Berthold Auerbach
Spinoza
Berthold Auerbach

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19. Stillleben

Spinoza ging nachdenklich durch die Kalverstraat. »Ei, ei, wie stolz,« sagte jemand: Spinoza kehrte sich um, es war Frau Gertrui Ufmsand, die aus ihrem Fenster im Erdgeschoß heraussah. »Wie geht's?« fragte sie. »Ihr macht ja ein essigsaures Gesicht, Seit der gute Magister Nigritius tot ist, hab' ich Euch nur ein einziges Mal in dieser Straße gesehen, vor ein paar Wochen; Ihr seid mit Olympia van den Ende vorbeigegangen, ich hab' zweimal guten Abend gesagt, aber ihr müßt auch keine Seide miteinander spinnen, keines von euch hat mich gehört oder gesehen. Nicht wahr, es waren doch auch schöne Zeiten, als Ihr alle Tage zu unserem Magister gekommen seid? Aber um mehr als zwanzig Jahre seid Ihr in dieser Zeit älter geworden. Ach! mit unserem Stübchen haben wir unterdessen viel ausgestanden. Zuerst haben wir einen Maler gehabt, der hat sich seinen Abendsegen in der Kirche geholt, wo man mit Gläsern zusammenläutet, dann ist er heimgekommen, toll und voll, und hat uns aus dem besten Schlaf aufgeweckt; nach diesem haben wir eine Witfrau gehabt, die hat das Holz gespart und hat uns den ganzen Tag auf dem Hals gesessen, man hat nicht vor ihr schnaufen können. Mein Mann, der ist gar wunderlich, ich hab' ihr nichts in den Weg gelegt, ich hab's auch meinem Klaas gesagt: es ist eine Witfrau, man kann sich versündigen; er hat ihr doch aufgekündigt. Seit einem halben Jahre steht jetzt das schöne Stübchen leer, und wir haben's erst neu anmalen lassen, es ist alles frisch geputzt und sieht drin aus wie in einem Kirchlein. Ich geh' nicht gern die Treppe hinauf –«

»Geert, sei so gut und mach das Fenster zu, die Spän' fliegen einem alle in die Augen; wenn du mit dem Herrn plaudern willst, geh 'naus und laß ihn 'reinkommen,« rief eine dicke Stimme aus dem Zimmer.

»Kommt ein wenig herein,« sagte Gertrui, das Fenster schließend. Spinoza ging hinein, er sagte, er wolle das Zimmer mieten, er müsse bei seinem Handwerke entweder an einem freien Platze oder hoch wohnen, um gutes Licht zu haben; die Leute glaubten anfangs, er scherze, und waren hoch erfreut, als sie merkten, daß es ernst war. Gertrui zeigte ihm das Stübchen, auf dessen Boden der feine Sand wie ein Spitzengewebe kunstmäßig durchzirkt war; der nach Schiffsweise in eine Wandspinde eingesetzte Bettraum war leer.

»Seht,« sagte die Frau, »das ist noch der Lehnstuhl von unserem Magister, ich hab' alles waschen und ausklopfen lassen, es ist kein Stäubchen mehr darin. Ich kann Euch alles geben, nur kein Bett, die Betten brauch' ich für meine Gesellen; hier, da hat der Magister seine Bücher gehabt, da könnt Ihr auch Eure Bücher hinstellen. Habt Ihr auch die üble Gewohnheit, so auf Tisch, Bank und Stuhl, ja sogar auf dem Boden alle Bücher aufs Gesicht zu legen wie der selige Herr Magister und daß man keines anrühren darf, wenn es nicht ein Donnerwetter geben soll? Ei, habt Ihr nirgends die schöne weiße Amaryllis gesehen, die der selige Magister so gern gehabt hat? Von seinem Todestag an ist sie plötzlich verschwunden und sonst haben diese Geschöpfe doch nur Anhänglichkeit ans Haus und nicht an die Menschen; ich gäb' viel darum, wenn ich sie wieder bekäme, es tät' mir in der Seele weh, wenn sie es nicht gut hätte. Ach, und sie war so klug, sie wußte auf die Minute, wann das rohe Fleisch gebracht wird, und wir wußten nichts von Mäusen.« Spinoza hatte zu seinem Bedauern die Katze nirgends bemerkt. –

Wir sind hier leider wiederum unter die Dachtraufe einer alten Frau geraten, wir dürfen uns indes ihre Redseligkeit schon ein wenig gefallen lassen, da sie unseren Philosophen mit wahrhaft mütterlicher Sorgfalt hegt und pflegt.

Spinoza hatte seine beiden Schwäger, die sich in ihrer Erwartung getäuscht fanden, gerichtlich zur gleichmäßigen Verteilung der Verlassenschaft seines Vaters anhalten müssen; als ihm nun sein Recht geworden war, verzichtete er freiwillig auf sein Erbteil und nahm nichts als ein einziges Bett mit dem dazu gehörigen Vorhange, das er nebst seiner Werkbank und seinen wenigen Büchern und Kleidern in das Haus des Klaas Ufmsand bringen ließ.

Hier endlich war es ihm vergönnt, sein äußeres Leben in vollkommene Übereinstimmung mit den Erfordernissen seines geistigen Naturells zu bringen. – Jener in der Überzeugung gefestete Gleichmut, der den gewaltigen Erregungen auf den Wendepunkten des Lebens wie den Ruhestörungen und Anfechtungen der Alltäglichkeit die gelassene Bedachtsamkeit entgegensetzt; jenes Selbstgenügen, gewonnen durch heitere Verzichtleistung auf den Rausch inhaltloser und abspannender Genüsse; jene Erhebung und Fülle durch den Reichtum des eigenen Innern; ein im heißen Kampfe errungener Seelenfrieden, ein klares Hinausschauen in die Welt, deren Rätsel gelöst und deren ewige Gesetze gefunden sind – das waren die Güter, die er immer bewußter, immer sicherer hier in der Einsamkeit sich aneignete.

Vom frühen Morgen an saß er an seiner Werkbank und arbeitete. Wenn er mit dem scharfen Diamant ein Stück aus der Glasscheibe herausschnitt, so brach er sich zugleich auch aus dem großen System, das ganz, aber roh und unausgearbeitet in ihm lag, eine Idee los; wenn er die bleierne Platte aufschraubte und dem Glase eine bestimmte Gestalt gab, so gewann auch die Idee in ihm immer festere Form, und so durch alle Stadien hindurch, immer bestimmter wurde die Form, immer durchsichtiger der Stoff; mancher Splitter mußte abfallen, manche Ritze ausgeschliffen werden, bis endlich beide das Spiegelbild der Wahrheit in sich widerstrahlten. Wenn er sich dann mit der Hände Arbeit sein Brot verdient hatte, nahm er in nächtlicher Stille beim einsamen Lämpchen seine feingeschliffenen Ideen wieder vor, sammelte den Staub, der von ihnen abgefallen war, und streute ihn darauf, damit er sie undurchsichtig machte, dann wischte er ihn mit leichter Hand wieder ab und zeigte, daß er nicht notwendig dazu gehöre, und daß er die Klarheit nur verdeckt, nicht aufgehoben habe. – So arbeitete, so philosophierte Benedikt de Spinoza.

Nicht lange nach seinem Zurückziehen aus der bewegten Welt mußte er indes auch am Tage einige Stunden von seiner Handarbeit abbrechen, um einen jungen Geist in das Gebiet der Philosophie einzuführen. Meyer brachte ihm eines Tages den jungen Simon de Vries, welcher, seitdem wir ihn flüchtig gesehen, der glückliche Erbe von den reichen Resultaten der Teespekulationen seines Vaters geworden war und sich nun ganz anderen Spekulationen ergab. Spinoza trug ihm einen Kursus über die Prinzipien der cartesianischen Philosophie vor. Auf demselben Zimmer, wo er einst Mensa deklinieren gelernt hatte, in demselben Stuhl, in dem einst der Magister ihm seine Sprachfehler korrigiert hatte, saß er nun und lehrte die cartesianische Philosophie und baute sich dieselbe aus, wie es die Notwendigkeit des Gedankens erforderte. Der ehrenfeste Dodimus de Vries, der einst die verwickeltsten Rechenexempel so schnell im Kopfe gelöst, hatte nicht nur seine zahlreichen vollwichtigen Dukaten, sondern auch seine Fertigkeit im Rechnen auf seinen Sohn Simon vererbt; Spinoza hatte viel Freude an dem jungen mathematischen Talent.

Zwei, drei Tage, und oft noch länger, kam er nicht aus seinem Zimmer; er trennte sich nicht gern von der traulichen Stille, in der er sich so wohlig fühlte, wo Stunden und Tage wie sanfte Wellen, erfrischend und belebend, an ihm vorüberflossen.

Die gute Gertrui war sehr unzufrieden mit ihrem neuen Mietsherrn. »Ich weiß nicht,« sagte sie, »entweder wollt Ihr Euch das Essen ganz abgewöhnen, oder die Raben vom Himmel kommen und speisen Euch, wie den Propheten in der Wüste; von dem, was Ihr von mir verlangt, könnt Ihr unmöglich satt werden. Gestern habt Ihr den ganzen Tag nichts gehabt als eine Milchsuppe, etwas Butter und einen kleinen Trunk Bier, was zusammen mit dem gekauften Wasser und dem Torf viereinhalb Stüber ausmacht, und heute habt Ihr wieder den ganzen Tag an der Hafergrütze mit Rosinen und Butter genug gehabt, die wieder gerade so viel kostet. Ich hab's zusammengerechnet, in einem ganzen Monat habt Ihr im höchsten Fall zwei halbe Pinten Wein getrunken: das ist nicht zum Leben und nicht zum Sterben.«

Spinoza suchte der guten Frau begreiflich zu machen, daß sein Einkommen keinen größeren Aufwand gestatte, daß er sich bei dieser Lebensweise aber ganz wohl fühle.

»Ja,« sagte sie, »man muß sich strecken nach der Decken, das ist ehrlich und rechtschaffen gedacht; aber wenn man die Decke länger machen kann, wär' man nicht gescheit, wenn man da läge wie ein zugeschnapptes Taschenmesser. Die vielen großen und reichen Herren, die täglich bei Euch aus und ein gehen, ich weiß gewiß, sie würden sich ein Vergnügen daraus machen, Euch Geld zu geben; es wär' nicht einmal etwas Geschenktes dabei, sie stören Euch so oft in Eurem Geschäft, daß sie es wohl vergüten dürften. Der Bediente des reichen Simon de Vries ist jetzt schon dreimal da gewesen, und hat Euch zum Essen eingeladen: statt hinzugehen und das Mark von frischen Meerspinnen zu essen, das auf der Zunge wie Butter zerläuft, seid Ihr zu Haus geblieben bei Eurer mageren Milchsuppe. Es ist Euch doch sonst nichts verborgen, und man kann über alles mit Euch sprechen; ich kann nicht begreifen, was Ihr dabei habt, Euch so einzuschränken.«

Die gute Frau wollte sich durch keine Gegengründe überzeugen lassen. »Die Gelehrten haben doch alle besondere Mucken im Kopf,« sagte sie, als sie die Treppe hinabging, und erzählte Oldenburg, der ihr auf der Treppe begegnete, nochmals ihren Disput mit allerlei Variationen.

Auch Oldenburg mißbilligte dieses freiwillige Abschließen in eine Klause aufs höchste. Er fürchtete, daß solches Abwenden von der bewegten Welt, solches lautlose Vertiefen in die Gründe des Denkens und Empfindens einen Bannkreis bilden könnte, darin jede hereinbrechende Störung eine reizbare Empfindlichkeit erzeugen müsse, die jeden Widerspruch ablehnt, weil sie sich von demselben zurückgezogen. Er wußte nicht, daß solche Krankheiten in sich verschlossener zarter Seelen dem starken und großen Geiste fern sind, der Einseitigkeit nicht kennt, weil er die Welt im Busen trägt, der durch die Widersprüche der Außenwelt nicht überrascht und verletzt wird, weil er sie alle durchdrungen und in sich zur Harmonie aufgelöst hat. Noch andere Gründe machten aber dem besorgten Freunde eine Veränderung in Spinozas Lebensweise wünschenswert; unter diesen stand die Befürchtung obenan, die Liebe Spinozas zu Olympia – die er so richtig erraten hatte – könne in dieser Einsamkeit seiner Seele so tief einwurzeln, daß sie unvertilgbar wäre. Er glaubte noch immer, durch kluge Vermittlung in den Lebensgang eines selbständigen Geistes eingreifen und denselben berichtigen zu können.

»Unsere Zeit,« sagte er einmal zu Spinoza, »die Zeit der aus dem Klassizismus wiedergeborenen Humanität und der sich selbst offenbarenden Vernunft, hat ihre Apostel, die in alle Lande reisen und dort ihre neuen Ideen verkünden, so gut wie jede andere. Als das Christentum entstand und sich noch nirgends wohnlich niedergelassen hatte, zogen jene frommen Männer hin und predigten aller Orten, selbst mit Gefahr ihres Lebens; wir sahen in unserer Zeit ebenfalls begeisterte Männer von Stadt zu Stadt, von Land zu Land wandern, und aller Orten das an sie ergangene Wort verkünden. Denke nur an Jordanus Brunus, er hat fast die ganze zivilisirte Welt bereist, um seine Ansichten allenthalben zu verfechten; leider hat er den unbegreiflichen Irrtum begangen, nochmals nach Italien zurückzukehren, um auf dem Scheiterhaufen den philosophischen Märtyrertod zu sterben. Diese Art aber, die Welt, und was sie zusammenhält und bewegt, aus eigener Anschauung kennen zu lernen, und es ihr im lebendigen Worte vor das Bewußtsein zu führen, nicht aber vom einsamen Dachstübchen aus sie ergründen und meistern zu wollen, das ist die einzig richtige Art des wahren Denkers. Unser Meister, oder wenn du ihn nicht so nennen willst, unser Lehrer Cartesius, hat nach einsamem Zurückziehen erkannt, daß die Wahrheit aus der Welt geholt werden muß, wenn sie wieder in die Welt eingehen soll; er lernte die Menschen in Krieg und Frieden kennen, wurde selbst Soldat und ging auf Reisen. Und auch das mußt du als eine Offenbarung unserer Zeit erkennen, daß es in der künstlerischen Erfassung der stummen Natur erst unserem Jahrhundert gelungen ist, in der Landschaft den Geistesblick zu öffnen. Auch du mußt reisen, und willst du die Welt auch nicht lehren, so mußt du sie wenigstens wahrhaft kennen lernen; an Geld soll dir's nie fehlen, de Vries und ich, wir wollen dir alles, was du brauchst, gern geben; du darfst es nicht von dir weisen, es ist kein Geschenk, das wir dem Freunde bieten, der Wissenschaft und der Menschheit zollen wir diesen Tribut, du tust mehr als wir, du widmest ihr dein Leben.«

»Ich bitte dich,« antwortete Spinoza mit mildem Tone, »wenn es nicht deine Absicht ist, mich erzürnt zu sehen, laß dies das letzte Mal sein, daß du mir Geldanerbietungen machst; ich habe dir und Vries längst erklärt, daß ich nie darauf eingehe. Überdies kann ich diese neue Art der Wanderphilosophie, welche du so sehr empfiehlst, für meine Person wenigstens durchaus nicht zuträglich finden. Ich bin kein Freund der Disputationen mit dem und jenem und sehe selten eine Förderung daraus, denn meist kommt im Gegensatze nicht der reine Gedanke zur Aussprache, vielmehr so viel persönliche Beimischung, willkürliches Ablenken, daß man mehr mit Peter und Paul, wie sie durch Gewohnheit und Neigung geworden sind, als mit dem reinen menschlichen Denken zu tun hat.«

»Eben darum solltest du Peter und Paul noch näher kennen lernen, um ihre Vorurteile, ihre persönlichen Befangenheiten zu besiegen.«

»Ich will die Gesetze menschlichen Seins und Denkens ergründen und feststellen, ich habe dir schon oft erklärt, daß ich nicht darauf ausgehe, die Mängel anderer aufzudecken; werden diese durch Aufzeigung des Normgültigen offenbar, um so besser. Du, nach deinem Berufe, mußt auf anderes sinnen; mir genügt es, im Buche der Geschichte und in den Regungen des eigenen Lebens zu forschen.«

»Das sollst du,« entgegnete Oldenburg, »und eben darum die Welt im Großen wie im Einzelnen näher erforschen. Laß mich dein Handwerk, diese Gläser da, als Beleg annehmen. Wäre unser Auge mikroskopisch eingerichtet, wir würden nur Einzelteile und nie ein Gesamtes erschauen; hätte unser Auge nur den Fernblick, wir kennten die Besonderheiten der Dinge nicht. Darum ist es ein Vorzug des Kulturmenschen, sich künstlich die mikroskopische und teleskopische Anschauung zu seiner gegebenen mittleren natürlichen anzueignen, und schließlich durch die Vorstellung, durch den Gedanken, sie in ihren Bedingungen zu erkennen; aber der Großblick und der Kleinblick muß vorausgegangen sein. Ebenso ist es auch mit der Erkenntnis des Menschenlebens. Darum reise und lebe dann still für dich.«

»Laß mir meine heimlichen vier Wände,« entgegnete der Philosoph, »die Welt der Erscheinungen ist von anderen weit genug erforscht und verzeichnet, daß man nun in stiller Betrachtung dem reinen Gesetze nachgehen kann. In meiner Klause finde ich mich jederzeit und bestrebe mich, um mich her all die Geister der Wahrheit zu sammeln; glaube mir, es ist eine zahlreiche und gute Gesellschaft, und ich bin nie allein oder verlassen; und bin ich's, allein in mir, so kann ich den Mischungen und Verbindungen in der Menschenseele um so stiller und ungestörter nachgehen. Wer von der Höhe der Vogelflucht herab ins Auge fassen könnte, wie ein Strom in den anderen mündet, und endlich alle in das Meer sich ergießen, der sähe nicht mehr, als dem stillen Blick sich bietet, wenn er das Ineinanderströmen unseres Innern verfolgt. Ja, wer wieder mit seiner Seele allein in der Stille leben könnte – mit der Seele, die nichts von Übertragenem, von fremdher Eingeflößtem hat – der lebte wieder im Paradiese, glückselig in sich und im All.«

Noch nie hatte das Auge Oldenburgs so geflammt, eine zitternde Andacht und Begeisterung sprach aus dem sonst so festen Ton seiner Worte, aus seinem ganzen Wesen, als er sich jetzt erhob und sagte: »O Freund, was soll man dir sagen, da doch in dir alles gegeben ist! Und doch, vielleicht muß auch dir eine Stimme von außen ein Zuruf werden. Siehe, nicht umsonst berichten die Sagen aller Völker, daß sich Götter zu Menschen verwandelten, sich gefangen nehmen ließen von den Beschränktheiten und Gewalten des Daseins, um sich selbst frei daraus zu erheben und andere mit zu erheben, und sei es durch den Leidenstod. Auch du mußt, dem Rufe der dir gegebenen Wahrheit folgend, dich ihr zum Opfer bringen. Du wirst mich nicht für den Schächer halten, und ich will dir nur die Worte zurufen, die die Welt über dein Leben und Denken aussprechen könnte: hast du die Erkenntnis der Wahrheit, wird es heißen, und bist du ihr offener rückhaltsloser Bekenner, so steige herab von deiner stillen Einsamkeit, zieh hinaus in das bewegte Leben und verkündige und leide.«

Die beiden Hände gefaltet auf die Brust drückend, erwiderte Spinoza: »Sterben für die erkannte Wahrheit ist Glückseligkeit, die keinen Schmerz mehr kennt. Was ist ein langes Leben gegen jene Erhabenheit, welche das Dasein selbst und dessen Hingebung zum Zeugnisse der inneren Wahrhaftigkeit macht? Könnte es nur auch andere überzeugen. Aber der Märtyrertod beweist für andere nichts. Für die entgegengesetztesten Überzeugungen sind Menschen freudig in den Tod gegangen. Ich selbst habe einen, wie man's nennt, gläubigen Juden gekannt, der mitten in den Flammen, da man ihn schon entseelt glaubte, den Psalm: ›In deine Hand befehl' ich meinen Geist‹ anstimmte und im Gesange ausatmete. Was könnte mich ein Leben mit seinen alltäglich wiederkehrenden Pflichten, Läuterungen und Genüssen reizen gegen die eine, alles in sich schließende Tat der Hingebung? Bezwingt aber äußere Gewalt den für seine Erkenntnis oder seinen Glauben Feststehenden nicht, so bezwingt sein Tod, der doch immer nur äußere Beweiskraft ist, auch die anderen nicht. Wenn ich, wie ich hoffe, mich einst so weit ausgebildet habe, um auch andere zu lehren, so habe ich ihnen kein Gesetz zu geben, keine runden Sätze einzuprägen; es soll ein jeder nur das Gesetz in sich und in der Welt finden: die Erkenntnis des in der Natur liegenden Gesetzes, das ist Erlösung seiner selbst und der Welt. Der Charakter, die bewußte Entwicklung seiner Naturgesetze, demgemäße Bestimmung seiner Handlungen und freie Hinnahme der daraus notwendig sich ergebenden Schicksale, das ist die Besonderheit des Menschen, die nicht gelehrt, nicht übertragen werden, die er nur aus eigener Arbeit in sich selbst erschaffen kann.«

Die beiden Freunde standen nach diesen Worten in stiller Andacht einander gegenüber, und auf der Höhe des Denkens mutete sie wiederum die Freude an, mit gleichem, ja fast mit einem Blicke hineinzuschauen in die weite Welt. Niemand wußte mehr und wollte es wissen, wer der Gebende, wer der Empfangende war, sie waren eine Seele, ein Herz, und doch hatte jeder in dem andern sein eigen Selbst lebendig gegenüber.

Als Oldenburg wegging, empfand er im tiefsten die weihevolle Kraft, die der Geist des Freundes über ihn ausgoß. Es erschien ihm vermessen, hier noch irgend eingreifen zu wollen; nur die Hand reichen, nur durch äußerliche Anlehnung die innere selbständige Notwendigkeit stützen wollte er. Er fühlte sich beseligt in der Macht solcher Männerfreundschaft, die auf dem Boden des reinen Denkens erwachsen war und die Hingebung an dieses wieder zu einer persönlichen Freude machte.

Was kann die Liebe mehr bieten und warum will der in sich beglückte Denker sich nicht an der Freundschaft allein genügen lassen?

Auch Spinoza fühlte sich immer heimischer in der umfriedeten Stille seines Lebens, dessen gleichmäßiges Glück nicht anders als Seligkeit genannt werden kann. Denn die innere Bewegung des Denkens in der Einsamkeit ist die selige Höhe des Lebens, der ewigen Sonne nahe, über dem Weltgeräusche, über den Wolken, die im Dunstkreis der Erde fließen. Im Alleinsein klärt sich das Leben ab, wo kein Anruf von außen möglich ist, nichts den Strom des denkenden Seins zu unterbrechen vermag. Und was zuerst als Wille erschien, festigt sich zu selbständiger Tragkraft, Gedanken schließen sich aneinander wie ein Reigen seliger Geister und nehmen den an die Persönlichkeit gebundenen Geist mit fort. Aufgelöst und vergessen ist das endliche Selbst und das Leben wird zum Denken.

Was in der Gegenwart und herben Berührung störte, gewinnt eine milde Verklärung und erweckt eine milde Versöhnung im Geiste, den Liebe zu Wahrheit und Gerechtigkeit emporgetragen, und den kein Vorwurf herabzieht. – Wie ein Erwachen aus dem unbewußten Leben, das doch nur im selbstlosen Gebiete des Denkens sich bewegte, ist dann das Innewerden seiner selbst und das Besinnen auf sich und seine Beziehungen zur Außenwelt.

Hatte sich so Spinoza in reiner innerer Denkbewegung losgelöst von allem persönlichen Sein, so überraschte ihn oft die Erinnerung, daß es nun schon wieder mehrere Tage waren, seit er Olympia gesehen, ja sogar seit er ihrer gedacht, und doch liebte er sie von ganzer Seele. Es war nicht jene stürmisch aufbrausende Liebe mit ihren überwallenden Gefühlen, es war die stillkeimende Neigung, deren Wurzeln in der Überzeugung und im klaren Bewußtsein von der Notwendigkeit des gegenseitigen Verhältnisses ruhten. Diese Liebe hatte aber der Wunderlichkeiten und rätselhaften Selbstquälereien so viele, als jede andere, die der Sturm der Leidenschaften fortreißt. Mit lautpochendem, von Liebeswonne geschwelltem Herzen ging er jedesmal nach dem Hause Olympias; und nicht selten verließ er dasselbe mit verstörtem Geiste und es ward ihm erst wieder wohl in seiner trauten Einsamkeit. – Wollte er wirklich die Liebe Olympias unterdrücken, oder wollte er nur eine Probe damit anstellen? Er sprach mehr als gewöhnlich von seinem Judentum, ja er suchte auch noch auf andere Weise sich selber in dem unvorteilhaftesten Lichte zu zeigen; und doch kränkte es ihn wieder, wenn er seinen Zweck erreicht zu haben schien, und Olympia – sei es aus Gefallsucht oder um ein Vergeltungsrecht zu üben – dem blonden Kerkering allerlei kleine Gunstbezeugungen zuwandte, wodurch dieser sich hochbeglückt fühlte und immer mehr in seiner Meinung bestärkt wurde, daß Spinoza nur der Strohmann sei, mit dem man ihn necken wolle. – Seit jenem verhängnisvollen Abende hatten sich die beiden Liebenden nicht mehr allein gesprochen, das hätte Mißverständnisse und Irrungen leicht gelöst; aber auch so, den Augen uneingeweihter Zuschauer bloßgestellt, genossen sie Wonnen unerschöpflichen Liebesglücks. Oft sagte ihr Mund die gleichgültigsten Dinge, aber ihre Augen sprachen sich all die Gefühle, die sie tief verschlossen für einander hegten.


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