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Don François de Nion
Es war im November 1812, als die Besatzungsarmeen, die im Großherzogtum Warschau lagen, den Befehl erhielten, die Weichsel zu überschreiten und der großen Armee, die Moskau verlassen und auf dem Rückzuge war, entgegenzueilen.
Das Wetter war weich und lind. Dieser Winter, der so grausam streng auftreten sollte, begann mild und angenehm. Bis Ende Oktober war das Wetter schön, und die Sonne strahlte tagtäglich vom Himmel wie selten in dieser Jahreszeit. Mit dem Monat November änderte es sich jedoch. Dichter Nebel und endloser Regen waren an der Tagesordnung. Die Truppen kamen nur mit Mühe vorwärts. Sie marschierten bis an die Knöchel im Wasser, und manchmal schien es, als ob der Boden zum Meer geworden sei ... Der Wind kräuselte die endlose Wasserfläche und Pferde und Soldaten glaubten unter sich das Schwanken des flüssigen Elements zu verspüren. Die Geschütze kamen nur schwer vorwärts und blieben schließlich im Schlamm stecken.
Unter dem feinen, sprühenden Regen sahen die Lanzen der polnischen Reiter, welche die Vorhut bildeten, wie dunkle Streifen aus. Sie führten die Armee durch die endlose, tote Ebene, die nur hier und dort von kleinen, dürftigen Birkengruppen unterbrochen wurde. Die roten Fähnlein hingen, schwer vom Regen, unbeweglich an den Lanzen gleich toten Flammen, und beim Galopp schlug der nasse Stoff mit einem schwachen, klatschenden Geräusch an die Holzschäfte.
Der Hauptmann, Jean Lajewsky, kommandierte die Vorhut. Er und sein Bruder Stanislaus waren die ersten mit gewesen, die mit Leidenschaft und Begeisterung Napoleon zugejubelt hatten. Sie fühlten mit unendlicher Freude und Genugtuung den Boden Polens unter ihren Füßen, den jetzt zwar ungnädigen schlammigen, aber doch freien Boden ihres geliebten Vaterlandes. Beide, der Ulan sowohl als auch der Kanonier, hoben sich von Zeit zu Zeit während des Marsches in den Steigbügeln, um aus der Entfernung einen Gruß und ein Lächeln auszutauschen. Und wenn ihre Blicke sich gekreuzt hatten, schweiften sie in die Ferne und blieben an dem mit schweren Regenwolken bedeckten Horizont hängen. Sie fühlten den Adler über ihren Häuptern und im Herzen den festen Glauben an den Kaiser, der ihr zerstörtes Königtum wieder aufrichten würde. Und ihre Gedanken flogen dem Adler mit den goldenen Schwingen entgegen; sie glaubten ihn schon von weitem erglänzen zu sehen gleich dem triumphierenden Strahlenglanz der Sonne ...
Zwischen der Dwine und dem Dnjeper wurde das Land hügelig, und dunkle Wälder bedeckten den mit Morästen und Sümpfen durchzogenen Boden. Die Ulanen ritten langsamer, das Auge aufmerksam auf jeden Baum heftend, denn die Kosaken folgten ihnen, waren vielmehr in gleicher Linie mit ihnen auf der rechten Flanke. Man sah sie bei einer Lichtung vorüberreiten oder sich durch das Dickicht einen Weg bahnen, wie verwachsen mit ihren kleinen mageren Pferden. Und von Zeit zu Zeit schossen sie mit ihren schlechten Gewehren, aber die Kugeln trafen nur die Baumstämme. Zuweilen auch kamen sie in geschlossenen Reihen herangerast und stürzten sich mit lauten Hurrarufen auf die Vorhut; dann senkten sich die Lanzen und ein Gegenangriff der Polen zerstreute die Feinde. Scharen von Raben erhoben sich mit krächzendem Geschrei hoch in die Lüfte, und Jean zeigte lachend auf sie und sagte:
»Die Kosaken sind auf der Flucht!« –
Eines Morgens erblickte die Vorhut trotz des grauweißen dichten Nebels blitzende Bajonette, und dann hörte man das kurze Pfeifen der Kugeln zwischen den Bäumen.
»Achtung!« rief der Hauptmann, »die Infanterie ist vor uns.«
Trotz des Schießens blieb der Nebel undurchdringlich: eine mattweiße Leinwand, aus welcher der Tod sprühte. Lajewsky ließ die Reihen schließen, noch ein wenig zögernd gegenüber der großen Verantwortung als Truppenführer. Aber von neuem drang das Schießen bis zu ihnen ... Man sah deutlich die Flammen, die den Nebel rötlich färbten.
Und die Unglücksvögel zogen krächzend vorüber ...
Ein Pferd wieherte entsetzlich, stieg kerzengerade in die Höhe, es war an den Nüstern verwundet worden; ein Mann fiel über den Hals seines Pferdes, sein Körper hin- und hergeschleudert, mitgerissen in tollem Lauf.
Da faßte der Hauptmann Jean Lajewsky die Zügel fester, und seinem Pferde die Sporen gebend, kommandierte er:
»Galopp, vorwärts!«
Und sie brausten dahin, daß der Boden unter ihnen erzitterte.
Allen voran der Hauptmann an der Spitze seiner Truppen. Er drehte sich halb um und sah seine Leute in gerader Linie herankommen; die gesenkten Lanzen blitzten im schwachen Tageslicht, die Fähnchen lagen alle in schräger Linie. Es war eine Freude, sie anzuführen! – Er hörte mit Stolz das kraftvolle wirbelnde Aufschlagen der Hufe auf den Boden, und er fühlte sich davongetragen wie durch brausenden Sturm, in jubelnder Lust.
Der Feind, die Russen, waren vor ihm!
Und immer weiter ging's in gestrecktem Galopp.
Da war es ihm plötzlich, als ob sein Pferd unter ihm verschwände, einsänke, als ob der Boden unter ihm wiche. Er riß an den Zügeln und stieß seinem Roß die Sporen in die Seite; da richtete es sich auf, sprang in die Höhe und sank noch tiefer ein. Wieder machte es verzweifelte Anstrengungen, um herauszukommen, aber es war vergebens. Dann stand es still, zitternd vor Angst und Beklemmung. Und das Pferd sank immer tiefer ein in den schlammigen Boden; es steckte bald bis zur Brust im Morast. Und die Kälte drang dem jungen Offizier in alle Glieder bis ans Herz ... Hinter ihm kamen seine Leute in gestrecktem Galopp daher. Plötzlich ein Klatschen und Stampfen, ein Rufen und Beruhigen der Pferde ...
Aber je größer die Anstrengungen waren, die sie machten, um sich herauszuarbeiten, desto tiefer sanken die Tiere ein. Der weiche treulose Boden gab nach. Rufe, Flüche, Verwünschungen und das Wiehern, Schnauben und Stampfen der Pferde durchzitterte die Luft.
In diesem Augenblick zerteilte sich der Nebel. Und beim hellen Tageslicht sah Jean Lajewsky, daß die ganze Schwadron in vollem Angriff in einen Sumpf geraten war. Der Schlamm ging den Pferden bis an die Brust, bedeckte die Füße der Reiter, die unbeweglich und stumm im Sattel saßen, unfähig, sich zu rühren, denn bei der leisesten Bewegung sanken sie tiefer ein. Mit einem Blick sah der Hauptmann das Unglück, und den Säbel drohend in der Richtung nach dem Feinde ausgestreckt, ohnmächtig in seinem Zorn, mußte er zusehen, wie die Wittgensteiner seine Leute niederschossen. Jeder Schuß, der traf, machte den Boden schwanken. Dann hörte das Schießen auf, alles wurde still. Schweigen lag über dem Land ... Und plötzlich öffnete der Himmel seine dunklen Tore, und langsam fiel der Schnee in großen, dichten Flocken hernieder und bedeckte alles mit einem weißen Tuche ...
Die Armee zog im Schneegestöber vorüber, ohne sich um die Vorhut zu beunruhigen; erst am anderen Tage bemerkte man, daß die ganze Schwadron vom Erdboden verschwunden war ...
Als die Große Armee die Beresina überschritten und sich durch die aus Polen kommenden Truppen verstärkt hatte, konnte sie sich wieder sammeln und ein wenig aufatmen. Napoleon gab das Kommando an Murat ab und reiste voran, um unerkannt nach Paris zu gelangen und der niederschmetternden Nachricht von der vollständigen Niederlage zuvorzukommen.
Einige Kavaliere und eine Batterie begleiteten ihn bei seinem Marsch durch Litauen. In Minsk wollte er Schlitten nehmen, um schneller weiter zu kommen.
Stanislaus Lajewsky begleitete den Kaiser mit seinen Kanonieren.
Gesenkten Hauptes, in finsterem Schweigen legte der den Weg wieder zurück, den er vor kaum vier Wochen, vertrauend auf die Macht und Flugkraft des Adlers und das Herz von Hoffnung geschwellt, gemacht hatte.
Jetzt hatte er die Soldaten der Großen Armee gesehen; hager, blaß und krank wie Gespenster sahen sie aus. Er hatte den entsetzlichen Zusammenbruch mit erlebt, und mit ihm war jede Hoffnung in seinem Herzen erstorben. Er floh vor den Russen, und jeder Schritt, den er tat, nahm ihm etwas von dem geliebten, teuren Boden Polens ... Und sein Bruder, der mit derselben Begeisterung wie er den goldenen Schwingen des Adlers gefolgt war, was war aus ihm geworden? Würde der Huf seines Rosses den Leichnam des geliebten Bruders berühren? Je näher er der Unglücksstelle kam, desto aufmerksamer wurde er. Er versuchte sich das Land, das jetzt in blendendem Weiß vor ihm lag, und das er damals im Nebel und Regen gesehen hatte, wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, aber aus den Sümpfen und Wegen, ja selbst aus den Bäumen war ein einziger, großer Eisblock geworden, den der tiefblaue Himmel überstrahlte. Stanislaus konnte das feuchte Land mit dem weichen vom Regen aufgeweichten Boden, das er in Nebel und Finsternis durchstreift hatte, nicht wiedererkennen ... Und er gab jede Hoffnung auf, auch nur den Platz zu entdecken, an dem der Bruder gefallen war.
Napoleon, der an der Spitze der Eskorte ritt, hielt plötzlich sein Pferd an, das unruhig wurde und nicht weiter wollte. Mit gespitzten Ohren und geblähten Nüstern schien es zu lauschen. Sie befanden sich vor einer kleinen Ebene, die von Gehölz umgeben war. Über die Lichtung strahlte die Sonne und beleuchtete ein eigenartiges Schauspiel. Hier hielt unbeweglich und zu Stein erstarrt, wie zum Angriff bereit, eine ganze Schwadron. Gespensterhaft hoben sich die Figuren vom klaren Himmel ab. Einige Lanzen glänzten noch in der Sonne, und Pferde, durch Schnee und Eis erstarrt, bäumten sich, die Mähnen vom Reif gesträubt.
Ihnen voran ein Offizier wie aus Marmor gemeißelt, den Säbel in der ausgestreckten Rechten, dem Feinde entgegeneilend ...
Blaß und mit bebenden Lippen starrte der Kaiser auf das Schauspiel vor ihm. Dann rief er den Kanonier herbei. Stanislaus Lajewsky hörte dem kurzen Zwiegespräch Napoleons und Berthiers zu.
»Ist das die Schwadron, die Sie mir als verloren gemeldet haben?«
»Ja, Sire.«
»Sie muß in einen Sumpf geraten und von den Russen erschossen worden sein, ohne sich auch nur rühren zu können. Und dann sind Schnee und Eis dazugekommen ...«
»Ja, Sire.«
Napoleon kreuzte die Arme und preßte die Lippen aufeinander.
»Die Armee darf das nicht sehen. Es würde sie mutlos machen. Leutnant Lajewsky, die Geschütze bereit.«
Unter dem Auge des Herrn ließ Lajewsky die Geschütze auffahren. In seinem Antlitz zuckte keine Wimper. Das Grauen hatte seine Züge ebenso erstarren lassen wie die Gesichter jener toten Reiter dort drüben, auf die er jetzt die Feuerschlünde richten läßt. Die Kanoniere näherten sich mit der brennenden Lunte.
» Feuer!« kommandierte Bonaparte selbst.
Und wie mit der Wut eines Orkans, Schnee und Eisstücke mitreißend und Staub aufwirbelnd, warf die Salve die ganze erstarrte tote Schwadron zu Boden.
Einige Augenblicke blieb Napoleon noch vor der Lichtung und blickte starr in den wirbelnden Schnee; er machte eine Bewegung mit der Hand, als ob er über die Augen wischen wollte, dann wandte er sein Pferd, und in rasendem Lauf jagte er unter den wie mit Diamanten übersäten Tannen dahin ...
(Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischen von Julia Büren-Hahn)