Robert Ascher
Der Schuhmeier
Robert Ascher

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Zweiunddreißigstes Kapitel

In einer Versammlung hat einer von den Gegnern gesagt: »Dieser Schuhmeier gehört auch zu den Volksbeglückern, die sechs bis sieben Zimmer bewohnen, ihre Kinder von Pfaffen erziehen lassen – und die Arbeiter haben doch nichts zu essen.«

»Das laßt du dir gefallen?« forschte der Michel, »wo i deine Wohnung auf 'n Berg draußen kenn und die Schulen, in die deine Kinder 'gangen san?«

»Schmeiß die Zeitung weg,« gab ihm der Schuhmeier ruhig zur Antwort, »morgen erscheint eine neue Nummer. Was ich mir denke, darf ich net sagen, sonst sind wieder alle bös auf mich.«

»Noch was weiß i,« wieder der Michel, »die eigenen Leut zerreißen sich wieder 's Maul über dich. Sie rechnen aus, was du alles für Amterln hast, und sagen, du bist a Großverdiener für unser Geld.«

»Denen sag dasselbe, was i net sagen darf, Serwas.«

»Serwas.«

Und der Schuhmeier ging seinen Weg, von Hunderten mit »Serwas« begrüßt. Der Schuhmeier bezog Gehalt und Diäten, aber für sich und die Seinen und die alte Mami verbrauchte er lange nicht alles. Er konnte sich nie mit dem Geldausgeben befreunden. Einen Teil seiner Einkünfte gab er an Notleidende, ohne viel Aufhebens davon zu machen, und oft wußten die Beteilten gar nicht, wer der Spender war. Er ließ das nicht, wie die bürgerlichen Wohltäter, in die Zeitung geben, die sich davon einen Titel oder einen Orden erhofften.

Da war zum Beispiel in Ottakring eine junge Frau, eine gewesene Klosternovize und natürlich gute Christlichsoziale; die war schwer tuberkulos. Der Mann war arbeitslos, sie waren seit sechs Wochen mit dem Zins im Rückstand und vom Hausbesitzer gekündigt worden. Davon erfuhr die Ottakringer Genossin Lippa und sie ging in die Wohnung dieses politischen Gegners, um nachzuschauen, ob und wie geholfen werden könnte. Sie fand die Frau zum Skelett abgemagert im Bett, neben ihr das todkranke Kind.

Die Genossin Lippa intervenierte bei dem Beichtvater der Frau, dem Pater Maier im Kloster in der Mariengasse, und beim Christlichen Frauenbund ohne jeden Erfolg. Der Pater Maier kam zu der Kranken, schimpfte, was sie eigentlich glaube und noch alles wolle. Beim Weggehen ließ er ein Heiligenbild zurück. Auf dem stand: »Rette deine Seele.«

Die Genossin Lippa erzählte die Geschichte dem Schuhmeier. Der gab ihr sofort zwanzig Kronen und schickte der armen Frau am nächsten Tage durch seinen Bruder Karl noch eine Summe. Nach einigen Tagen erkundigte er sich bei der Genossin Lippa, wie es ihrem Schützling gehe.

»Sehr schlecht«, war die Antwort.

Der Schuhmeier steckte ihr wieder zehn Kronen und sagte: »Geben Sie das der armen Frau, sie soll sich gute Pfingstfeiertage machen.«

Dabei hat er diese Frau nie gesehen. Sie ist bald darauf gestorben. Das ist ein Fall unter vielen.


In seiner Wirksamkeit kam der Schuhmeier wie jeder, der im öffentlichen Leben steht, viel mit Frauen, jungen und alten, in Berührung. Es ist selbstverständlich, daß ein Mann, den schon jedes Kind in Wien und auch darüber hinaus kannte, von dem so viel gesprochen und geschrieben wurde, daß also dieser populäre Mann auch von vielen Frauen bewundert, mitunter freundlicher angeschaut wurde, als Frauen sonst Männer anschauen. Frauen sonnen sich gerne an der Berühmtheit eines Mannes. Und es mag manche darunter gegeben haben, die nicht abgeneigt gewesen wäre, sich sogar eine Ehre daraus gemacht hätte, näher, ganz nahe mit ihm bekannt zu werden. Der Schuhmeier, wenn er herausstaffiert war, war ein hübscher Mann.

Es wurde manches über den Schuhmeier und seine eheliche Treue getuschelt. Und wir können nicht mit gutem Gewissen behaupten, daß er immer eisenstark geblieben und niemals gestrauchelt ist. An Männer, die draußen stehen, treten mehr und stärkere Versuchungen heran als an solche, die in stiller Zurückgezogenheit leben. Der deutschradikale Politiker Karl Hermann Wolf, der auf dem Gipfel seines Ruhmes über eine Weibergeschichte stolperte, sagte vor Gericht ganz einfach: »Das ist der Punkt, wo wir alle sterblich sind.«

Zu jener Zeit hat es in der Partei viele Ehegeschichten gegeben. Die Männer waren Proleten in Fabriken und Werkstätten mit dem Wissen und den Umgangsformen der damaligen Proleten, als sie, jung noch, eine Proletin gleicher Art und Herkunft geheiratet haben. Diese Männer sind zur Partei gekommen, haben in ihr gearbeitet und vieles gelernt, sind etwas geworden, Funktionäre, Mandatare. Besaßen nun Wissen, Schliff, kamen in Kreise, in denen man auf schöngeistige Unterhaltung und höhere Lebensformen hält, dort mit schönen, gepflegten Frauen zusammen, die sich auch etwas Bildung angelesen hatten und die, vielleicht nur aus Spielerei, dem vielgenannten Politiker und Parlamentarier Avancen machten. Und zu Hause saß die eigene Frau, die über Wirtschaftssorgen und Kinderwartung dieselbe geblieben war, die sie gewesen, als er sie nahm. Er war hochgekommen, sie unten geblieben. Manchmal, weil er sich um alles, nur nicht um das Mitkommen seiner Frau kümmerte, manchmal auch, weil sie gar nicht mit hinaufkommen wollte. Das paßte dann nicht mehr zusammen und ging in die Brüche.

Der Schuhmeier hat sich nie an eine andere Frau verloren und damit alle in den Sumpf gezogen, denn er hat von den Frauen eine zu hohe Meinung gehabt, und wer in diesem sicher schon längst erwarteten Abschnitt pikante Enthüllungen sucht, kommt nicht auf seine Rechnung.


»Eins paßt mir net vom Franzl,« sagte ein Genosse zum Michel, »daß alles nach sein Kopf gehn muß. Da heißt's mir san Demokraten und mir bestimmen mit, Schnecken. Soll sich einer anders abzustimmen traun, als der Franzl will. Sie heißen ihm a schon den roten Zaren von Ottakring.«

»Weil seiner der beste Kopf is«, erwiderte der Michel.

»Woher wissen wir denn,« wieder der andere Genosse, »ob's net doch noch ein helleren Kopf gibt, den er net aufkommen laßt? Gegen die Kaiser und Autokraten san wir und selber ziehen wir uns so was groß.«

»Weil das einer von unsern Fleisch und Blut is und weil wir den davonjagen können, wann er uns nimmer paßt, du aber ein Kaiser oder ein Autokraten nimmer wegbringst. Der bleibt sitzen auf sein Hintern, wann a alles gegen ihm is. Und man darf's net amal sagen, daß man gegen ihm is.«


Mit dem Dr. Lueger ging es zu Ende. Sein Leib, von langer, böser Krankheit geschwächt, versagte den Dienst und sein von den Aufregungen des politischen Kampfes ermüdetes Herz begann immer schwächer und schwächer zu schlagen und wollte schon seine Ruhe haben.

Es war ein grausiges Sterben. Das Sterbebett stand sozusagen auf öffentlichem Platz in einem Glaskasten. Wochenlange dauerte der Todeskampf. Die sensationsgierigen Zeitungen berichteten früh und mittags groß aufgemacht jede Phase dieses vergeblichen Raufens mit dem Sensenmann, jedes Wort, das der Totgeweihte noch hervorbrachte, jedes Räuspern und Husten und jede Kopfbewegung, und die Menschen umstanden Tag und Nacht das Rathaus, in dem sich dieses Sterben begab, um aus erster Hand die neuesten Bulletins zu erfahren. Frauen kochten allerlei Tees und Suppen und Kraftbrühen zusammen, von denen sie überzeugt waren, daß sie den Bürgermeister noch retten könnten, und schickten sie hinauf ins Krankenzimmer.

Am 10. März 1910 hatte der Dr. Karl Lueger ausgelitten. Nach den Martern dieser Agonie eine Erlösung.

Der Tod ist ein großer Verklärer. Er streift von seinem Opfer alle Schlacken ab, die ihm vom Lebenskampfe anhaften, und man sieht nur den Menschen, der über sich nicht hinauskonnte und es auf seine Weise gut und ehrlich gemeint haben mochte.

Der tote Dr. Karl Lueger war auch für seine erbittertsten und von ihm noch erbitterter bekämpften Gegner der Mann, der sein liebes Wien geliebt hat und persönlich selbstlos geblieben ist, während rings um ihn alles gerafft und gestohlen hat. Der Tod stimmt die Überlebenden weich, und zum ersten Male findet der Gegner gute Worte für den Gegner, wenn er tot ist.

Der Schuhmeier schrieb dem Dr. Karl Lueger, seinem Widerpart, in der »Volkstribüne« diesen Nachruf:

»Er war ein Wiener, mit allen Vorzügen und Schwächen eines solchen behaftet. Lueger liebte seine Vaterstadt wie selten einer und er sah aber auch wie bald keiner über die bedeutenden Erscheinungen des Kapitalismus in dieser Stadt, für die er allerdings nicht verantwortlich zu machen ist, hinweg. Daß Tausende in Wien Hunger litten, während im Rathause prunkende Festlichkeiten stattfanden, daß armen, geängstigten Müttern kranke Kinder auf der Suche nach einem Spitalbett in den Armen starben, in der Zeit, wo Wien äußerlich so schön gestaltet wurde, das wußte Dr. Lueger, aber er ging daran mit einem Achselzucken, gewiß mit einem bedauernden Achselzucken, vorüber.

Was der Mann erstrebte, Bürgermeister der Haupt- und Residenzstadt zu werden, hat er in verhältnismäßig kurzer Zeit aus eigener Kraft erreicht. Wider die Liberalen kam, sah und siegte er. Er schuf sich seine Mitstreiter, indem er sie machte. Für wen Lueger auf die Tribüne stieg, der war gewählt. Lueger wurde Bürgermeister und Hunderte hob er mit zu Amt und Würden empor. Lueger hob viele von denen, die sich heute als ›Größen‹ in der Gemeinde geben und die früher unbekannt waren, aus dem Nichts empor. Er überschüttete seine Getreuen mit Gunst und sie waren es, die ihm zum Dank dafür die Popularität begründeten und ihm im wohlverstandenen Interesse mit nie rastendem Eifer zu einer andauernden Volkstümlichkeit in ihren Kreisen verhalfen. In den Kreisen der Arbeiterschaft war aber Lueger nie das, was er so gerne sein wollte und worauf seine Bewunderer auch hinarbeiteten: der Volksmann. Die Arbeiter, das heißt: die freie Arbeiterschaft kannte Lueger so recht doch nur aus seiner Feindschaft gegen sie, als den Redner, der, wie der letzte in seiner Partei, sie vor der Öffentlichkeit im Ansehen herabzusetzen suchte. Als Agitator war Lueger der beste und verläßlichste seiner Partei. Sie hat keinen zweiten wie er. Als Mann der Verwaltung in der Gemeinde war er wohlbewandert in allen Zweigen derselben und einzig unter den Christlichsozialen eingearbeitet. Zeitlebens hatte Lueger auch reine Hände und nichts konnte ihn, als er noch in den Jahren der Vollkraft war, mehr entsetzen, als angehäuftes Geld bei einem derjenigen, die mit ihm gearbeitet hatten.

Aber wo im politischen Leben die ersten Reihen der sozialdemokratischen Armee, ja nur deren Vorposten standen, fand die politische Gewalt und die Macht der Persönlichkeit Luegers ihre Grenze.

Was gut war im Wirken Luegers, können wir rückhaltlos anerkennen, denn wir haben, unserer Ansicht nach, unsere Rechnung mit ihm restlos beglichen. Er schenkte uns nichts und wir sparten ihm nichts.«


Mit großem Pomp und unter riesiger Teilnahme der Wiener wurde der Bürgermeister Dr. Karl Lueger durch seine Vaterstadt Wien zu Grabe getragen.

In seinem politischen Testament hatte er seinen Günstling, den Dr. Richard Weiskirchner zu seinem Nachfolger bestellt. Der sollte die Partei führen und den Bürgermeisterstuhl erklimmen. Der Dr. Weiskirchner war der einzige unter seinen Leuten, zu dem der Dr. Lueger Vertrauen hatte und den er für befähigt hielt, sein Werk fortzusetzen.

Der Dr. Richard Weiskirchner war aber gerade Handelsminister und mochte sich von diesem warmen Sessel ohne Not nicht trennen. Er trat das große Erbe nur bedingt an. Erst wenn er nicht mehr Minister sei, wolle er, erklärte er, die Partei führen und Bürgermeister werden.

Sie wählten den alten, stocktauben Dr. Josef Neumayer zum Bürgermeister von Wien und die Führung der Partei kam in die ungeeignetsten Hände. Prinz Alois von und zu Liechtenstein wurde Parteichef. Die treibende Kraft wurde der Dr. Albert Geßmann.


Die Regierung verlangte eine Erhöhung der indirekten Steuern, die das Volk zu zahlen hat. Der Besitz sollte, wie immer, verschont bleiben. Erhöht werden sollten die Personaleinkommen-, die Branntwein-, Sodawasser-, Mineralwasser-, Wein- und Zündholzsteuern. Dazu sprach der Schuhmeier: »Die Belastung der österreichischen Bevölkerung ist in einem so unerhörten Maße vorhanden, daß jedes Mehr, das dazukommt, für die Bevölkerung eine weitere unerträgliche Last bedeuten würde. Und da wir Sozialdemokraten immer nur hören, die Regierung brauche soundso viele Millionen, nie aber ganz genau wissen, daß sie auch diese Millionen außer den 182 Millionen Kronen, die sie noch beansprucht, nur dem Militarismus in den Rachen werfen will, daß uns absolut an keiner Stelle gesagt wird, was die Regierung zu tun gedenkt, um endlich einmal die Alters- und Invaliditätsversicherung, die Witwen- und Waisenversorgung ins Leben zu rufen; da die Regierung immer nur für sich Geld aus dem Volke heraus braucht, aber das Geld nicht in das Volk zurückführen will, auf daß das Volk etwas Positives davon habe, darum, meine Herren, müssen wir gegen den Finanzplan der Regierung und auch gegen ihre 182-Millionen-Kronen-Forderung auf das energischeste ankämpfen. Was an uns liegt, werden wir tun. Wir werden das Steuerbukett nicht nur untersuchen, wie es gebunden ist, wir werden es zerlegen und zerzausen bis auf das letzte Blümerl und den Rest dem Finanzminister vor die Füße werfen und ihm sagen: So löst man in Österreich Steuerfragen nicht. Es ist das höchste Ziel der Leistungsfähigkeit erreicht. Der Staat soll suchen, mit dem, was er hat, auszukommen, jetzt ist es einmal Zeit, Volksnotwendigkeiten zu erledigen, jetzt ist es einmal Zeit, der Teuerung zu steuern, die Alters- und Invaliditätsversicherung, die Witwen- und Waisenversorgung zu machen, dann die Frage der Arbeitslosigkeit zu lösen. Der Herr Finanzminister, der manchmal so witzig zu sein weiß, möge hinausgehen ins Volk und den Hunger und die Not sehen und der Witz wird ihm auf den Lippen ersterben, wenn er auch nur noch einen Funken Menschlichkeitsgefühl in seinem finanzministerlichen Herzen sich aufzubewahren in der Lage gewesen ist.«


Bald nach dem Leichenschmaus lagen sich Luegers Getreue in den Haaren. Sie rauften um jeden Brocken, daß die Fetzen flogen, und rissen einander die Larven vom Gesicht.

Der Stadtrat Felix Hraba, der Finanzreferent, scheint irgendwie zu kurz gekommen zu sein. Denn – der Herr und Meister war noch nicht ganz kalt – er ließ eine Bombe platzen. In einer öffentlichen Versammlung nannte er seine engsten Parteigenossen Beutepolitiker, Gaukler und sagte: »Es gibt nämlich auch Antisemiten, die Wölfe im Schafspelz sind, die zu einem ›Gott Nimm‹ beten.«

Der »Gott Nimm« ist ein geflügeltes Wort geworden.

Später wurde er deutlicher und nannte Namen. Es gab »Gott-Nimm«-Prozesse, in denen sich die Wölfe im Schafspelz die unsaubersten Dinge vorwarfen – es wäre zum Brüllen gewesen, wenn es nicht gar so traurig gewesen wäre.

Noch später gab der Stadtrat Hraba Ehrenerklärungen ab. Wie die zustande gekommen sind – das mag spätere Forscher interessieren.


Die Partei selbst blieb vom Nationalitätenkampf nicht verschont. Die Tschechen, »Separatisten« wurden sie von den Zentralisten und den deutschen Genossen genannt, gründeten ihre eigenen Gewerkschaften, auch in den Betrieben, wo die deutschen Arbeiter in der Mehrheit waren und es nur wenige tschechische gab, so daß in vielen Betrieben die Arbeiterschaft national gespalten war. Sie lieferten keine Beiträge mehr an das »feindliche Wien« ab, bekämpften und beschimpften die Wiener Gewerkschaftszentralen und die zentrale Wiener Parteileitung als Unterdrücker des Slawentums und als deutsche Nationalisten und traten schließlich aus dem Gesamtverband der sozialdemokratischen Abgeordneten aus: Es kam schon damals vor, daß die tschechischen sozialdemokratischen Abgeordneten in offener Sitzung gegen die deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten stimmten.

Es war ein verbitterter und verbissener Kampf. Der Riß war nicht mehr zu flicken. Der Bruch war nicht aufzuhalten gewesen, wie der spätere Zerfall Österreichs nicht aufzuhalten war.


Die Arbeitslosigkeit wuchs und damit die Not und gleichzeitig kletterten die Lebensmittelpreise lustig in die Höhe. Die Fleischpreise stiegen infolge der einseitigen Agrarpolitik Österreichs und nach dem Diktat Ungarns und ein Stückerl Fleisch war nur mehr ein Festtagsgericht auf dem Tische des Arbeiters. Die Forderung der Sozialdemokraten nach Öffnung der Grenzen und Einfuhr billigen argentinischen Gefrierfleisches fand taube Ohren.

Am Sonntag, den 2. Oktober 1910, bewegte sich ein mächtiger Demonstrationszug vom Schwarzenbergplatz zum Rathaus. 350.000 Menschen haben daran teilgenommen.


Die Nachwahlen für die durch Luegers Tod freigewordenen Mandate waren fällig.

In Hietzing wurde der neue Bürgermeister Dr. Neumayer gegen den Sozialdemokraten Emil Polke glatt gewählt.

Die Leopoldstädter erklärten, die Garantie für die Eroberung des Luegerschen Landtagsmandates übernehmen zu können, wenn sich der Schuhmeier darum bewerbe. Im Zeichen Schuhmeiers, das war die allgemeine Ansicht, läßt sich überall siegen.

Der Schuhmeier, der schon Gemeinderat und Reichsratsabgeordneter war, nahm auch das noch auf sich.

Als die Christlichsozialen erfuhren, daß sie gegen den Schuhmeier zu bestehen hätten, wurde ihnen bange. Sie montierten einen überdimensionalen Schwindelapparat und drohten den in der Leopoldstadt zahlreich vertretenen jüdischen Wählern ganz offen mit einem blutigen Pogrom, falls der Schuhmeier gewählt werden sollte.

Der erste Wahlgang blieb unentschieden.

Am Vorabend der Stichwahl erschien der Schuhmeier in einer Versammlung der bürgerlich-freisinnigen Partei, die beschlossen hatte, in der Stichwahl für den Schuhmeier einzutreten. Er führte dort aus: »Was wir jetzt sehen, ist der sich in Todesängsten windende konfuse Antisemit. Was sie da alles erzählen über Entthronung, Portugal, Dynastie, soll nur ablenken von der Wahrheit. Es handelt sich morgen nicht um diese Dinge, sondern um billiges Brot, billiges Fleisch, Abwehr neuer Steuern, vor denen Sie nicht sicher sind, wenn die Schlacht morgen zugunsten der Christlichsozialen ausfällt. Morgen soll allerdings der Anfang mit dem Sturze einer Dynastie gemacht werden; sie heißt Geßmann. In den Wahlkampf ziehen wir mit der Parole: Weg mit der Lüge, herunter mit der Niedertracht, der Wahrheit eine Gasse!«

In der Stichwahl wurde der Schuhmeier mit mehr Stimmen, als seinerzeit der Obergott Lueger erhalten hatte, zum Landtagsabgeordneten gewählt. Die Genossen von ganz Wien, natürlich in erster Linie die Ottakringer, haben den ganzen Tag wie die Rösser angezogen.

Der Sieg war nicht leicht. Er wurde nur möglich, weil es gelang, noch am Vormittag die Schwindelhöhlen der Christlichsozialen auszuheben. Die Genossen bemerkten, daß viele Männer, die zur Urne schritten, Stecknadeln mit blauen Köpfen angesteckt hatten. Sie schlichen diesen verdächtigen Herrschaften nach und sahen, wie diese von einem Wahllokal ins andere gingen und überall »wählten«. Nun ließen sie die Stecknadelwähler nicht mehr aus dem Auge und so gelang es, in die Wählerfabrik einzudringen und deren Betrieb zu schließen. Noch tausende Wahllegitimationen lagen dort herum, die alle, wäre man nicht rechtzeitig auf den Schwindel gekommen, christlichsozial »gewählt« hätten. Die blauen Stecknadelköpfe dienten als Erkennungszeichen für die durchwegs christlichsozialen Vorsitzenden der Wahlkommissionen.

Der Michel hat einen Wahlschwindler erwischt, wie er aus einem Wirtshaus mit anderem Hut und anderer Krawatte herauskam, als er hineingegangen war. Er kam mit dem Wahlschwindler, der ein Riese war, in Meinungsverschiedenheiten und dann ins Raufen, wobei er, der viel kleinere und schwächere, ein Loch im Kopf davontrug, aus dem das Blut wie ein Bächlein rann. Dann, nachdem er sein Loch im Kopfe hatte, kam die Polizei und arretierte – den Michel. Den Wahlschwindler und Kopflochschläger ließ sie verkommen.

Der Jubel über den Sieg Schuhmeiers war unbeschreiblich. Beim »goldenen Widder« in der Taborstraße sprach er: »Es ist uns gelungen, zu erreichen, was wir wollten, Bresche zu legen in die feste Burg, die Dr. Lueger in diesem Bezirk aufgerichtet hat. Dabei muß ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt lenken, der wohl der Erwägung wert ist. Dr. Lueger ist in diesem Bezirk mit 12.338 Stimmen gewählt worden, der sozialdemokratische Kandidat aber mit 12.736 Stimmen. Wir haben also wirklich begründete Ursache, uns über einen solchen Erfolg zu freuen. Die heutige Wahl muß den Christlichsozialen ein Denkzettel dafür sein, daß man das Wahlglück nicht immer korrigieren kann mit Schwindel und Betrug. Heute ist die Meinung der Leopoldstädter wirklich zum Ausdruck gekommen, sie konnte nicht, wie schon so oft, unterbunden werden durch den christlichsozialen Betrug. Wäre es uns gelungen, heute jeden Schwindel zu verhindern, um wieviel jämmerlicher hätte der christlichsoziale Kandidat abgeschnitten! Nichts hat es genützt, daß sie an die städtischen Bediensteten Stimmzettel von unerhört prononcierter Farbe hinausgegeben haben, so daß sie genau kontrollieren konnten, wie diese Bediensteten stimmten.

Ich danke allen, die heute für unsere gerechte Sache im Feuer gestanden sind, und ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich, wenn Sie mich rufen, ebenso am Platze sein werde, wie Sie für mich am Platze gewesen sind. Stimmen Sie mit mir ein in den Ruf: ›Es lebe die internationale Sozialdemokratie!‹«

Für die Ottakringer sagte Sever: »Wir haben Ihnen unseren besten Mann gegeben und wir danken Ihnen, daß Sie ihm zu einem so glänzenden Siege verholfen haben.«

Als der Schuhmeier schon am nächsten Tage im Landtag erschien, riefen ihm die über die Niederlage noch nicht beruhigten Christlichsozialen zu: »Judenvertreter! König von Zion!«


Im April 1911 wurde das Abgeordnetenhaus, das erste nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht gewählte, aufgelöst. Vier Jahre blieb es nur am Leben. Im Kampf der Nationalitäten war es unrühmlich gefallen. Die Neuwahlen wurden für den Juni ausgeschrieben.


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