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Zehntes Kapitel.
De Profundis

Im Februar 1905 wurde die literarische Welt in Erstaunen gesetzt durch das Erscheinen einer Art Bekenntnisschrift, die Wilde im Gefängnis geschrieben haben sollte und die von seinem Freunde und Testamentsvollstrecker Robert Roß unter dem Titel De Profundis herausgegeben wurde. Das Buch, das schon im Januar 1905 in einer deutschen Übersetzung von Dr. Max Meyerfeld in der »Neuen deutschen Rundschau« erschienen war, wurde in allen Zeitschriften besprochen und erlebte eine Auflage nach der anderen, 37 allein in England in den 14 Jahren bis 1919, auch in Amerika wurde es häufig gedruckt. Und es war das Signal zu einem vollständigen Umschwung in der Beurteilung Wildes in England. War es vorher fast verboten gewesen, in guter Gesellschaft seinen Namen zu nennen, so daß man seine Stücke, wenn überhaupt, anonym spielte, so war er jetzt mit einem Schlage bis zu einem gewissen Grade rehabilitiert; man fing an sich mit seinen Schriften wieder zu beschäftigen; die großen Monatszeitschriften brachten Abhandlungen über ihn; man begann zu erkennen, welchen Schatz von Geist, Witz und Weisheit, welche Quelle feinsten literarischen Genusses man in den Werken dieses Schriftstellers besaß. Wilde wurde wieder Mode.

Das Buch ist das Resultat von Aufzeichnungen, die Wilde in den letzten sechs Monaten seiner Gefangenschaft gemacht hat; es waren, wie der Herausgeber sagt, 80 eng geschriebene Seiten auf 20 Foliobogen, und sie hatten die Form eines Briefes an den, der bis zu seinem Falle sein intimster Freund und zugleich der Anlaß dieses Falles gewesen war, Lord Alfred Douglas. Die Aufzeichnungen sind von dem Herausgeber nicht vollständig veröffentlicht worden. Das Manuskript selbst wurde dem britischen Museum vermacht mit der Bestimmung, daß es nicht vor 1960 veröffentlicht werden dürfe. Es enthält, wie wir erfahren, viel Persönliches, namentlich eine heftige und bittere Auseinandersetzung mit Lord Alfred, die dieser als »Schmähungen und Verleumdungen« bezeichnet. Ein Teil dieses Allzumenschlichen kam an die Öffentlichkeit in dem Beleidigungsprozeß, den Lord Douglas im Jahre 1913 gegen den Verfasser eines Buches über Wilde, Arthur Ransome führte, und der zuungunsten des Lords ausging. Der Herausgeber der Auswahl, auf den auch der Titel De Profundis zurückgeht, hat alles Persönliche ausgeschieden und das Buch durch vier Briefe eingeleitet, die Wilde aus dem Gefängnisse an ihn selbst gerichtet hat. Er hat durch seine Auswahl keine Fälschung begangen, wie Lord Douglas ärgerlich meint, sondern uns und der Welt statt des wirklichen den wahren Wilde gezeigt. Es war das Verhängnis des edlen Lords, daß er nur der Freund der Schwächen Wildes, der niederen Seite seines Wesens, war, und, wie wir später sehen werden, leider auch blieb.

Wie tritt uns der wahre Wilde nun in diesen Bekenntnissen entgegen? Was uns zunächst auffällt, ist der unverminderte Zauber seiner Kunst als Schriftsteller. Die Prosa dieser in der einsamen Kerkerzelle auf schlechtem Gefängnispapier hingeworfenen Aufzeichnungen ist dem Besten gleich, was er geschrieben hat, seinen Märchen und seinen Gedichten in Prosa, vollendet in der Form, meisterhaft, in Poesie getaucht. All seinen Schmerz, seine tiefsten Seelenqualen, all das Gemeine und Schmachvolle seiner Existenz, seine Bitterkeit und Reue, seine Verzweiflung und seine blutigen Tränen hat er in reines Gold verwandelt, durch die schaffende Phantasie umgestaltet und verklärt. Niemals hat ein Zuchthäusler so den furchtbar gräßlichen Stoff seiner Leiden gemeistert. Eine gewaltige Kraft der schaffenden Phantasie offenbart sich hier. Kein Buch der Weltliteratur ist diesem zu vergleichen, weil niemals ein Dichter sich einer solchen Aufgabe gegenüber gesehen hat.

Und wie erhebt sich Wilde über die Schmach seines täglichen Leidens? Dadurch, daß er es hinnimmt, daß er es innerlich zu erleben sucht, daß er selbst die furchtbaren Erfahrungen zu verarbeiten, seinem Wesen einzuverleiben sucht. Er bekennt seine Schuld, wenn er auch die Strafe zu hart findet, er arbeitet sich durch alle Stimmungen eines gequälten, einsamen Herzens zu einer Art Resignation durch, er überwindet die Verbitterung und Rebellion und faßt das Leiden schließlich auf als eine notwendige und heilsame Erweiterung seiner Individualität, als ein neues, bisher unbekanntes Leben, das ihm neue Aussichten zu eröffnen scheint. Er verherrlicht das Leiden und die Religion des Leidens, das Christentum. Nicht, als ob er gläubig im kirchlichen Sinne geworden wäre. Er bekennt sich auch weiter als Ungläubigen, als Agnostiker, aber er wird Christ im Sinne der Verehrung und der Lobpreisung der Person und der Lehren des Stifters des Christentums. Und er findet in seinem Christus gewissermaßen das Band zwischen seinem früheren Leben, dem Leben des Genusses und des Auslebens der Persönlichkeit und dem jetzigen, sowie dem zukünftigen, der vita nuova , die er erhofft und sich vornimmt. Christus ist ihm die erhabenste Persönlichkeit, weil er durch seine allumfassende Sympathie der größte Künstler, ein wahrer Dichter ist, weil er das Zentrum und ein Vorläufer der Romantik ist, und vor allem, weil er der höchste, der erste Individualist ist, nicht ein Philanthrop oder ein Altruist, sondern einer, der den Zweck und das Ziel des Lebens in der Selbstentwicklung sieht. »Für andere zu leben«, sagt Wilde, »als festes, selbstbewußtes Ziel war nicht seine Lehre. Wenn er sagt: ›Vergebet euren Feinden‹, so sagt er das nicht um des Feindes, sondern um unserer selbst willen, und weil die Liebe schöner ist als der Haß.« Und ein andermal: »Mitleid hat er natürlich für die Armen, für die, die in Gefängnissen schmachten, für die Niedrigen, für die Elenden; aber er hat noch weit mehr Mitleid für die Reichen, für die hartherzigen Genießer, für die, die ihre Freiheit dafür hingeben, Sklaven der Dinge zu sein, für die, die weiche Gewänder tragen und in den Häusern der Könige wohnen.« Es ist ein künstlerischer und ästhetischer Christus, den Wilde im Gefängnisse, wo die Bibel seine Hauptlektüre war, erlebt.

So ist Wilde doch in der Hauptsache derselbe geblieben, der Prophet des Schönen, Antimoralist im Sinne der Verwerfung und Bestreitung eines Gesetzes für alle – er nennt sich selbst einen »geborenen Antimonisten«, einen, der für die Ausnahmen, nicht für das Gesetz geschaffen ist – und Individualist. »Die Leute sagten wohl von mir,« so sagt er einmal in De Profundis , »ich sei viel zu individualistisch. Ich muß noch in viel höherem Grade Individualist werden, als ich je war. Ich muß noch viel mehr aus mir herausbekommen als je und weniger von der Welt fordern, als ich jemals gefordert habe.«

Und doch war er nicht derselbe. Einiges in dem Buche stößt uns ab durch die übertriebene, sich selbst bespiegelnde Demut, die an Eitelkeit grenzt und uns zuweilen an eine abstoßende Gestalt bei Dickens denken läßt, den Betrüger Uriah Heep in David Copperfield, der im Gefängnisse den Besuchern erbauliche Lehren gibt; es liegt darin auch eine ungesunde Verherrlichung des Leidens und des reuigen Sünders, der büßenden Magdalene und des verlorenen Sohnes. Es ist natürlich keine Heuchelei hier, wie bei der famosen Gestalt des so urgesunden Dickens, sondern der Ausdruck einer kranken Seele. Das Eisen, das Wilde gebrandmarkt hatte, war in seine Seele eingedrungen, und sie zeigte die Narben. »Herzen sind dazu da, um gebrochen zu werden«, sagt Wilde einmal in diesen Bekenntnissen, und auch sein Herz war gebrochen. Und so sehr auch gerade diese Seite der Schrift, die Demut, die Selbstanklage, die Resignation seinen Erfolg bewirkte, denn die Menge freut sich immer, einen reuigen Sünder zu sehen; daß sie nicht eine Quelle der Kraft, sondern der Ohnmacht war, zeigte sich nur zu bald. Von all den Hoffnungen auf neues Leben und neues Schaffen, die Wilde hier aussprach, ging, abgesehen von der Zuchthausballade, nichts in Erfüllung.

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