Robert Ascher
Der Schuhmeier
Robert Ascher

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfunddreißigstes Kapitel

Der sozialdemokratische Abgeordnete für den Wahlbezirk Krems – Stein – Klosterneuburg – Korneuburg – Stockerau, Anton Schlinger, war gestorben und die Nachwahl für dieses Mandat ausgeschrieben. Die Stockerauer verlangten den Schuhmeier als Redner für ihre Wählerversammlung am 11. Februar 1913. Er wollte nicht recht. Er suchte nach Ausflüchten, fand aber keine. »Stockerau ist keine gesunde Gegend«, hat er, wie zur Entschuldigung gesagt, dann aber doch nachgegeben. Es waren keine Vorahnungen. Man hat manchmal zu etwas keine rechte Lust und in diesem Falle hatte er sie nicht.

Am 10. Februar war die Jahreskonferenz der Bezirksorganisation Leopoldstadt. Der Schuhmeier als der Reichsrats- und Landtagsabgeordnete dieses Bezirkes war dabei und hielt ein kurzes Referat über die politische Lage. Es war seine letzte Rede, die er in Wien hielt. Nach Schluß ging er ins Griechenbeisel. War dort tollster Laune und ersparte den Kumpanen zu reden und ihren Geist anzustrengen. Sie brauchten dem Schuhmeier nur zuzuhören, der besorgte alles selbst und die Heiterkeit grenzte schon an Übermut. So mitten drinnen erwähnte er, daß er morgen nach Stockerau müsse, und dabei machte er ein Schnoferl, wie wenn man an etwas Unangenehmes denkt. Es ist sehr spät geworden an diesem letzten Lebensabend Franz Schuhmeiers.

Am 11. Februar vormittags hatte er im Parlament zu tun. Gegen Mittag verließ er es mit dem deutsch-böhmischen sozialdemokratischen Abgeordneten Josef Seliger. »Heut muß ich in Stockerau reden«, teilte der Schuhmeier dem Kollegen mit. Eine Zeitlang gingen sie schweigend nebeneinander her. Plötzlich fing er wieder an: »Möchtest du net statt mir nausfahren, Joschi?«

Diese Frage war nicht ernst gemeint und Seliger gab gar keine Antwort darauf. Er sagte nur: »Hungrig bin ich.«

»Ich auch«, nahm der Schuhmeier dieses sein Lieblingsthema auf. »Gehn mir miteinand essen. Weißt, wo die Fiaker verkehren, kriegst immer ein gutes und billiges Essen und ein guten Wein.«

Und er führte den Joschi in ein solches kleines Wirtshaus in der Auerspergstraße. Zu seinem letzten Mittagmahl.

Der Kellner trug eben eine Stelze vorüber. »Siehst,« riet der Schuhmeier, »nimm dir so eine Kalbshaxen, da kannst dich anhalten und teuer is s' auch net.«

Er selbst bestellte sich auch eine Stelze. »Die größte, die auf Lager ist«, schärfte er dem Kellner ein. Als sie gebracht wurde, machte der Joschi große Augen.

»Was schaust denn?« lachte der Schuhmeier und machte sich ans Transchieren.

»Das ist ja ein halber Ochse,« rief der Joschi in seinem deutschböhmischen Idiom, »das kann doch ein einzelner Mensch unmöglich auf einem Sitz vertilgen.«

»Aber,« meinte der Schuhmeier, schon kauend, »ist ja eh net viel, wenn man so ein Hunger hat wie ich.«

Nachmittags arbeitete er in der Redaktion der »Volkstribüne« an einem Artikel für die nächste Nummer.

Er schrieb:

» Für die Arbeiterpresse alles!

Wer den Wert der Arbeiterpresse für die Arbeiter erkennen will, tut gut, sich zunächst die Presse der Feinde der Arbeiter genau anzusehen. Zunächst wird auffallen, daß es leider noch zahlreiche Arbeiter gibt, die jene Waffe, mit der sie gezüchtigt werden, kaufen, also mit ihrem Gelde direkt den Feind unterstützen. Ein solcher Arbeiter ist zweifellos in der Hauptsache...«

Hier sah er auf die Uhr. »Ui je,« sagte er zu Karl Höger, »Zeit ist's, ich muß auf 'n Nordwestbahnhof. Ich versäum sonst noch den Zug.«

Damit schob er den halbbeschriebenen Bogen beiseite und murmelte halb für sich: »Morgen ist auch ein Tag.«

Dann zog er sich an, nahm seine Aktentasche, ging auf den Höger zu, der an seinem Schreibtisch saß, packte ihn unterm Kinn, hob seinen Kopf, küßte ihn auf die Stirn und sagte: »Servus Alter, schau daß du g'sund bleibst.« Und verließ die Redaktion der von ihm gegründeten »Volkstribüne«.

Während der Fahrt las er in einem Buche. Im zweiten Abteil desselben Waggons ging ein Mann mit tief ins Gesicht gedrücktem Hut aufgeregt hin und her. Die Mitreisenden betrachten ihn kopfschüttelnd und einer sagte zu einem anderen: »Der is net recht bei Trost.«

Der aufgeregte Mann stieg in Korneuburg aus.

Der Zug traf eine Stunde vor Beginn der Versammlung in Stockerau ein. Der Schuhmeier wurde auf dem Bahnhof vom Stockerauer Hauptvertrauensmann Wolfik erwartet. Sie setzten sich in das Extrazimmer und kamen ins Plaudern. Beim Plaudern bekam der Schuhmeier immer einen Hunger. Er ließ sich ein Landgeselchtes geben. »Ah,« lobte er, »das is was Feines, so was hab ich noch nie gegessen. Hoch Stockerau! Bald hätt ich dem nahrhaften Ort Unrecht getan.«

Die Versammlung war glänzend besucht. Der Besuch versprach das Beste für den Wahlkampf. Der Schuhmeier sprach über die Annexionskrise und über die Exzesse des Militarismus. Die Zuhörer waren in seinem Bann. Er holte aus sich heraus, was in ihm war. Und er war nach dem guten Geselchten in einer Laune, wie schon lange nicht. Die Witzraketen sprühten nur so heraus, daß sich die Hörer vor Lachen bogen.

Um ½ 10 Uhr schloß er. Nach ihm kam der Kandidat Hackenberg. Der konnte aber lange nicht beginnen, weil der Applaus, der dem Schuhmeier galt, kein Ende nehmen wollte. Wie er den Saal verließ, riefen sie ihm nach: »Auf baldiges Wiedersehen! Kommen S' recht bald und recht oft wieder, dann wird's auch bei uns vorwärts gehn.«

Der Schuhmeier winkte mit der Hand seinen Serwas in die Versammlung, stellte den Rockkragen auf und ging.

Der Zug ging um 9 Uhr 50 Minuten nach Wien ab, Pilar aus Langenzersdorf und Böck aus Floridsdorf fuhren mit. Sie unterhielten sich während der Fahrt königlich. Der Schuhmeier ließ neueste Anekdoten los, die er auf Lager hatte. Im Parlament konnte man bei den Journalisten, insbesondere bei der markantesten Figur des Journalistenzimmers, dem alten Mendel Singer, der während des Krieges ein Edler von Singer wurde, täglich die neuesten »Lozelach« beziehen.

In Korneuburg bestieg der aufgeregte Mann von der Hinfahrt den Zug. Der Hut war noch tiefer ins Gesicht gedrückt, die Hände hielt er in den Winterrocktaschen vergraben. Er ging suchend durch alle Waggons. Als er den Schuhmeier sah, blieb er einen Moment stehen, überlegte, riß sich zusammen und begab sich in den anstoßenden Waggon. Der Schuhmeier und seine Gesellschaft hatten den Mann gar nicht bemerkt.

In Langenzersdorf stieg Pilar aus, in Floridsdorf Böck. Nun war der Schuhmeier allein.

Auf dem Nordwestbahnhof angelangt, eilte er, die eine Hand in der Winterrocktasche, mit der anderen die Aktentasche haltend, dem Ausgang zu. Er hatte den Ottakringern versprochen, noch auf einen Sprung ins Café Arbeiterheim zu kommen.

Als er die Halle durchschritt, eilte einer auf ihn zu. Es war der aufgeregte Mann vom Zug. Als der bis auf fünf Schritte an den Schuhmeier herangekommen war, zog er einen Revolver aus der Manteltasche, richtete den Lauf gegen den Kopf seines Opfers, und während er rief: »Das ist meine Rache! Weil ich verfolgt wurde!«, drückte er ab.

Die Kugel drang dem Schuhmeier durch das Ohr ins Gehirn. Lautlos brach er zusammen. Er kam mit dem Gesicht auf das Steinpflaster zu liegen. Regte sich nicht mehr. War sofort tot. Das Gehirn, dieses Gehirn war zerschmettert. Blut rann aus dem Kopfe, aus d i e s e m Kopfe, und auf den Boden in einem dünnen schreiend roten Streifen dem Ausgang zu ...

Menschen eilten herbei. Die einen bückten sich nach dem Toten, die anderen packten den Täter. Der stand kalt und ruhig da, den noch rauchenden Revolver in der Hand, und sagte: »Nur keine Aufregung. Ich werde mich schon selber stellen.«

Der Täter hieß Paul Kunschak; war seinerzeit beim »Apollo« gewesen und war der, auf dessen Veranlassung die beiden Vertrauensmänner von den Schuckertwerken wegen Erpressung angeklagt und verurteilt wurden.

Als man die Taschen des Toten durchsuchte, fand man in der Brieftasche zuerst ein Bild seiner Mami.

Neunundvierzig Jahre ist er nur alt geworden...


Im Café Arbeiterheim in Ottakring sitzen die Genossen beim Plausch. Der Sever kommt herein und berichtet: »Landsleut sind da.« Und schon erscheint der lustige bärenhafte Rudolf Bichl aus Leoben in der Tür. Die Unterhaltung geht weiter. Sie warten auf den Schuhmeier.

Der Sever wird ans Telephon gerufen. Leichenblaß kommt er zurück. Spricht kein Wort. Flüstert nur dem Philipp Müllner, der ihm zunächst sitzt, zu: »Nimm deinen Rock und Hut und komm.«

Draußen beginnt der Sever zu laufen. Der Müllner ihm nach. »Der Schuhmeier soll erschossen worden sein«, sagt er im Laufen. Sonst nichts.

»Blöder Witz«, keucht der Müllner und läuft nach.

Auf dem Johann-Nepomuk-Bergerplatz besteigen sie ein Autotaxi und fahren. Zuerst zum Franz-Josef-Bahnhof. Dort weiß man nichts.

»Er war doch in Stockerau,« meint der Müllner, »da kommt man ja auf dem Nordwestbahnhof an.« Sie fahren dorthin. Es ist inzwischen Mitternacht geworden. Auf dem Nordwestbahnhofe sehen sie viele Menschen und begegnen zuerst dem Polizeipräsidenten Gorup. Der führt sie in die Garderobe der Ankunftshalle. Dort liegt auf dem Boden eine Leiche, mit Packpapier zugedeckt. Blut tropft noch immer aus dem Kopfe. Der Tote war Franz Schuhmeier. Inzwischen waren Volkert, Seitz und Dr. Renner erschienen. Das Weinen hat alle geschüttelt. Draußen stand eine erregte Menge.


Ins Arbeiterheim waren schon unbestimmte Gerüchte gedrungen. Die Arbeiter-Zeitung mußte die Schreckensnachricht bestätigen. Niemand wollte nach Hause, es kamen immer neue nach, die schon zu Hause im Bett gewesen. Sie waren alle ratlos, sie waren alle wie gelähmt. Der Sever berichtete kurz und stockend. Alle sanken auf die Stühle. Viele Köpfe auf die Tischplatte.

»Der Franzl, unser Franzl... Das gibt's doch gar net«, stöhnen sie. »Der hat doch keinem Menschen was getan.«

Plötzlich erhob sich einer: »Wer sagt's seiner Frau?«

Keiner wollte dieses schreckliche Amt übernehmen. Der Volkert und Philipp Kütt mußten den schweren Gang antreten.

Der Schuhmeier wohnte draußen in der Wilhelminenstraße in einem freistehenden Hause mit einem Vorgarten. Es war eine finstere, bitterkalte Nacht. Der Volkert klingelte zögernd. Es rührte sich lange nichts. Alle im Hause schliefen. Nochmaliges Klingeln.

Ein Fenster wurde aufgetan und die Rosel, die Älteste, die glückliche Braut, die in einigen Tagen heiraten sollte, steckte den Kopf heraus: »Vater bist du's?«

Der Volkert und der Kütt melden sich. Erschrocken ruft die Rosel: »Was denn? Was denn? Ist dem Vater was geschehen?«

Der Volkert, mit aller Kraft an sich haltend, sagt ruhig: »Machen Sie nur auf und kommen Sie herunter, Rosa, und wecken Sie auch die Mutter.«

Es war so finster, daß man den Sprecher nicht sehen konnte. Seine Rede klang gespenstisch. Zitternd kam die Rosel heruntergelaufen.

»Seien Sie stark, Rosa«, nahm sie der Volkert unter dem Arm.

»Ich werde stark sein, aber sagen Sie nur alles, lebt er?«

Oben hörte man die Frau Cilli und die Viki aufschreien. Der Gustl, der Jüngste, hatte etwas auf der Lunge gehabt und war gerade in Alland zur Kur.

Stockend warf der Kütt ein: »Er ist überfallen worden und liegt verletzt im Spital.«

Die Cilli, die mit der Viki nachgekommen war und das gehört hatte, schrie: »Das ist nicht wahr, Sie sagen mir nicht alles, er lebt nicht mehr.«

Die schwer herzleidende Frau Cilli fiel in Ohnmacht. Die Rosel und die Viki bemühten sich um sie, bekamen aber selbst Weinkrämpfe.

Die beiden Männer stellten sich abseits. Und dann sagte ihnen der Volkert alles.

Die Rosel, die Braut, schluchzte: »So fangt mein Glück an.«

Ein Genosse ist noch in der Nacht in einem Auto hinaus nach Alland zum Gustl gefahren und hat ihn nach Wien gebracht.


Der Mörder wurde im Auto in das Polizeigefangenenhaus auf der Elisabethpromenade gebracht. Die Ruhe und Fassung, die er behielt, überraschte die erfahrensten Kriminalisten. Das Geschoß, mit dem er den Schuhmeier niedergeschossen hat, hatte eine Stahlhülse mit zwei Querschnitten, ein Dumdumgeschoß.


Am nächsten Morgen, als die Zeitungen von dem Grausigen berichteten, gingen die Menschen in Wien wie verloren herum. Auf der Straße und in der Straßenbahn sah man viele gerötete Augen. Aber auch viele zusammengebissene Zähne und viele geballte Fäuste in Rocktaschen verschwinden. Nur die christlichsoziale Presse verteidigte den Mörder. Sie bekannte sich zu ihm. Paul Kunschak, schrieben die Preisfechter der Religion der Nächstenliebe, sei durch die Verfolgungen der Sozialdemokraten zum Verbrechen getrieben worden.

So war es immer und so ist es geblieben. Wurde und wird ein Sozialdemokrat ermordet, war und ist immer der Ermordete schuld. Fiel oder fällt aber einmal einer von ihnen, dann hat die rote Mordbestie gewütet und alle Sozialdemokraten zusammen und ihre Führer natürlich voran sind schuld.


Und dann kam das Allerschwerste. Die Mami. Die gute alte Frau saß zu Hause und wußte noch nichts.

Die Mami wohnte bei ihrem zweiten Sohne Karl Schuhmeier. Die Tochter Nettl war mit dem Schuhmachermeister Bubenik verheiratet, der im selben Hause unten seinen Laden mit Werkstätte samt anstoßender Wohnung hatte.

Der Karl und die Nettl haben das Entsetzliche erst morgens durch die Zeitung erfahren. Niemand hatte den Mut, der Mami etwas zu sagen. Zuerst mußten sie die alte Frau aus der Wohnung Karls locken, damit ihr dort nicht die Zeitung in die Hand falle. Der Schwiegersohn Bubenik kam zu ihr: »Mutter, die Nettl is krank, kommen S' runter helfen.« – Die Nettl hat sich zum Schein ins Bett gelegt –

Später, als sie schon unten war, sagte der Karl: »Mutter, dem Franzl is a Unglück passiert, er muß operiert werden.«

Die alte Frau mußte sich niedersetzen: »Marand-josef, es wird doch net arg sein.«

»Wird net so arg sein, Mutter.«

Am Nachmittag entschloß sich der Karl zu dem Teilgeständnis: »G'rad hör i, Mutter, daß die Operation lebensgefährlich war.«

Die Mami wimmerte leise in sich hinein und bestand darauf, daß sich der Karl sofort erkundige, wie es jetzt stehe. Es kostete Mühe, sie zurückzuhalten, selbst ins Spital zu humpeln.

Der Karl ging. Als er wieder kam, sagte er: »Mutter, es wird immer schlechter.«

Schon nach einer Stunde mußte er wieder Erkundigungen einziehen.

Als er zurückkam, sagte er: »Mutter, der Franzl is tot.«

Und mit Hilfe der Nettl und des Schwiegersohnes erfuhr sie alles. Die erwarteten Verzweiflungsausbrüche blieben aus. Aufrecht stand die alte Frau da.

»Erschossen haben s' ihn? Hab ich's net immer g'sagt? Wie in der Schlacht is er g'fallen.«

Und dann malte sie sich die schrecklichen Vorgänge, die ihr geschildert worden waren, aus, und mit den Worten: »Bei der Versammlung in Stockerau hat ihm das G'selchte so gut g'schmeckt«, warf sich diese todwunde alte Mutter auf das Bett und überließ sich ihrem Weh.


Bei den Verhören bekannte der Mörder, daß er schon vor Monaten den Plan gefaßt habe, den Schuhmeier zu töten. Aus der Zeltung habe er erfahren, daß der Schuhmeier in Stockerau sprechen werde. Er sei mit demselben Zuge gefahren und wollte die Tat in Stockerau begehen. Während der Fahrt habe er es sich überlegt. Er sei in Korneuburg ausgestiegen, habe dort den Zug, mit dem der Schuhmeier zurückfahren mußte, abgewartet, sei in denselben eingestiegen und habe in der Ankunftshalle des Nordwestbahnhofes seinen Vorsatz ausgeführt.

Paul Kunschak gestand weiters, daß er die Tat aus innerster Überzeugung und nach reiflicher Überlegung verübt habe. Der Schuhmeier sei der erste gewesen, der ihm indirekt die freiheitlichen Ideen eingeprägt, und er sei es gewesen, der ihn dafür begeistert habe. Später habe er sich für die Ideen Schuhmeiers nicht mehr interessiert und er sei deshalb von der sozialdemokratischen Partei abgefallen.

Bei weiteren Verhören, immer ohne jede Spur von Reue, sagte er, er sei Sozialdemokrat gewesen und habe den Schuhmeier als den Lehrer der freiheitlichen Ideen verehrt. Als er wegen Differenzen aus der Partei scheiden mußte, sei er von der Organisation verfolgt und herumgehetzt worden. Als er mit ersparten 2000 Mark von Deutschland nach Wien zurückkam, habe er von seinen Ersparnissen gelebt. Gleich anfangs – schon vor zwölf Jahren – habe er den Plan gefaßt, sobald er mit dem ersparten Gelde fertig sein würde, einen der Führer der Sozialdemokratie zu ermorden. Nun war der Zeitpunkt gekommen, daß die Ersparnisse zur Neige gingen, weshalb er sich an die Verwirklichung seines alten Planes machte. Er habe es nicht gerade auf den früher von ihm verehrten Schuhmeier abgesehen gehabt, sondern er wollte irgend einen Führer treffen. Als er in der Zeitung las, daß der Schuhmeier in Stockerau eine Versammlung abhalte, sei sein Plan fertig gewesen, an Schuhmeier Rache zu nehmen.

Auch bei der Verhandlung gegen ihn, die am 19. und 20. Mai 1913 stattfand, blieb er bei dieser Verantwortung. Er behauptete, von den Roten zum Hungertod verurteilt worden zu sein, ihretwegen nirgends Arbeit gefunden zu haben. Mit zynischer Ruhe erzählte und zeigte er, wie er auf sein Opfer schoß:

»... und der Schuhmeier war weg.«

Es wurde ihm nachgewiesen, daß er nach dem Zwischenfall bei den Schuckertwerken an mehreren Stellen unbehelligt gearbeitet hat. Neun Jahre war er fern von Wien, in Deutschland und in Amerika, und er mußte schließlich selber zugeben, daß er seit den Reichsratswahlen von 1911 wahrscheinlich aus Wut über die »Junisieger« gar keine Arbeit mehr gesucht habe. Nach der Verhaftung fand man in seiner Wohnung 170 Kronen in Silber.

Paul Kunschak wurde zum Tode durch den Strang verurteilt, jedoch über Fürbitte der Witwe seines Opfers, Cilli Schuhmeier, zu lebenslänglichem Kerker begnadigt.

Das Gnadengesuch an den Justizminister lautete:

Eure Exzellenz!

Am 20. Mai dieses Jahres wurde vom hiesigen Schwurgericht Paul Kunschak wegen Verbrechens des Meuchelmordes, begangen an meinem mir unvergeßlichen, geliebten Gatten Franz Schuhmeier, nach einstimmiger Schuldsprechung durch die Geschworenen zum Tode durch den Strang verurteilt. Infolge der Verwerfung der Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten ist dieses Urteil am 6. September dieses Jahres in Rechtskraft erwachsen und müßte vollstreckt werden, wenn die über Paul Kunschak verhängte Strafe nicht in eine Freiheitsstrafe umgewandelt wird.

Ich bitte nun Sie, Herr Minister, von Ihrem verfassungsmäßigen Recht, die Umwandlung der über einen Verbrecher ausgesprochenen Todesstrafe zu erwirken, Gebrauch zu machen. Würden Sie das nicht und würde die vom Wiener Schwurgericht ausgesprochene und jetzt rechtskräftige Strafe wirklich vollzogen werden, so würde mir und meinen drei Kindern der unsägliche Schmerz, den das Verbrechen des Paul Kunschak über uns gebracht hat noch gräßlicher werden und alle die Hunderttausende, die das Andenken meines teuren Mannes in Ehren halten, würden die Hinrichtung seines Mörders als Verunehrung des Andenkens an den Toten empfinden.

Getreu dem Programm der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs, das die Abschaffung der Todesstrafe fordert, ist mein Mann die ganze Zeit seines öffentlichen Wirkens hindurch in Wort und Schrift für die Beseitigung der Todesstrafe eingetreten und die Anträge der sozialdemokratischen Partei im Abgeordnetenhause, in denen die Befreiung Österreichs von dieser barbarischen Strafart gefordert wird, tragen auch seine Unterschrift. Wenn er auch als Mitglied der gesetzgebenden Körperschaft das Ziel seiner Anträge nicht erreichen konnte, so soll doch wenigstens nicht das, was er verabscheute und zu beseitigen sich bemühte, um seinetwillen geschehen.

Tiefe Trauer hat das Verbrechen, dessen Opfer mein geliebter Gatte geworden ist, bei allen Sozialdemokraten Österreichs hervorgerufen, aber schon in der Stunde des allergrößten Schmerzes, am frischen Grabe, hat es der Vertreter der vielen hunderttausende gewerkschaftlich organisierten Arbeiter Österreichs ausgesprochen, daß der Mord, so viel Schmerz und Trauer er auch gebracht hat, nicht mit neuem Mord vergolten werden solle. In meinem Auftrag hat in der Schwurgerichtsverhandlung gegen Paul Kunschak mein Anwalt erklärt, daß mir und meinen Kindern nichts ferner liege, als den haßvollen Ruf nach Rache und Vergeltung zu erheben, und daß wir, wenn das Gericht gesprochen hat, beweisen werden, daß uns auch dem Mörder gegenüber menschliches Empfinden nicht fremd ist.

Im Einverständnis mit dem Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie Österreichs, dem auch mein Mann durch zwei Jahrzehnte bis zu seinem Tode angehört hat, und in Übereinstimmung mit der Ansicht aller Sozialdemokraten ersuche ich Sie, Herr Justizminister, zu veranlassen, daß die Todesstrafe an Paul Kunschak nicht vollzogen werde.

Hochachtungsvoll

Cäcilie Schuhmeier

In den Tagen des Umsturzes 1918 wurde Paul Kunschak in Freiheit gesetzt.


Die Leiche Franz Schuhmeiers lag in der Beisetzkammer des Allgemeinen Krankenhauses in der Spitalgasse. Als ob er schliefe, so friedlich waren seine Züge. An der rechten Stirnseite sah man eine kleine Beule, die vom Sturz herrührte. Im Knopfloch seines Totenkleides steckte eine rote Rose, in der Hand hielt er rote Nelken, die ihm seine Frau und die Kinder hineingesteckt.

Von der Spitalgasse wurde der Leichnam des Volkstribunen eingeholt und in das Ottakringer Arbeiterheim geleitet. Die Ottakringer haben ihren armen, toten Franzl heimgebracht.

Der große Saal des Arbeiterheims, das der Franzl erdacht und auch eröffnet und in dem er so oft Worte der Befreiung und Aufmunterung sowie der Beruhigung gesprochen, aber auch Wissen verbreitet hat, lag ganz in Schwarz. In der Mitte stand ein Katafalk. Auf den wurde der Sarg gehoben. Und Blumen, Blumen und Kränze ohne Ende kamen, so daß sie bald keinen Platz mehr fanden in dem riesigen Raum.

Die Ottakringer Vertrauensmänner umstanden den Sarg. Der Sever geleitete die Familie an den Sarg. Sie waren alle fassungslos. Der Tapferste war noch der Gustl.

Die Mami wankte zum toten Sohn und legte einen Strauß roter Nelken auf den Sarg. Neunundvierzig rote Nelken waren es, für jedes erlebte Jahr eine. Und eine schmale rote Schleife war daran. Darauf war eingeprägt: »Meinem lieben Franzl – von seinem Mamerl.«

Als sie auf die Straße kam und die unübersehbare Menschenmenge sah, die trauernd das Arbeiterheim umstand, sagte sie: »Die Arbeiter müssen ihn doch recht gern g'habt haben, mein Franzl.«

Der alte Karl Höger schluchzte auf: »Wann schreibst denn dein Artikel für die Volkstribüne, Franzl?«

Drei Tage lang zogen hunderttausende Menschen an dem Sarge dieses gewesenen Hilfsarbeiters, der in einer Hausmeisterwohnung in der Hirschengasse geboren wurde, vorüber. Nicht einer und nicht eine, die trockenen Auges gegangen wären, nachdem sie zum letztenmal das wächserne Antlitz ihres Abgottes geschaut. Die roten Nelken, die die Vorüberwandelnden zum Katafalk hinwarfen, häuften sich zu Bergen. Viele schrien auf: »Franzl, bleib da, geh net fort von uns.«


Der neue christlichsoziale Bürgermeister von Wien, Dr. Richard Weiskirchner, ließ sagen, daß er am Leichenbegängnisse als Vertreter der Stadt Wien teilnehmen werde. Der Sever mußte zu ihm gehen und von diesem Vorhaben dringend abraten, da niemand Garantien übernehmen könne.


Am Sonntag den 16. Februar 1913 wurde er zu Grabe getragen. Wie keiner noch vor ihm und noch keiner nach ihm. Es war ein heller Wintertag. Die Kälte schnitt wie Glas.

Im Saale, in dem Turner und Feuerwehrleute die Ehrenwache hielten, hatten sich die Trauergäste versammelt. Die Kränze, die gebracht worden waren, konnten nicht mehr gezählt werden. Sechzehn Kranzwagen konnten nur den kleinsten Teil aufnehmen. Nahezu tausend Kränze mußten im Zuge mitgetragen werden. Ein Posaunenchor stimmte den Trauermarsch aus der Götterdämmerung an. 400 Sänger sangen das: »Ruhe, müder Wandrer.«

Dr. Ellenbogen begann seine Trauerrede mit diesen Worten: »Franzl, Schuhmeier-Franzl, das hättest du vor wenigen Wochen nicht gedacht, als du scherzend mir den Auftrag gabst, an deinem Grabe zu sprechen, daß ich dieser Verpflichtung so bald werde nachkommen müssen.«

Und dann trugen sie ihn hinaus aus seinem Haus.

Der unendliche Zug bewegte sich vom Arbeiterheim durch die Hasnerstraße, über den Gürtel, durch die Thaliastraße hinaus auf den Ottakringer Friedhof.

Gegenüber dem Grabe der Opfer des 17. September 1911 war eine offene Grube. Nicht lang, nicht breit, nicht tief, und mußte doch so viel aufnehmen, daß es sich gar nicht sagen läßt.

1800 Ordner waren notwendig, den Zug in Ordnung zu halten. Dreihunderttausend gingen dem Leichenwagen nach. Nicht viel weniger mögen im Spalier gestanden sein. Trotz der großen Kälte war der Friedhof schon seit den ersten Morgenstunden belagert. In vielen Fenstern, an denen der Schuhmeier vorbei seinen letzten Weg geführt wurde, zuckten Lichter.

Auf diesem Wege standen die Wiener stumm, entblößten Hauptes und wischten sich die Tränen von den Augen. Manche streckten die Hände nach dem Leichenwagen aus, als wollten sie ihren Franzl zurückhalten, damit er bei ihnen bleibe.

Zwei »Damen« standen auf einem Balkon und sagten zueinander: »Recht ist ihm geschehen. Schaun Sie, nicht einmal ein Geistlicher ist dabei. Der wird wie ein Vieh begraben. Um so was ist nicht schade.«

Zum Glück hat sie niemand gehört.


Die Bläser bliesen den Pilgerchor aus »Tannhäuser«. Der Sever nahm für die Ottakringer für immer Abschied: »Mein lieber Franzl! Du warst uns ein Kamerad, ein Freund, wie wir ihn nie wieder bekommen werden. Wir haben tausende Parteigenossen, aber wir haben keinen Schuhmeier, wir haben keinen, der uns ein solcher Freund gewesen wie du. Wir können dir nichts versprechen, als daß wir Ottakringer Arbeiter dein Andenken bewahren, daß wir den Feinden zum Schrecken und Trutz die Schuhmeiergarde bleiben, daß wir stets und überall dort, wo es gilt, die Feinde der Arbeiter zu bekämpfen, mit deinem Bilde voraus marschieren und siegen werden. Franzl, die Erde sei dir leicht.«

Stockfinster war es schon und noch immer zogen die Massen an dieser Grube vorbei, die längst ausgefüllt war mit roten Nelken, die jeder und jede als letzten Liebesgruß hineinwarfen.

Und noch am Tage darauf gab es eine Massenwallfahrt zum Grabe Franz Schuhmeiers, die von 7 Uhr früh bis 6 Uhr abends dauerte. Viele rissen Blumen aus den haushoch aufgestapelten Kränzen, die sie zu Hause zum ewigen Gedenken an den Franzl preßten und auf einem Ehrenplatz verwahrten.

Franz Schuhmeier, der 25 Jahre lang für das leidende Volk gelebt und gestritten, davon 20 Jahre in Ottakring, war nicht mehr. Ein Holzschrein in einer Grube, ein Hügel darüber, und dann ein steinernes Monument davor mit dem Prachtmenschen Schuhmeier aus Erz, redend, so wie er immer geredet hat – das war übrig geblieben von seinem Leib.

Der Michel mußte nach dem Begräbnis eine Woche im Bette bleiben und sie haben für seinen Verstand gefürchtet. Dann kam er wieder zu den Genossen und sagte mit tonloser Stimme: »Und jetzt gehn wir's wieder an. Der tote Franzl muß ihnen gefährlicher werden als der lebendige es war.«


In der »Volkstribüne« schrieb Karl Höger: »Vom klaren Himmel ist ein Blitz niedergefahren auf die Erde und eine Eiche hat er bis zu den Wurzeln gespaltet. Einen prächtigen Baum hat das Geschick sich auserwählt, zu sterben vor der Zeit. Und alle, die dieses Baumes Zauber sich einmal hingegeben und die Eiche liebten ob ihrer Herrlichkeit und knorrigen Schönheit, waren tief erschüttert über den so unvermittelt eingetretenen Verlust, den sie erfahren... Schuhmeiers Leib ist im Grabe – sein Geist aber wird uns alle erfüllen, jetzt und in aller Zeit. Der Märtyrer wird uns stets ein Heiliger der Menschheit sein.«

Am 2. Oktober desselben Jahres ist die Mami zu ihrem Franzl ins Grab gestiegen.


Im Wahlbezirke Krems-Stein-Klosterneuburg-Korneuburg-Stockerau, der seit dem Junisieg 1911 den Sozialdemokraten gehörte, ist bei der Nachwahl ein Bürgerlicher, ein Deutschnationaler gewählt worden. Schuhmeiers Opfertod zählte bei der Mehrheit der Wähler

nichts. Und in der Leopoldstadt haben sie bei der Nachwahl an Stelle des Schuhmeiers den Christlichsozialen Dr. Mataja gewählt. Die Partei des Mörders als Erbin des von einem der ihren Gemordeten – wer findet sich in Menschenköpfen zurecht?

Was hat der Schuhmeier einmal zum Michel gesagt: »Wenn wir uns eine neue Welt bauen wollen, brauchen wir ganz neue Menschen dazu. Die müssen wir uns erst schaffen. Und das braucht viel Zeit und viel Arbeit und unendlich viel Begeisterung und Geduld.«


Der Parteivorstand beschloß, das Andenken Franz Schuhmeiers, der sein ganzes Leben lang von einem unbezähmbaren Lern- und Bildungseifer besessen war und in jeder Minute der Muße immer wieder zu den Büchern zurückkehrte, durch Errichtung eines Schuhmeier-Fonds zu ehren. Der Fonds sollte durch freiwillige Beiträge, Kranzablösungsspenden und sonstige Zuwendungen gespeist werden. Das Erträgnis sollte der Bildungsarbeit der Arbeiterschaft dienen und insbesondere begabten, mittellosen Arbeiterjünglingen ermöglichen, sich auszubilden, ihre Kenntnisse zu erweitern, um dann das Bildungsgut, das sie sich erworben haben, wieder weiterzugeben und der Arbeiterklasse fruchtbar machen zu können. So sollte der tiefste Sinn des Arbeiterlebens, das Franz Schuhmeiers Lebensgang zeigte, in fortwirkende Tat umgesetzt werden.

»Es wirke«, hieß es in dem Aufruf, »nicht allein sein unvergängliches Beispiel weiter, sondern wie er im Leben ein Lehrer war, so sei er es auch nach dem Tode, indem in seinem Namen die Arbeit für die Bildung und Erhöhung der Arbeiterjugend fortgesetzt wird! Der Schuhmeier-Fonds, der geschaffen wird für die Bildungbestrebungen der Arbeiterjugend, zur Förderung begabter Arbeiterjünglinge, der wird das schönste und leuchtendste Andenken an dieses unvergängliche Leben sein.«


 << zurück weiter >>