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Über Oscar Wildes Andenken liegt eine finstere Wolke. »Das Bildnis des Dorian Gray« ist heute noch einer der gelesensten, wenn auch am meisten gescholtenen englischen Romane der Neuzeit. Wildes heitere Gesellschaftsstücke werden auf allen Bühnen der Kulturländer gespielt, wenn auch Pedanten und Philister über ihre Frivolität die Nase rümpfen. Die wuchtige Gewalt der »Salome« wirkt durch das Wort allein und auch verstärkt durch die Musik eines der größten modernen Meister der Tonkunst mit unverminderter Kraft und offenbart dem Hörer und Leser die Abgründe menschlicher Leidenschaft. Die kritischen und theoretischen Schriften fesseln durch ihre vollendete Form, ihre Anmut, ihren Witz und ihren Geist den Kenner und literarischen Feinschmecker, wie kaum andere Schriften dieser Art in der Weltliteratur, und regen zu selbsttätigem Denken an. Und endlich die Märchen! Sind sie nicht ein Kinderbuch geworden wie der »Robinson Crusoe« Daniel Defoes und wie die Reisebeschreibungen jenes genialen unglücklichen Menschenverächters, »Gullivers Reisen« von Jonathan Swift? – Aber der Verfasser aller dieser wunderbaren Bücher ist auf der Höhe seiner Kraft, mit 41 Jahren, in einen schmutzigen Skandalprozeß hineingezogen worden und ist als ein gezeichneter Mann, ein Verbrecher herausgekommen. Er hat zwei Jahre in der Hölle eines Zuchthauses zugebracht, und dort ist seine Lebenskraft geknickt worden, so daß er in freiwilliger Verbannung einem elenden Tode zutaumelte. Und der Schatten seines Vergehens und seiner Schmach liegt auf seinem Namen und will nicht weichen. Die einen schnüffeln geschäftig in allen seinen Schriften nach Spuren der Schwäche und der Gesinnung, die ihn zu Falle brachten, die anderen werfen sich zu seinen Verteidigern auf, erklären, beklagen und klagen die Gesellschaft an, die sich so furchtbar an einem Manne rächte, der sich gegen ihre Gesetze vergangen hatte. Sind diese Betrachtungsweisen, sowohl die des moralisierenden Tugendrichters als die des wohlmeinenden Apologeten gegenüber den Werken eines Dichters berechtigt? Ich glaube nicht. Wir lassen uns den Genuß und die Belehrung des weisesten Buches über Erziehung, das jemals geschrieben worden ist, nicht verkümmern durch die Tatsache, daß sein Verfasser, J. J. Rousseau, seine eigenen Kinder in ein Findelhaus gebracht hat. War nicht dieser selbe Rousseau, der die Welt- und Lebensanschauung von Generationen umgestaltet hat, dessen Bücher Geschichte gemacht haben, wie kaum jemals die Schriften eines Menschen, Rousseau, den Schiller, einer seiner eifrigsten und größten Schüler, mit Sokrates vergleicht, im Leben ein unglücklicher Vagabund, der nirgends Ruhe fand, ein kranker Mensch, dessen Mißtrauen und Reizbarkeit schließlich in Verfolgungswahnsinn ausartete? Sollen wir an Fritz Reuters gemütvollem Humor weniger Freude finden, weil wir wissen, daß er an periodisch wiederkehrendem Säuferwahnsinn litt? Gewiß, der Mensch ist eine Einheit, und Leben und Kunst sind im Grunde nicht zu trennen, wie das Oscar Wilde, der diese Wahrheit leugnete, zu seinem Verderben fand. Man findet bei Rousseau die Spur seiner Schwächen, das Fehlen gewisser Hemmungsvorstellungen in seinen besten Schriften, und in Reuters oft allzu weinerlichem Humor macht sich eine gewisse Säufersentimentalität bemerkbar. Aber warum soll man auf diese Dinge einen besonderen Nachdruck legen, warum sie anders als schonend und zurückhaltend berühren? Der Biograph soll nicht der Kammerdiener der Literaturgeschichte sein, für den es keinen Helden gibt, er soll den Dichter nicht in Unterhosen zeigen und beweisen wollen, daß derselbe ein ebenso armseliges, mit Fehlern und Schwächen behaftetes zweizinkiges Gabeltier war, wie er selbst ist, ja, eben weil sein Genie jenem Helden so große Lasten aufbürdet, um so mehr auch mit den Unvollkommenheiten, die aus der Vererbung, den Umständen und Schicksalen hervorgehen, geplagt war. In den Schriften eines Menschen, wenn sie anders von dauerndem Werte sind, zeigt sich der intelligible Mensch, der Mensch, wie er in der vergänglichen Persönlichkeit angelegt ist und durch äußere Hindernisse und innere Qualen und Kämpfe zur Verwirklichung strebt. Diesen hat der Biograph zu zeigen und nicht in erster Linie den empirischen Menschen, wie er im Leben sich gezeigt hat; denn er geht die Nachwelt allein an. Weil das oft nicht geschehen ist, hat man es vielfach als eine Segnung empfunden, daß wir von Shakespeare nichts wissen, als daß er als Schauspieler in London Geld gemacht, verschiedene sehr prosaische Prozesse um Geld und Land geführt hat und als wohlhabender Landedelmann in seiner Heimatstadt gestorben ist. So ist sein Bild durch Allzumenschliches nicht getrübt, und seine Schwächen, denn auch er wird solche gehabt haben, bleiben der Menschheit, die an seinen Schöpfungen sich für alle Zeiten erfreut, verborgen. Beschäftigen wir uns daher auch bei der Behandlung Oscar Wildes in erster Linie mit seinen geistigen Erzeugnissen, suchen wir den intelligiblen Menschen zu erkennen, behandeln wir sein Leben, ohne etwas zu verschweigen oder zu beschönigen, nicht im Geiste des Kammerdieners, sondern in dem des ruhigen und sympathischen Beurteilers, um so zu vollerem und besserem Verständnis des Menschen und Künstlers in seiner Bedeutung für Gegenwart und Zukunft zu gelangen.