes Gebet) und einigen Schlußgebeten schloß der Gottesdienst.


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