Robert Ascher
Der Schuhmeier
Robert Ascher

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Vierzehntes Kapitel

Dann nahm der junge Schuhmeier nur mehr die Cilli ins Theater und zu Konzerten mit und zur schönen Jahreszeit auf Berg- und Landpartien.

Die Ditz-Cilli war Streicherin in der Buntpapierfabrik Goppold und Schmiedl und der Schuhmeier als Magazineur ihr Vorgesetzter. Als sich der Vorgesetzte seine Untergebene einmal genauer anschaute, privat und nicht dienstlich, kam er darauf, daß die recht hatten, die immer sagten, daß der Mensch nicht nur Futter für den Magen und den Verstand, sondern auch etwas fürs Herz braucht. Der junge Schuhmeier war bis dahin beileibe kein Weiberfeind gewesen. Im Gegenteil, sie haben ihm immer sehr gut gefallen, dafür war er schließlich ein Mann. Aber er hat sich noch nie die Zeit genommen, so wie alle anderen Jünglinge und alten Esel, ein Pantscherl anzufangen, wozu es kürzerer oder längerer Vorbereitungen und allerlei Kniffe und Redekünste bedarf, bis man dort ist, wohin auch ein gerader Weg führt. Tagsüber Arbeit, die meisten Abende bei politischen Konventikeln und in Kursen und dann noch zu Hause bis zwei Uhr nachts oder gar drei früh gelernt und gelesen.

Als er sich ab er die Ditz-Cilli einmal privat angesehen hat, hat er sie noch ein paarmal angeschaut und hat gefunden, daß diese Buntpapierstreicherin ein lieber Schneck ist und das richtige Öferl wäre, ein im politischen Getriebe erkaltetes Herz zu erwärmen. Und frei war sie auch noch, die Cilli, was eine Seltenheit ist, denn für gewöhnlich mag man zu einer noch so Jungen kommen, es ist schon immer einer früher dagewesen.

Die Ditz-Cilli war nicht nur mudelsauber, wie man in Gumpendorf sagte, sondern sie hatte auch ihr Göscherl auf dem rechten Fleck. Und wenn der worttüchtige, jeden gern übertrumpfende Herr Magazineur sie necken wollte, traf sie es, ihn noch zu übertrumpfen und ihn manchmal um eine Antwort verlegen zu machen. Und das imponierte ihm. Das imponiert überhaupt allen Männern. Am Anfang zumindest.

Also beschloß der Schuhmeier-Franz, mit der Cilli zu »gehn«. Mit einem Mädel »gehn«, heißt in Wien ein schlampertes Verhältnis anfangen, das alle möglichen Vorteile bringt und doch zu nichts verpflichtet. Die Cilli war aber nicht fürs »Gehn«, sondern mehr fürs Fahren, nämlich mit dem Ein- oder Zweispänner zum Traualtar. Und das hat sie durchgesetzt. Denn am 22. August 1886 stand der zweiundzwanzigjährige Franz Schuhmeier mit der Jungfer Cilli Ditz vor dem Pfarrer von Gumpendorf und sie verließen ihn als würdiges Ehepaar. Geführt hat sie der Borinsky-Onkel. Die Mami hat an dem Tag eine neue Tochter, freilich eine schon recht erwachsene, bekommen.

Der junge Ehemann hat am anderen Tage seinen Kollegen gebeichtet, er habe vor dem Heiraten eine solche Angst gehabt, daß er sich vorher mit fünf Stamperln Slibowitz Mut antrinken mußte, und er wundere sich, daß der Pfarrer nichts gerochen habe.

Wenn dem neugebackenen Gatten noch nachträglich etwas vorzuwerfen wäre, so dies, daß er seine bisherige Lebensweise nach der Verehelichung nicht änderte. Nicht ändern konnte. Zu sehr hatte ihn der Wissensdrang noch immer und das revolutionäre Fieber schon beim Krawattel.

Frauen, wenn sie lieben, sind schrecklich egoistisch. Dann dulden Gattinnen keine anderen Göttinnen neben sich. Und dann wollen sie, daß der Mann wenigstens in seiner freien Zeit zu Hause in der Küche auf dem Wasserbankerl sitze und zuschaue, wie sie das Häusliche betreut, erstens, damit er ihr Lob und Anerkennung spende, und zweitens, um die saure Arbeit mit der angenehmen Beschäftigung des Abknutschens zu unterbrechen.

Überhaupt: die Arbeiterbewegung – und nicht nur diese – hat wegen der verflixten Liebe schon viele große Hoffnungen verloren. Da sind junge Menschen aufgetaucht, überschäumend vor Begeisterung für die Idee der Neugestaltung der Welt, haben sich in die Parteiarbeit gestürzt und sind ganz in ihr aufgegangen, haben den Kopf mit Wissen vollgepfropft, und dieses Wissen weitergegeben, und haben scharenweise neue Mitstreiter herbeigeschleppt – die Partei war stolz auf sie und man sagte ihnen voraus, daß man noch von ihnen reden und die Partei durch sie hochkommen wird. Auf einmal tauchte ein kleines, dummes Mädel auf, das von den hohen Dingen, in deren Bann der Jüngling stand, auch nicht die Spur einer Ahnung, aber dafür lachende Augen und ein freches Naserl und ein Figurl hatte, das Jünglinge blöd machen kann, und die Zukunftshoffnung wurde täglich laxer, rarer, blieb aus und ward nicht mehr gesehn. Man fand ihn an der Rockfalte des dummen Mädels, von der er nicht mehr loszubringen war.

In jenen Tagen haben sie auch um den Schuhmeier gezittert. Die Gefahr war gar nicht klein, daß er nichts als ein braver Ehemann und zärtlicher Vater werden könnte, von dem nach seinem Tode nicht viel mehr zu sagen bleibt, als daß er nur für seine Familie gelebt hat.

Die Cilli hat anfänglich gewiß auch Manderl gemacht und die Haare aufgestellt, als er fast jeden Abend etwas anderes zu tun hatte. Eigentlich hat sie ihn schon vor der Hochzeit manchmal vor die Wahl gestellt: ich oder die Politik! Dem Schuhmeier ist es gar immer gelungen, sie zu besänftigen, indem er ihr begreiflich machte, warum es ging. Ob sie es schon damals wirklich begriffen hat, sei nicht näher untersucht. Es ist eher anzunehmen, daß sie sich gedacht hat: Wart nur, nach der Hochzeit, wann du mir nimmer auskommen kannst, werd ich schon andere Saiten aufziehn.

Sie hat es nach der Hochzeit probiert, andere Saiten aufzuziehen, wie das jede andere Frau an ihrer Stelle auch getan hätte aber der Franzl hat sie statt vieler Worte, die nichts gefruchtet hätten, mitgenommen und dort hat sie begreifen gelernt. Sie ist so lange mitgegangen, bis sie zu Hause bleiben mußte, weil zu Hause etwas war, das ihrer bedurfte – das erste Kind.

Im Betrieb Goppold und Schmiedl war der Schuhmeier pflichteifrig, brauchbar. Das beweist sein schnelles Avancement. Dabei war er nicht unterwürfig, sondern eigenwillig, gehörte nicht zu jenen, die, wie damals noch die meisten, vor dem Unternehmer katzbuckelten und hinterrücks lästerten. Wenn ihm etwas nicht recht war, sagte er es, so jung er war, dem Chef ins Gesicht. Sehr höflich, wie es sich ziemt, aber fest und bestimmt, und wenn er sich im Rechte wußte, gab er nicht nach. Der Chef, der den jungen Mann gut brauchen konnte, meinte nach solchen Auseinandersetzungen: »Na, warten Sie nur, bis Sie zum Militär kommen, dort wird man Ihnen schon Disziplin beibringen, dort wird Ihnen das Wilde gehörig heruntergeräumt werden.«

Aber von jeder der drei Assentierungen haben sie ihn wegen der Geschichte mit dem Auge als Staatskrüppel nach Hause geschickt. Und der Schuhmeier war ganz froh, daß er dem »Verein«, wie sie das Militär nannten, nicht beitreten mußte. Sonst hätte die Cilli drei Jahr länger aufs Heiraten warten müssen. »Vielleicht hätt' i mir's derweil überlegt und wär aus der Butten g'sprungen«, hänselte er sie.

Einmal versuchte der junge Schuhmeier für die »Wahrheit« einen Artikel zu schreiben. Stilistisch traf er es, die Ausdrucksweise war einfach und prägnant auch die Rechtschreibung ließ nichts zu wünschen übrig, nur grammatikalisch happerte es.

»Teufel noch einmal,« warf er sich selber vor, »a Deutscher muß doch zuerst deutsch schreiben können eh er überhaupt was schreibt« – und warf sich auf das Studium der Grammatik. Und in einem Aufwaschen besuchte er gleich auch einen Stenographiekurs.

An der Technischen Hochschule gab es damals Abendkurse für Hörer aus Arbeiterkreisen. Die besuchte er und drang so in viele Wissensgebiete ein. Sozialwissenschaft, Naturwissenschaft interessierten ihn lebhaft, nebenbei hörte er sogar einen Kurs über Anatomie bei Professor Brüll im Anatomischen Institut.

Bei Goppold und Schmiedl war Franz Schicker der Apostel des Sozialismus, der alle im Betriebe für ihn zu interessieren wußte und alle dafür zu gewinnen sich abmühte. Dann war noch der Dippel da, der in der Glänzerei arbeitete. 1887 kam Albert Sever in den Keller zur Farbenmischerei, die Brüder Peklo aus Favoriten, die sie das »Grünzeug« nannten, und schließlich auch Schuhmeiers Bruder, der Karl, und seine Schwester, die Nettl.

Zuerst politisierten sie im Betriebe. Um aber unliebsamen Störungen auszuweichen und zu ihren Konferenzen auch Außenstehende zuziehen zu können, was im Betrieb nicht gut möglich war, bezogen sie ein Wirtshaus in der Goldschlagstraße, in Fünfhaus. Weil das Sozialistengesetz die Gründung eines politischen Vereines unmöglich machte, gründeten sie in diesem Wirtshaus den Rauchklub »Lassalle« und Schuhmeier wurde über Vorschlag Schickers der Obmann.

Die Geschichte wurde recht harmlos aufgemacht. Neben dem Klubtisch war ein Pfeifenständer. Jedes Mitglied hatte seine Pfeife, die zu Beginn der Klubabende in Brand gesteckt wurde. Sie dampften so hingegeben, daß der Klub bald im Pfeifenqualm verschwand und unsichtbar wurde. Jedes Klubmitglied bekam einen Namen, den eines berühmten Mannes. Einer hieß Lassalle, ein anderer Marx, andere wieder wurden nach unsterblichen alten Griechen getauft. Den Dippel tauften sie »Kara-Mustapha«, Schuhmeier, der Obmann, hieß Lassalle.

Eröffnet wurden die Klubabende, indem sie vom Wetter zu reden begannen. Und dann vorsichtig, sehr vorsichtig über Fragen des Sozialismus, der Religion, über das Wahlrecht, den Arbeiterschutz und hauptsächlich, wie man vielleicht doch die hadernden Brüder, Radikale und Gemäßigte, zusammenbringen könnte. Die Klubmitglieder nahmen für keine der beiden Partei, sondern hielten sich in der Mitte. Sie standen schon unter dem Einflusse Victor Adlers und der »Gleichheit«.

Dabei mußten sie sehr auf der Hut sein, denn sie waren trotz der unverfänglichen Form, die sie dem Klub gegeben, von allem Anfang an der Polizei verdächtig.

An jedem Klubabend knotzten ein oder mehrere »Kiberer« – Geheimpolizisten – im Schankzimmer und spitzten die Ohren. Sobald die Raucher erfuhren, daß man sich für sie lebhaft interessierte, brachen sie die Diskussion ab und schimpften über die Tabakregie, die einen solchen Matschker von Tabak für sündteueres Geld liefere.

Die Klubmitglieder brachten vertrauenswürdige Freunde mit, um sie für ihre Sache zu gewinnen. Sie wurden auf recht primitive Weise in die Ideengänge der Arbeiterbewegung eingeführt. Ein Beispiel: Schuhmeier hatte ein Buch aufgestöbert, das ihm gefiel. »Der Gottesbegriff« von Professor Pichner in Darmstadt. Daraus las er an den Klubabenden kapitelweise vor, erläuterte den Inhalt jedes Kapitels und forderte die Anwesenden auf, ihre Meinungen zu äußern. Auf diese Weise lehrte er sie denken und ihre Redescheu überwinden.

Victor Adlers zäher Beharrlichkeit und kluger Diplomatie gelang es, allerdings nur ganz allmählich, die Radikalen und die Gemäßigten an den gemeinsamen Verhandlungstisch zu führen und ihnen beizubringen, daß der ewige Streit um die bessere Taktik müßig sei, weil jetzt noch lange nicht von Taktik, sondern vorerst von der Gewinnung der Massen durch unermüdliche Werbe- und Erziehungsarbeit die Rede sei. Erst müsse man die Massen haben und mit ihnen kampftaugliche Kaders aufstellen. Wer sich über strategische Pläne zerzankt, ohne eine Armee zu besitzen, mache sich lächerlich. Sie kamen wiederholt zusammen und gingen noch mehr verfeindet wieder auseinander. Manchen tat das wehe, manche freute es. Doch die das freute, hatten nicht mit Adlers Geduld, ohne die einer nicht Führer sein kann, gerechnet. Es glückte ihm, sie auf ein gemeinsames Programm festzulegen.

Einmal so weit, handelte es sich darum, die sozialdemokratische Partei zu konstituieren. Dies sollte zwischen Weihnachten und Neujahr 1889 geschehen. Als Ort der Tagung wurde der niederösterreichische Industrieort Hainfeld gewählt, weil dort starke Ansätze einer einigen Arbeiterbewegung anzutreffen waren, weil Hainfeld nicht zu jenen Gebieten gehörte, in denen die Ausnahmegesetze galten, und weil der zuständige Bezirkshauptmann von Lilienfeld, Graf Auersperg, als freisinnig und unvoreingenommen galt, man also annehmen durfte, daß dieser weiße Rabe seiner Klasse und Kaste sie nicht überflüssig schikanieren würde. Tatsächlich ist Graf Auersperg auf dem Hainfelder Parteitag erschienen, hat zeitweilig den Debatten zugehört und soll, als das »Lied der Arbeit« stehend gesungen wurde, Tränen in den Augen gehabt haben.

Überall in Österreich, wo es erwachte Arbeiter gab, rüstete man zum Hainfelder Parteitag, ging man daran, Delegierte für Hainfeld zu nominieren. Auch Franz Schuhmeier wurde nach Hainfeld delegiert. Es machte ihn stolz, daß er so viel Vertrauen genoß, und er bereitete sich eifrig vor, weil er zu verschiedenen Punkten der Tagesordnung das Wort ergreifen wollte.


Mitte Dezember 1888 ging ein Tischlermeister, der in den Rauchklub eingeführt worden war, zur Polizei, naderte, daß sich der Rauchklub politischer Umtriebe schuldig mache, und gab der Polizei die Namen und Adressen der von ihm der Staatsgewalt verratenen Verbrecher preis.

Der Rauchklub tagte wieder und diskutierte eben über den »Gottesbegriff«. Da kam gemächlich der Herr Polizeikommissar Sabatzky, der der Partei noch öfters unangenehm wurde, mit Bedeckung herein und erklärte die siebzehn Anwesenden im Namen des Gesetzes für verhaftet und den Rauchklub »Lassalle« für aufgelöst, damit sie einen Begriff von der Gottähnlichkeit der Polizei bekamen. Schuhmeier wanderte mit seinen 16 Genossen in Untersuchungshaft, die 7 Wochen dauerte.

Während in Hainfeld die geeinigte Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs geboren wurde, saß der Delegierte zum Hainfelder Parteitag Franz Schuhmeier als Untersuchungshäftling im Loch.

Bei der Verhandlung waren die siebzehn nur wegen Übertretung des Vereins- und Versammlungsgesetzes angeklagt. Schuhmeier als Obmann des polizeiwidrigen und staatsgefährlichen Rauchklubs wurde nach siebenwöchiger Untersuchungshaft zu 24 Stunden Arrest verurteilt, alle übrigen freigesprochen.

Franz Schuhmeier hatte zum erstenmal mit dem Arrest Bekanntschaft gemacht. Es gab viele Wiedersehen. Fünfundzwanzigmal war er angeklagt, dreizehnmal wurde er freigesprochen, zwölfmal verurteilt.


Anfang Jänner 1889 schied der Kronprinz Rudolf von Österreich in Mayerling aus dem Leben. Am Wiener Hofe war die Trauer um ihn nicht ganz echt, denn dieser Rudolf war nicht nur in Liebes-, sondern auch in anderen Dingen ein mißratener Habsburgersproß. Zeitgenossen wissen zu berichten, daß er ein eifriger Leser des Organs der Radikalen, der »Zukunft«, war, um die er an den Erscheinungstagen einen Diener in die Administration schickte, welcher ihm auch die Mostsche »Freiheit« und alle geheim erschienenen Flugblatter verschaffen mußte. Es werden ihm Äußerungen nachgesagt, mit denen er der alten morschen Monarchie eine noch lange Lebensdauer absprach. In einem seiner Briefe findet sich folgende Stelle: »... neugierig bin ich nur als stiller Beobachter, wie lange ein so alter und zäher Bau wie dieses Österreich braucht, um in allen Fugen zu krachen und zusammenzustürzen.«

Auch seine Mutter, die Kaiserin Elisabeth, soll völlig aus der Art geschlagen gewesen sein. Sie sprach oft von der bevorstehenden Zeit, in der es in Europa keinen Kaiserthron mehr geben würde, sie unterstützte den Utopisten Theodor Hertzka, der in Afrika eine »edelanarchistische« Kolonie errichten wollte, mit Geldmitteln, unterstützte ebenso den Berliner Sozialisten Gustav Landauer, der den »Sozialist« herausgab, als dieser in materielle Schwierigkeiten geraten war, und als Johann Most in Österreich im Kerker saß, soll sie für dessen Begnadigung eingetreten sein.


Die »Gleichheit« war inzwischen behördlich eingestellt worden.

Am 12. Juli 1889 erschien die erste Nummer der »Arbeiter-Zeitung«. Zuerst vierzehntägig, schon ab 18. Oktober als Wochenblatt jeden Freitag. Die Redaktion, Administration und Expedition befand sich in der Gumpendorferstraße 79. Zuerst fungierten als Herausgeber Rudolf Pokorny, als verantwortlicher Redakteur: Ludwig August Bretschneider, später als Eigentümer Rudolf Pokorny, Julius Popp und Jakob Reumann, als Herausgeber: Rudolf Pokorny und Dr. Victor Adler. Verantwortlicher blieb Bretschneider. Die Einzelnummer kostete 6 Kreuzer.

Die Arbeiter-Zeitung wurde zum großen Teil von Victor Adler selbstgeschrieben. Der Umfang des Blattes war sehr gering, mußte es sich doch in der Zeit des Ausnahmezustandes größter Zurückhaltung befleißigen und jedes Wort auf die Waagschale legen, was aber noch immer nicht hinderte, daß lustig drauflos konfisziert wurde.

Ergreifend ist es, aus den alten Jahrgängen der Arbeiter-Zeitung die geradezu beispiellose Opferwilligkeit der mit Hungerlöhnen abgespeisten Arbeiterschaft herauszulesen. Fast eine ganze Seite jeder Nummer füllten die Spendenlisten für die diversen Fonds. Da gab es einen Fonds für die Familien der Inhaftierten, einen Agitationsfonds und einen Pressefonds, für jeden Streik wurde separat gesammelt und sogar für die deutschen Reichstagswahlen im Jahre 1890 wurde unter der Wiener Arbeiterschaft eine Sammlung veranstaltet.

Aus der ständigen Rubrik in der Arbeiter-Zeitung: »Wie man mit uns umgeht«, kann man entnehmen, unter welchen Verhältnissen Sozialdemokraten damals arbeiten und kämpfen mußten. Einer Idee, der die Menschen mit einer solchen Selbstverleugnung und geradezu religiösen Inbrunst anhängen, vermag keine Macht der Welt beizukommen.

In der Nummer vom 19. Jänner 1890 ist zu lesen: »Die für den 19. Jänner nach Latowitz bei Teplitz in Böhmen einberufene Volksversammlung wurde vom Bezirkshauptmann Grafen Thun unter Hinweis auf § 6 Versammlungsschutzgesetz, 'Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und des öffentlichen Wohles' durch Verbreitung der Influenza verboten.«

Verboten wurde auch die Sammlung für den Wahlfonds der deutschen Bruderpartei und an manchen Orten wurden die bereits eingegangenen Gelder in Beschlag genommen. Oder: »Die für den 2. März 1890 nach Hainfeld einberufene Volksversammlung wurde von der Bezirkshauptmannschaft St.-Pölten verboten, da die Tagesordnung: ›Der achtstündige Normal-Arbeitstag‹ eine offenbar agitatorische Tendenz verfolgt und hiedurch nur neuerlich Beunruhigung in die Arbeiterkreise von außen her gebracht würde.«

Man ging eben mit allen Mitteln der »Begehrlichkeit der Arbeiterschaft«, wie die Besitzenden jede Willensregung der Arbeiterschaft nannten, energisch zu Leibe. Begehrlich durften nur die Besitzenden sein. Und das waren sie ausgiebig.

Man jagte Arbeiter, die für die sozialdemokratische Partei irgend ein Interesse verrieten oder gar die, die für sie tätig waren, von Betrieb zu Betrieb und nahm sie nirgends auf. Es wurden »schwarze Listen« angelegt und auf einer solchen Liste zu stehen hieß, zum Hungertod verurteilt zu sein. Die Arbeiter-Zeitung druckte 1890 das folgende Rundschreiben ab:

Berndorfer                                          Berndorf, 189.

Metallwarenfabrik                                     N.-Ö.

Herrn .....................................................

Der sich bei mir um Arbeit meldende und provisorisch aufgenommene Arbeiter ................ hat nach seinen Ausweisen zuletzt bei Ihnen gearbeitet und erlaube ich mir daher vertraulich die höfliche Anfrage, ob der Obgenannte in sozialpolitischen und sonstigen Beziehungen unbedenklich ist. Ich bitte diese Anfrage nebst dem beiliegenden Couvert als Antwort zu benützen und nur das nichtentsprechende zu streichen.

Wir sagen Ihnen für Ihre gefällige Auskunft besten Dank und zeichnen

Achtungsvoll

Berndorfer Metallwaren-Fabrik

Artur Krupp

Antwort: Bedenklich – Unbedenklich.

Auch mit solchen Mitteln war die Bewegung nicht umzubringen. Jetzt erst recht strömte die Arbeiterschaft der neu geeinten Partei zu, wurden die Arbeiter scharenweise Sozialdemokraten, die man als leibhaftige Teufel schilderte, die Blut trinken und Feuer speien, so daß Leichtgläubige ihre Kinder versteckten, wenn sie hörten, daß ein Sozialdemokrat in der Nahe wäre.

Die Versammlungstätigkeit blieb nach wie vor erschwert, nahezu unmöglich. Um sich darüber einigermaßen hinwegzuhelfen, begann man sich des § 2 des Versammlungsgesetzes zu bedienen, wonach Versammlungen, die auf geladene Gäste beschränkt blieben, die alle dem Einberufer persönlich bekannt sein mußten, nicht angemeldet werden brauchten und polizeilich nicht überwacht wurden. Die Polizei versuchte auch diesen Ausweg zu verrammeln. Der schon genannte Polizeikommissär Sabatzky, ein Spezialist im Aufspüren von § 2-Versammlungen, drang in solche ein, behauptete, erfahren zu haben, daß zu dieser Versammlung jeder, der wollte, eine, wie vorgeschrieben, auf Namen lautende Einladung erhalten konnte, machte Stichproben, indem er irgend einen Versammlungsteilnehmer zum Einberufer schleppte, und wenn dieser, wie meistens, den Namen des Herbeigeschleppten nicht sofort wußte, ließ er das Lokal räumen.


Als der Schuhmeier wieder in Freiheit war wurde er bei Goppold und Schmiedl wieder aufgenommen und mußte zunächst untergeordnete Arbeiten verrichten. Er nahm das mit Humor hin und meinte, daß deswegen keine Perle aus seiner Krone falle. Oft sagte er: »Diese 7 Wochen Feuertaufe müssen die Arbeiterschaft emporbringen. Ich hab Zeit gehabt nachzudenken, wie man Organisationen gründet.«

Im Loch ist der unbeugsame Vorsatz in ihm lebendig geworden, die dumpfe und stumpfe Masse, aus der auch er hervorgegangen, aufwärtsführen zu helfen und sein ganzes Leben, die ihm angeborenen Fähigkeiten, deren er sich bewußt geworden, und sein bisher erworbenes, noch sehr ergänzungsbedürftiges Wissen dieser Aufgabe zu widmen.

Sie blieben weiter »starke Raucher«. Sever brachte den Schuhmeier nach Neulerchenfeld bei Ottakring, dem dichtestbesiedelten Proletariervorort Wiens. Dort gründeten sie den Rauchklub »Apollo«, der im Rittersaal bei der »Bretze« in der Grundsteingasse in Neulerchenfeld Tabakwolken und Sozialisten erzeugte. Und weil ihrer so viele waren, wurde am 7. Juli 1889 beim »Goldenen Luchsen« in der Neulerchenfelderstraße der Arbeiterbildungsverein »Apollo« konstituiert und damit der Grundstein zu dem späteren stolzen Bau der politischen Organisation Ottakring, der roten Hochburg., gelegt.

Der Arbeiterbildungsverein »Apollo« hatte zuerst seinen Sitz beim »Weißen Engel« in der Grundsteingasse. Er begann seine Tätigkeit mit Kursen über Logik und Rhetorik und Stenographie. Franz Schuhmeier war der Stenographielehrer. Der Mitgliedsbeitrag betrug monatlich 20 Kreuzer. Der Schuhmeier leitete zuerst die Einschreibesektion und wurde noch im selben Jahre Schriftführer.

Der »Apollo« eröffnete kurz hintereinander weitere Kurse, Buchhaltung, Anatomie, Naturwissenschaft, Deutsch für Tschechen, und Tschechisch für Deutsche, Schnittzeichnen wurde gelehrt, und ein Elementarkurs für Leute, die notdürftig oder gar nicht lesen, schreiben und rechnen gelernt hatten, wurde eingeführt. Und auch eine Bibliothek wurde langsam zusammengetragen. Jeden Samstag gab es interessante Vorträge. Da solche Kurse nicht gut in einem Wirtshaus abgehalten werden konnten, wurde im Hause Gaullachergasse 47 ein Privatlokal gemietet, in dem auch die Bibliothek und ein Lesezimmer, wo Zeitungen auflagen, untergebracht waren.

Mit den geringen Mitgliedsbeiträgen konnte der Bildungsverein nicht das Auslangen finden. Bis in die späte Nacht dauernde Ausschußsitzungen befaßten sich mit der komplizierten Frage, wo und wie das Geld für den Zins, die Beleuchtung und die Beheizung, aufgebracht werden könnte.

Bis im Gasthaus Bauer in der Grundsteingasse 9 ein Tanzunterricht angefangen wurde, dessen Teilnehmer separate Beiträge zu leisten hatten. Dann ging es dem »Apollo« gleich besser.

Die Einschreibesektion, bestehend aus dem Genossen Franz Schuhmeier, saß jeden Abend im Privatlokal hinter dem für diesen Zweck errichteten Holzverschlag. Es kamen sehr unterschiedliche neue Mitglieder. Solche, die mittun wollten, immer neue Mitglieder zu gewinnen, solche, die es drängte, ihr mangelhaftes Wissen zu erweitern, und sehr viele solche, die nur der Tanzerei wegen kamen. Gerade auf die hatte es die Einschreibesektion abgesehen. Die nahm er in die Kost. Den einen machte er ernste Vorhalte, die anderen fing er sich mit seinen Spaßetteln, bis sie zutraulich wurden. Die ließ er in den Sozialismus hineintanzen. Mit allen, die kamen und gingen, war der hinter seinem Käfig in Fühlung und wurde so der bekannteste und beliebteste Funktionär vom »Apollo«.

Die meisten Mädel, die sich einschreiben ließen, wußten vom »Apollo« nicht viel mehr, als daß das ein Tanzverein sei. Von Politik verstanden sie nichts, die war ihnen viel zu fad. Aber sie wußten, weil es eine der anderen sagte, daß man, wenn man sich einschreiben ließ, sich mit einem hübschen jungen Mann unterhalten konnte, der es verstand, die Mädeln über das, was sie von einem hübschen jungen Mann zuerst wissen wollten, nämlich, ob er noch zu haben oder schon besetzt ist, lange im unklaren zu lassen. Es gab da immer ein Gekuder und ein Wortgeplänkel vor dem Einschreibschalter und Witze flogen hin und her, die in keinem Familienjournal Aufnahme gefunden hätten. Und wenn die Mädchen wieder gingen, waren sie ganz begeistert von dem Herrn Schuhmeier und versicherten einander: »Das is a fescher Mensch,« und fügten hinzu: »und ein so viel lustiger Mensch is er.«

Aber ohne daß sie es merkten, streute er ein paar Worte ein, über die sie nachdenken mußten, dann drückte er ihnen verstohlen etwas in die Hand, das wie ein Liebesbrieferl zusammengeknittert, aber ein Flugblatt war; er machte sie auf dieses und jenes Buch aufmerksam, und wenn der fesche lustige Mensch einen Vortrag hielt, kamen sie alle, weil sie sich eine Unterhaltung versprachen. Doch wenn er oben stand und zu ihnen redete, war es gar nicht so lustig, war es im Gegenteil blutig ernst und dann machten die Mädel auch toternste Gesichter und am Heimweg sagten sie: »Das is aber ein g'scheiter Mensch.« –

Etliche solche Tänzerinnen sind kuraschierte Kämpferinnen geworden.

Punkt 8 Uhr abends ließ der Franz – im engeren Kreise riefen sie sich nur bei den Vornamen und duzten sich – den Schalter herunter. Immer in diesem Augenblick schoß der Michel herein. Der Michel hatte es ewig eilig. Der war im »Apollo« das Mädchen für alles. Nicht deshalb war er es, weil die Funktionäre in ihm eine Wurzen gefunden hatten, die ihnen alle Arbeit abnahm, mit der sie sich dann, wenn sie geleistet war, selber fett machten. So war das nicht. Der Michel wäre ernstlich böse geworden, wenn man ihm eine Arbeit, die ihm seiner Meinung nach zukam, vorenthalten hätte.

Der Michel war unter den vielen armen Hunden, die dieses Hundedasein nicht mehr ertragen konnten, der ärmste. Zu Hause hatte er ein Weib, das von der vielen Rackerei und den lebenslänglichen Entbehrungen auf der Lunge hin war, täglich weniger wurde und schon Blut spuckte, ohne daß geholfen werden konnte, weil kein Geld da war. Dazu hat ihn die gütige Vorsehung noch mit sieben Kindern beschenkt, die täglich fünfmal Hunger hatten, der oft nicht einmal einmal gestillt werden konnte.

Dabei war der Michel gar kein Prolet im eigentlichsten Sinne. Er verdang sich nicht um Lohn, er besaß einen Gewerbeschein als Schneidermeister. Aber doch ein armseliges Flickschneiderlein, das sein Gewerbe auf dem Fensterbrettel des übervölkerten Wohnzimmers ausübte und nur zerrissene Hosenböden und schadhafte Wämse zusammenflicken konnte. Das trug nicht annähernd so viel, als ein Ziegelschupfer verdiente, wenn er Arbeit hatte.

Solange der Michel noch nicht erfahren hatte, daß es auch anders sein könnte, trug er sein Schicksal in Demut. Einmal ist er ganz zufällig in den »Apollo« zu einem Vortrag gekommen und hat den Schuhmeier reden gehört. Über »Die wirtschaftliche Lage der Arbeiterschaft«.

Seither wußte er, daß es auch anders sein könnte, und seither ertrug er sein Los nicht mehr so leicht. Er war seither so fest überzeugt, daß alle, die an dem gleichen Übel litten wie er, nur wollen, nur noch einmal fest anzutauchen brauchten – und sie wären oben.

Er sowie damals auch der Schuhmeier und die anderen Gleichgesinnten mit ihm glaubten unerschütterlich an die nahe bevorstehende Revolution. Sie hatten die Schwachen des Kapitalismus herausgefunden und jene Stellen, wo er verwundbar ist, und sie fühlten, wie übermächtig sie selber schon vermöge ihrer Zahl wären wenn sie zusammenstünden – also alle zusammentreiben und dann los!

Und deshalb fürchtete der Michel, dafür verantwortlich zu sein, wenn sich die Stunde der Erlösung, infolge Lauheit und Nachlässigkeit seinerseits verzögerte, und deshalb mußte er überall anpacken, noch schnell alle Vorarbeit tun, damit es, wenn es zur Entscheidung kommt, klappe.

Der Michel war der, der nie genannt, nie öffentlich sichtbar wurde und doch das ganze Getriebe unter Dampf hielt. Er lief mit Versammlungseinladungen, Vortragsankündigungen, Flugblättern und Zeitungen treppauf, treppab. Er mengte sich, wo ein paar Leute beisammen standen, unter diese und fing mit ihnen zu politisieren an. Entweder überzeugte er sie oder er faßte Hiebe. Er ging Referenten für Vorträge und Versammlungen aufnehmen, für diverse Fonds sammeln, wenn es ein Fest gab, Karten verkaufen und für den Juxbasar schnorren, hielt nebenbei Kataster in Ordnung, rannte Mitgliedern des »Apollo« nach, die in der Bibliothek Bücher entlehnt und sie nicht zeitgerecht zurückgestellt hatten, besorgte bei säumigen Zahlern das Inkasso, besuchte gegnerische Versammlungen, störte sie durch Zwischenrufe und ließ sich arretieren, war bei Parteiversammlungen, März- und Maidemonstrationen der Ordner – es läßt sich gar nicht sagen, was alles er sich nicht nehmen ließ. Und wenn es ihm zu langsam ging, trieb er an. Der Michel war der Vorreiter der Revolution, der Ur-Vertrauensmann.

Auch äußerlich trug er seine Gesinnung zur Schau. Ohne das rote Röserl aus Zelluloid im Knopfloch, das das Parteiabzeichen war, ohne brennrote Krawatte mit der Lassallekrawattennadel und ohne die rote Sportkette mit dem Marx-Kopf sowie ohne den regenschirmgroßen Kalabreser ging er überhaupt nicht auf die Gasse.

»Serwas Franz,« so betrat er das Lokal, »is heut noch was los?«

»Heut nix mehr,« sagte der Franz, »heut geh einmal z'haus und schlaf dir dein Revolutionsrausch aus.«

»Und morgen?«

»Morgen kannst blau machen und deine Kinder äußerln führen.«

»Dazu hab i ka Zeit. Wann sonst nix is, geh i nach Floridsdorf, dort red't der Adler.«

Er ist wirklich von Ottakring zu Fuß nach Floridsdorf gegangen und wieder zurück.


Bei der Gründungsversammlung des »Apollo« hat der Schuhmeier seine erste richtige Rede gehalten. Er zitierte den Satz Jacobys: »Die Gründung des kleinsten Arbeitervereins ist für die Geschichte der Menschheit wichtiger als die größte Schlacht«, und schloß: »Die Arbeiter müssen sechs Tage fronden und sollen darum den siebenten für sich selber gut benützen.«

Die Bibliothek wurde auf sein Betreiben errichtet. Den Grundstein legte er durch Bücherspenden aus seinem Besitz. Er gab »Moses und Darwin«, philosophische Werke, wie die des Bauernphilosophen Konrad Deubler, naturwissenschaftliche und sozialpolitische Schriften. Sogar Spinoza war darunter.

Im »Apollo« lernte er den Redakteur der »Volkspresse«, Rudolf Hanser, kennen. Rudolf Hanser war ein Mann von ungewöhnlichen Fähigkeiten, der populär und mitreißend zu schreiben und zu sprechen verstand, und der, wenn er Vorträge hielt, großen Zulauf hatte.

Die »Volkspresse«, die aus Mitteln der Partei gegründet wurde, wurde hauptsächlich in der österreichischen Provinz verbreitet. Adolf Heimann zeichnete formell als Eigentümer, Hanser war der Redakteur. Die Redaktion befand sich in der Kaiserstraße 117.

Die große Intelligenz, das umfassende Wissen und die faszinierende Rednergabe Hansers gefielen dem jungen Schuhmeier, dessen nichts weniger als proletarische Lebensweise und die Gesellschaft, mit der er sich umgab, machten ihn vorsichtig. Und Schuhmeier hörte als erster aus den klingenden Reden Hansers auf der Tribüne sowie aus seinen Privatgesprächen unechte Töne heraus.


Hanser und Schuhmeier sind einmal spät nachts im Café Schlager in der Grundsteingasse, in dem die Genossen nach der Parteiarbeit zu einem gemütlichen Plausch oder zum Strohmandeln zusammenkamen, auf die Landagitation zu sprechen gekommen. In den Städten und Industrieorten, meinten sie, wäre ja schon alles für die letzte Schlacht gerüstet, aber auf dem Lande draußen käme man nicht vorwäts. Dort lebten die Menschen, auch die allerausgebeutetsten, die Knechte und Mägde, nicht nur in völliger Ahnungslosigkeit von den kommenden großen Dingen dahin, weil man sich noch nie um sie gekümmert habe, sie ließen sich sogar von ihren Sklavenhaltern, den großen Bauern, und von den Pfarrern und Kaplänen als Bullenbeißer mißbrauchen, die denen, die es gut mit ihnen meinten, die fletschenden Zähne zeigten und ihnen auch an die Beine fuhren, wenn der Herr »faß an« rief. Die Wiener, meinte Hanser, müßten aufs Land hinaus, in die Dörfer und Rotten und Weiler, und dort, wo es noch so finster ist, Lichter aufstecken.

Der Schuhmeier erinnerte sich noch 1897 dieses Gespräches und schlug vor: »Mir, die's uns noch zur Not leisten können, kaufen auf Raten Fahrräder, gründen einen Radfahrverein und fahren alle Sonntag wo anders hin. Dort reden wir mit die Leut, lassen für sie Flugblatteln drucken, die der Schwerfälligste leicht versteht, und wann wir in jedem Ort ein bis zwei brauchbare Leut auftreiben, die denen anderen den Kopf aufmachen und mit uns in Verbindung bleiben, wird's auch bei die G'scherten heller werden.«

Aus dieser Idee entstand zuerst der Arbeiterradfahrverein »Biene« und aus diesem der 1. niederösterreichische Arbeiter-Radfahrerverein. Und alle wurden sie leidenschaftliche Radelsportler. Jeden Sonntag gab es eine, später auch schon zwei und drei Vereinspartien in noch unerschlossene Gebiete. In qualmigen Dorfwirtshausstuben und auf den Kegelbahnen fingen sie mit den Burschen und den kleinen Bauersleuten unverfängliche Diskurse an und drückten den noch lesescheuen Landleuten Gedrucktes in die Hand. Sie nannten das »Unterzünden« und rechneten damit, daß daraus eine mächtige Flamme entstehen würde, die nicht einmal mehr die Großkopferten und die geweihten Herren zu löschen imstande wären.

Der Schuhmeier in der Radlerdreß machte sich hauptsächlich an die Dirndeln heran und tanzte und strampfte mit ihnen.

Aber die Geschichte war nicht so leicht, wie sie es sich vorgestellt haben mochten. Wenn sie ein zweitesmal irgend wohin kamen, kannte man sie schon und nicht selten mußten sie auf sausenden Rädern flüchten. Die Großkopferten und die geweihten Herren verstanden das »Unterzünden« doch noch besser. An den Montagen nachher sind sie alle ehrlich müde in die Buntpapierfabrik arbeiten gekommen. Sehr frisch waren sie eigentlich an keinem Morgen, denn es ist ihnen zum Schlafen verflucht wenig Zeit übrig geblieben. Am wenigsten dem Schuhmeier, denn wenn alle anderen schon schnarchten, in Schuhmeiers kleinem Heim auch schon die Cilli und der Erstgeborene, der Franzl, der nur zehn Jahre alt wurde, und die kleine Rosl, ist er noch lange bei einer trüben Kerze gesessen und hat gelesen und gelernt. Er war mit sich und seinem Können noch immer nicht zufrieden.

Und wenn er schon nicht lernte und las, konnte er sich von seinem Bücherkasten nicht trennen. Dieser Kasten barg seit Wochen ein Heiligtum, ein großes, schweres, uraltes Buch, für das er lang gespart, dessen Rücken er streichelte, als wäre es die Hand einer Geliebten. Es war eine alte Übersetzung der Kirchenväter, ein seltenes und kostbares Exemplar, das in jeder Stiftsbibliothek einen Ehrenplatz gefunden hätte und nun in den Besitz des Hausmeisterbuben von der Hirschengasse übergegangen war. Die braven alten Kirchenväter festigten seinen Antiklerikalismus.


Schuhmeier erhält sein erstes Mandat: er wird zum Delegierten zur Generalversammlung der Allgemeinen Arbeiter-Kranken- und Unterstützungskasse gewählt.


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