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Viertes Kapitel.
Wilde als Geschichten- und Märchenerzähler

Es war natürlich, daß diese bloß kritische Tätigkeit Wilde auf die Dauer nicht zusagte. Ein literarischer Vorschmecker für das Publikum zu sein, seine Meinung über die Produktionen anderer zu sagen, konnte einen Mann nicht befriedigen, der den Drang zu eigener Produktion und das Bewußtsein, Bedeutendes schaffen zu können, in sich fühlte.

Sein poetisches Feuer war verraucht. Warum sollte er sich aber nicht in Prosa versuchen? Die Anregung dazu kam ihm nach seinem eigenen Geständnis von Walter Pater. »Als ich zuerst«, so erzählte er in einer Besprechung eines Buches dieses von ihm hochverehrten Schriftstellers ( Speaker 22./III. 1890), »den Vorzug hatte – und ich halte ihn für einen sehr hohen – Herrn Walter Pater kennenzulernen, sagte er lächelnd zu mir: ›Warum schreiben Sie immer Gedichte? Warum schreiben Sie keine Prosa? Prosa ist viel schwieriger.‹ Es war in meinen Studententagen in Oxford, Tagen lyrischer Glut und eifrigen Sonettschreibens, Tagen, in denen man sich an den schönen Windungen und musikalischen Wiederholungen der Ballade erfreute und an der Villanelle mit ihrem kettengleichen, lang hingezogenen Echo und ihrer seltsamen Abrundung; Tagen, in denen man ernsthaft nach der Stimmung suchte, in der ein Triolett geschrieben werden müsse; entzückenden Tagen, in denen, ich denke noch mit Vergnügen daran, viel mehr Klang und Sang als Sinn und Verstand war.«

Nun war Wilde ein ausgezeichneter Plauderer und Geschichtenerzähler. Er glänzte dadurch in jeder Gesellschaft und versorgte auch freigebig andere mit Einfällen und Ideen, die er selbst auszuführen zu träge war. Er war unerschöpflich in Geschichten, wie André Gide berichtet, und seine Stimme selbst hatte etwas Wunderbares. Jemand hatte ihn gelobt, daß er verstehe, hübsche Geschichten zu erfinden, um seine Gedanken besser zu umkleiden. Er sagte: »Diese Leute glauben, alle Gedanken würden nackt geboren. Sie begreifen eben nicht, daß ich nicht anders als in Geschichten denken kann. Auch der Bildhauer sucht ja nicht seinen Gedanken in Marmor einzukleiden; er denkt vielmehr direkt in Marmor.« So kann nur ein Dichter sprechen, dem die Symbolik der Dinge immer gegenwärtig ist, der die Dinge durch Bilder sieht.

Im Jahre 1887 erschienen seine ersten Erzählungen: »Lord Artur Saviles Verbrechen«, »Der Geist von Canterville«, »Die Sphinx ohne Geheimnis« und »Der Modellmillionär«, die zusammen mit dem 1889 verfaßten »Bildnis des Herrn W. H.« im Jahre 1891 als Buch herauskamen.

Es sind Geschichten, die etwas an die von Robert Louis Stevenson erinnern, in denen die Welt zur Belustigung des Publikums gewissermaßen auf den Kopf gestellt, mit den gewöhnlichen Begriffen der Moral und den allgemeinen Anschauungen Ball gespielt wird. Nehmen wir gleich die erste, Lord Artur Saviles Verbrechen. Einem reichen, jungen Lord, hübsch, liebenswürdig, glücklich verlobt, wird von einem berühmten Chiromanten prophezeit, daß er einen Mord begehen werde. Er betrachtet dies nun als eine ihm auferlegte Pflicht und will nicht heiraten, bevor er sie erfüllt hat. Zuerst gibt er einer alten Tante ein starkes Gift als Mittel gegen Sodbrennen und reist nach Venedig, seine Braut in Tränen zurücklassend, um den Erfolg des Mittels abzuwarten. Dort erhält er die Nachricht, seine Tante sei gestorben und habe ihn zum Erben eingesetzt. Froh eilt er zurück; denn jetzt kann er ja heiraten. Aber zu Hause erfährt er zu seiner Enttäuschung, daß sie eines natürlichen Todes gestorben ist. Die Mordpflicht ist also noch unerfüllt. Nun will er einen alten Onkel, einen würdigen Dechanten der anglikanischen Kirche, mit Dynamit in die Luft sprengen. Auch das mißrät. Die Höllenmaschine, die er ihm hat zuschicken lassen, erweist sich als ein bloßes Spielzeug. Der Dechant betrachtet die geheimnisvolle Sendung als ein Kompliment für seine Predigten. Lord Artur ist untröstlich. Er irrt in der Nacht umher und trifft den Chiromanten, der ihm sein Schicksal prophezeit hat, am Themseufer. Rasch entschlossen wirft er ihn in den Fluß. Nach einigen Tagen berichten die Zeitungen, der Chiromant habe Selbstmord verübt. Nun ist Lord Artur froh in dem Bewußtsein, seine Pflicht erfüllt zu haben. Seine Ehe wird sehr glücklich, und er glaubt fest an die Chiromantie, der er nach seiner Meinung sein Glück verdankt. Das wird mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit erzählt, voller Humor und feiner Charakterisierung der Personen, witzig und geistvoll in jeder Zeile.

Fast noch besser ist die zweite Geschichte, Der Geist von Canterville. Ein amerikanischer Gesandter kauft ein altes englisches Schloß, in dem seit Jahrhunderten ein Gespenst, der Geist eines Mörders, sein Wesen treibt. Das Gespenst ist ein wirkliches und nimmt seine Rolle, die Insassen des Hauses zu erschrecken, sehr ernst; die Familie des Gesandten aber hänselt den Geist auf alle mögliche Weise, verhöhnt ihn und bringt ihn schließlich zur Verzweiflung. Gegen den ominösen Blutflecken im Salon benutzt der Sohn des Herrn Otis »Pinkertons patentiertes Steinputzmittel und Fleckenentferner«. Wie der Geist mit seinen rostigen Ketten klirrend die Treppe herunterkommt, drückt ihm das Familienoberhaupt selbst eine Flasche Patentöl in die Hand, damit er seine Ketten etwas einschmiere. Er spielt sein ganzes Repertoire von schauerlichen Rollen durch, aber er begegnet nur Spott und Verulkung; er kann gegen den Übermut der Amerikaner nicht aufkommen und erklärt sich am Ende für besiegt. Schließlich wird er von der lieblichen Tochter des Hauses in Erfüllung einer alten Prophezeiung von seinen Qualen und vom Leben erlöst. Leider fällt der sentimentale Schluß, daß das junge Mädchen gewissermaßen zum Lohne für den bewiesenen Mut die Hand eines jungen Herzogs erhält, gegen den allgemeinen Ton der Geschichte mit ihrem Witz, Humor und ihrer Satire etwas ab; er ist eine Konzession an den Geschmack des Publikums. Wilde war hierüber nie erhaben.

Besonders charakteristisch für Wilde ist die letzte Geschichte, » Das Bildnis des Herrn W. H.« W. H. ist der rätselhafte » onlie begetter« (einzige Erzeuger, Verschaffer, Begeisterer, je nach der Deutung), dem die Sonette Shakespeares gewidmet sind. Nach einer Theorie, die hier entwickelt wird, war nun dieser W. H. ein junger Schauspieler der Shakespeareschen Truppe, William Hughes, den der Dichter liebte und in den Sonetten besang und der ihn auch zu vielen seiner dramatischen Gestalten begeisterte. Die Knabenliebe ist also das Grundmotiv dieser Erzählung. Wilde zählte Shakespeare, wie Michel Angelo zu den Bekennern dieser Leidenschaft. Er hat seine Theorie in einem größeren Werke weiter ausgeführt, das den Titel führte: »Die unvergleichliche und sinnreiche Geschichte des Herrn W. H., die den einzigen Schlüssel zu Shakespeares Sonetten bildet, zum ersten Male vollkommen dargestellt«; doch ist das Manuskript dieser Arbeit bei seinem Zusammenbruch, wie es scheint, verlorengegangen. Was nun diese Theorie angeht, so ruht sie auf so schwankem Grunde, einem angeblichen Wortspiele in einer Zeile des 20. Sonetts, daß sie gar nicht ernsthaft zu nehmen ist; ist doch nicht einmal der Namen William Hughes unter den Schauspielern der Shakespeareschen Truppen nachzuweisen. Aber die Geschichte, die Wilde daran geknüpft hat, ist trotzdem interessant und fesselnd. Cyril Graham, ein junger Mann von wunderbarer Schönheit und etwas weibischer Art, stellt diese Theorie auf und, um einen ungläubigen Freund zu überzeugen, begeht er eine Fälschung, indem er von einem bedürftigen Maler ein Bild herstellen läßt, auf welchem W. Hughes mit den Sonetten im Stile des 16. Jahrhunderts dargestellt ist. Aber seine Fälschung wird entdeckt, und er nimmt sich das Leben. Der ungläubige Freund, dem Cyril Graham die Verbreitung dieser Theorie als Erbe hinterlassen hat, ist nun auch fest davon überzeugt und tötet sich ebenfalls, da er sie nicht beweisen kann. So gehen zwei Menschen an William Hughes zugrunde. Die Geschichte ist eine Meisternovelle nach Komposition und Ausführung, glänzend stilisiert und namentlich hervorragend durch die meisterhafte Charakteristik des aristokratischen Milieus, in dem Wilde seinem Temperamente nach, wie kaum ein anderer, zu Hause war. Sie erinnert etwas an die besten Novellen Wilhelm Hauffs.

Zeigen diese Novellen Wildes Erfindungskraft, seinen Witz und seinen Scharfsinn, so offenbaren seine Märchen ihn als einen Mann von tiefem Gefühl und zartem, innigem Gemütsleben. Sie sind in zwei Sammlungen erschienen, die erste, Der glückliche Prinz und andere Geschichten, im Jahre 1888, die zweite, Das Granatapfelhaus, im Jahre 1891, und dürfen wohl als die schönsten Kunstmärchen in der englischen Literatur, in der Weltliteratur bezeichnet werden. Weder die Märchen Hans Andersens noch die von Musäus oder Wilhelm Hauff reichen an sie heran in der Vereinigung von leuchtender Pracht und flammendem Glanze der Phantasie mit Feinheit des Humors, der Ironie und Satire, Innigkeit und Zartheit des Gefühls und Klarheit der moralischen Grundidee, die doch nie mit aufdringlicher Absichtlichkeit oder anmaßlicher Lehrhaftigkeit hervortritt. Deshalb lesen sie jung und alt, Kinder und Erwachsene, Ungebildete und literarische Feinschmecker mit gleichem Entzücken. Walter Pater drückte beim Erscheinen des ersten Buches Wilde seine Bewunderung aus. Justin McCarthy, der bekannte Romanschriftsteller und Historiker, feiert das Buch in einem Gedichte, ein anderer Dichter, Thomas Hutchinson, nannte »Den glücklichen Prinzen« die »süßeste Erzählung der neueren Zeit«. Und Auflage folgte auf Auflage, Übersetzung auf Übersetzung. Namentlich in Deutschland haben die Märchen Heimatsrecht gewonnen, wie kein englisches Buch seit Dickens' Weihnachtsmärchen. Ein tiefes Mitgefühl für die Armen und Enterbten ist der Grundton der meisten Geschichten. Wie ist der äußere Glanz des Lebens, wie sind Pracht und Genuß so oft gewoben und geschweißt aus blutendem Menschenweh, wie verbirgt sich dahinter Gram und Schwermut und Tod! (»Der junge König«) Liebe, Hingebung und Selbstaufopferung sind das Höchste im Leben, das kostbarste Ding auf Erden. Das gebrochene Bleiherz der Statue des glücklichen Prinzen, die all ihr Geld und ihre Edelsteine für die Armen hingegeben hat, und das tote Schwälbchen, das sich für diese geopfert hat und ein Raub der Winterkälte geworden ist, werden von einem Engel zu Gottes Thron gebracht und in den Garten des Paradieses aufgenommen (»Der glückliche Prinz«). Die Liebe ist stärker als Gut und Böse, als Weisheit und Reichtum, als Sünde oder Tugend, und mit dem Fluche auf den Lippen muß selbst der Priester die von der Kirche verdammten Geschöpfe des Meeres und des Waldes, die Nixen und Faunen, segnen; denn aus Liebe zu dem Meermädchen hat ja der Fischer sich von seiner Seele getrennt (»Der Fischer und seine Seele«). Und das Sternenkind, das seine Mutter von sich stößt, weil sie als Bettelweib erscheint, muß durch bittere Qual und Reue hindurchgehen, bis es dem letzten Bettler sein einziges Gut hingegeben hat und so erlöst wird (»Das Sternenkind«). – Und mit scharfer Satire und feiner Ironie werden Selbstsucht und Hartherzigkeit und aufgeblasene, anmaßende Nichtigkeit gegeißelt. Wie oft schwatzt der Egoismus von Freundschaft und nutzt dabei den naiven, gläubigen Freund aus! (»Der treue Freund«). Wie mancher gleicht in seiner Einbildung der Rakete, die sich für den Mittelpunkt der prinzlichen Hochzeit hält und, ob auch als untauglich fortgeworfen und verbrannt, doch von ihrer Wichtigkeit überzeugt ist (»Die vornehme Rakete«). Und wie liegen Pracht und Elend, abschreckende Häßlichkeit und Schönheit, die Lust des einen und die tiefe Herzensqual des anderen doch so nahe zusammen! (»Der Geburtstag der Infantin«). Die Märchen sind voll von Lehren für das Leben, weil sie bei allem freien Fluge der Phantasie, allen Märchenwundern doch eine Seelenwelt voll eigenartiger Assoziationen darstellen, die das Leben spiegelt, weil ihnen ein allgemein menschliches Interesse zugrunde liegt. Und in der Sprache sind sie wahre Kunstwerke. Sie ist einfach und schön, reich und doch nicht überladen.

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