Berthold Auerbach
Das Landhaus am Rhein / Band II
Berthold Auerbach

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Zehntes Capitel.

»Wo ist Roland?«

Sonnenkamp fragt Joseph, Joseph fragt Bertram, Bertram fragt Lutz, Lutz fragt den Obergärtner, der Obergärtner fragt das Eichhörnchen, das Eichhörnchen fragt die Bauern, die Bauern fragen die Kinder, die Kinder fragen die Luft, Fräulein Perini fragt den Chevalier, der Chevalier fragt die Hunde und Frau Ceres darf von Allem nichts erfahren.

Sonnenkamp reitet eilig zum Major, der Major fragt Fräulein Milch, aber diesmal weiß auch die Alles Wissende nichts. Der Major reitet nach der Burg; in alle Graben und Verließe hinein wird der Name Roland gerufen, es kommt keine Antwort.

Sonnenkamp schickt den Reitknecht zum Krischer, der Krischer ist im Felde und nicht zu finden.

Sonnenkamp reitet nach dem Bahnhof und nimmt Puck, das Pferdchen Rolands, mit, er schaut oft nach dem leeren Sattel. Auf dem Bahnhof fragt er leichthin, wie wenn er ihn von einer Reise erwarte, ob Roland noch nicht angekommen wäre. Man hat nichts von ihm gesehen. Er reitet zurück, an der Villa vorüber und fragt hastig, ob Roland noch nicht da sei, und da man verneint, reitet er nach der nächsten Bahnstation stromauf. Auch hier fragt er, jetzt weniger behutsam, auch hier weiß man nichts.

Er kehrt nach der Villa zurück, der Major ist da, Fräulein Milch hat ihn geschickt, vielleicht kann er noch etwas beistehen. Der Major behauptet, Roland sei gewiß zu Manna ins Kloster gegangen. Der Major und Sonnenkamp fahren nach dem Telegraphenamt und senden eine Frage nach dem Kloster; sie sind voll Ungeduld, da keine Leitung unmittelbar nach dem Kloster geht, die Rückantwort kann zwei Stunden dauern. Sonnenkamp will hier warten, er schickt den Major nach dem Städtchen, um dort beim Doctor und sonst überall, aber ohne Aufsehen zu erregen, Erkundigungen einzuziehen.

Auf dem Bahnhofe geht er umher und legt die heiße Stirn an die kalten steinernen Säulen; Alles ist still und leer. Er geht in den Wartesaal; er findet, daß die Sitze auf dem Bahnhof gar nicht zum Ausruhen geschaffen sind. In Amerika ist das anders . . . oder ist es nicht? Er geht hinaus; er sieht, wie die Packer einen Lastwagen anfügen, sie thun das so gemächlich; er sieht einem Steinmetzen zu, der Spitzhammer und Breithammer gebraucht; er schaut so starr drein, als müßte er selber das Handwerk lernen. Die Menschen arbeiten alle so geruhig – sie können es, sie haben keinen Sohn verloren. Er betrachtet die Telegraphendrähte, er hat Lust, in alle Welt, auch da, wo es nichts nutzte, hinauszurufen:

Wo ist mein Sohn?

Es wird Nacht.

Der Bahnzug rollt daher und Sonnenkamp schreckt zurück, es ist ihm, als ob die Locomotive gerade auf ihn losstürzen wolle. Er faßt sich, er sucht umher, er strengt sein Auge an, sieht nichts von Roland. Die Menschen zerstreuen sich; wiederum ist Alles still.

Er ging zum Telegraphisten und ließ nochmals anfragen, ob das Telegramm bereits angekommen sei. Die Antwort lautet: Ja. Der Aufschlag des Telegraphenhammers durchzitterte ihn, er fühlte dieselben Schläge in den Adern seiner Schläfe am Kopfe. Er ersuchte den Telegraphisten, die Nacht dazubleiben, man könne nicht wissen, ob nicht eine Botschaft von irgend woher einträfe oder ob man nicht eine abzusenden habe. Aber der Telegraphist weigerte sich, trotzdem ihm eine große Summe angeboten ward; es sei ihm nicht gestattet, ohne höhere Ermächtigung die Ordnung zu ändern. Er befahl dem Telegraphenboten, bei ihm zu bleiben; er verschloß mit Geräusch die Thür des Telegraphenbureaus und ging davon. Er fürchtete sich offenbar vor Sonnenkamp.

Sonnenkamp war wieder allein. Da hörte er Ruderschläge über den Strom daherkommen.

»Sind Sie es, Herr Major?« ruft er in die sternenhelle Nacht hinein.

»Ja.«

»Haben Sie ihn?«

»Nein.«

Der Major steigt aus; er hatte im Städtchen keine Spur von Roland gefunden. Eine Antwort aus dem Kloster kann erst morgen Früh kommen. Jetzt steigt der Gedanke auf, Roland sei vielleicht beim Grafen Wolfsgarten. Ein Bote wird dahin geschickt; man kehrt zur Villa zurück.

Als Sonnenkamp dem Major die Hand zum Einsteigen reichte, sagte dieser:

»Ihre Hand ist heute so kalt.«

Wie ein Pfeil schoß es Sonnenkamp durch das Hirn, daß er den Knaben heute hatte züchtigen wollen. Wenn Roland in den Tod gegangen, in die Fluthen des Rheins?

Der Ring am Daumen preßte sich ihm ins Fleisch, wie wenn er glühte.

Auf dem Wege nach der Villa kam Joseph den Rückkehrenden entgegen.

»Ist er da?« rief der Major.

»Nein; aber die gnädige Frau hat's erfahren.«

Im Dorfe, durch das sie fuhren, standen die Menschen noch in Gruppen beisammen in der linden Frühlingsnacht. Man begegnete dem Geistlichen, der Major bat ihn, mit nach der Villa zu fahren. Sonnenkamp sprach kein Wort.

In der Villa sah man durch die hohen Fenster Lichter hin und her gehen. Jetzt hörte man einen Schrei; Sonnenkamp eilte hinauf. Im großen Saale lag Frau Ceres im Nachtgewande kniend vor einem Stuhle und drückte ihr Gesicht in die Kissen. Fräulein Perini stand neben ihr und schüttete ein Brausepulver in ein Glas. Sonnenkamp eilte auf seine Frau zu, legte seine Hand auf ihre Schulter und sagte:

»Ceres, sei ruhig!«

Die Frau wandte sich um und sah ihn mit glühenden Augen an, dann sprang sie auf, riß ihm das Gewand an der Brust auf und schrie:

»Gib mir meinen Sohn! Du hast auch Roland in den Tod gejagt, Du . . .«

Rasch hielt ihr Sonnenkamp seine breite Hand vor den Mund, sie suchte ihn zu beißen, aber er hielt ihr den Mund fest zu und sie war still.

Sonnenkamp bat den Geistlichen und Fräulein Perini, ihn mit seiner Frau allein zu lassen; Fräulein Perini zögerte, aber ein Wink mit der Hand bedeutete ihr entschieden, daß sie gehen solle. Sie ging mit dem Geistlichen. Jetzt nahm Sonnenkamp seine Frau auf den Arm wie ein Kind, trug sie in ihr Schlafgemach und legte sie auf das Bett. Ihre Füße waren kalt; er umhüllte sie mit einem Tuche und wickelte sie so, daß sie fest waren. Nach einer Weile war's, als ob Frau Ceres schliefe, oder heuchelte sie es nur? Es war genug. Sonnenkamp ging hinaus in das Balconzimmer, wo der Geistliche, der Major und Fräulein Perini beisammen saßen. Er bat den Geistlichen, sehr verbindlich dankend, er möge sich zur Ruhe begeben, das Gleiche sagte er Fräulein Perini mit einer seltsam höflichen und befehlerischen Art; den Major bat er, bei ihm zu bleiben.

Eine Stunde noch saß er mit dem Major an der offenen Balconthür, er schaute hinauf zu dem Sternenhimmel und horchte hinaus nach dem Rauschen des Rheinstroms. Nun wünschte er, daß auch der Major sich zur Ruhe begebe; der Tag werde schon wieder festes Verfahren bieten. Er selbst legte sich im Vorgemach zum Schlafzimmer seiner Frau nieder; er ging zuvor nochmals leise, die Hand vor das Licht haltend, an ihr Bett; sie schlief ruhig mit glühenden Wangen.

Auf der Villa war Alles still. Sonnenkamp wurde gerufen, der Bote war von Wolfsgarten zurückgekommen; auch dort wußte man nichts von Roland.

»Kommt Herr von Prancken?« fragte Sonnenkamp. Der Bote wußte keine Antwort.

Sonnenkamp war müde und überwacht, aber er konnte keine Ruhe finden; er stand bald wieder auf dem Balcon und hörte, wie die Vögel sangen und der Strom rauschte, er sah die Sonne am Himmel aufgehen, er hörte die Glocken läuten, die ganze Welt, so schön und frisch, erschien ihm als das Chaos.

Er ging hinab in den Park; die Bäume standen still schauernd in der ersten Morgenfrühe, durch die Blätter ging ein Säuseln und Flüstern, als gewänne der erste Morgenstrahl Ton und Bewegung. Die Vögel jauchzten, sie hatten ihre Heimat, ihre Familie, ihnen fehlte kein Kind . . .

Hin und her wandelte Sonnenkamp. Dieser Boden ist sein eigen, diese Bäume sind sein, Alles grünt und blüht und athmet frisch. Athmet auch der noch, für den dies Alles Leben hatte, für den es leben soll, für den es gepflanzt und geordnet ist?

Er kam in den Obstgarten. Da standen die Bäume, deren Zweigen er die Richtung seines Willens gegeben hatte; sie standen in Blüthe und jetzt im ersten Morgenstrahle fielen die Blüthenblätter wie ein leise rieselnder Regen nieder und bedeckten den Boden schneeweiß.

Je höher der Morgen stieg, um so mehr war es Sonnenkamp wie eine Sicherheit, daß Roland todt dort in den Wellen schwimme, die sich jetzt purpurn färben, ein blutiger Strom. Nichts als Blut die weiten Wellen! Er stöhnte tief und streckte die Hand aus, wie wenn er etwas packen und würgen müsse. Er faßte einen Baum und schüttelte ihn fort und fort, daß auch kein Blüthenblatt mehr an ihm war; er stand von Blüthenblättern über und über bedeckt. Und jetzt lachte er höhnisch auf.

»Ich sollte keine Kinder haben! Alleinsein! Allein und stark!«

In diesem Augenblicke sah er eine weiße Gestalt mit seltsamer Kopfverhüllung durch den Garten schleichen und hinter Bäumen verschwinden. Was ist das? Er rieb sich die Augen. War das bloße Einbildung oder Wirklichkeit?

Er ging der Erscheinung nach.

»Halt,« rief er, »dort sind Fußangeln.«

Eine Frauenstimme schrie ängstlich. Sonnenkamp trat näher, Fräulein Milch stand vor ihm und sagte:

»Ich wollte zum Herrn Major.«

»Er schläft noch.«

»Ich kann es auch Ihnen sagen,« begann Fräulein Milch sich fassend, »es läßt mir keine Ruhe.«

»Nur heraus . . . keine Einleitung!«

Fräulein Milch erhob sich stolz und sagte:

»Wenn Sie barsch sind, kann ich wieder gehen.«

»Entschuldigen Sie, was wünschen Sie denn?« fragte er sanft.

»Ich glaube zu wissen, wo Roland ist.«

Sonnenkamp brach in Ungeduld einen Blüthenzweig ab. Fräulein Milch fuhr fort: es sei ihr unbegreiflich, wie man nicht sofort daran gedacht habe, daß Roland zum Hauptmann Dournay gereist sei; man solle sich telegraphisch an ihn wenden.

Sonnenkamp dankte mit heiserer Stimme und sagte, er wolle den Major wecken und in den Garten schicken; Fräulein Milch bat, daß man ihm ruhig seinen Schlaf lasse. Sie kehrte nach Hause zurück und Sonnenkamp machte einen weiteren Gang durch den Park.

Die Rosen waren aufgeblüht über Nacht, von Stämmen und Büschen sandten sie den Duft dem Herrn des Gartens, er aber war nicht erquickt davon.

Da ist der Park, das Haus, da sind die Bäume: das Alles ist zu erwerben, zu gewinnen. Aber Eines läßt sich nicht durch Willenskraft gewinnen: ein Leben, ein Kindesleben, ein Kindesherz, ein Zusammenhang von Seele zu Seele, ein unzertrennlicher und unerschöpflicher.

Und wieder kam ihm jetzt jenes scharfe Wort: Ihr habt in Euren Mitmenschen das Gefühl von Vater und Mutter und Kind getödtet. Nun trifft's Euch!

Warum umschwebte ihn heut das Wort jenes Kämpfers in der neuen Welt, heut wie gestern? Ist vielleicht jener Mann auf dem Schiffe, das mit der ersten Morgenfrühe jetzt stromaufwärts steuert?

Er konnte nicht ahnen, daß jetzt das Kind des Doctor Fritz mit Roland im Walde sprach . . .


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