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Der Untergang des Carnatic

Von A. J. Mordtmann

Initial Kapitän Clifford, unser Kapitän, war mit seiner Jugendgeliebten Fanny, der er mit unbeschreiblicher, von ihr leidenschaftlich erwiderter Liebe zugetan war , seit zwei Jahren verheiratet, als er, von ihr begleitet, auf seinem damaligen Schiffe, der englischen Bark »Carnatic«, eine Reise von Rio de Janeiro nach Batavia antrat. Das Unglück wollte, daß das Schiff, dessen Reise in die schlechte Jahreszeit fiel, durch anhaltende nördliche Stürme weit aus seinem eigentlichen Kurse nach Süden verschlagen wurde und dem Gürtel des antarktischen Treibeises näher kam, als rätlich ist.

Bald war der »Carnatic« von Eisbergen und Eisfeldern umgeben, die seine Fahrt immer gefährlicher gestalteten. Anstatt sich aus dem Eise herauszuarbeiten, gerieten sie durch den andauernd ungünstigen Wind immer tiefer hinein; nach einer kalten und stürmischen Nacht war das Schiff zwischen Schollen von fast unübersehbarer Ausdehnung geraten, die sich zusammenpreßten und das Schiff hoben, so daß es, ohne im übrigen Schaden zu nehmen, festsaß; es war, da starker Frost eintrat, bald vollkommen eingefroren und zu jeder Bewegung unfähig; wohin es die Eismasse, an die es festgeschmiedet war, trieb, mußte es willenlos folgen.

Ein Bleiben auf dem Schiffe würde nur das Verderben der ganzen Mannschaft im Gefolge gehabt haben; der vom Kapitän zusammenberufene Schiffsrat entschied sich einstimmig für das Verlassen der Bark.

Die beiden Boote wurden mit großer Anstrengung über mehrere hundert Fuß der unteren Eisfläche in offenes Wasser gebracht und mit Kompaß, Wasser und Mundvorräten versehen. Dann brach man auf. Das Boot, welches zuerst abfahren sollte, wurde unter den Befehl des Steuermanns gestellt, und in ihm sollte die Frau des Kapitäns Aufnahme finden, weil es größer war und mehr Bequemlichkeiten darbot als das andere, das der Kapitän in Person führen wollte.

Als die Mannschaft des ersten Bootes fort war, schickte Kapitän Clifford die des zweiten nach und beeilte sich, nachdem er das Schiffsjournal an sich genommen und noch einmal im Raume nachgesehen hatte, ihnen zu folgen, weil von Süden her eine unheimliche weiße Wand heranrückte, einer jener Nebel, die in Polargegenden oft einfallen und so außerordentlich dicht sind, daß man tatsächlich auf drei Schritt Entfernung nichts mehr unterscheiden kann. Als der Kapitän sich über den Bug des »Carnatic« hinabließ, war es die höchste Zeit, denn schon umhüllte ihn der Nebel; er war froh, als er in der undurchdringlichen, lichtlosen Luft sein Boot erreichte und die fünf Mann, die außer ihm die Besatzung ausmachten, beisammen fand. Das andere Boot war schon fort, aber niemand hatte es abfahren sehen. Man steuerte in dem dichten Nebel nordwärts, immer nach dem größeren Boot auslugend, aber man bekam es nicht wieder zu Gesicht. Den ganzen Tag und die ganze Nacht setzte man die düstere Fahrt fort, und als der Morgen graute, sprang ein heftiger Südost auf, der den Schiffbrüchigen viel zu schaffen machte, aber wenigstens das Gute hatte, daß er den Nebel vertrieb. Gegen Mittag flaute der Wind ab; bald darauf schimmerte durch die einförmig graue Masse der erste Fetzen blauen Himmels, er dehnte sich immer weiter aus, und nach einer halben Stunde lagen heller Sonnenschein und heitere Himmelsbläue auf den unruhig wogenden und mit leichten Schaumspitzen gekrönten Meeresfluten.

Vom Eise war weit und breit nichts mehr zu sehen, dagegen wurde ein anderer, erfreulicherer Anblick der Bootsmannschaft zuteil: in einer Entfernung von etwa zwei Seemeilen lag eine Brigg unter kleingemachten Segeln bei; sie mußten dort an Bord guten Ausguck halten, denn kaum war das Schiff in Sicht gekommen, als dieses auch schon Manöver einleitete, um sich ihnen zu nähern.

Kapitän Clifford schloß daraus, daß die Brigg das erste größere Boot schon aufgenommen haben müsse und, von diesem benachrichtigt, nach dem zweiten ausgeschaut habe. Das erwies sich auch als richtig, denn der erste, der Clifford, als er, als der letzte seiner Leute, hinaufgeklettert .war, auf dem Verdeck der Brigg entgegentrat, war sein Steuermann.

Aber trotzdem erstarrte dem Kapitän beim Anblick seines Untergebenen das Blut in den Adern; das Antlitz des Steuermanns war totenbleich und vor Schreck verzerrt, der Kapitän mußte sich an der Reling halten, um nicht umzufallen, als der Maat mit heiserer Stimme fragte:

»Wo ist denn Ihre Frau, Kapitän? Haben Sie sie nicht bei sich?«

»Ich!? Meine Frau? Sie war doch in Ihrem Boot!«

»Allmächtiger Gott – nein!« Die übrigen Matrosen drängten sich mit verworrenen Rufen und schreckensbleichen Gesichtern um Steuermann und Kapitän. Denn die wunderliebliche Frau Fanny Clifford war für sie alle wie ein höheres Wesen gewesen, das sie abgöttisch verehrten. Man hatte sie das Glück des »Carnatic« genannt.

Aus den unzusammenhängenden Worten, den Rufen und dem in abgebrochenen Sätzen gestammelten Bericht des Steuermanns kam sehr rasch die niederschmetternde Wahrheit zutage: die Frau des Kapitäns, der allgemeine Liebling, war an Bord des im Eise eingeschlossenen Schiffes zurückgeblieben, allein, hilflos, einem sicheren Tode preisgegeben.

Der Zusammenhang, so unerklärlich er anfangs schien, war doch im Grunde sehr klar und einfach.

Frau Clifford war mit der Mannschaft des ersten Bootes bis an den Rand des Eises gegangen, wie sie aber abfahren wollten, bemerkte sie den heraufziehenden Nebel, und ihr, der erfahrenen Frau des Seemanns, war alsbald klar, daß eine Trennung der Boote nicht nur möglich, sondern vollkommen gewiß sei. »Ich bleibe bei meinem Manne!« rief sie entschlossen und sprang wieder auf das Eis zurück. Allen erschien das so natürlich, daß niemand sich getraute, sie zurückzuhalten.

Die Mannschaft des zweiten Bootes war noch nicht eingetroffen; die Frau winkte dem Steuermann zum Abschied zu und rief: »Ich gehe ihnen entgegen! Fahrt ab!« Das Boot stieß denn auch ab und war nach wenigen Sekunden Fahrt bereits so von Nebel eingehüllt, daß sie das Eis und alles darauf Befindliche aus dem Gesicht verloren.

Das war das Letzte, was man von ihr gesehen hat. Sie muß in dem dichten Nebel ihren Weg verfehlt haben und in einiger Entfernung an dem Kapitän und seiner Mannschaft vorbeigekommen sein, ohne sie zu bemerken oder von ihnen bemerkt zu werden. Dies war um so eher möglich, als durch das Gewirr von Eisblöcken und Schollen zwei, wenn auch rauhe, doch gangbare Wege vom Schiffe nach dem Eisrande führten, die zum Teil in nicht unerheblicher Entfernung voneinander verliefen.

Den Seelenzustand des unglücklichen Kapitäns kann man sich vorstellen; er war wie wahnsinnig und wollte durchaus über Bord springen und den tollen Versuch machen, das Eis schwimmend zu erreichen; nur mit Anwendung von Gewalt gelang es, ihn zurückzuhalten. Der Kapitän der Brigg war von diesem furchtbaren Verhängnis so ergriffen, daß er mehr tat, als er eigentlich seinen Reedern gegenüber verantworten konnte. Er wich von seinem Kurse ab und steuerte südwärts, bis man das Treibeis erreichte; hier kreuzte er zwei Tage, aber ohne Erfolg; der »Carnatic« wurde nicht gesehen, und der Brigg war es ohne Gefahr, der ihr Kapitän sie nicht aussetzen durfte, unmöglich, durch den Gürtel des losen Treibeises bis zum festen Eise vorzudringen; sie mußte unverrichteter Sache ihren alten Kurs wieder aufnehmen.

Die Verzweiflung Cliffords hatte einem stumpfen Dahinbrüten Platz gemacht, das noch ergreifender und entsetzlicher war als die wilden Schmerzensausbrüche, denen er sich anfänglich hingegeben hatte. Erst als man sich Kapstadt näherte, trat in diesem Zustande eine Änderung ein; Clifford wurde wieder etwas redseliger, seine umdüsterte Miene nahm einen ruhigen, sinnenden, man möchte sagen, fernschauenden Ausdruck an; er hatte das Wesen eines Mannes, der sich zu einer festen Überzeugung und zu einem unabänderlichen Entschlusse durchgerungen hat.

In Kapstadt rüstete Clifford einen kleinen Schoner aus, mit dem er auf eigene Faust eine Aufsuchungsreise nach den antarktischen Gewässern unternahm; seine Frau, davon war er unerschütterlich überzeugt, lebte noch, und nach dieser Überzeugung handelte er. Seine gesamte Mannschaft blieb ihm treu und begleitete ihn. Die Reise war erfolglos, obgleich sie tollkühn und entschlossen allen Gefahren trotzten, um die mit schwimmendem Eise bedeckten Gewässer nach allen Richtungen zu durchforschen. Man kehrte erst um, als die Proviantvorräte vollständig aufgezehrt waren.

Noch einmal wiederholte Clifford den Versuch – abermals vergebens. Dann aber waren seine Mittel erschöpft, und er mußte das in den Augen jedes Verständigen aussichtslose Unternehmen aufgeben. Wenn ich sage: jedes Verständigen, so sind darunter die Mannschaften Cliffords nicht mit einbegriffen. Er selbst ist ja unzurechnungsfähig und hat dafür eine vollwichtige Entschuldigung, aber es ist und bleibt eine sehr merkwürdige Geschichte, daß seine fixe Idee auf eine so nüchterne und erfahrene Schar von Leuten wie seine ehemaligen und jetzigen Offiziere und Mannschaften ansteckend gewirkt hat. Denn, um das hier zu erwähnen, die Leute, die jetzt auf Schiff »Lady Godiva« dienen, sind noch immer dieselben, die auf dem »Carnatic« gewesen sind, und sie alle, Mann für Mann, teilten den unverbrüchlichen Glauben ihres Kapitäns, daß sie eines Tages doch noch den »Carnatic« und Frau Fanny Clifford wiederfinden würden. Darum nahmen sie nur Dienst auf Schiffen, deren Dienst sie nach den südlichen Teilen des Atlantischen und des Indischen Ozeans führte. Sogar der Steuermann war geblieben; er hätte längst selbst Kapitän sein können, aber er verließ seinen alten Vorgesetzten nicht und machte dessen Torheiten mit.

Der Steuermann hat mir diese ganze Geschichte erzählt, und sein fester Glaube an die Illusion des Kapitäns rührte wohl daher, daß er ein Norweger und, wie viele seiner Landsleute, eine mystisch veranlagte Natur ist. Ole Johannesen hatte einen ganzen Abend auf seiner Wache mit mir darüber gesprochen und, daß ich es nur offen bekenne, meinen ursprünglichen Skeptizismus stark erschüttert.

Allerdings nicht durch einen Umstand, auf den er selbst viel Gewicht legte und auf dem des Kapitäns festgewurzelte Überzeugung in erster Linie beruhte, Träume nämlich, die ihm oft wiederkehrten und ihm immer seine Frau an Bord des eisumschlossenen »Carnatic« zeigten. Das war natürlich bare Torheit und lediglich Verwechslung von Ursache und Wirkung. Der »Carnatic« war, als er verlassen wurde, noch vollkommen dicht und seetüchtig. Man konnte daher, wenn er in offenem Wasser triebe, darauf rechnen, daß er trotz seines Mangels an jeglicher Besatzung nicht gleich verunglücken würde. Denn es ist eine beinahe unglaubliche Tatsache, aber doch eine durch zahlreiche Vorkommnisse mit absolutester Sicherheit verbürgte Tatsache, daß, während die geschickteste und achtsamste Handhabung eines seetüchtigen Schiffes dieses nicht immer vor Katastrophen zu bewahren vermag, andere Fahrzeuge, die, als dem Untergange nahe, von ihrer Mannschaft verlassen wurden, nachmals nicht etwa Tage und Wochen, sondern monate- und jahrelang einsam auf dem Ozean umhergetrieben worden sind und allen Stürmen Trotz geboten haben. Eine eigentümlich berührende und beinahe unheimliche Vorstellung, diese leblosen, ziellosen, zwecklosen Wesen, die in Sturm und Gewitter, in Wogengetümmel und Brandungsschaum ihr geheimnisvolles Treiben mit größerer Sicherheit fortsetzen als ihre von Menschenhand gelenkten Genossen, – trotz ihrer unleugbaren Realität wahrhafte Schiffsgespenster!

Der »Carnatic« war nun allerdings im Eise eingefroren und daher mancherlei Gefahren ausgesetzt, die ihn in freiem Wasser nicht bedrohen mochten. Aber sie waren nicht so schlimm, wie man glauben könnte. Das Eisfeld, auf das er gehoben war, hatte eine große Ausdehnung, so daß die schlimmste Gefahr in arktischen Gewässern, ein Zusammenstoß mit Eisbergen, die in ihrem Falle das Schiff zertrümmern würden, eine sehr fernliegende Eventualität war. Vielmehr mußte diese eisige Umklammerung eher als eine Art Schutzwall dienen, der erst mit ihrer Zerstörung aufhören konnte, wirksam zu sein. Nach dem wahrscheinlichen Verlauf der Dinge war diese Gefahr so gering, daß man sie füglich ganz außer Betracht lassen konnte.

Da nämlich der »Carnatic« bei den verschiedenen Expeditionen nicht aufgefunden worden war, so wurde die Annahme gerechtfertigt, daß er mit seinem zwar ungemein ausgedehnten, aber doch noch treibenden Eisfelde noch weiter südwärts in den Gürtel des festen Eises geraten und dort vollkommen eingefroren war. Die letzten Winter waren ungewöhnlich streng, die Sommer kalt und unfreundlich gewesen; ein milderer Winter und ein früher Sommer würden das feste Eis wegschmelzen und den »Carnatic« befreien; er würde ins Wasser sinken und von den vorherrschenden Strömungen nordwärts getrieben werden.

Gegen diese Ausführungen Johannesens hatte ich nicht viel einzuwenden. Der einzige Einwurf, den man mit Recht erheben konnte, daß nämlich die Dinge wirklich so vor sich gegangen sein könnten, daß sie aber der höchsten Wahrscheinlichkeit nach sich nicht so, sondern anders gestaltet hätten, ist ja einem Fanatiker gegenüber unnütze Wortverschwendung. Er würde nie einsehen wollen, daß mit einer Chance gegen hundert zu wetten Torheit ist. Ein Bedenken jedoch konnte ich nicht unterdrücken. Ich fragte Johannesen:

»Nach Ihren Mitteilungen ist der traurige Vorfall vor ungefähr drei Jahren passiert, nicht wahr?«

»Genau drei Jahre und fünf Monate.«

»Wie wird, angenommen, daß alles so verlief, wie Sie sich vorstellen, Frau Clifford sich während dieser langen Zeit ernähren?«

Da kam ich aber schön an! Johannesen lachte gerade hinaus. »Wir hatten,« so widerlegte er meinen Einwand, »für unsere gesamte Mannschaft für ein Jahr Proviant an Bord; davon war höchstens ein Viertel verbraucht, mit dem Reste könnte ein starker Esser über zehn Jahre leben.«

Ich schwieg. Wie ich schon vorhin bemerkt habe, die Zuversicht dieser wackeren Leute hat mich angesteckt. So unterdrückte ich meine Besorgnis, Fanny Clifford könnte der Kälte erlegen sein oder in einem Anfall leicht begreiflicher Verzweiflung Hand an sich gelegt haben. Die Antwort würde lauten: ›Das könnte sein, aber es müßte nicht sein.‹ Und haben sie nicht recht?

Übermorgen fuhren wir von hier weiter. Ich war von derselben unvernünftigen und fieberhaften Spannung ergriffen wie meine Schiffsgenossen; es sollte mich nicht wundern, wenn eines schönen Morgens der »Carnatic« vor uns auftauchte, eine weiße Gestalt an der Brüstung stehend, die uns zuwinkte!...«

*

Das Abenteuer des Kapitäns Clifford hat ein so hochdramatisches Ende genommen, daß ich noch jetzt nicht ohne die tiefste Erschütterung daran denken kann. Bis in meine Träume hinein verfolgt mich das Erlebnis, und ich fahre in Schweiß gebadet und an allen Gliedern zitternd auf, wenn ich noch einmal sehe und höre, was ich dort sehen und hören mußte.

Die Eisverhältnisse waren heuer einer solchen Unternehmung ganz besonders günstig. Alle Nachrichten stimmten darin überein, daß das Treibeis im verflossenen Winter weit tiefer im Süden zurückgeblieben sei als in gewöhnlichen Jahren; zudem war der Lenz ausnahmsweise früh eingetreten; man durfte also mit Sicherheit darauf rechnen, daß wir dem Pol näher kommen würden, als sonst möglich war.

Unter diesen Umständen wuchs die Spannung an Bord unserer »Lady Godiva« mit jeder Stunde, und als eines Mittags der Kapitän mit heiserer Stimme und vor Aufregung bleichem Gesicht ankündigte, wir hätten heute den Breitegrad erreicht, da ging es durch uns alle wie ein Erschauern. Ich war überzeugt, der Dolmetsch der allgemeinen Stimmung zu sein, indem ich Clifford die Hand reichte und sagte: »Nun, Gott helfe uns, Kapitän. Sind wir einmal so weit, so wollen wir nicht eher ruhen, als bis wir sie gefunden haben.« Alle drängten sich um uns, und wir schüttelten uns die Hände; Clifford konnte vor Bewegung kaum ein Wort des Dankes hervorbringen, und mir standen die hellen Tränen in den Augen.

Noch segelten wir südwärts, und diesen Kurs änderten wir erst am nächsten Tage, als wir an das feste Packeis kamen; wir hielten Ausguck und betrachteten es als ein günstiges Zeichen, daß das lästige und gefährliche Treibeis nur in äußerst geringer Menge auftrat. Der Bug des Schiffes wurde jetzt nach Osten gerichtet, und wir blieben, soweit es ohne Gefahr geschehen konnte, dicht an der Grenze des Eises. Nachts wurden die Segel beschlagen, und wir legten bei, damit wir nicht etwa in der Dunkelheit am »Carnatic« vorbeifuhren.

So waren wir drei Tage gesegelt und hatten dabei auch den Längengrad erreicht, unter dem der eingefrorene »Carnatic« gelegen hatte. Wir fuhren unmittelbar über den Fleck hinweg, wo er gelegen haben mußte, und obgleich die Sonne bei heiterer Luft hell schien und weit und breit keine Spur von einem Schiff zu sehen war, hatten wir doch alle ein Gefühl, wie man es haben mag, wenn man die Nähe eines Geistes ahnt. Wir warfen das Blei und hatten mit hundertzwanzig Faden Grund; der Talg am unteren Ende des Bleies brachte Kies und Sand herauf; hier lag kein versunkenes Schiff.

Am nächsten Morgen winkte mir der Steuermann Ole Johannesen zu, um mir heimlich etwas mitzuteilen. Sein Gesicht war aschfahl. »Ich will's dem Alten nicht sagen,« flüsterte er mir zu, indem er auf den Kapitän zeigte, der mit einem Fernrohr den ganzen Horizont absuchte. »Aber Sie sollen es wissen, weil Sie von uns allen der Ungläubigste sind. Merken Sie auf meine Worte, und denken Sie daran, wenn Sie wieder zweifeln wollen: heute nachmittag werden wir den »Carnatic« sichten.«

Ich starrte den Mann mehr erschrocken als ungläubig an.

»Ja, Sie werden es erleben,« fuhr Johannesen fort. »Ich bin heute nacht aufgewacht, und da habe ich es gesehen. Der »Carnatic« schwimmt noch, und in wenigen Stunden werden seine Masten am Horizont auftauchen – dort im Nordosten – und dann ...«

»Sie haben geträumt, Mensch,« sagte ich. »Das ist der Alb – da bildet man sich ein, daß man wacht, und in Wirklichkeit schläft man ...«

»Na ja, wie Sie meinen,« erwiderte Johannesen gleichmütig. »Wir werden ja sehen. Passen Sie nur auf, wie's kommt. Ich habe deutlich den Namen »Carnatic« am Bug gesehen – so nahe war ich heran.«

»Und die Frau des Kapitäns?«

»Davon weiß ich nichts. Das Gesicht erlosch mit dem Augenblick, da wir das Boot aus setzten. Aber aus dem Nebel ist dann noch ein anderes Bild aufgestiegen ...« Er neigte sich zu mir und flüsterte mir etwas ins Ohr, was mich bis an die Lippen erbleichen machte.

Das Mittagessen ging sehr schweigsam vorüber; Clifford war von einer Unruhe erfaßt, als habe er ebenso wie Johannesen eine Ahnung, daß die Erfüllung seiner Wünsche unmittelbar bevorstehe. Kaum hatte er einige Löffel Hühnersuppe gegessen, als er aufstand und, mich mit einem Blick wegen seiner Rastlosigkeit um Entschuldigung bittend, wieder auf das Verdeck eilte. Johannesen sah ihm gedankenvoll nach und nickte. »Wir haben noch eine Stunde Zeit,« sagte er. »Lassen Sie uns essen; wer weiß, ob wir nachher noch Appetit haben!«

Trotzdem beeilten auch wir uns nach Möglichkeit und folgten dann dem Kapitän nach oben. Merkwürdig! Die gesamte Mannschaft war von demselben Fieber verzehrender Ungeduld ergriffen und stand vollzählig an Deck, vom Bug und über das Bollwerk nach Nordosten blickend.

Vier Glasen zum Zeichen der abgelaufenen vollen Stunde schlug der Mann am Steuer an; es war ein Uhr nachmittags. Das Fieber meiner Erwartung war auf einen unerträglichen Grad gestiegen. Noch eine Viertelstunde verging, während der wir eher einer Versammlung von Trappisten als von redenden Menschen glichen, und dann ertönte vom Mastkorb herunter der Ruf:

» Ship ahoy

Ein Schiff in diesen Breiten! Es konnte kein anderes sein.

Johannesen stand bei mir – stumm sahen wir beide uns an – jedem war der letzte Blutstropfen aus dem Gesichte gewichen.

»Wo?« rief der Kapitän hinauf.

Der Mann wies mit der Hand nach links und vorn, Clifford sprang ans Steuer und drehte selbst das Rad, bis der Bug des Schiffes gerade nach dem Himmelsstriche wies, wo unser Ausguck das Schiff gesichtet hatte.

»So – stetig!« unterwies Clifford den Mann am Steuer. »Nord- Nord-West – 2 West ...«

»Ay, ay,« erwiderte der Matrose.

Der Kapitän nahm nun sein Fernrohr und stieg selbst in den Mastkorb hinauf. Johannesen und ich mochten ihm nicht folgen, denn es war in Cliffords Gesicht etwas, was uns zurückhielt.

Fünf Minuten sah der Kapitän unausgesetzt nach der Gegend, wo das fremde Schiff sichtbar war; dann schob er das Fernrohr zusammen, sah noch einmal nach den Segeln, von denen wir alle führten, die wir nur führen konnten, und kam langsam und oft haltmachend herunter.

»Es ist ein Dreimaster,« sagte er. »Und es ist – ich kenne ihn – es ist der »Carnatic«. Ja, ich kenne ihn – er ist es.«

Und nun zuckte es plötzlich in seinem bis dahin starren Gesicht, und die Tränen stürzten ihm unaufhaltsam aus den Augen; er nahm seine Mütze ab und hielt sie, wie betend, in den gefalteten Händen vor das Gesicht. Von den Matrosen wischten sich einige mit dem Ärmel über die Augen, andere starrten unverwandt ins Weite – die Masten knarrten, der Wind pfiff im Tauwerk – sonst war es an Bord der »Lady Godiva« still wie in einer Kirche.

Das Kielwasser schäumte und gurgelte hinter unsrem Heck in schnurgerader Linie – der Steuerer hielt die Richtung mit eiserner Kraft inne – nach einer Viertelstunde konnte man die drei Mastspitzen mit bloßem Auge erkennen – noch eine Viertelstunde weiter, und wir sahen, daß der Fremde segel- und steuerlos in der Dünung schlingerte.

Das Boot wurde hergerichtet, um gleich zu Wasser gelassen zu werden, sobald wir dem verlassenen Schiffe so nahe gekommen sein würden, daß eine weitere Annäherung gefährlich wurde.

Es war fast keine Überraschung mehr für uns, als wir nach Verlauf von anderthalb Stunden den vom Wetter hart mitgenommenen Rumpf so weit unterscheiden konnten, daß sein Zustand das jahrelange Verlassensein des Dreimasters zur Gewißheit machte. Nun drehte sich der Rumpf schwerfällig ein wenig, und der letzte Zweifel schwand: dort stand es in verblichenen goldenen Buchstaben: » Carnatic«.

Ein Bild trostloser Öde und Melancholie war das unglückliche Schiff, dessen Planken von Farbe entblößt waren, dessen Segelbruchstücke, in kurze Fetzen zerrissen, an den Rahen hingen, dessen Taue und Wanten jene Lockerung aufwiesen, die dem Auge des sorgsamen Seemanns ein so widriger Anblick ist. Wir waren so nahe, daß wir das Knarren der Masten und das Knirschen der rostigen Ruderketten hören konnten.

Das Boot wurde bemannt, Kapitän Clifford, Ole Johannesen, ich und sechs Matrosen stiegen ein, und wir ruderten nach dem Schiffe hin. Während der ganzen Fahrt wurde kein Wort gesprochen.

Für einen Nichtseemann wäre es schwierig gewesen, auf das Verdeck des ziemlich hoch aus dem Wasser aufragenden Schiffes zu gelangen, da keine Treppe und kein Tau hinaushing; Johannesen aber und der Kapitän kletterten ohne große Mühe hinan, und der erstere half mir hinauf; als ich fröstelnd und aufgeregt vom Bollwerk auf das Deck sprang, war der Kapitän schon die Kajütentreppe hinuntergeeilt; wir folgten langsamer. Zwei der Matrosen, die ebenfalls an Bord geklettert waren, begaben sich in den Raum und in das vorgelegene Mannschaftslogis, um auch diese Örtlichkeiten zu durchsuchen.

In der Kajüte fanden wir nichts, auch im Schlafzimmer des Kapitäns nichts; das Suchen der Matrosen blieb ebenfalls erfolglos; stundenlang setzten wir unsere Nachforschungen fort, und wir würden nun das Schiff wieder verlassen haben, wenn uns nicht ein eigentümlicher und unheimlicher Umstand zurückgehalten hätte.

Die Luft in der Kajüte und im Mannschaftslogis war dick und muffig, wurde aber, da wir alle Türen und Luken öffneten, bald besser. Und nun merkten wir, daß ein beängstigendes Gefühl, das wir in der Kajüte nicht loswerden konnten, nicht, wie wir anfänglich geglaubt hatten, der schlechten Beschaffenheit der Luft, sondern etwas anderm zuzuschreiben war. Während uns auf dem Verdeck und in allen übrigen Räumlichkeiten des Schiffes nichts auffiel, hatten wir in der Kajüte ein beklemmendes Gefühl, vor dem sich mir die Haare sträubten.

»Wie ist Ihnen hier?« fragte mich Johannesen, und ich las in seinen Augen, welche Antwort er erwartete.

»Wie Ihnen, Maat,« erwiderte ich. »Ich sehe niemand, aber ...«

»Es ist außer uns noch jemand da,« vollendete Johannesen den Satz.

Das war es, und wir merkten Clifford an, daß es ihm ebenso gehe wie uns. Darum ließen wir mit Suchen nicht nach und suchten an den unmöglichsten Stellen und an solchen, wo wir schon gesucht hatten, immer wieder. Die Sonne stand schon tief am Horizont, als wir endlich, voll müder Traurigkeit, unsere Bemühungen aufgaben. Der Kapitän bedeutete uns, daß er jetzt noch einmal in die Kajüte gehen wolle, um nachzusehen, was von dort zu bergen der Mühe wert sei. Wir wußten aber, daß dies nur ein Vorwand sei und Clifford noch einmal allein und ungestört an dem Orte sein wollte, wo er so lange mit seinem Weibe glücklich gewesen war; wir achteten dies Gefühl und blieben oben an der Treppe stehen.

Zwei Minuten mochten verstrichen sein, da hörten wir einen lauten Schrei und stürzten hinunter. Indem wir in die Kajüte eintraten, sahen wir deutlich, wie die Tür zu einer der Seitenkabinen zugeschoben wurde.

Ein einfacher und doch grauenhafter Umstand! Denn außer uns und dem Kapitän war kein irdisches Wesen im Zimmer.

Doch etwas anderes nahm unsere Aufmerksamkeit zunächst in Anspruch. Der Kapitän saß starr und regungslos auf dem Sofa. Er war tot. In der Hand hielt er einen Fetzen bunten Wollenzeuges, seine offenen Augen trugen den Ausdruck des Entzückens, sein Antlitz war wie zu einem freudigen Lächeln verzogen.

Johannesen und ich drückten uns wortlos die Hand.

Denn das war es, was wir – soll ich sagen gefürchtet oder vielmehr nicht gewünscht hatten, seit wir Johannesens Vision kannten. Er hatte nämlich geschaut, wie man die Leiche des Kapitäns nach Seemannsart in das Meer versenkte. Doch waren damit die grauenhaften Umstände noch nicht erschöpft.

Der Schrei, den wir oben gehört hatten, war ein weiblicher gewesen. Und in der Kabine, deren Tür vor unsern Augen zugeschoben worden war, fanden wir, als wir endlich den Mut faßten, einzutreten, eine zur Mumie eingetrocknete weibliche Leiche, die trotz der seit ihrem Tode verstrichenen langen Zeit von Johannesen und den Matrosen als Frau Fanny Clifford erkannt wurde. Sie trug ein buntes, wollenes Kleid, dem am Ärmel das abgerissene Stück fehlte, das wir in Cliffords Hand gefunden hatten.

Noch eins darf ich nicht unerwähnt lassen; jene Kabine war von uns wie jeder andere Raum des Schiffes vorher genau durchsucht worden, ohne daß wir darin eine Spur von Frau Clifford gefunden hätten. Von Entsetzen gepeitscht, hatten wir nur den einen Gedanken, von dem unheimlichen Schiffe so rasch wie möglich fortzukommen. Wir ruderten nach der »Lady Godiva« zurück, und erst nach geraumer Zeit hatten wir die uns gewordenen Eindrücke so weit überwunden, daß wir, unserer Pflicht gegen die Toten eingedenk, noch einmal an Bord des »Carnatic« zurückkehrten, um den Verstorbenen ein christliches Begräbnis zuteil werden zu lassen.

Wir holten die Leiche des Kapitäns zu uns an Bord und bahrten sie in der Nacht in der Kajüte auf, nachdem wir sie in Segeltuch eingenäht und eine eiserne Kugel an ihren Füßen befestigt hatten.

Meine Anregung, auch die verstorbene Frau des Kapitäns in gleicher Weise für das Begräbnis vorzubereiten, war auf den nicht unfreundlichen, aber darum nicht weniger hartnäckigen Widerstand der Seeleute gestoßen.

Keiner wollte, um die Leiche zu holen, an Bord des verfluchten Schiffes zurückkehren. Alle meine Vorstellungen und Bitten waren vergebens; ich nahm mir vor, diese am nächsten Morgen zu wiederholen, aber was in der Nacht geschah, berührte mich derartig, daß ich selbst um alle Schätze der Welt nicht auf den »Carnatic« zurückgekehrt wäre.

Ich war nämlich, wie wir alle, lange wach geblieben, und kurz vor dem Schlafengehen wurde ich noch einmal von Johannesen auf das Deck hinaufgerufen, um etwas zu sehen, was die gesamte, auf dem Hinterdeck stehende Mannschaft mit Staunen und Grausen erfüllte. Der »Carnatic« trug die vorgeschriebenen Lichter, grün an Steuerbord und rot an Backbord, und die Kajütenfenster waren hell erleuchtet. – Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.

Und doch sollte auch mit diesem nächtlichen Spuk noch nicht die letzte Szene dieser furchtbaren Tragödie gekommen sein. Als wir die Leiche des Kapitäns über die Reling in ihr nasses Grab hinabgleiten ließen, erhob sich, unser stilles Gebet unterbrechend, plötzlich ein gemeinsamer Ruf aus allen Kehlen. Der »Carnatic«, der nur wenige Kabellängen von uns entfernt dahintrieb, kränkte ohne ersichtliche Ursache stärker als bisher erst nach Backbord und darauf nach Steuerbord über und schoß dann jählings, mit dem Buge voran, in die Tiefe. Die Wellen liefen in wirbelnden Strudeln über der Stelle seines Untergangs zusammen, der Schaum spritzte in die Luft, die »Lady Godiva« schwankte in den von dort herüberkommenden Wogenreihen, die ihren Weg weiter nach Süden fortsetzten, und dann war alles vorbei.

Wir hatten gestern den »Carnatic« genau untersucht und wußten gewiß, daß er nur sehr wenig Wasser im Rumpf und nirgends ein Leck hatte.

Der Untergang des gespenstischen Schiffes war ebenso unerklärlich wie alles andere, was mit ihm zusammenhing. Was aber mich anging, so hatte ich zwar nicht eine Erklärung, aber eine Deutung zur Hand; was die Menschen in ihrer blinden Furcht ihnen verweigert hatten, das gemeinsame Begräbnis, das gewährten ihnen die furchtlosen und mitleidigeren Elemente. Ihre Liebe war stärker als alle Schrecken der Natur und alle Vorurteile der Menschen – und vereinigt ruhen, die das Leben getrennt hatte, auf dem Boden des antarktischen Ozeans.

(Aus dem im Verlag von Karl Georgi in Bonn a. Rh. erschienenen Roman »Die Perlen der Adhermibucht« von A. J. Mordtmann)


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