Victor Auburtin
Skizzen
Victor Auburtin

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La doulce France

Sooft man auch nach Frankreich hineinfahren mag, jedesmal wieder erlebt man das Abenteuer mit dem kleinen Jungen; und jedesmal ist es gleichermaßen überraschend und belehrend.

Der kleine Junge sitzt auf einem französischen oder auch belgischen Bahnhof irgendwo auf der Erde, spielt mit irgend etwas, bohrt sich in der Nase oder tut sonst so, wie kleine Jungen tun. Und dann ruft er plötzlich irgendeinem anderen kleinen Jungen etwas zu, und mit dem äußersten Erstaunen hören wir, daß dieser kleine Junge geläufig und korrekt französisch spricht.

»Um wie vieles«, sagte im Coupé die junge Dame aus Hannover, »um wie vieles sind doch diese Franzosen gebildeter als wir, da bei ihnen schon die kleinen Kinder fließend französisch sprechen, was bei uns kaum den Gymnasiallehrern gelingen will.«

Und wir anderen bemerkten, daß dieser Witz zwar nicht mehr neu sei, daß er aber hier an der Grenze immer wieder von neuem frisch erlebt werden könne.

 

Das war aber auch der einzige günstige Eindruck, den Frankreich auf die deutschen Leute in meinem Coupé machte. Sonst im allgemeinen waren sie äußerst unzufrieden mit allem, was sie sahen, und machten ihrem Mißmut unverhohlen Luft.

Vor allem wurde auf das energischste gerügt, daß der Zollbahnhof in Jeumont nur so klein und unbequem sei, und triumphierend wurde darauf hingewiesen, daß dieser Bahnhof sich mit unserem Bahnhof Friedrichstraße oder auch mit dem neuen Kölner Hauptbahnhof doch auf keinen Fall auch nur im entferntesten vergleichen dürfe.

Dann regte sich das Fräulein aus Hannover auf das heftigste über den Widersinn auf, daß hier die Bahnen links fahren, anstatt rechts, wie es vernunftgemäß und in der Ordnung sei. Noch größere Sensation erregte der erste Anblick von französischem Militär. Jubelnd machte man sich darauf aufmerksam, wie klein diese Soldaten seien; und brach in fröhlich Gelächter aus, als ein Offizier vorbeikam, der gelbe lederne Reitgamaschen trug.

Vergebens versuchte ich meinen Reisegefährten besänftigend zuzureden. Ich wies darauf hin, daß vielleicht auch unsere preußischen Bahnhöfe in der Nähe von Skierniewice nicht ganz so glanzvoll beschaffen sind wie der Kölner Hauptbahnhof, daß ferner auch in Ostrowo nicht Truppen von Gardemaß ständen... es half nichts. Alle im Coupé waren sich einig darüber, daß mit dieser Nation im Falle eines Krieges nicht viel Umstände zu machen sein würden.

»Die werfen wir mit dem kleinen Finger um«, sagte das Fräulein aus Hannover.

 

Bei der Weiterfahrt bemerkte das Fräulein aus Hannover, daß ihr Frankreich landschaftlich nicht individuell genug erscheine.

»Ich will«, sagte sie, »ich will nicht verkennen, daß diese vielen Reihen hoher Pappeln und Erlen der Landschaft etwas vornehm Parkhaftes geben; und daß ich dabei an die Valois denken muß, oder an breittreppige Paläste, oder an die Marquise von Maintenon. Aber dieser Valoischarakter der Landschaft ist doch nur sehr stellenweise zu bemerken; meist ist er alltäglich, wie bei uns, und sieht aus wie Guben und Sommerfeld.«

Ich erwiderte: »Mein Fräulein, ich weiß nicht, was Sie mit Guben und Sommerfeld sagen wollen. Immerhin möchte ich Sie auf eine Merkwürdigkeit des französischen Geländes aufmerksam machen, nämlich auf die Katzen. Beachten Sie gütigst, daß vor jedem Hause eine Katze sitzt. Und achten Sie ferner freundlichst darauf, daß sonderbarerweise die Katzen immer größer werden, je mehr wir uns Paris nähern. Am größten sind sie in Paris selbst, auf dem linken Seineufer bei den Antiquaren, wo das Herz des Landes Frankreich ist. Dort sind die Katzen so groß wie mittelkräftige Präriebüffel, und sie sitzen auf den in Leder gebundenen Werken Montaignes und schlafen den ganzen Tag. Und ich möchte persönlich hinzufügen: wenn jene Lehre von der Seelenwanderung recht hat, so möchte ich nach meinem gottgefälligen Tode Katze bei einem Pariser Antiquar werden auf dem linken Seineufer in Paris. Es muß die Summe aller möglichen Freuden sein, den ganzen Tag auf dem Montaigne zu sitzen, ohne gezwungen zu sein, ihn zu lesen.«

 

Alte Schlösser, mit geschlossenen Fensterladen, verfallend in der Einsamkeit.

Eine Terrasse, auf der ein Abbé mit einem vierzehnjährigen weißen Mädchen promeniert.

Die Stadt Saint Quentin, dicht gedrängt um eine wunderherrlich unvollendete Kathedrale. (Hier sind wir vor dem Bodo Ebhard sicher.)

Compiègne, wo einst die Montijo allzu lärmend Hof hielt; nun ist es ganz einsam, und still geht die Oise durch das Land.

Tief unten die Parks, mit weiten Lichtungen, auf denen sich der Abendnebel sammelt...

Frankreich; Frankreich.

Bist du aber über Creil hinaus, so rate ich dir, Eisenbahnvorschriften zum Trotz, dich rechts aus dem Waggonfenster weit hinaus zu beugen. Denn dann siehst du als erster in der Ferne aus der Ebene den Montmartreberg aufsteigen, und Pariser Lichtlein blinzeln der Nacht entgegen.

Und dann erfüllt sich dir vielleicht eine Sehnsucht; und immerhin möglich ist, daß dir im Herzen irgendwo, wie eine ferne gläserne Glocke, eine Heinesche Strophe zu klingeln beginnt:

Sei mir gegrüßt, du große,
Geheimnisvolle Stadt
.

 


 


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