Robert Ascher
Der Schuhmeier
Robert Ascher

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Neunzehntes Kapitel

Eine politische Partei ist wie eine Tag und Nacht sausende Maschine. Wer in einer politischen Partei tätig ist, ist Bestandteil dieser Maschine, ist ein Rad in ihr, von dem eines ins andere greift. Herausspringen kann keines, weil ihn die andern festhalten. So eine Maschine hat kleine Räderchen und große Schwungräder. Der Schuhmeier war bereits ein ganz großes Schwungrad seiner Parteimaschine.

Im März 1894 präsentierte das Ministerium des Fürsten Windischgrätz wieder eine Wahlreformvorlage. So mächtig brauste der Kampf der Sozialdemokratie durchs Land, daß ihm auch die borniertesten Reaktionäre irgendwie Rechnung tragen mußten. Die Vorlage Windischgrätz' wollte den bisherigen Abgeordneten noch 43 neue Volksvertreter zugesellen, die in einer eigenen Wählerklasse derjenigen, die in den alten Kurien kein Wahlrecht hatten, gewählt werden sollten. In dieser neuen Wählerklasse sollten alle 24jährigen österreichischen Staatsbürger männlichen Geschlechts wahlberechtigt sein, die am Tage der Wahlausschreibung mindestens sechs Monate am Wahlorte ansässig waren.

Eine noch heftigere Bewegung setzte ein. Kleine rote Flugzettel wurden in mehreren hunderttausend Exemplaren verteilt. Auf ihnen hieß es: »Heraus mit dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht!« »Weg mit der Interessenvertretung.«

Die Flugzettel wurden verboten. Tagelang hatte die Polizei nichts anderes zu tun, als in allen Winkeln auf diese Zettel Jagd zu machen. Sie wurden oft gründlich gefoppt.

Am Vorabend der Parlamenteröffnung tagte im Sophiensaale eine Massenversammlung. Schuhmeier sprach und nannte diese Vorlage einen Schlag ins Gesicht der Arbeiterklasse. Als die Massen heimzogen, kam es auf der Ringstraße zu schweren Zusammenstößen mit der auf Befehl besonders schneidigen Polizei. Es gab viel Verwundete und verhaftet wurde nach Noten.

Am nächsten Tage depeschierte Kaiser Franz Joseph aus Budapest: »... empfehle ich, daß mit unnachsichtlicher Strenge und mit mehr Erfolg den Straßendemonstrationen entgegengetreten werde. Der Anschein einer Pression und der Angst vor einer solchen muß absolut vermieden werden.«

Polizei und Gerichte ließen sich unnachsichtliche Strenge nicht zweimal befehlen. Vor dem Bezirksgericht Rudolfsheim standen Dr. Victor Adler und Franz Schuhmeier. Letzterer, weil er in einer Versammlung gesagt hatte: »Dieses Vorgehen der Regierung ist allerdings offen und wahr, aber auch brutal.«

Beide Angeklagte bekamen je einen Monat Arrest.

Im Arrest war der Schuhmeier schon wie zu Hause, und wenn der Michel den politischen Sträfling besuchen kam, gab es immer ein Theater. Der Michel wollte sich jedesmal für den Schuhmeier einsperren lassen und versicherte, sich schon so verstellen zu können, daß man ihn für den Franz halte.

Der Schuhmeier hänselte ihn: »Was täten derweil Weib und Kind?«

»Die san net so wichtig für die Partei wie du«, meinte jedesmal treuherzig der Michel.

Dann haben sie den Schuhmeier wieder einmal mitten in der Nacht aus dem Bett geholt und eingeliefert. Wegen Fluchtverdachts- und Kollisionsgefahr. Das Weinen der Cilli und das Kreischen der schlaftrunkenen Kinder hat sie nicht gerührt. Nach sechs Tagen mußten sie ihn wieder freilassen.

Bei der Verhandlung vor dem Erkenntnissenat, wo er also wegen Vergehens gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung und wegen Übertretung gegen die Sicherheit der Ehre, begangen in der Sophiensaalversammlung, stand, wurde er im ersten Punkte freigesprochen, jedoch der Beleidigung staatlicher Institutionen schuldig erkannt und zu sechs Wochen einfachen Arrests, verschärft durch einen Fasttag, und zwanzig Gulden Geldstrafe verurteilt. Er hatte gesagt: »Wenn die Regierung nicht vorwärts gehen will, wird sie gleich einem störrigen Esel vorwärts getrieben werden.«

Ab 1. Jänner 1895 erschien die Arbeiter-Zeitung als Tagblatt.

Gleich zu Beginn des Jahres 1895 hat das Bezirksgericht Alsergrund den Schuhmeier wegen »Vernachlässigung der pflichtgemäßen Obsorge« als verantwortlicher Redakteur der »Volkstribüne« zu einem Monat Arrest verurteilt, weil in einem »Der Fortgang der Wahlrechtsbewegung« betitelten Artikel stand: »Der Tag des Aufwachens naht, und wenn wir nicht schleunigst das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht bekommen, kommt der Massenstreik.«

Nicht einmal den »Schlag ins Gesicht der Arbeiterklasse« konnte Windischgrätz bei den Privilegienrittern durchsetzen. Er mußte gehen und es kam das Übergangsministerium des Grafen Kielmansegg, dem, wenige Tage darauf das Ministerium des polnischen Grafen Kasimir Badeni folgte.

Graf Badeni, der frühere Statthalter von Galizien, war ein gehorsamer Diener der Schlachta, worunter man den niedereren polnischen Adel zu verstehen hatte, der damals Galizien beherrschte. Er kündigte eine »zielbewußte, wohlwollende, aber entschiedene Regierung der festen Hand« an. Badenis Königsgedanke war es, den Tschechen, deren nationale Opposition das parlamentarische Getriebe lahmlegte, Konzessionen in der Weise zu machen, daß er in rein tschechischen Gebieten neben der deutschen auch die tschechische Amtssprache einführen wollte.

Der österreichische Arbeiterkalender für das Jahr 1895 enthielt einen Aufsatz: »Bilder aus der österreichischen Revolution« von Franz Schuhmeier.

So rührig die Partei war, besonders in der aktuellen Frage der Wahlreform, und so sehr sie zusehends wuchs, es gab doch eine Menge Unzufriedener, die gerne mehr Wirbel gesehen hätten.

Auf dem Wiener Parteitag warf die Opposition der Parteivertretung zu große Lauheit im Wahlrechtskampfe vor. Sie hätte längst mit dem Generalstreik einsetzen und »belgisch reden« sollen und überhaupt seien die Führer alle »Bremser«.

Victor Adler verstand es, diese »Kiebitze, denen kein Einsatz der anderen zu hoch« sei, abzutun. Einige Oppositionelle rächten sich für ihre Niederlage, indem sie die Führer, die an der vordersten Front standen, verdächtigten.

Von Franz Schuhmeier wurde nicht mehr und nicht weniger behauptet, als daß er im Dienste der Polizei stehe und von ihr bezahlt werde. Und es gab Leute – nicht nur Gegner –, die das ungeschaut glaubten. Manchem älteren Genossen lag noch die Zeit des Ausnahmezustandes und des Sozialistengesetzes in den Gliedern, wo es in der Partei von Polizeisöldlingen wimmelte, die sich nicht radikal genug gebärden konnten.

Da fuhr aber der Schuhmeier auf. Und verlangte Beweise. Öffentlich verlangte er sie. Die Beweise wurden natürlich nicht geliefert. Es war überhaupt schwer, die Verleumder ausfindig zu machen, um sie packen zu können. Jeder wollte es wieder nur von einem andern gehört haben.

Der Michel ging zum Schuhmeier: »Soll i a paar erwürgen?«

Der Schuhmeier machte ein sehr ernstes Gesicht und drehte nervös an seinem Schnurrbart: »Viel Arbeit, sehr viel Arbeit haben wir noch, Freunderl, bis wir's mit diesen Menschen ernstlich angehn können.«


In Wien gingen große Veränderungen vor sich. Zuerst haben die Liberalen allein diese Stadt beherrscht.

Nur ein kleiner Kreis, die Hochbesteuerten, besaßen das Gemeindewahlrecht. Ihre Politik machten würdegespreizte Herren, die in den Salons eines kulturgesättigten Bürgertums ihre abgeklärten und abgetönten Kandidatenreden hielten. Die blieben immer unter sich und teilten die Mandate unter sich und die Ämter und Pfründen unter ihre Vetternschaft auf. Und behandschuht und die Nase zuhaltend hüteten sie sich vor jeder Berührung mit dem schlecht riechenden Volke.

Da betrat eine neue Gruppe die politische Bühne. Die kleinen Handwerker und die Greißler und die Pfaidler, der »kleine Mann« also, für den schon immer etwas geschehen mußte, aber nie etwas geschah. Der, bisher rechtlos gewesen, bekam 1885 das Wahlrecht. Fünf Gulden direkte Steuer mußte man nicht unbedingt bezahlt, bloß vorgeschrieben bekommen haben, um »Sehr geehrter Herr Wähler« zu sein, Fünfguldenmänner wurden sie geringschätzig von denen geheißen, die bisher allein befugt waren, zu wählen, und diese »Fünfguldenmänner« waren nun die stärkste Wählergruppe. Die wußten mit ihrem neuen Recht nichts anzufangen. Die würdegespreizten Herren von der liberalen Partei waren um nichts in der Welt zu ihnen hinuntergestiegen und sie hätten sich auch gar nicht verständlich machen können.

Aber der Dr. Karl Lueger stieg zu ihnen hinunter und nahm sie im Sturm. Seit 1892 gewann er von Wahl zu Wahl mehr Mandate und mehr Macht, und 1894 hielten sich Liberale und Luegers Antiliberale im Gemeinderate schon die Waage. Und in den Gemeinderatssitzungen ging es immer stürmischer zu.

Im Mai 1895 wählten sie den Dr. Lueger zum Vizebürgermeister. Sie glaubten, daß er dann Ruhe geben würde. Bald darauf war der Bürgermeisterstuhl vakant. Von den Liberalen wollte keiner Bürgermeister werden, weil sie nur noch eine sehr knappe Mehrheit hatten und weil die wüste Minderheit der antiliberalen vereinigten Christen Luegers einem liberalen Bürgermeister mit Hofratsallüren das Leben zu sauer gemacht hätte.

Sie wählten den Dr. Karl Lueger zum Bürgermeister. Er soll zeigen, was er kann, meinten sie. Lueger aber lehnte ab. Er wollte erst eine Mehrheit haben. Da die Bürgermeisterwahl ohne Ergebnis blieb, wurde der Gemeinderat aufgelöst, wurden Neuwahlen ausgeschrieben. Mit der Leitung der Gemeindegeschäfte wurde der Statthaltereirat Dr. Hans von Friebeis betraut.

Lueger stürzte sich mit Elan in den Kampf um Wien. Seine Versammlungen sind nicht öffentlich. Nur gegen Einladung darf man hinein. Nicht aus Furcht vor den Liberalen, die ohnehin nicht hingegangen wären, sondern aus Furcht vor den Sozialdemokraten. Die hatten wohl kein Wahlrecht, aber gefürchtet waren sie schon sehr. Hingegen ließ Lueger die Versammlungen der Liberalen von Viehtreibern aus St. Marx, seinen Allergetreuesten, die mit Ochsenziemern ausgerüstet waren, sprengen und die Versammlungsbesucher arg verprügeln. Liberale Versammlungen waren bald unmöglich, weil sich niemand mehr hintraute.

Die Sozialdemokraten beteiligten sich nicht an dieser Wahl. Es wäre ja aussichtslos gewesen. Aber sie gingen daran, ihren Organisationsapparat auszubauen. Es wurden Bezirksorganisationen gegründet, auf dem Lande auch Lokalorganisationen, Fabriks- und Branchenvertrauensmänner wurden bestellt und die »Volkstribüne« für die Mitglieder der politischen Organisationen obligatorisch erklärt.

In allen größeren Bezirken und Orten wurde die administrative Arbeit in Privatlokale verlegt. In Ottakring befand sich das erste Privatlokal des sozialdemokratischen Wahlvereins, dessen Obmann Albert Sever war in der Lindauergasse 25.

Die Partei bekämpfte sowohl die Liberalen wie die Anti. Am forschesten kämpfte da der Schuhmeier.

Von den Liberalen nimmt er sich das »Schöpserne Tagblatt« besonders aufs Korn, von Schuhmeier so benannt, weil der Herausgeber Moritz Szeps hieß.

Im September 1895 bei den Gemeinderatswahlen errang Lueger einen gewaltigen Sieg. Von 138 Mandaten fielen 93 ihm zu. Nun hatte er die Mehrheit, nun hatte er Wien.


Und Wien, die berauschende und selbst so leicht berauschte Stadt, lag dem Dr. Karl Lueger zu Füßen. Zwei Drittel der Männer von Wien hatten nichts dreinzureden bei der Wahl des Geliebten der Stadt. Das waren die Arbeitsbienen in den Fabriken und Werkstätten, hinter Verkaufspulten und vor Schreibtischen. Das restliche Drittel zerfiel abermals in zwei ungleiche Teile. Zwei Drittel von diesem einen waren die Weaner und das letzte die Wiener.

Die Weaner, leicht und seicht und ohne Glauben an sich selbst, nur voll des Glaubens an den einen, der's schon machen wird, versumperten und versumpften Wien, und die Wiener, die bürgerliche Intelligenz von damals, rümpften erst die Nasen, weil das nicht fein war, was da geschah, zuckten die Achseln und blieben schließlich selber dumpf und stumpf im Sumpf stecken.

Manchmal leistet sich die Natur den Witz, einen Menschen hervorzubringen, in den von allen Tugenden und Lastern einer Gattung ein bisserl hineingetan wurde. Wenn man sämtliche Weaner in einer Mühle zermahlen, daraus einen Teig gemacht, aus diesem Teig einen Menschen geknetet und ihm Seele eingeblasen hätte, es wäre auch nichts anderes daraus geworden als der Dr. Karl Lueger.

Dieser Dr. Karl Lueger verstand es meisterhaft, die buntschillernden Gaben, die ihm die Natur in die Wiege gelegt, zu nützen. Er legte den Weaner hin, wenn er es brauchte, wie man ihn beim Heurigen beim vierten Viertel gesehen hat.

Aufreiben, aber deswegen nicht gleich hinhauen, schimpfen und poltern und dabei spitzbübisch zwinkern, daß man gar nicht so wild ist, nur so tut, damit sich die andern fürchten: ein wenig dadäderln, trotzdem man Doktor ist, weil sie vor einem, der die Weisheit mit Löffeln gefressen haben will, schon gespeist haben; ihnen ihr Ach und Weh aus einem Punkt erklären, daß sie ohne viel Gehirnschmalzkonsum kapieren; unheimlich klug und mit allen Salben geschmiert sein, es aber nicht merken, lassen und sie trösten, daß viel Wissen Kopfweh macht; predigen, daß der Mensch eine Religion haben muß, weil er sonst ein Viech ist, und selber bei solchen Kapuzinaden ein Auge zukneifen, daß sich jeder dabei denken kann, was er will: das war der Dr. Karl Lueger.

Der Mann konnte einmal stachelig wie ein Igel, aber auch wieder faszinierend liebenswürdig sein, es war überhaupt ein wienerischer Charme in ihm, der Schwächlinge hinriß und auch Starke entwaffnete. Von imponierender Figur, mit wiegendem Gang, das verteufelt gescheite Gesicht von einem Vollbarte umrahmt, war er das, was sie einen »feschen Menschen« nannten. Die Stimme war Musik, ein Potpourri aus Beethoven über den Schubert-Franzl, den Lanner-Pepi, den Strauß-Schani bis zum Schrammel-Hans. Und er war ein großer Hypnotiseur, in dessen Nähe man Medium wurde.

Der »schöne Karl« machte die Weiber verrückt, aber drangekriegt hat ihn keine, weil er sich von keiner die Flügel stutzen lassen wollte. Die Frauen haben redlich mitgeholfen, aus ihm den Lueger zu machen, aber er hat keine gute Meinung von ihnen gehabt.

So oft von ihm verlangt wurde, sich für die politische Gleichberechtigung der Frau einzusetzen, meinte er schalkhaft: »Weiber? Politisches Recht? Gleiches Recht? Weiber sind etwas ganz Schönes, am schönsten bei Nacht Weiber gehören zum Kochtopf, zum Strickstrumpf, ins Wochenbett, lange Haare, kurzer Verstand usf.«

Vor allen Wahlen sind die vom »Christlichen Frauenbund« nach Maria-Enzersdorf gewallt, um für seinen Sieg und seine Gesundheit zu beten. Es hat Zeiten gegeben, wo sie ihm, wenn sie ihn erwischten, Rockschösse, Ärmel und Hände küßten. Und bei einer solchen Wallfahrt hat ein Geistlicher von der Kanzel herab den Lueger den Schüler des Heilands genannt.

Weil er so vielfältig und zwiespältig war, daß jeder an ihm ein Stück von sich erkannte, gaben sie sich ihm hin, die Weaner, ganz und ohne Vorbehalt. Kaum einer vor ihm hat diese Stadt so ganz besessen wie der Dr. Karl Lueger, und es war verständlich, daß man in der Hofburg zu Wien, wo man ein angestammtes Recht auf die ungeteilte Liebe des Volkes zu haben glaubte, eifersüchtig wurde. In keiner Wohnung eines richtigen Weaners fehlte das Luegerbild, wo er erschien, standen sie verzückt Spalier und brüllten ihr »Hoch Lueger«, bis sie nicht mehr »Mau« sagen konnten, und jedes Werkel hustete den Luegermarsch. Sie hatten halt wieder einen Götzen, die Weaner, einen aus ihrem Fleisch und aus ihrem Blut noch dazu.

Immer aber blieb zwischen dem Dr. Lueger und seinen Anbetern so eine Art luftleerer Raum, so daß niemand ganz an ihn herankam, auch die von seinem engsten Stabe nicht. Vielleicht ist gerade daraus das Geheimnis seines grandiosen Triumphes zu erklären: daß nämlich immer noch etwas zwischen ihm und den Massen blieb, daß er sie ganz nahm, sich aber nie ganz gab; und auch daraus, daß er sie unverhüllt von oben her ab behandelte, was die perverse Masse reizte; er stand nie mitten unter ihnen, zeitlebens über ihnen.

Dieser gemütliche Weaner war aber dennoch auch ein gewaltiger Hasser. Wer sich ihm in den Weg stellen, ihn ausziehen und nackt dem Volke zeigen wollte, gar erst, wer ihm als Nebenbuhler um die Volksgunst gar er verdächtig wurde, den konnte er mit blutunterlaufenen Augen anfallen und den vernichtete er, wenn er konnte.

Das Weanerischeste an dem Dr. Karl Lueger war sein Geltungsdrang. Der steckt in ihnen allen. Irgendwer muß bewundernd zu ihm aufschauen, zum Weaner, einmal wenigstens müssen sich zwei anstoßen und auf ihn zeigen, wenn er vorbeigeht, und respektvoll zueinander sagen: »Siehst, das ist der...« Und wenn er keinen Titel und kein Prädikat hat, muß der Wirt und der Ober und der Pikkolo und der Friseur einen solchen taxfrei verleihen, wobei man der Frau Gemahlin zeigen kann, wer man ist, damit sie endlich einmal Respekt kriegt.

Die Geltungsdränge sämtlicher Weaner waren in Lueger aufgestapelt. Sein Ehrgeiz war brennend. Er wollte nicht wer sein, um einer, seiner, nur dieser einen Idee zu dienen. Er hätte vielleicht auch einer andern Idee gedient, die bereit gewesen wäre, ihn groß zu machen. Er hat da und dort auch mit der Sozialdemokratie kokettiert, die aber weder Macht verleihen noch Würden zu vergeben hatte.

Als Verteidiger im Hochverratsprozeß 1883 sagte er: »Nun, meine Herren Geschworenen, ist es geradezu merkwürdig, in welcher Weise man Verdachtsmomente gegen die Sozialdemokraten findet oder konstruiert.«

Er hat das später selber so gemacht.

Also schuf er sich selber die Idee und ihr Werkzeug, die Christlichsoziale Partei, schuf sie mit seinem zungenschnalzerischen Weanerisch.

Die »Fünfguldenmänner«, das waren seine Weaner, denen konnte man alles einreden, weil sie gar nichts wußten. Und dazu waren es politische Jungfrauen und hatten Mandate und damit Macht zu vergeben.

Der politische Aufstieg des kleinen Mannes fiel mit seinem wirtschaftlichen Niedergang zusammen. Er konnte mit der davoneilenden Zeit nicht mit, denn er war ein wenig asthmatisch und anstatt des Sonntagshuhnes brodelte nur mehr eine Taube und dann gar nur mehr ein Spatz im Topfe.

Fabriken und Warenhäuser erstanden. Wenn einer eine Wohnungseinrichtung brauchte, stieg er nicht mehr in die Kellerwerkstätte des Tischlermeisters, wo er nach einem halben Jahre die Möbel bekam, die nach vier Wochen geliefert werden sollten, und die meistens ganz anders ausfielen, als man sie gewünscht und es sich vorgestellt hatte. Man ging jetzt zum Möbelhändler, wo man große Auswahl hatte und nicht die Katz im Sack kaufen mußte.

In den Kellerwerkstätten wurde ein Geselle nach dem andern abgebaut und im Topf gab es nicht einmal mehr den Spatzen. Der Steuerexekutor war Stammgast und der Holzhändler schickte einem auch den Advokaten auf den Hals. Bis zum Samstag Mittag trotzte der Meister mit der neuen Zeit. Nachmittag lud er, was auf Lager war, auf das Handwagerl, spannte sich und den Lehrbuben davor und fuhr zum Möbelhändler. Wenn er wenigstens am Montag gekommen wäre! Am Samstag wußte der Möbelhändler, daß der Meister seinen Kram nicht mehr nach Hause führen würde, weil sie zu Hause auf Geld warten, und so kriegte er die Ware um jeden Preis. Und das Gewerbe kam auf den Hund.

Da packte sie der Dr. Lueger. Hätte er ihnen auseinandergesetzt, daß sie mit der Zeit gehen und von Großvaterart lassen müssen, um gegen das unaufhaltsame Vordringen kapitalistischer Produktions- und Handelsmethoden bestehen zu können – sie hätten es nicht verstanden und den »faden Zipf« ausgepfiffen, Aber das wollte der Dr. Karl Lueger gar nicht. Er wollte ihnen gar nicht helfen, weil er wußte, daß da nicht zu helfen war. Er hat ihnen den Befähigungsnachweis als Beruhigungspille gebracht, aber er hat ihren Niedergang nicht einen Tag aufgehalten, hat nur verhindert, daß sich einer, wenn sein Gewerbe auf den Hund kam, sich auf ein anderes werfen konnte. Er trommelte in sie hinein, daß »dar Jud« an allem Übel schuld sei. Und sie glaubten es, daß man nur die Juden aus Wien hinausschmeißen oder gleich erschlagen müsse, worauf sofort wieder die Möbelkäufer in die Kellerwerkstätten klettern würden. Alles, was ihm im Wege stand, war jüdisch. Ungefügige Zeitungen waren »Judenblätter«, die Liberalen »Judenliberale«, die Sozialdemokraten »Judensozi«, beide waren »Judenschutztruppen«, wer nicht miteinstimmte in das antisemitische Geheul, ein »Judenknecht«, und sogar die Ungarn beehrte er aus nicht ganz klaren Ursachen mit dem Prädikat »Judäomagyaren«. Es war nur ein Feind da, der allein an allem schuld war, der Jud. Wie ein Zeisig pfiff ihnen der Dr. Lueger die Liedeln vor, die sie gern hörten, und war doch gar kein Zeisig, sondern ein Gimpelfänger, der seine Leimspindeln auslegte, auf denen sie alle picken blieben. Durch sie kam er hoch. Er saß bereits im Reichsrat und im Landtag, im Gemeinderat schon lange, und die Neuwahlen in den Gemeinderat brachten ihm einen überwältigenden Sieg. Der Bürgermeisterstuhl war frei und wartete auf ihn. Und sie wählten ihn zum Bürgermeister der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien.

Aber die Hofburg war eifersüchtig und verweigerte die Bestätigung. Zwei Götzen durfte es nicht geben. Jedoch, wozu hatte man im Gemeinderat eine kompakte, auf den Wink gehorchende Mehrheit? Sie wählten den Dr. Lueger noch einmal zum Bürgermeister. Das war schon Auflehnung gegen den kaiserlichen Willen. Das war unerhört. Der widerspenstige Gemeinderat wurde aufgelöst. Neuwahlen wurden ausgeschrieben, die den Übermut Luegers brechen sollten. Lueger lächelte nur. Er wußte es, im Zweikampf des Kaisers von Österreich mit dem Margaretner Advokaten Dr. Karl L.ueger wird nicht der mächtigste Herrscher Europas Sieger bleiben. Am Abend machten Luegers Getreue vor der Hofburg Katzenmusik. Lueger behielt recht. Am 27. Februar 1896 wählte der III. Wahlkörper seine Vertreter. Das war der Wahlkörper des »kleinen Mannes«. Alle 46 Mandate fielen Lueger zu. Der zweite Wahlkörper entschied sich mit drei Ausnahmen gleichfalls für ihn. In ihm wählten die Beamten, die Lehrer und die sonstige Intelligenz. Sie wollten den Anschluß an die stärkeren Bataillone nicht verpassen. Auch der I. Wahlkörper der oberen Zehntausend neigte sich ihm zu. Die Sozialdemokraten hatten für den III. Wahlkörper Zählkandidaten aufgestellt. Der Schuhmeier erhielt in Ottakring im ganzen 175 gegen 2247 Stimmen der Christlichsozialen. Der liberale Gegner war dezimiert. –

Lueger ließ den gänzlich unbekannten Gemeinderat Josef Strobach als Strohmann zum Bürgermeister wählen und beschied sich damit, als Vizebürgermeister, der keiner kaiserlichen Bestätigung bedurfte, das Rathaus und damit Wien zu beherrschen. Er lächelte wieder. Er wußte es: seine Zeit kommt. Bisher konnte er nur Gewalt gewinnen über seine »Fünfguldenmänner«. Aber auch die Proleten wollte der Dr. Lueger auch vor seinen Siegeswagen spannen, um sagen zu können: »Nun ist diese ganze, große Stadt mein«.

Mußte ihm das nicht ebenso leicht gelingen, auf der Höhe seiner Macht, wie es ihm beim »kleinen Mann« gelang? Gab es noch einen, der es wie er verstand, die Menschen mitzureißen, anzufeuern, so daß alles durch dick und dünn mitging?

Ja es gab ihn, und dieser gefährliche Gegenspieler des Dr. Karl Lueger hieß Franz Schuhmeier.

Sich mit dem übermütigen Lueger herumzuraufen, reizte den Schuhmeier. Es war schwer. In Luegers Versammlungen konnte man nicht, weil er sie nur hinter geschlossenen Türen abhielt; es war schwer, den Mann zu stellen, der sich auf der einen Seite um die Arbeiter bemühte, auf der anderen sich als festesten Damm gegen die »Begehrlichkeit« dieser Arbeiter empfahl; der dem hohen Klerus versprach, ihm wieder die Kirchen zu füllen und dafür die Kanzeln als unbezahlbare Agitationstribüne und die Kapläne als Wahlschlepper gewann; der sich, wo es Vorteile brachte, national, ja nationalistisch gebärdete, gleich darauf aber wieder ausrief: »Laßt mir meine Böhm in Ruh, das sind kernbrave Leut, gute Handwerker und treue Patrioten«; den »Volksmann«, der es auf dem Gipfel seines Ruhmes so arg trieb, daß das christlichsoziale Blatt »Politische Fragmente« schreiben mußte: »Die Feste folgen sich wie der Tag der Nacht. Jeden Sonntag ein Luegerfest mit mindestens 5 Musikchören, Athletenproduktionen, Feuerwerken usw. Letzten Sonntag in Baumgarten, gestern beim Weigl, nächsten Sonntag am Kahlenberg, – wo dann noch? Die besten Freunde des großen Volkstribunen schütteln den Kopfund fragen sich: Wohin soll das führen? Geht es wirklich aller Welt so gut, geht es insbesondere den Wiener Gewerbetreibenden so gut, daß sie am Sonntag verjubeln können, was sie in der Woche vorher verdient oder vielleicht auch nicht verdient haben? Wird hier nicht auf den Leichtsinn des Wieners für Unterhaltungen und Lustbarkeiten spekuliert? Man sage nicht, wer nicht gehen will, kann zu Hause bleiben. Es gibt auch einen moralischen Zwang, und wenn der Gevatter Schuster geht, weil er einige Ersparnisse besitzt, so will der Gevatter Schneider nicht zurückbleiben, trotzdem er kein Geld hat und ins Versatzamt gehen mußte. Herr Dr. Lueger kennt hier die Wiener so gut, wie wir sie kennen. Wozu aber dient die ›Gelegenheitsmacherei?‹ Will man wirklich die so schöne christliche Bewegung in Lustbarkeiten und ewigen Saufgelagen ersticken? Wir möchten dringend raten, den Personenkult etwas zu zähmen und an ernste, nützliche Arbeit zu schreiten.«

Es war schwer, den Mann zu stellen, der, wenn er als Bürgermeister bei einer Festlichkeit erschien, duldete oder vielleicht nicht nur duldete, daß ihm ein Präsidialbeamter im grünen Frack mit gelben Knöpfen voranschritt, in Nachäffung des spanischen Hofzeremoniells mit dem Zeremonienstab aufklopfte und in den Saal rief: »Seine Exzellenz, der Herr Volksbürgermeister.«

Dem war es um nichts zu tun, als um persönlichen Erfolg, persönlichen Ruhm, persönliche Macht, ihm, der nicht anders redete, als: » Ich werde das tun, ich werde jenes unterlassen, ich werde euch eine Subvention geben« usw., und der einmal vor aller Welt ganz ungeniert sagte: »Was nach meinem Tode geschieht, das kümmert mich nicht«.

Den wollte, den mußte der Schuhmeier stellen. Mit dem nahm er den Kampf auf. Und da ging es hart auf hart.


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