Robert Ascher
Der Schuhmeier
Robert Ascher

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Die Ministerien kommen und gehen. Keines kann den verfahrenen Karren Österreich weiterbringen. Die zusammengeheirateten Nationen wollen wieder auseinander. Sie empfinden dieses Österreich als einen Völkerkerker.

Nach Badeni kam Gautsch, nach Gautsch Thun, dann Clary, Wittek und schließlich 1900 das Ministerium Dr. Ernst von Koerber. Dr. von Koerber war ein Unikum unter den altösterreichischen Bürokraten. Er war sozusagen ein Europäer und hatte recht moderne Ansichten über Regieren und Verwalten. Es begann eine freiere Luft zu wehen. Es wurden fast keine Zeitungen mehr konfisziert, in den Versammlungen erschien kein Regierungsvertreter mehr, man konnte lauter und offener reden. Dr. von Koerber hatte sicher die besten Absichten, es mit diesem Österreich noch einmal zu probieren. Er selbst nannte sich einen Mann der »leidenschaftslosen Beharrlichkeit« und war der unbeirrbaren Meinung, daß »Österreich ist«, aber kam auch nicht weiter. Die auseinander wollten, konnte er auch nicht aneinander fesseln, die hohe Bürokratie sabotierte seine Wünsche und Anordnungen. Sie konnte das Bevormunden und Kujonieren und Maulverbinden und das »Zaruck« und »Einspirrn« nicht lassen.

Daß ihr oberster Chef, der Ministerpräsident Doktor Ernst von Koerber von ihnen verlangte: »Die Beamten sollen auf die Bedürfnisse der Bevölkerung in erster Linie Rücksicht nehmen«, überhörten sie.

Im Feber 1900 streikten die Bergarbeiter in den böhmisch-schlesischen Kohlenrevieren fast acht Wochen lang. Die Bergarbeiter wurden von den Kohlenbaronen Rothschild und Gutmann und dem Grafen Larisch schließlich durch Aushungerung niedergezwungen. Anläßlich einer Parlamentsdebatte verteidigten die christlichsozialen Antisemiten die Barone Rothschild und Gutmann und nahmen gegen die Streikenden Stellung. Die Sozialdemokraten wurden beschuldigt, die Streikgelder der Kohlenarbeiter gestohlen zu haben. Der Abgeordnete Leopold Steiner von der Luegerpartei tat sich im Anbiedern an Rothschild besonders hervor und erhielt von Schuhmeier den Titel »Rothschildsteiner«.

Fast wäre es dem Dr. von Koerber gelungen, mit den Tschechen friedlich auszukommen und sie zum Aufgeben ihrer Obstruktion zu bringen – da geschah rechtzeitig die traditionelle österreichische Dummheit.

Bei einer sogenannten Kontrollversammlung irgendwo in Mähren haben tschechische Reservisten beim Namensaufruf »Zde« statt »Hier« gerufen. Sie erhielten wegen Meuterei mehrere Monate Festungshaft. Und die Tschechen wurden wieder wild und lähmten das Parlament.

In der »Volkstribüne« führte der Schuhmeier inzwischen einen rücksichtslosen Kampf gegen die sich häufenden Soldatenmißhandlungen und gegen die Schmutzkonkurrenz, die die Militärmusiken den Zivilmusikern machten. In seinem Blatte veröffentlichte er um diese Zeit auch Feuilletonzyklen gegen die Klerisei:

»Widerspruche zwischen Theorie und Praxis« –

»Pfaffen-Schnitzerln« –

»Ceterum censeo« –

»Bilder aus der Geschichte des Papsttums« –

und verdammte in Reden und Artikeln den Mißbrauch der Kanzeln für politische Agitation. Ein großer Teil dieser Abhandlungen verfiel natürlich dem Rotstift des Staatsanwaltes.

Für den Lichtstrahlenkalender 1901 schreibt er einen grimmigen antiklerikalen Aufsatz: »Von der Freßfreiheit der Hasen«, interessiert sich nebenbei auch für die Literatur, die Kunst, das Theater und schreibt Theaterkritiken.

Über eine Aufführung des Volksstückes »Das vierte Gebot« von Ludwig Anzengruber begeistert er sich: »Es ist ein bürgerliches Drama von ungeheurer Kraft und furchtbarer Wahrheit, das Anzengruber in seinem ´Vierten Gebot' dem Volke geschenkt hat.«

Über die »Öffentliche Meinung« und über die bürgerliche und Parteipresse schreibt er diesen trefflichen Aufsatz, der heute noch genau so zeitgemäß ist wie damals:

»In früheren Zeiten war die öffentliche Meinung etwas Unbegreifliches; sie hatte keinen Körper, keine deutlichen Umrisse; sie bestand, man wußte nicht wie; sie setzte sich aus tausend kleinen Zügen zusammen: aus dem flüchtigen Wort des Prinzen und vornehmen Herrn, aus dem bedeutungsvollen Kopfschütteln des Gevatters Schneider in der Innungskneipe, aus dem Geschwätz der Frau Base beim Nachmittagsbesuche, auf dem Markte, in der Spinnstube. Eine bestimmte Gestalt nahm sie nur in der wohl nicht durch das geschriebene Gesetz, aber durch die Sitte eingesetzten Ehren-Gerichtsbarkeit an, welche jeder Stand, namentlich aber jede geschlossene Körperschaft über die eigenen Mitglieder übte und deren eine Höherberufung ausschließendes Urteil den Betroffenen sicherer moralisch vernichtete als das Erkenntnis einer bestellten Gerichtsbehörde. Heute ist die öffentliche Meinung dagegen eine festorganisierte Gewalt und im Besitze eines Organes, das von aller Welt anerkannt wird, und dieses Organ ist – die Presse.

Die Presse wurde dadurch eine Macht, daß, was zurzeit als öffentliche Meinung ausgegeben wird, sehr oft nur die Meinung irgend eines besseren, das heißt eines gewissermaßen mit einer Lizenz ausgestatteten Preßstrolches ist, der, zum Unterschied von seinen Berufskollegen, der die Leute mit dem Messer angeht, nicht konzessioniert ist und auf den die Polizisten lauern, Personen, eine gesetzgebende Körperschaft oder vielleicht auch, wenn es sich gerade lohnt, die Regierung angreift. Da gibt es dann natürlich Schweige- oder Lärmgelder. Diese Art Strolche streifen zwar mitunter, wie man sagt, mit dem Ärmel das Zuchthaus, welches schon hundertmal ehrlichere Menschen in seinen Mauern gefangen gehalten, es findet sich aber kein Staatsanwalt, der sie anklagt, und so bauen sie sich stets schon, nachdem sie ein paar Jahr ›öffentliche Meinung‹ gewesen, Häuser, auf deren Giebel sie dann mit großen, vergoldeten Lettern den Namen ihres Hofes anbringen lassen. (Gemeint ist der ›Antisemitenhof‹ der damaligen Tageszeitung ›Deutsches Volksblatt‹ in der Josefsgasse.)

Wir wollen uns deshalb ein wenig mit der Frage beschäftigen, wer denn eigentlich berechtigt ist, von sich zu behaupten, daß er, wenn auch nicht die öffentliche Meinung in ihrer Gänze, so doch einen Teil derselben darstellt. Nehmen wir zum Beispiel die bürgerliche Presse her. Sie behauptet, sie sei die öffentliche Meinung selbst, wenn auch zeitweilig recht geteilte Ansichten in ihr zum Ausdruck kommen. Einzig ist sie ja doch beim Volksbetrug und beim Bekämpfen der Arbeiter, die bei ihrer Arbeit nicht verhungern wollen. Im Namen anderer aber kann ich doch nur sprechen, wenn ich von ihnen hiezu ermächtigt, gewählt worden bin. Welcher Macher – was immer für einer bürgerlichen Zeitung – kann nun von sich oder seinem Redaktionsstab behaupten, er sei gewählt worden?

Anders ist es mit der sozialdemokratischen Presse. Sie kann von sich mit Recht sagen, daß sie ein gut Teil der öffentlichen Meinung ist, denn diejenigen, welche diese Presse schreiben, sind als Redakteure von einer Anzahl Staatsbürger gewählt worden, und sogar das Gehalt, das sie beziehen, wird von ihren Wählern bestimmt. Freilich ist ein solches Blatt ein Parteiblatt. Aber hat denn nicht gerade der Arbeiter in seinem Interesse zur Arbeiterpartei zu stehen?

Die Zeitung, die ich halte, muß das Interesse jener Klasse verfechten, zu der ich gehöre, also mein Interesse vertreten. Und es wäre so manches anders, wenn die Masse der Arbeiter dies jetzt schon einsehen würde.«

Hier sei ein kurzer Streifen aus dem Riesenfilm: »Was Österreich war«, abgerollt: In Wiener-Neustadt sind Gemeinderatswahlen. Zum ersten Male werden ein paar Sozialdemokraten gewählt, darunter auch der Sozialdemokrat Nelson. Die k. k. niederösterreichische Statthalterei annulliert die Wahl Nelsons, weil »Personen, die, wie Taglöhner oder gewerbliche Gehilfen, keinen selbständigen Erwerb, somit auch kein freies Verfügungsrecht über ihre Zeit haben, von der Wählbarkeit ausgeschlossen sind«.

Das war Österreich. Und auch das: In Rottenmann in Steiermark sitzt ein Kadettenschulbuberl im Kaffeehaus und fängt mit dem Kaffeesieder Krakeel an. Ein Arbeiter fragt den Buben, was er denn eigentlich von dem Kaffeesieder wolle. Das Kadettenschulbuberl zieht sein Bajonett und sticht den Arbeiter, weil er sich eine Frage an den uniformierten Knaben erlaubte, mitten ins Herz. Der Arbeiter ist auf der Stelle tot. Dem uniformierten Knaben geschieht gar nichts.

Mit einer ähnlichen Geschichte hatte sich der Schuhmeier etwas eingebrockt. Der Herr k. k. Leutnant Eugen Freiherr von Fleschner hatte in St. Pölten einen Postbeamten mit dem Säbel niedergeschlagen. Der Schuhmeier schrieb darüber den Artikel »Der Militarismus im Frieden«, in dem er den Herrn k. k. Leutnant. einen »Burschen« nannte und von ihm sagte: »Vielleicht findet er bei irgend einem Schinder eine ihm zusagende und gebührende Stellung.«

Dann hat er eine Agitationsreise durch Deutschböhmen angetreten und ist von ihr mit einer ausgewachsenen Influenza heimgekehrt. In seiner Wohnung in der Kaiserstraße 100, ist er, bis zum Nasenspitzel zugedeckt und in nasse Wickel verpackt, gelegen und hat geschwitzt wie im Dampfbad auf dem obersten Sprießel. Geredet hat er wie ein Kehlkopftuberkuloser im letzten Stadium, und es war ihm überhaupt entsetzlich mies.

Den Michel, der den kranken Franzl mit aller Gewalt heimsuchen wollte, erstens so und zweitens weil er mit ihm so viel Wichtiges von der Organisation und von dem und jenem zu reden hatte, ließ die Frau Cilli nicht hinein.

»Sie haben z'haus a Butten voll Kinder und auf die müssen S' Rücksicht nehmen«, meinte sie. »Das wär mir ein schöner Vater, der denen Kindern a Fieber und was drum und dran hängt mitbringen tät.«

Murrend zog der Michel ab. Daß nicht einmal er zum Franzl dürfe – entweder steht die Welt nicht mehr lang, erwog er, oder mit dem Franzl muß es schon recht schlecht stehen. Und gerade er, der Michel, wüßte noch von seiner Urgroßmutter her einen Tee, der einen Sterbenskranken, einen so unersetzlichen noch dazu, wie der Franzl einer ist, sicherer wieder gesund machen würde als die Himbeersafteln von die Herren Doktores. Nur der Höger-Karl durfte ans Krankenlager. Der Bärenkerl hielt sich Ansteckungen gegenüber immun und mußte unbedingt mit dem Franz wegen der »Volkstribüne« in Verbindung sein.

Der Höger-Karl saß neben dem Bett und beredete mit dem Patienten allerlei. Da stürzte die Frau Cilli aufgeregt ins Krankenzimmer und berichtete: »Franz, g'schehn is was, zwa hohe Offizier mit weiße Handschuh san draußen. Sie stehn so steif da, als ob jeder ein Säbel g'schluckt hätt, und sie wollen unbedingt mit dir reden.«

Der Franz schob die Tuchent vom Munde weg und säuselte: »G'wiß hat's der Kaiser g'schickt, weil er wissen will, wie's mir geht. I lass schön danken und sagen, daß i leider außerstand hin, aus Untertanentreue schon jetzt abzukratzen.«

»Mach keine Witz,« stoppte der Höger, »wer weiß, was die wollen, i werd mit ihnen reden.«

Er ging mit der Frau Cilli hinaus. Ein Hakenzusammenschlag drang ins Krankenzimmer und schnarrende Stimmen.

Der Höger kam herein. »Zwei Hauptmänner sind's, die Sekundanten von dem Leutnant, der in St. Pölten den Postbeamten niederg'haut hat. Du hast mit dem Artikel die Offiziersehre von dem Herrn gekränkt und sollst dich mit ihm duellieren. Magst? Bist a Held? –

Mühsam hob der Patient seinen Oberkörper und sagte: »Sei so gut, gib mir aus 'n Bücherkasten, oberstes Fach, den Goethe, vierter Band, her.«

»Bist narrisch?« wollte der Höger wissen, »bleib amal ruhig liegen, sonst steigt's Fieber.«

»Nachdem laß 's bleiben, i weiß es eh auswendig. Sag also den hoben Herren, sie sollen den Götz von Berlichingen nachlesen, dritten Akt, siebzehnte Szene, auf Jaxthausen, die letzten Worte Götzens, ehe er das Fenster zuschmeißt, und dem Herrn Leutnant sagen, daß das meine Antwort ist.«

Und er drehte sich nach der Wand. Der Höger-Karl hat das nicht so wörtlich ausgerichtet, sondern die Weigerung Schuhmeiers, sich zu duellieren, prinzipiell begründet. Steif, förmlich und mit einem hochmütigen Schnoferl sind die Herren Offiziere abgezogen.

Die Frau Cilli hatte ihnen nachgerufen: »Gfrißer, möchten mich zur Witwe und meine Kinder zu armen Waserln machen.«


In der »Volkstribüne« hat der Schuhmeier diese Duellforderung sehr ausführlich und mit beißendem Spott behandelt. Das haben seine Widersacher und Neider in der Partei zum Anlaß genommen, ihm eines aufs Zeug zu flicken.

Der »Holzarbeiter« brachte folgende Briefkastennotiz: »K. G. Wien. Daß die Duellgeschichte in der ›Volkstribüne‹ urdumm ist, hast du Recht, aber dagegen läßt sich nichts machen, denn wir leben in der Zeit der Reklame. Es gibt Leute, die den Personenkultus verabscheuen, aber nur, wenn er mit anderen Personen getrieben wird, ihre eigene Person nehmen sie aus. Übrigens ist e r diesmal nicht der alleinige Verantwortliche, diese Ausschrotung eines blöden Zwischenfalles haben andere auf dem Gewissen, es befinden sich darunter akademisch gebildete als auch akademisch nicht gebildete Trottel.«

Der »Holzarbeiter« mußte sich hinterher wegen dieser Anrempelung entschuldigen.


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