Berthold Auerbach
Spinoza
Berthold Auerbach

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17. Proselyten

De lagchlust hieß die Inschrift über dem Eingange an dem Landhause van den Endes mit den frisch angestrichenen Türen und Fensterläden vor dem Utrechter Tore; es war bescheiden und anmutig und zeigte im Anbau des Gartens, in Spaliergewächsen, reichen Blumenbeeten und schattigen Büschen den Charakter der Holländer, die, bei der Entbehrung gebirgslandschaftlichen Reizes mittels erhöhter Kultur dem Boden eine sinnige Schönheit verleihen.

Wir treffen die bekannte Gesellschaft endlich auch einmal hier im Freien, wo in dunklen Büschen olympische Götter versteckt waren und vor allem die Büste Demokrits auf einer saftig grünen Wiese den Blick auf sich zog.

Heute schienen Garten und Haus ihrem Namen nicht zu entsprechen, es zeigte sich nichts von Lachlust, eine eigentümlich befangene Stimmung schien alle zu beherrschen.

Kerkering und van den Ende entfernten sich in eifrigem Gespräche in einen abgelegenen Gang, die beiden Freunde gingen neben Olympia und Cäcilie.

Olympia bat Spinoza, nun alle Sorgen zu verscheuchen, die Krankheit seines Vaters sei ja gewiß unbedeutend, er solle sich nur dem freudigen Naturgenusse hingeben. »Ihr König Salomo,« fuhr sie fort, »muß doch recht glücklich gewesen sein, der verstand ja der Sage nach die Sprache aller Vögel und aller anderen Tiere, der muß in der Natur gut zu Hause gewesen sein.«

»Vielleicht war er darin zu viel zu Hause, und darum sagte er: Alles ist eitel,« fiel Oldenburg ein.

»Ich vermisse jenes Talent Salomos beim Naturgenusse nicht,« sagte Spinoza, »mir wäre die Natur zuwider, wenn sie mir ewig all ihr Tun und Lassen vorplauderte und mich nicht auch mir selber überließe.« Er hatte diesen Worten durchaus keine entfernter liegende Beziehung geben wollen, und doch sahen sich Oldenburg und Cäcilie verlegen an, als sie dieselben hörten, denn Olympia hatte oft etwas von dem Kathedermäßigen der meisten Dozierenden, die von der Gewohnheit Lernende in stummer Aufmerksamkeit vor sich zu haben das Erklären und Aufzeigen auch auf die Besprechung übertragen.

Olympia dachte aber nicht im entferntesten an eine Nebenbeziehung jenes Ausspruches, sie leitete ihn vielmehr auf ihre gestrigen Abschiedsworte zurück. »Ich kann es nicht ertragen,« sagte sie, »die Natur allein zu genießen; wenn ich oft im höchsten Genusse der reinen Anschauung mich in alle Welt hinausgetragen fühlte, griff ich oft unwillkürlich nach der Seite, um eine befreundete Hand in stummer Vergessenheit warm zu fassen.«

Keine Antwort erfolgte, ein jeder heftete den Blick zu Boden. Oldenburg hatte ebenfalls seit einiger Zeit das Verhältnis, das sich zwischen Olympia und Spinoza gestaltete, aus einzelnen Blicken und Gesprächswendungen entziffert; er war Diplomat genug, um zu glauben, er könne diese aufgefangenen geheimen Botschaften noch vor der offenen Erklärung zu einer gütlichen Ausgleichung benützen.

»Was sagen Sie dazu,« fragte er, »daß die Königin Christine von Schweden Krone und Zepter ihrem Vetter geschenkt hat, nicht um, wie man anfangs glaubte, bloß mit dem Dichterlorbeer, sondern auch bald mit dem Myrtenkranz ihre Stirne zu zieren?«

»Was?« fragte Olympia, »will die Königin Christine heiraten?«

»Es sind gestern Handelsbriefe aus Rom eingegangen, in denen aufs bestimmteste versichert wird, die Tochter Gustav Adolfs werde in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückkehren, um ihren ersten Kämmerer Monaldeschi heiraten zu können.«

»Gewiß, die Königin Christine hat den irdischen Tand nur von sich geworfen, um frei und ungehindert der Seligkeit unseres Glaubens teilhaftig zu werden,« sagte Cäcilie mit sanfter Stimme. Niemand wollte ihr widersprechen.

»Hat Gustav Adolfs Tochter diesen Schritt getan,« hob Olympia nach einer Pause an, »um dem Manne ihrer Wahl vollkommen anzugehören, so ist ihre Handlung über jeden Tadel erhaben, die Liebe ist das Band, das alle früheren lösen muß; wie naiv wahr ist das schon in der Bibel ausgedrückt, wenn es heißt: ihrethalben verläßt man Vater und Mutter, Die Frage ist hier nur: geht der Gehorsam des schwach genannten Geschlechtes so weit, auch hierin sich zu opfern? Christine von Schweden hat gewiß genug getan durch ihre Entsagung; war es nun nicht vielmehr Pflicht des Mannes, daß er statt der Geliebten diesen unangenehmen Schritt tat? Wollte er aber das nicht, so war er ihrer Liebe unwürdig und verlustig, und ihr Schritt ist verdammenswert.«

»Wenn aber ein solcher Schritt gegen seine innerste Überzeugung war?«

Olympia antwortete nicht, sie schlug den Blick zur Erde.

Spinoza überlegte, ob er sich in das Gespräch mischen sollte, denn er hatte gewissermaßen die Absichten Oldenburgs durchschaut; als ihn aber jetzt Olympia wie mit forschendem und hilferufendem Blicke ansah, erwiderte er: »War dieser Monaldeschi Ursache der Kronentsagung, und mußte er das, so hatte er dadurch Pflichten gegen die Königin eingegangen, und nichts durfte ihn mehr abhalten, in allem ihrem Wunsche zu willfahren; gab es für ihn unüberwindliche Rücksichten, so hätte er als Mann von Ehre gleich von Anfang ein Verhältnis ablehnen müssen, dessen notwendige Bedingungen er nicht erfüllen wollte oder konnte. Ich möchte aus diesem Vorgänge aber auch wieder eine allgemeine Erkenntnis ableiten. Hier zu Lande nimmt die reformierte Geistlichkeit die cartesianische Lehre als beste Deduktion der Lehre Calvins; Königin Christine, die eifrigste Schülerin desselben Philosophen, der sie selbst lehrte, kann sich hieraus auch Beweise zurechtmachen zur Begründung ihres Übertritts zur katholischen Kirche.«

»Die katholische Religion,« unterbrach hier Olympia, »ist die Mutterreligion, und es ist ein natürlicher Zug, zu ihr zurückzukehren.«

»Sprich's nur aus,« sagte Oldenburg zu Spinoza, »ich sehe dir's am Zucken deiner Mundwinkel an, du wolltest erwidern: wenn die katholische die Mutter-, wäre die jüdische die Großmutterreligion und könnte ebenso verlangen, daß man sich nach ihrer Tracht kleide. Nehmen wir aber ein anderes Beispiel. Turenne ist eine zu entschiedene Feldherrennatur, er will allein, den Stern des eigenen Glaubens auf der Brust, vor der Front stehen und sich nicht in Reih und Glied des Katholizismus wie ein gewöhnlicher Soldat stellen; tut er nicht recht daran?«

Spinoza merkte diese Schwenkung wohl, als van den Ende, der mit Kerkering hinzugetreten war, einfiel: »Turenne ist ein Soldat, und die Soldaten, die stündlich das Leben einsetzen, legen nicht gern die einmal gewohnte Rüstung ab; sie meinen, dieser oder jener Aberglaube habe sie kugelfest gemacht; ist einmal Friede, wird's auch nicht schwer halten, Turenne zum Katholiken zu machen.«

»Ist er fähig, ein Mädchen heiß und innig zu lieben,« setzte Kerkering hinzu, »wird er bald nach dem alleinseligmachenden Glauben ihres Besitzes ringen; es wäre Feigheit, da, wo es das Größte gilt, nicht ein altes Vorurteil aus der Kinderstube besiegen zu können. Wer wahrhaft liebt, der darf nur an seine Geliebte glauben; ihr Herz ist seine Kirche, ihre Worte sind seine einzigen Offenbarungen, ihr allein gilt seine Verehrung, und nichts ist außer ihr. Das ist die wahrhafte Wiedergeburt, die wir in der Liebe eines Mädchens erlangen, daß wir unzertrennlich eins sind mit ihr; wer darf da noch der Schranken gedenken, welche die Menschen willkürlich gegeneinander gestellt?«

Betroffen starrten die Anwesenden auf Kerkering nach diesen Worten, nur der alte van den Ende nickte ihm beifällig zu und Olympia sagte nach einer peinlichen Pause: »Während wir hier über die Prinzipien sprechen, stirbt vielleicht eine schwerkranke Dichtermatrone eines solchen Prinzipientodes.«

»Wer denn?« fragte Oldenburg.

»Die Geliebte Ihres ehemaligen Freundes, die Dichterin Maria Tesselschade wird den morgenden Tag wohl schwerlich mehr begrüßen. Haben Sie den Kaspar Barläus auch gekannt, Herr de Spinoza?«

»Nein, Jufrow Olympia, aber mein alter Magister Nigritius, der einmal von ihm verhöhnt worden war, hat oft genug über ihn geschimpft.«

»Es sind jetzt sieben Jahre,« fuhr Olympia fort, »ich erinnere mich noch wohl, es war nicht lange nach dem Neujahr von 1648, da fand man ihn in dem Brunnen bei der Wage tot; er war noch Abends vorher bei seiner Geliebten gewesen, der Brunnen war auf dem Wege nach seiner Wohnung.«

»Hat er sich selbst hineingestürzt?«

Olympia nickte bejahend, sie wollte aus Schonung nicht in Worten bejahen.

»Er hat sich gewiß entleibt,« setzte Oldenburg hinzu; »aber das ist mir unbegreiflich, wie er jahrelang mit so reiner Liebe an Tesselschade hing, und erst spät, als sie beide schon alt geworden waren, jenen verzweifelten Schritt tat, weil er sie nicht heiraten konnte.«

»Warum tat er das nicht?«

»Sie war katholisch und er Protestant, ja, er hatte sogar früher als eifriger Remonstrant viel Ungemach erduldet; alle seine Gedanken waren der Griechen- und Römerwelt entlehnt, und doch konnte er sich nicht entschließen, aus Liebe zu seiner Tesselschade seine Glaubensform zu ändern.«

»Es ist possierlich,« fuhr van den Ende fort, die Rede seiner Tochter ergänzend, »all die Geschichten des alten und neuen Testaments hat er mit griechischer und römischer Mythologie und arkadischer Schäferpoesie besungen; er konnte nichts sagen, ohne den ganzen Olymp aufmarschieren zu lassen, ja seine eigene Liebe hat er in die Horazische Sprache übersetzt.«

»Ich bin der Ansicht, lieber Vater,« sagte Olympia, »daß Barläus zuerst alles in Gedanken in das Latein übersetzen mußte, um es richtig zu verstehen. Herr von Spinoza, lesen Sie seine Gedichte, eine Seele, ganz erfüllt von Menschenliebe, liegt darin; er hat eine eigene Rubrik, Tessalica, worin er seine Geliebte besingt, wie sie zu Pferde saß und wie sie zur Harfe sang: ihre Halskrause, ihre Perlschnur, alles vermochte ihn dichterisch zu begeistern. Er singt einmal:

Tessela, quae coelo potes deducere lunam
Et tetricos cantu demeruisse Deos – Tessela, du kannst mit deinem Gesange den Mond vom Himmel herabziehen
und die finsteren Götter zum Danke verbinden.

Verstehen Sie das Wortspiel, warum er den Namen Tesselschade in Tessela verwandelt hat?«

»Nein.«

»In der zweiten Idylle des Theokrit ist Tessala ein unwiderstehlicher Liebeszauber; man hat die Namen der Pflanzen, aus denen der Zaubertrank bereitet wurde, aber die Pflanzen selber kennen wir nicht.«

»Sie werden immer und ewig meine Lehrerin bleiben,« sagte Spinoza dankend.

»Wollen Sie, wenn Sie das Mittel gefunden haben, uns nicht auch in der Zauberei unterrichten?« fragte Kerkering.

»Sie sind ja schon ein verzauberter Prinz,« entgegnete Olympia. »Herr von Spinoza, glauben Sie auch an Zauberei?«

»An die Ihrige,« erwiderte er rasch; Oldenburg schüttelte mißbehaglich den Kopf.

»Sie haben einen Hauptpunkt in der Liebesgeschichte des Barläus vergessen,« sagte er, »erinnern Sie sich, daß er in der Dedikationsepistel zu seinen Gedichten der drei L wegen die Ehe für unbequem hält, Libri, Liberi, Libertas, Vielleicht im Deutschen durch drei W wiederzugeben: Wissenschaft, Windeln, Weiberregiment. die vertragen sich nicht wohl miteinander. Der Arme! Er hatte aller Welt Hochzeitsgedichte gemacht und er selbst konnte nie Hochzeit halten.«

»Er hat auch ein schönes Carmen auf die Hochzeit meines Oheims Overbeck in Hamburg gedichtet,« schaltete Kerkering ein, und Oldenburg fuhr fort.

»Hätte in diesem Barläus eine wahrhaft erhabene durch und durch poetische Seele gewohnt, und hätte nicht aus allen Ecken und Enden der Magister hervorgeschaut, der versagte Besitz seiner Tesselschade und die reine Liebe zu ihr allein hätte für ihn ein Blütengarten der duftigsten, mit himmlischem Schmelz übergossenen Dichtungen werden müssen. Hätte Dante seine Beatrice umarmt, hätte Laura ihrem Petrarca eine Brotsuppe gekocht, nimmer vermochte jener durch seine unsterblichen Kanzonen sich zum Homer der christlichen Weltbildung emporzuschwingen, und der ewige Wohllaut der Sonette Petrarcas wäre vor leidigem Kindergeschrei verstummt. Die Poesie ist nicht der Geier der Fabel, der ewig am Leben zehrt; sie ist die Flamme, aus welcher der Phönix neu verjüngt und mit unversehrten Fittichen sich himmelan schwingt. Für den einzelnen Menschen wie für die strebende Menschheit wäre der höchste Besitz Ekel und Tod oder ein glücklicher Wahnsinn.«

»Wie? Sind Sie der Herr Oldenburg?« fragte Olympia verwundert. »Das ist sehr originell; also Mönche und Nonnen sind in ihrer Entsagung die auserwählte Poetenschar?«

»Sie wollen mich durch eine geschickte Finte irre machen,« erwiderte Oldenburg, »aber ich bin nicht so ungeübt. Ich behaupte nur: ein Mann mit wahrhaft großer Seele darf sich nicht mit all seiner Lebenskraft an irgend eine willkürlich idealisierte Persönlichkeit anklammern; tut er das, so ist er vom Gott zum Menschen geworden und er stirbt den Tod der Menschen, denn er wird eingesargt zwischen die dürren Bretter der alltäglichen Rücksichten und Bedürfnisse. Ja, könnte er sein frei und aus sich selbst geschaffenes Ideal vor sich verwirklicht finden, er müßte es fliehen.«

»Ich bin auch Ihrer Ansicht,« sagte der alte van den Ende, »die Götter haben Pygmalion nicht härter strafen können, als da sie ihm seine Bitte gewährten; diese Ehe mußte unfruchtbar sein.«

»Es gibt keine Ideale auf Erden und es kann keine geben,« fuhr Oldenburg in begeistertem Tone fort; »töricht ist, wer sie sucht, und noch törichter, wer sie gefunden zu haben glaubt. In uns leben und über uns schweben mögen sie in verklärter Erinnerung. Wie unendlich groß ist Dante, wenn er von seiner reinen und geläuterten Liebe singt.«

»Es gab doch eine Zeit, wo Sie anders dachten,« sagte Olympia.

»Ich denke noch so, ich selber habe keinen Anspruch auf die höchste Krone der Menschheit; wie ich bin, so leben noch Tausende in der großen Masse, ich muß mich gefangen geben. Sähe ich aber einen Freund, der, mit hohem, weltbezwingendem Geiste begabt, sich einfangen ließe in den vier Pfählen der Alltäglichkeit, der seinen hohen Geist beugte, um einem selbstgeschaffenen Götzen zu dienen, ich würde ihn von mir stoßen, denn er ist zum Verräter geworden an der Hoheit und Majestät seines Berufes; kann er aber das Ideal, das nie vollkommen in die Erscheinung treten kann, sich hoch und rein erhalten, so preise ich ihn glücklich.«

»Das ist ein trauriges Märtyrtum, das Sie den hohen Geistern aufnötigen wollen,« sagte Olympia.

Das Dunkel brach herein, man trennte sich.

Spinoza begleitete Olympia nach Hause, sie hing an seinem Arme, er wußte nicht, wie er zu dem Mut und zu dem Glücke so naher Berührung gekommen war. Der alte van den Ende führte Cäcilie, Olympia und Spinoza gingen schweigend hinterdrein. Als sie an das Waghaus kamen, sagte Olympia: »Sehen Sie, dort ist der Brunnen, in dem der gutmütigschwache Barläus den Tod getrunken; wär' es nicht vernunftgemäßer und männlicher gewesen, den Glauben aufzugeben als das Leben?«

»Weder den Glauben noch das Leben haben wir uns selber gegeben,« antwortete Spinoza, »der Selbstmord an diesem wie an jenem ist Feigheit und Schwäche; die Stärke liegt darin, dieses wie jenen ertragen und in ihnen entsagen oder sie befreien zu lernen.« – Olympia schwieg.

»Mich empört dieses sich herzudrängende diplomatische Vermitteln,« sagte sie nach einer Pause, »das Oldenburg heute so kunstreich ins Werk zu setzen glaubte: ein dritter, der ein zartes Verhältnis nur mit einem Worte berührt, erzeugt Zerwürfnisse und Mißverständnisse, die ohne ihn nie entstanden oder doch schneller ausgeglichen wären.«

»Es freut mich, daß ich Sie so finde,« sagte Spinoza und preßte im heftigen Seelenkampfe die Lippen übereinander. »Liebe Olympia,« fuhr er fort, »ich habe mit aller Macht gerungen, aber ich bin so stark nicht, wie Sie wohl meinen: ich unterliege, wenn Sie mir nicht Ihre Hand dazu bieten, oder vielmehr nicht sie mir entziehen. Ich mag das Wort nicht nennen, das aus meiner Seele zu Ihnen spricht, aber ich bitte Sie, stoßen Sie mich von sich; nie, nie dürfen wir uns angehören.«

Olympia preßte seinen Arm fester an sich, ihr Atem zitterte, beider Hände faßten sich. »Wie?« fragte sie, »und warum denn nicht? Haben wir Christum ans Kreuz geschlagen? Was kümmert uns, was vor tausend Jahren ein fanatischer Pöbel tat? Haben Sie umsonst diese Höhe des Denkens erstiegen, um zurück zu schrecken vor einer Form, in die die Menschen sich gezwängt haben? Haben Sie mir nicht hundertmal gesagt, Sie liebten und verehrten dem Geiste nach Christum als den Welterlöser? Wollte Gott, das Verhältnis wäre umgekehrt, freudig folgte ich Ihnen vor den Altar; wo Liebe ist, kann Meineid nicht herrschen – oder soll ich hineilen in die Synagoge und mich taufen lassen von den Rabbinen?«

»Liebe Olympia, kennten Sie die Tiefe des Schmerzes, der mein Herz spaltet, Sie würden gewiß nicht also zu mir sprechen. Es ist Meineid, nichts anderes, den ich schwöre, wenn ich einen anderen Glauben mit Bewußtsein annehme. Dank sei es der fortschreitenden Geschichte, ich darf mich von den Formen des Glaubens, in dem ich geboren bin, lossagen und darf mir eine Ansicht von den höheren Dingen aufbauen, wie sie mir die Natur meiner Denkkraft an die Hand gibt. Ich kann und werde mich durch keine persönlichen Rücksichten abhalten lassen, meine Überzeugungen über Glauben und Denken auszusprechen und ihnen nachzuleben; eine Religionsgenossenschaft, in die mich die Geburt gestellt, kann mich daran nicht hindern. Anders aber ist es, wenn ich selbstwillig in eine solche eintrete: die neuen Genossen können mir mit Recht zurufen: Was trieb dich zu uns, wenn nicht die Wahrheit? Du hast kein Recht mehr, auf das verlassene und auf das neu erfaßte Heiligtum einzuwirken.... Ich kenne die Sophismen wohl, die uns zuraunen: Du fügst dich bloß der Form, dein Denken bleibt dir frei. Aber es ist und bleibt Meineid, und dürfte ich, Meineidiger, je das Wort Wahrheit in den Mund nehmen ohne zu erröten? Mein unglücklicher Stammesgenosse Uriel Akosta, von dem ich Ihnen früher erzählte, hat darum sein Leben mit einem gräßlichen Selbstmorde geendet, weil er diesen Selbstmord durch Widerruf schon an seinem Denken begangen hatte. Er mußte sich vor jeder Wahrheit verworfen und lebensunfähig erscheinen; Ja und Nein galten ihm nichts mehr und waren sinnlos geworden.«

Olympia schwieg, sie hielt die eine Hand fest vor die Augen und ließ sich von Spinoza blindlings leiten. Dieser fuhr mit bewegter Stimme fort: »Ich gebe Ihnen die Frage zurück: haben wir deshalb die Höhe des Denkens erklommen, um von einer Neigung, die der Quell unendlichen Kummers für uns werden muß, uns besiegen zu lassen? Ich kämpfte lange, aber ich mußte endlich frei und ehrlich mit Ihnen sprechen: von dieser Stunde an sei vergessen und ausgetilgt, was wir uns waren und werden wollten. Noch ist es Zeit. Trennung und ein starker Wille werden uns wiederum Ruhe finden lassen; wir haben uns geliebt, das ist uns genug, suchen Sie in einem anderen das Glück, das ich Ihnen nicht bieten darf, nicht bieten kann.«

Die Zunge versagte ihm den Dienst, er mußte innehalten, Olympias Hand zitterte in der seinigen. »Ich schäme mich nicht, es zu gestehen, ich habe darüber nachgedacht,« sagte sie, »Sie können, ohne irgend einer Überzeugung zu widersprechen, Christ werden, ich habe sogar deshalb die Stelle nachgeschlagen; wissen Sie, die Keimpunkte Ihrer neuen Anschauung liegen ja in den Worten Johannis: ›Daran erkennen wir, daß wir in Gott bleiben, und Gott in uns ist, weil er uns von seinem Geiste gegeben hat.‹ Ja, ohne Inkonsequenz müssen Sie Christ werden.«

»Warum scheuen Sie sich,« entgegnete Spinoza, »auch den vorhergehenden Vers anzuführen, der so sehr auf unsere Lage paßt? ›So wir uns untereinander lieben, so bleibet Gott in uns, und seine Liebe ist völlig in uns.‹ Aber bedenken Sie, fallen auch einzelne Ergebnisse meines Denkens mit der Weltanschauung des Christentums zusammen, muß ich deshalb den Kirchenglauben beschwören? Vielleicht wäre das die Konsequenz, die Justus Lipsius beobachtete, der, wie Sie wissen, ein Buch de constantia (über die Beständigkeit) geschrieben und alle paar Jahre seinen Glauben gewechselt hat.«

»Ich dachte, Sie wären selbständiger; aber ich sehe, Oldenburg hat auch Sie bekehrt,« sagte Olympia in schneidendem Tone, »Sie streben nach der Glorie Dantes, aber ich bin keine Beatrice, will keine sein. O, es ist groß! Sie werden sich hineinstürzen ins bewegte Leben, ach, vergißt sich da eine Jugendliebe nicht bald? Sie spotten vielleicht gar darüber, und ich? Was ist daran gelegen, wenn ich in Kummer vergehe?«

»Liebe Olympia,« hob Spinoza an, »Ihr eigenes Herz muß Sie wegen solcher Reden anklagen; aber bedenken Sie, was könnte ich Ihnen bieten? Nichts als ein ärmliches, entsagungsreiches Leben; wenn ich auch den Glauben der Väter abschwören wollte, wenn ich nur ganz Ihnen leben möchte, ganz der Ihrige sein....«

»Schalom Alechem Rabbi Baruch. Brauchst dich nicht zu eilen, Maariph ist schon zu Ende,« unterbrach hier den Redenden eine schnarrende Stimme; Spinoza sah sich um, es war Chisdai, der, ohne einen Gegengruß abzuwarten, kopfschüttelnd weiterging.

»Hat der Mensch wohl meine Worte gehört?« fragte Spinoza.

»Ich glaube nicht,« antwortete Olympia, »aber es ist gräßlich! Dürfen solche Medusengesichter freundlich grinsend Sie mit dem traulichen Du anreden? Nun ist's entschieden, eine höhere Pflicht kommt dazu, ich lasse Sie nicht. Ich hasse die Entsagung, sie ist nichts als schöntuerische Feigheit, sie wäre Ihrer und meiner unwürdig.«

Man war am Hause van den Endes angelangt, Spinoza wollte sich verabschieden. »Sie müssen noch mit hinaufgehen,« sagte Olympia, »Sie glauben kaum, wie unheimlich es mir ist, wenn ich draußen eine mächtige Seelenerschütterung erlebt habe, und nun allein heimkomme, wo mich die alten Wände verwundert und fremd ansehen. Es ist mir dann alles zur Last, ich meine, ich müßte vergehen vor Unruhe und einem unfaßlichen Heimweh: ich spiele dann gewöhnlich so lange Orgel, bis ich mich vollkommen betäubt zur Ruhe begebe. Ich bitte, kommen Sie mit.«


 << zurück weiter >>