Victor Auburtin
Skizzen
Victor Auburtin

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Das Krokodil und ich

Am Vormittag ging ich ins Aquarium, um mir die Tiere anzusehen.

Das ist eines der schwersten Übel dieser Zeit, daß wir so wenig Tiere zu sehen bekommen. Die Pferde, Hunde und Katzen werden immer seltener in den Städten, die Natur zieht sich von uns zurück und überläßt uns unseren respektiven Veranstaltungen.

Deshalb also ging ich in das Aquarium, wo es, wie immer, außerordentlich voll war. Um den Schwanzmolch drängten sich Hunderte von Zuschauern, und vor den Schlangen hatten sich Schlangen gebildet. Den Haupterfolg aber konnte das große Krokodil verzeichnen, das mit dem Bauch im Wasser lag.

Das große Krokodil lag mit dem Bauch im Wasser und beschäftigte sich damit, auf sein Mittagessen zu warten. In dieser Tätigkeit ließ es sich weder durch die Neckereien noch durch die Zurufe der Beschauer stören; es hatte die Augen halb geschlossen, und um seinen für gewöhnlich so ironischen Mund spielte ein Zug von Melancholie. Lebenskünstler haben oft dicht vor dem Essen einen solchen melancholischen Zug um die Lippen.

 

Am Nachmittag ging ich in das Fischgeschäft, um einen Karpfen für das Fest zu kaufen.

Das Geschäft, in dem ich meine Fische kaufe, unterscheidet sich von anderen Geschäften dieser Art dadurch, daß in ihm ein Haussegen aufgehängt ist. Dieser Haussegen enthält die Worte: Wo Glaube, da Liebe; wo Liebe, da Hoffnung; wo Hoffnung, da Gott; wo Gott, da keine Not, und ist über der Bank angebracht, auf der die Fische zubereitet werden.

»Soll ich ihn gleich totmachen?« fragte mich das Fräulein und lächelte verführerisch.

Ich wäre am liebsten wieder fortgelaufen. »Wenn ich bitten darf«, sagte ich mit heiserer Stimme.

Das Fräulein trug den Karpfen auf die Bank unter dem Haussegen, wickelte ihn in ein Tuch und hieb ihm den Kopf ein. Dann drehte sie sich um und lachte uns alle an und war stolz, daß sie das so fein gemacht hatte.

 

Das Krokodil wird heute auch Fische zu seinem Mittagessen bekommen haben. Aber selbstverständlich besitzt dieses Krokodil keinen Haussegen mit Glaube, Liebe, Hoffnung, weil es ja zur Rasse der Reptilien gehört und deshalb keine Seele hat.

 


 


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