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Spachtel-Stores

Von Dietrich Theden

Initial Der Polizei-Senator Lachmann blickte etwas ungeduldig nach der Tür, durch die jeden Augenblick der Kriminalkommissar Wolff, den er zu sich beordert hatte, eintreten mußte. Während er mit den Fingern der einen Hand auf der Lehne seines Sessels trommelte, ruhte die andere auf einem offenen, eben erst wiederholt aufmerksam gelesenen Briefe, der zuoberst auf dem Aktenstoße lag.

»Endlich,« murmelte der Polizeichef, als Wolff nach kurzem Pochen die Tür öffnete und auf dem dicken Teppich, der durch das ganze Zimmer gelegt war, sich lautlos dem Chef näherte.

»Herr Senator haben befohlen.«

»Eine wichtige und, wie es scheint, dringende Sache, Wolff, denn eine Reihe von Tagen ist bereits unnütz verflossen und damit dem Diebe ein bedauerlicher Vorsprung gegeben.«

»Das ist richtig,« stimmte Wolff bei.

»Wieso? Wissen Sie, um was es sich handelt, noch ehe ich davon gesprochen habe?«

»Es ist nicht schwer zu erraten, Herr Senator. In der Gardinen- und Teppichfabrik von Johann Heinrich Behrend und Sohn in Neuenfelde in Holstein ist ein schwerer Kassendiebstahl begangen worden. Der Bruder des Herrn Senator stehen mit Behrend u. Sohn in enger Geschäftsverbindung – da ist es wohl natürlich, daß die Firma sich ihrer Hamburger Freunde erinnert und deren Vermittlung anruft.«

»Jawohl, natürlich. Aber die Tatsache – woher kennen Sie die?«

Ein feines Lächeln zog über das hagere Gesicht des Kommissars.

»Bitte, Herr Senator.«

Er überreichte dem Chef ein Zeitungsblatt.

»Ah? Des langen und breiten beschrieben! Schön! Natürlich, diesen Zeitungsreportern entgeht so wenig etwas wie der Polizei. – Ich werd's durchfliegen. Hier – lesen Sie inzwischen den authentischen Bericht, den mir Herr Behrend senior brieflich abstattet. Nehmen Sie Platz. Und dann: bald entschlossen.«

Wolff ließ sich in den angebotenen Sessel nieder und las:

»Sehr verehrter Freund! Ich hatte noch vor wenigen Wochen das Vergnügen, Sie, Herr Senator, im Hause Ihres Herrn Bruders zu begrüßen und mich von Ihrer unverändert freundschaftlichen Gesinnung gegen mich zu überzeugen. Wenn wir damals heitere, gemeinsame Jugenderinnerungen austauschten und freundliche Bilder für die Zukunft ausmalen konnten, so befinde ich mich dazu heute in einem betrübenden Gegensatz und sehe mich gezwungen, Sie nicht als Freund, sondern in Ihrer Eigenschaft als Polizeiherr in Anspruch zu nehmen. Möchte ich dem Freunde gegenüber manches vertrauliche Wort einfließen lassen, so beschränke ich mich für die Orientierung des Beamten doch auf einen knappen Bericht und auf die Bitte, durch Entsendung eines tüchtigen Kriminalisten zur Klarstellung des mich sehr erregenden Vorfalles beitragen zu wollen.

So kurz wie möglich:

Am Sonntag, dem 18. Juni, ist in meinem Geschäftshause ein frecher Einbruchsdiebstahl verübt worden, und den Tätern sind nicht weniger als 58 000 Mark in die Hände gefallen. Da wir in einem kleinen Orte leben, müssen wir der Wohltat entbehren, jeden Abend unser Geld zur Bank zu tragen, und selbst für dessen Sicherheit besorgt sein. Dennoch habe ich es bisher fast immer zu vermeiden gewußt, daß sich mehr anhäufte, als für den Lauf einer Woche vermutlich nötig war; zehn-, höchstens einmal fünfzehntausend Mark. Am Sonnabend, dem 17., wurden ausnahmsweise große Zahlungen in unserem Bureau gemacht, statt wie üblich an unsere Bank in Hamburg. Die Veranlassung dazu boten eine Reihe neuer Fabrikate, zu deren Besichtigung und eventueller Vorbestellung eine Anzahl Vertreter unserer Geschäftsfreunde eingetroffen war, die bei dieser Gelegenheit zugleich den Abschluß laufender größerer Rechnungen herbeiführten. Die sämtlichen Herren reisten am Sonnabend abend wieder ab, und noch am Sonntag mittag überzeugte ich mich mit meinem Prokuristen, daß der Kassenbestand vollkommen richtig war. Wann dann der Diebstahl begangen worden, ob am Sonntag nachmittag oder in der Nacht zum Montag, das festzustellen war ich nicht imstande. Als ich aber Montag früh ins Bureau kam, fand ich alles in größter Aufregung im Kassenzimmer versammelt – die Fenster waren, die Scheiben mit Seife beschmiert, von außen eingedrückt worden, die Scherben lagen rund umher – der Kassenschrank war von der Wand abgerückt und an der Rückseite erbrochen worden. Alles Gold- und Papiergeld, in dem angegebenen Betrage, fehlte, während die Wechseltasche unberührt zurückgelassen war.

Mein Prokurist behielt, wie so oft in kritischen Lagen, den Kopf klar und veranlaßte, daß sofort die amtliche Feststellung durch den Ortsgendarmen sowie die behördliche Anzeige erfolgte. Er betrieb dann die Nachforschungen in Gemeinschaft mit einem aus Kiel erbetenen Kriminalbeamten mit Umsicht und aller Energie, aber bisher ohne jeden Erfolg. Daß von den Vertretern der befreundeten Häuser niemand an dem Verbrechen beteiligt gewesen sein konnte, hatte ich von vornherein als selbstverständlich angenommen; die dennoch auch nach dieser Richtung hin angestellten Nachforschungen haben überzeugend das Alibi sämtlicher Herren nachgewiesen.

Weitere Fremde aber waren bei den Einzahlungen nicht zugegen – so bleibt keine andere Annahme übrig als die bedauerlichste von allen, daß ein Angehöriger meines Hauses sich des beispiellosen Vertrauensbruches schuldig gemacht hat. Den pekuniären Verlust könnte ich verschmerzen, aber ich stehe zu meinen Angestellten in einem solchen Verhältnis, daß der Gedanke, unter ihnen den Dieb suchen zu müssen, mich geradezu trostlos stimmt. Noch ist es ja nicht erwiesen, und noch kann ich hoffen, daß fremde Hände den Frevel begingen – ich wünsche aus tiefstem Herzen, das es so wäre ... Auf dem bisherigen Wege kommen wir indes nicht zum Ziel. Können Sie mir einen Beamten zuweisen, so bitte ich herzlich darum – und um die besondere Güte, mir, wenn Sie es angezeigt halten, auf telegraphischem Wege Nachricht zu geben, wann und wen Sie senden.

Genehmigen Sie, Herr Senator, die Versicherung alter freundschaftlicher Gesinnung.

Ihr Johann Heinrich Behrend.

Nachschrift.

Nur der Vollständigkeit halber, nicht weil ich glaube, es könnte von Bedeutung sein, erwähne ich noch, daß die Diebe es nicht verschmäht haben, ein in meinem Arbeitszimmer liegendes umfangreiches Paket mit Spachtel-Stores ebenfalls mitzunehmen.

J. H. B.«

Der Kommissar ließ das Schriftstück sinken und schien in Gedanken vertieft. Dann richtete er das kalte, graue Auge auf den Vorgesetzten und fragte geschäftsmäßig:

»Herr Senator wollen mir einige Fragen gestatten?«

Der Angeredete nickte zustimmend.

»Herr Behrend ist ein Jugendfreund des Herrn Senators?«

»Zuerst Schulgenosse, dann bester und zuverlässigster Freund.«

»Darf ich wissen, was mit den freundlichen Zukunftsbildern gemeint ist, von denen der Brief spricht?«

Der Senator schwieg einen Augenblick, dann entgegnete er:

»Unbedenklich. Ich kenne Sie so lange und vertraue Ihnen so vollkommen, daß ich Ihrer Diskretion sicher bin. Sie wissen, ich besitze eine Tochter – es würde in den gegenseitigen Wünschen der Eltern liegen, wenn mein Kind und der Sohn meines Freundes sich vor dem Altare die Hände reichen wollten.«

»Ich danke, Herr Senator. Der briefliche Bericht ist erschöpfender als der der Zeitung, vielleicht auch authentischer. Nur eine Abweichung fällt mir auf: Der Berichterstatter des Blattes will den oder die Täter nicht unter den Angestellten des Hauses suchen, sondern vertritt die bestimmte Ansicht, daß selbst unter den Fabrikarbeitern des Hauses keiner des Verbrechens fähig wäre, dieses also unbedingt von Fernstehenden, vielleicht internationalen Gaunern, ins Werk gesetzt sein müßte. Ich weiß zur Stunde nicht, wer im Rechte ist; die Verschiedenheit der Ansichten verweist aber die Nachforschungen nach zwei verschiedenen Seiten.«

Senator Lachmann nickte zustimmend.

»Ich habe Urlaub?« fragte der Kommissar.

»Unbegrenzt.«

»Werden Herr Senator dem Herrn Behrend antworten?«

»Sofort.«

»Ich erlaube mir die Bitte, daß dies nicht telegraphisch geschehen möge.«

»Gut. Brieflich. Diktieren Sie selbst die amtliche Benachrichtigung. Ich füge einen Privatbrief bei.«

Der Kommissar nahm das Schreiben Behrends und die Zeitung an sich und entfernte sich.

Nach einer Viertelstunde unterbreitete er dem Vorgesetzten das Schriftstück zur Unterzeichnung. Halblaut las es der Senator durch:

»Herrn Johann Heinrich Behrend senior,
Neuenfelde, Holstein.

Ew. Wohlgeboren

werden hiermit ergebenst benachrichtigt, daß ich zur Verfolgung des bei ihnen verübten Kasseneinbruches den Kriminalkommissar Wolff I beurlaubt habe. Leider ist der Kriminalkommissar noch mit der Ausforschung eines anderweitigen Verbrechens beschäftigt und für wenige Tage hier unabkömmlich. In spätestens vier Tagen jedoch wird derselbe sich zu Ihnen begeben und seine Tätigkeit, die hoffentlich von Erfolg begleitet sein wird, sofort aufnehmen. Da Sie bis dahin Ihre Nachforschungen nicht ruhen lassen werden, erscheint die kurze Verzögerung nicht von großer Bedeutung, zumal die seit dem Einbrüche bis jetzt bereits verflossene Zeit dem Diebe ohnehin Gelegenheit gegeben haben dürfte, sich selbst und seinen Raub einstweilen in Sicherheit zu bringen.

Der Kommissar ist beauftragt, sich sofort bei seiner Ankunft bei Ihnen persönlich zu melden.

Der Polizeidirektor.«

Senator Lachmann konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. »Heute ist Freitag, hm. Danach werden Sie am Montag – frühestens erwartet. Hm.« Dann unterzeichnete er. »Wann reisen Sie?«

»In einer Stunde, Herr Senator.«

»Wann sind Sie in Neuenfelde?«

»Heute abend.«

*

Dem 10-Uhr-Abendzuge entstieg in Neuenfelde nur ein einziger Passagier, ein mit moderner Eleganz gekleideter Herr von guter militärischer Haltung, mit einem hageren, scharfgeschnittenen Gesicht und kühl blickenden, grauen Augen. Er überschritt den Bahndamm und wandte sich nach dem wenige Minuten vom Bahnhof entfernten Gasthof ›Zur Weintraube‹.

Mit selbstbewußtem, aber auch verbindlichem Lächeln überreichte er dem Wirte einen Gepäckschein und zugleich seine Visitenkarte. »Den kleinen Koffer lassen Sie wohl so rechtzeitig holen, daß er um acht früh zu meiner Verfügung ist.« Auf der Visitenkarte stand, tadellos gestochen: ›Georg Engel, Generalvertreter der Firma Harry S. Eygertson, London, Berlin‹.

Nach Einnahme eines einfachen Abendessens lud er den Wirt zu sich an den Tisch und entfaltete bei einer Flasche Mosel eine solche Liebenswürdigkeit, daß einige Bauern, die bis dahin Karten gespielt hatten, sich nach Beendigung ihres Spieles gern bewegen ließen, ebenfalls an dem Tische mit Platz zu nehmen.

»Wenn es erlaubt ist – ich habe gestern eine Verlobung mitgefeiert und bin noch etwas in Feststimmung – also wenn es erlaubt ist, lade ich Sie freundlich ein, noch ein Glas von diesem guten Mosel mit mir zu trinken.«

Der Wirt brachte Gläser und ein paar neue Flaschen, und die Unterhaltung wurde bald um so animierter, als der liebenswürdige Fremde ein Bonmot nach dem andern zum besten gab und dabei auch nicht vergaß, fleißig seiner Gesellschaft zuzutrinken und für neuen Vorrat stets rechtzeitig und unauffällig zu sorgen. Er erwies sich als ein überaus glänzender Gesellschafter, dabei frei von jeder Aufdringlichkeit und Renommisterei, und der sprudelnde Humor und seine Freigebigkeit schienen lediglich zu seiner heiteren Natur zu gehören. Nur einmal wurde er aber doch ernst und seine Zuhörer gleich ihm, weil er ein Thema angeschlagen hatte, das auch ihr lebhaftes Interesse berührte. Er hatte von einem lustigen Gaunerstreich berichtet, der ihm aus irgendeiner Zeitung im Gedächtnis geblieben sein sollte, und kam dadurch plötzlich auf das Verbrechen zu sprechen, dessen Schauplatz Neuenfelde gewesen und das dort noch immer die Gemüter in Aufregung hielt.

»Ja, apropos, meine Herren, wen's nicht trifft, der hat ja freilich gut lachen; aber für den, den's angeht, ist's doch oft scheußlich fatal. Ich erinnere mich da – – aber nein, verzeihen Sie, ich brauche ja gar nicht so weit zu suchen – Ihren Herrn Behrend zum Beispiel bedauere ich von Herzen. Schafft und schafft da mühselig tagaus, tagein und muß dann sehen, wie ein heruntergekommenes Individuum ihm sein Eigentum mit kühnem Handstreich nimmt und damit in die Ferne geht, Gott weiß wohin. Also ich bedauere diesen Herrn von Herzen – – die Spur des Diebes hat man wohl noch immer nicht gefunden?«

Die Frage wurde lebhaft verneint.

»Ja, diese Halunken! Wissen Sie, meine Herren, ich sehe ja Neuenfelde zum ersten Male und kenne hier keinen Menschen, kann also auch niemanden beleidigen, aber – um Vergebung! – glauben Sie, ich werde den Verdacht los, daß jemand aus der Fabrik selbst die Hand im Spiele hat? Mich geht ja die ganze Affäre nichts an, aber man macht sich doch seine Gedanken, und man zieht seine Schlüsse. Und am Ende – – ich kann's Ihnen ja sagen, ganz ohne Interesse bin ich auch nicht; ich möchte im Auftrage unseres Londoner Stammhauses morgen mit den Herren Behrend u. Sohn in geschäftliche Verbindung treten – da muß man doch wissen, mit welchem Hause man zu tun hat. Wir bestellen keine Bagatelle, große Posten – aber das interessiert Sie nicht. Ich meine nur, mich berührt in gewissem Sinne dieses Verbrechen ebenfalls, insofern es für mich die Frage aufwirft, ob der bedeutende Verlust nicht etwa die Leistungsfähigkeit der Firma dauernd schädigt und vielleicht – bitte, beachten Sie, ich sage nur vielleicht – die rechtzeitige Erfüllung von Lieferungsverträgen in Frage stellt.«

Über die Gesichter der Zuhörer flog ein überlegenes Lächeln, und der Wirt übernahm die Verdolmetschung desselben.

»Sie kennen Behrend nicht. Der alte Behrend ist reicher als mancher stolze Großkaufmann in Hamburg oder Bremen. Das verlorene Geld ist ja ein Kapital für unsereinen, aber für ihn ist's doch nur eine Handvoll. Ich glaube auch, der Verlust schmerzt ihn weniger, als daß das in seinem Geschäfte überhaupt vorkommen konnte und daß er noch immer nicht genau weiß, ob nicht doch jemand von seinen eigenen Leuten dabei beteiligt war.«

»Ja, verzeihen Sie, meine Herren, ich habe ja schon gesagt, ich bin fremd hier und kenne die Verhältnisse nicht, konnte mir also ein Urteil nicht erlauben. Ah, so sicher steht die Firma – das freut mich wirklich. Wieviele Leute beschäftigt denn das Haus?«

Der Wirt machte wieder den Sprecher.

»Na, so gegen fünfhundert werden's wohl sein,« entgegnete er.

»Und die sind alle zuverlässig?«

Der Wirt – Arp mit Namen – zuckte jetzt die Achseln.

»Wissen kann man's nicht, und gutsagen möchte ich natürlich nicht gerade.«

»Die Herrschaften verkehren wohl auch hier bei Ihnen?«

»Die Bureauherren sehr oft, sind auch heute da, auf der Kegelbahn. Das heißt: nicht alle. Zehn oder zwölf. Nur der Prokurist kommt nicht.«

»Nie?«

Arp tippte mit dem Zeigefinger leicht an die Stirn und lächelte.

»Ein bißchen eingebildet,« fügte er erklärend hinzu. »Er ist auch oft nicht hier, wenigstens Sonntags nicht. Kiel ist ja nicht weit, und da – – mag ihn wohl etwas Besonderes anziehen.«

»Er sollte auch lieber hier bleiben und auf das Geschäft Obacht geben,« meinte Engel. »Wäre er an dem verhängnisvollen Sonntag dageblieben und hätte auf die Kasse geachtet, wer kann's wissen, ob nicht das Unheil verhütet worden wäre.«

»O, da irren Sie. Da trifft ihn keine Schuld, denn gerade diesen Sonntag mußte er auf seine Kieler Freunde verzichten, weil der alte Behrend ihn mit Beschlag belegt hatte. Sie sollen die Abschlüsse vom Tage vorher nachgerechnet, die Arbeit verteilt haben und was noch. Selbst die Kasse haben sie mittags noch in Ordnung gefunden.«

»So, so. Na, ich wollte Herrn – – wie heißt der Herr?«

»Juritz, Bernhard Juritz.«

»– also Herrn Juritz kein Unrecht tun. Juritz – ist das ein hiesiger Name? Klingt etwas fremdartig.«

»Ist er auch,« bestätigte Arp. »Behrend hat seinen jetzigen ersten Beamten vor – es mag 'n Jahrer zwanzig her sein – als fünfzehnjährigen Buben von der Straße aufgelesen. Woher er kam – na, der alte Behrend wird's ja wohl wissen.«

Aus der Auskunft klang Voreingenommenheit, die Engel aufhorchen ließ.

»Was,« rief er lebhaft, »und der damals fünfzehnjährige Bengel hat so ein Glück gehabt, bis zum Prokuristen aufzurücken?«

»Er soll sich tüchtig in die Branche eingearbeitet haben,« gab der Wirt zurückhaltend zu.

»Na, das fehlte auch noch, wenn nicht einmal das wäre.«

»Früher kümmerte sich Behrend selbst um alles. Jetzt ist er alt geworden, und Juritz herrscht fast selbständig.«

»Nun, und der Sohn? Behrend junior?«

»Ja, wenn der hier wäre! Aber der ist noch in Holland oder Frankreich – der soll erst das Ausland kennen lernen. Er ist schon sechs Jahre fort. Aber nächstens kommt er doch wieder. In zwei Monaten, heißt es.«

»Recht so, meine Herren, und Behrend senior hat recht, die Welt muß der Junge kennen lernen und was andere schaffen, nachher versteht er selbst auch was Rechtes. Aber auf diesen Prokuristen bin ich jetzt fast neugierig – na, werde ja morgen das Vergnügen haben. – Jetzt aber, meine Herren, darf ich sagen: Auf Wiedersehen morgen abend?« fragte er verbindlich. »Ein paar Tage werde ich wohl bleiben müssen, es wird mir eine Freude sein, den Kreis wieder vollzählig zu finden.« Er zahlte, und der Wirt selbst geleitete ihn auf sein Zimmer.

*

Ein Diener in schlichter, grauer Livree nahm Georg Engel am nächsten Vormittag die Karte ab und überbrachte sie dem Chef des Hauses Johann Heinrich Behrend u. Sohn.

Behrend senior bediente sich eines Klemmers, las und legte das Glas sorgsam wieder hin, während er die Karte dem Diener zurückgab.

»Führen Sie den Herrn zu Herrn Juritz, Franz,« entschied er. »Ich werde froh sein, wenn mein Sohn zurück ist; seit dieser Geschichte bin ich ganz nervös und mag niemanden sehen.«

»Wie Herr Behrend befehlen.«

Franz warf seinem Herrn noch einen besorgten Blick zu, dann ging er.

Bernhard Juritz' Zimmer lag neben dem des Chefs, nach der anderen Seite durch eine Tür mit dem Kassenzimmer verbunden. Der Prokurist saß in einem bequemen Sessel und strich sich, als der Diener die Karte überreichte, mit der Hand über die Stirn, als müsse er aus tiefen Gedanken sich erst auf die Wirklichkeit und den nüchtern-alltäglichen Vorgang besinnen.

»Detlefsen soll kommen.«

Als dieser eintrat:

»Ist der Herr hier angemeldet?« Er las den Namen und die Firma laut vor:

»Nein, Herr Juritz.«

»Danke.« Er winkte entlassend mit der Hand.

»Herr Behrend hat ihn an Sie verwiesen,« bemerkte der Diener.

»Hm. – Soll eintreten.«

Er kramte in einem Stoß von Briefen, erhob sich aber doch, als Engel sich ihm mit vornehmer Haltung näherte und ihn so durch die eigene bestimmte Höflichkeit zur Erwiderung derselben nötigte. Höflichkeit war sonst Juritz' Sache nicht; er liebte es, eine gewisse Schroffheit hervorzukehren und Angestellte wie ›Reisende‹ von jeder Vertraulichkeit fernzuhalten.

»Ich kann Ihnen dienen –?«

Engel erklärte ihm, nachdem beide Platz genommen, kurz den Zweck seiner Reise. Die Londoner Stammfirma wolle in Kürze in Berlin eine Filiale errichten, deren Leitung in seine Hände gelegt werden solle. Um dem deutschen Nationalgefühl Rechnung zu tragen, wollte das Berliner Haus neben dem fremdländischen auch das einheimische Fabrikat der Teppich- und Gardinenbranche führen, von dem es sich zudem auch ein gutes Geschäft verspräche. Seine, des Vertreters, Aufgabe bestände nun darin, die geeigneten Fabriken auszusuchen und die eventuellen Lieferungen abzuschließen. Die Firma Behrend u. Sohn erfreue sich eines so guten Rufes, daß deren Heranziehung nicht zu umgehen sei, und so sei er denn gekommen, sich die Einrichtungen der Fabrik sowie ihre Erzeugnisse anzusehen und im gegebenen Falle die Verhandlungen einzuleiten.

Während Engel sprach, hatte Juritz ein Papiermesser zur Hand genommen, das er mechanisch durch die Finger gleiten ließ. Die grauen Augen Engels ruhten scharf auf seinem Gegenüber, und der Eindruck seiner Beobachtungen war ein dem Prokuristen wenig günstiger. Das scharfgeschnittene Gesicht Juritz' deutete auf Energie, aber aus dem unbeweglichen Vorsichhinstarren und dem sinnlosen Spielen mit dem wahllos ergriffenen Gegenstande war eine Erschlaffung zu erkennen. Die niedrige Stirn und der breite, immer etwas geöffnete Mund schienen auf sinnliche Begierden zu weisen und die dunklen Ringe um die Augen diese zu bestätigen.

Als Engel geendet, wandte sich der Prokurist ihm zu, und das Ausdruckslose in seinen Augen schien etwas zu weichen.

»Ihr Bedarf würde vermutlich ein bedeutender sein?« fragte Juritz.

»Hundert bis hundertfünfzig Mille.«

»Hm, Sie werden entschuldbar finden, wenn wir bei einem so großen Betrage Erkundigungen nach der Sicherheit einziehen?«

»Selbstredend. Die Deutsche Bank in Hamburg, die mit unserem Londoner Haus in Verbindung steht, wird Ihnen jede Auskunft erteilen. Außerdem stehen wir mit allen Verbindungen im Barverkehr.«

Der Prokurist machte sich ruhig einige Notizen. Selbst in den bedeutendsten Welthäusern würde die Aussicht auf einen Auftrag in solcher Höhe lebhafteres Interesse und größere Aufmerksamkeit hervorgerufen haben. Juritz dagegen blieb vollkommen kalt, und Engel zog daraus den naheliegenden Schluß, daß die Interessen des Prokuristen an einem andern Punkte wurzeln, vielleicht sogar von denen des Geschäfts abweichen müßten.

»Ich bin Ihnen verbunden, Herr Engel, daß Sie unser Haus mit Ihrem Besuche beehren. Sie dürfen, die Einigung vorausgesetzt, der reellsten Bedienung sicher sein. Ich darf vermuten, daß Sie sich ein paar Tage hier aufhalten werden? – – Danke. Vielleicht beehren Sie uns morgen um diese Zeit wieder? Ich will meinem Chef Vortrag halten und ihn um die Vergünstigung bitten, Sie selbst führen zu dürfen.«

*

In später Nachmittagsstunde fuhr die Behrendsche Equipage mit Herrn Juritz und noch einem zweiten Herrn an der ›Weintraube‹ vorüber.

»Ah, der Geheime!« rief Arp, der gerade am Fenster stand, Engel zu.

»Welcher Geheime?« fragte der Reisende zurück.

»Na, der aus Kiel. Der Kriminalpolizist. Mit Herrn Juritz.«

»Eine Spazierfahrt?«

»Wahrscheinlich. Vielleicht sind sie auf einer neuen Fährte. Sie machen seit einer Woche alle Dörfer der Umgegend unsicher. Die Ortsvorsteher überwachen jeden Mann, der zu ihren Gemeinden gehört oder in diesen aus- und eingeht.«

»Hm, sehr bequem für den Herrn Juritz und seinen Begleiter,« sagte Engel etwas spöttisch. »Ich will noch einen kleinen Gang besorgen,« fügte er dann hinzu und entfernte sich, um sich direkt nach der Behrendschen Fabrik zu begeben. Nachdem er erfahren, daß der Chef noch zugegen sei, ließ er sich sofort nochmals bei diesem melden und wurde bereitwillig angenommen.

Behrend senior erhob sich bei seinem Eintritt und deutete nach der Begrüßung einladend auf einen Sessel, der dicht neben dem großen, aber einfachen Schreibtisch stand.

»Mein Prokurist hat mich unterrichtet, welche ehrenvolle Verbindung Sie eventuell mit uns einzugehen gedenken. Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen meinen Dank sage und mich zu weitestem Entgegenkommen bereit erkläre.«

In der Sprechweise und im Wesen des alten Herrn lag eine so ruhige Würde, daß sich der Besucher aufs angenehmste berührt fühlte. Behrend senior war wohl keine imponierende Manneserscheinung, wie Engel ihn als Leiter des großen Unternehmens und als Selfmademan sich vorgestellt haben mochte; aber auf der hohen Stirn und in den klaren Augen des schmächtigen Mannes lag ein Ausdruck hoher Intelligenz, der den großen Erfolg, den der Fabrikherr in seinem arbeitsreichen Leben zu verzeichnen hatte, begreiflich machte.

»Ich bitte um die Erlaubnis, das Geschäftliche zu vermeiden,« entgegnete Engel. »Was mich zu Ihnen führt, ist der Wunsch, Ihnen mein aufrichtiges Bedauern über den Vorfall auszusprechen, der sich in Ihrer Fabrik jüngst ereignet hat. Ich war in den letzten Wochen viel auf Reisen, auch in Paris, wo ein Zufall mich mit dem Inhaber der Hamburger Firma Lachmann u. Co. zusammenführte, der mir viel von Ihnen und Ihrem Geschäfte erzählte, von dem fatalen Diebstahl aber wohl selbst noch nichts wußte. So habe ich erst hier davon erfahren und darf nun meiner Anteilnahme Ausdruck geben.«

Behrend gab ihm die Hand.

»Danke, danke! Ja – der Vorfall hat mich sehr hart getroffen. Und er ist mir noch immer ein Rätsel. Vielleicht – ich weiß nicht, ob ich's wünschen soll – bleibt er's für immer. Also Lachmann trafen Sie an der Seine? Ich bin mit ihm von Jugend auf befreundet und habe jetzt seinen Bruder, der an der Spitze der Hamburger Polizeiverwaltung steht, um Hersendung eines gewiegten Beamten gebeten, damit wenigstens das Mögliche zur Aufklärung getan werde. Leider kann der Beamte erst am Montag oder Dienstag hier eintreffen – also vergehen wieder Tage ohne Resultat.«

Behrend schüttelte den ergrauten Kopf. Der Vorfall bedrückte ihn sichtlich bis zur Pein. Fast etwas Hilfloses lag plötzlich in seinem Wesen.

»Ich weiß, der Bruder ist Senator. Ich kenne die Familie seit Jahren – durch unser Londoner Haus. Die Tochter des Herrn Senators – ich glaube, es ist das einzige Kind – lernte ich vor zwei Jahren auf Helgoland kennen, ein Mädchen von großer Schönheit und kristallklarem: Charakter. Sie zählt heute etwa neunzehn Jahre.«

Behrends Gesicht verklärte ein schönes Lächeln.

»Ja, ja,« sagte er dann, »Hedwig Lachmann ist ein liebes Kind, rein und goldtreu.«

Wohl eine Viertelstunde blieb Behrend bei dem Gespräch über die Familie des Freundes, und Engel, der sich merkwürdig gut unterrichtet erwies, gewann rasch sein Zutrauen und wußte so geschickt auf den Einbruch zurückzukommen, daß er den alten Herrn, der sich jetzt rückhaltlos gab, förmlich einem Verhör zu unterziehen vermochte.

»Und auf keinen Menschen haben Sie einen Verdacht?« fragte er.

»Wie sollte ich! Von meinen Angestellten war – ich glaube es fest – keiner beteiligt. Auch der Kieler Beamte ist dieser Ansicht. Ich habe sie von vornherein vertreten, auch mein Prokurist. Trotzdem hat Juritz auch nach dieser Richtung Nachforschungen angestellt, schonend, aber unermüdlich. Kein Resultat – oder doch eins, das erfreuliche: die Bestätigung, daß wir mit unserem Vertrauen im Rechte waren.«

»Das ist in der Tat erfreulich. Hat sich denn ein Verdacht nach außen ergeben?«

»Nicht der geringste.«

»Und die Diebe haben nichts hinterlassen, was sie verraten könnte?«

»Nein, nichts.«

»Ah, das scheint ja fast für professionelle Arbeit zu sprechen. Mit Verlaub, Herr Behrend, der Fall erregt mein Interesse; kann ich vielleicht den Kassenschrank sehen, ich meine den aufgebrochenen?«

Behrend erhob sich sofort und betrat mit seinem Gaste das Kassenzimmer. Alle Bureauräume waren bereits leer, nur Franz war noch in einem Vorzimmer zugegen.

Der Kassenschrank stand noch von der Wand gerückt. Die Rückseite war buchstäblich zerrissen. Engel erkannte sofort, daß mit der Stichflamme und einer starken Hebelzange gearbeitet worden sein mußte. Eines fiel ihm auf: von den beiden, für das Geld bestimmten, oben angebrachten, noch unter besonderem Verschluß stehenden Fächern war nur das eine aufgebrochen. Hatte der Dieb gewußt, daß in diesem das bare Geld aufgestapelt war, oder hatte er, als er den reichen Fund an dieser Stelle entdeckte, seine Mühe damit als genügend belohnt angesehen? Engel war so tief in Schauen und Nachdenken verloren, daß der Fabrikherr seine Bitte, das unerquickliche Thema jetzt ruhen zu lassen, wiederholen mußte.

»Es wird Ihnen gehen wie mir,« sagte Behrend lächelnd, »ich hatte so etwas nie gesehen und war beim ersten Anblick wie gebannt. Aber jetzt kommen Sie und erweisen Sie mir die Ehre, das Abendbrot bei mir einzunehmen. Auch meiner Frau wird es angenehm sein, wenn ich ihr einen liebenswürdigen Gast mitbringe.«

*

In dem großen Salon herrschte eine warme Behaglichkeit. Immer wieder streiften Engels Blicke die prachtvollen Stores vor den hohen Fenstern.

»Diese Spachtel-Stores,« sagte er endlich, »sind das Schönste, was ich bisher gesehen. Eine wundervolle Zeichnung und ein Material und eine Arbeit – ich kann Ihnen nur gratulieren, wenn das eigenes Erzeugnis ist!«

»Das ist es freilich, und der Stolz meines guten Juritz. Das Muster ist für den russischen Fürsten Perkalow hergestellt und nicht in Vertrieb gekommen. An Stelle des Monogramms hier in der Mitte – mein eigenes – war das des Fürsten mit der Krone. – Von den Originalstücken hatte ich mit Erlaubnis des Fürsten zwei behalten, die ich vielleicht gelegentlich einmal auszustellen gedachte – – und die – – sind auch ein Opfer des Einbrechers geworden! Ein kunstfreundlicher Herr, wie?«

Die Besichtigung der Fabrik am Montag früh dehnte sich auf knapp eine Stunde aus. Juritz führte gut und erklärte gewandt. Engel verhielt sich schweigend. Hin und wieder nur ein einsilbiges Wort oder ein Kopfnicken. Er verabschiedete sich von dem Prokuristen, der noch in der Fabrik zu tun hatte, und ließ sich bei dem Chef melden. Da Behrend Besuch hatte, mußte er in einem Vorzimmer warten. Auf einem der Tische lag ein Album, in dem er zu blättern und bald eifrig zu suchen begann. Der starke Band mochte an fünfhundert Photographien enthalten, die sämtlichen – wie Engel bald erkannte – Angestellten der Firma. Alle Bilder in Visit-Format, je zwölf auf einer Seite. Hastig blätterte Engel nach vorne. Richtig, zuerst das Bild des Chefs, in Royal-Format, allein. Aber dann nicht Juritz, sondern ein gleichgültiges Gesicht, jedenfalls eines älteren Angestellten. Ah, nach dem Dienstalter geordnet! Engel schlug ein drittes Blatt um. Richtig, in der ersten Reihe Juritz' charakteristischer Kopf. Mit raschem Griffe entfernte Engel das Bild und steckte es zu sich.

Er rief den Diener.

»Ich würde Herrn Behrend doch nur störend kommen. Bitte, melden Sie ihm meinen Besuch auf morgen an.«

Er ging und wandte sich nach dem Bahnhof.

»Zweiter. Kiel. Zurück.«

Gegen Mittag war er dort und begab sich sofort nach dem Polizeiamt.

Nach kurzer Einleitung und Überreichung seiner Karte erklärte er:

»Ich bin ein Freund des Hauses Behrend u. Sohn und möchte mich aus freundschaftlichem Interesse an den Nachforschungen nach dem Urheber des noch unaufgeklärten Verbrechens beteiligen. Ich glaube, eine bestimmte Spur zu haben, und bitte um amtliche Unterstützung. Täusche ich mich in meinem Verdachte, so bleibt die Sache verschwiegen, täusche ich mich nicht, so wird auch die Polizei mir dankbar sein. Also was ich erfahren habe, ist dies: Einer der Angestellten des Hauses Behrend – sein Name mag einstweilen nicht genannt werden – ist häufig von Neuenfelde abwesend und dann, wie es heißt, zum Vergnügen in Kiel. Er fährt Sonnabends abends ab und kehrt Sonntags abends oder Montags in der Frühe zurück. Aus Andeutungen von Neuenfelder Angesessenen glaubte ich den Verdacht entnehmen zu sollen, daß der Herr hier ein flottes Leben führt, und hierüber Gewißheit zu erlangen, ist der nächste Zweck meiner Fahrt hierher.« Er zog sein Portefeuille. »Hier ist das Bild des Herrn. Ich bitte, es sogleich zirkulieren zu lassen, ob einer Ihrer Beamten sich erinnert, den Mann hier gesehen zu haben, und wenn, wo.«

Das Bild wanderte von Hand zu Hand, von einem Zimmer ins andere, bis einer der Schutzleute erklärte, er glaube den Herrn kürzlich – vor zwei, vielleicht auch drei Sonntagen – im Etablissement Wriedt – wo er häufig stationiert sei – gesehen zu haben, in Begleitung einer Dame.

»War Ihnen die Dame bekannt?« fragte Engel.

»Nein.«

»Keine sogenannte Lebedame?«

»Anscheinend nicht. Sehr elegant zwar, aber nicht auffällig.«

Engel begab sich in Begleitung eines Beamten zu Wriedt. Und wieder wanderte das Bild umher. Nicht lange diesmal. Ein Kellner erkannte den Herrn bestimmt und wußte auch den Namen der Dame: ›Lore Düfken‹. Er hatte sie oft Lore anreden hören und dann bei einer Vorstellung auch einmal den Zunamen erfahren, der ihm um so sicherer im Gedächtnis geblieben war, als er mit seinem eigenen – Düfke – Ähnlichkeit hatte.

»Machte der Herr sich durch große Ausgaben bemerkbar?« forschte der Beamte.

»Hin und wieder ein paar Flaschen Wein, auch mitunter Sekt, aber nicht übermäßig.«

Das gab keinen Anhalt.

Die Wohnung der Dame war mit Hilfe des Einwohnermeldeamtes schnell festgestellt.

»Da Sie lediglich auf einen Verdacht hin handeln,« mahnte der Beamte seinen energischen Begleiter wohlwollend, »so seien Sie vorsichtig. Welchen Vorwand wollen Sie denn gebrauchen, wenn Sie die Wohnung betreten?«

Engel lächelte.

»Einfach! Beim Hinaufgehen werde ich mir irgendeinen Namen von den Türschildern merken und höflichst um Auskunft über den oder die Träger desselben bitten. Könnten Sie mich nicht in Ihrem Geschäft brauchen?«

»Na, na, nur nicht so zuversichtlich. Ich warte an der nächsten Straßenecke, links, vor dem Zigarrengeschäft.

Engel stieg treppauf und klingelte an der Tür, die auf messingenem Schilde den schlecht gravierten Namen ›B. Düfken Wwe.‹ trug.

Eine ältere Dame öffnete ihm.

»Habe die Ehre – Frau Düfken?«

»Ja. Was steht – –«

Sie besann sich und musterte den Herrn, dessen elegantes Äußere es ihr nicht schicklich erscheinen ließ, ihn an der Tür abzufertigen.

»Bitte, treten Sie einen Augenblick ein, ich stehe gleich zu Ihren Diensten.«

Engel betrat einen kleinen Empfangssalon, dessen raffiniert geschmackvolle Einrichtung ihn entzückte, ihm aber auch sofort die Frage nahelegte: Woher dieser Reichtum? Die Möbel, sämtlich in englischem Geschmack gehalten, waren zweifellos neu – nirgends eine Schramme auf den rotpolierten Armlehnen, keine Spur von Abnutzung an den seidenen Bezügen der Sessel und Stühle, tadellos die Schränke und Tische, etwas vertreten als Zeichen der Benutzung allein der dicke Teppich. Die Damen mußten in sehr vermögenden Verhältnissen leben – oder aber: die kostbare Einrichtung stand hier zu Unrecht. Die letztere Ansicht befestigte sich in Engel sofort, als die Hausfrau nach ein paar Minuten eintrat und er sie im hellen Lichte des Zimmers betrachten konnte. Nichts Feineres, Durchgeistigtes in ihrem Gesicht und nichts Gewandtes in ihrem Benehmen, vor allem aber auch keinerlei Geschmack in ihrer Kleidung. Ein Dutzendgesicht, sagte sich der Beobachter, eine Frau, die in einer anderen Sphäre groß geworden sein muß und mit ihrer braven Schlichtheit in dem Reichtum sich wohl fühlt, sich ihm aber erst noch anzupassen hat.

Engel führte seinen Vorsatz aus und erkundigte sich so eingehend nach den Verhältnissen eines eine Etage tiefer wohnenden Brauereidirektors, und die redselige Frau gab so erschöpfende Auskunft, daß der Besucher seinen Zweck, die Unterredung hinauszuziehen und das Vertrauen der Frau zu gewinnen, leicht erreichen konnte. Als er nichts über den ihm herzlich gleichgültigen Herrn mehr zu fragen wußte, überschüttete er die Frau mit Komplimenten über die Einrichtung ihres Heimes.

»Gnädige Frau, ich fürchte nur,« schloß er lebhaft, »Ihre Güte allzusehr in Anspruch zu nehmen, sonst hätte ich wohl eine Bitte an Sie, eine recht große! Wollen Sie mir, dem zudringlichen Fremden, das Vergnügen bereiten, mir auch die weiteren Räume der Wohnung und ihre Wunder zu zeigen?«

Die Frau lächelte geschmeichelt. »Wenn es Sie interessiert,« sagte sie.

»Aber, bitte, nur, wenn ich Sie nicht im geringsten störe,« bat Engel auf das verbindlichste.

Die Frau öffnete schon eine Seitentür. »Das ist unser schönstes, unser Salon,« betonte sie, und Engel trat in ein geräumiges Eckzimmer, das, bis auf die Decke, ganz im Rokoko-Stil eingerichtet war, nicht fürstlich kostbar gerade, aber doch so auffallend gediegen, daß es unmöglich mit dieser Bewohnerin in Einklang zu bringen war.

In einem dritten Zimmer trafen sie auf eine junge Dame in weißem Hauskleide, die ihre lebhaften braunen Augen einen Augenblick neugierig auf dem Fremden ruhen ließ und dann rasch vortrat, um eine Gardine, die über das halbe Zimmer ausgebreitet lag, zusammenzuraffen und so den Eintritt frei zu machen. Die Dame, zweifellos die Tochter, war schön, wie eine Edeltanne schlank aufgewachsen, mit feinem Kopfe und gewinnendem Mienenspiel. Ihre Bewegungen waren so unvergleichlich elastisch und zugleich graziös, daß sie Engel gefesselt hätten, wenn seine Aufmerksamkeit nicht plötzlich von der ausgebreiteten Gardine in Anspruch genommen worden wäre. Spachtel-Stores von reichster Ausführung! Ein ähnliches, nein, dasselbe Muster wie in der Villa Behrend! Und da – halb losgetrennt – das P mit der Krone!

Engel mußte sich zusammennehmen, um sich nicht zu verraten.

»Meine Gnädige,« sagte er, »verzeihen Sie mir, daß ich Sie gestört habe! Sie waren beschäftigt –«

»Allerdings; aber das tut nichts,« antwortete die Angeredete mit klingender Stimme. Und als sie das Interesse bemerkte, das der Besucher dem Store zuwandte, meinte sie lachend: »Ja, hübsch, nicht? Aber – aber! Gucken Sie einmal hier: eine Krone über dem Buchstaben – haha, was sollen wir mit einer Krone! Die muß ich nun heraustrennen – eine schöne Arbeit!«

»Die Stores sind wohl ein Geschenk, mein gnädiges Fräulein?«

»O ja. Von meinem Bräutigam. Nur der Besteller, ein ausländischer Fürst, teilt diese Prachtstücke mit uns, und ein – Spitzbube, der die letzten Stücke aus der Fabrik gestohlen hat. Nette Gesellschaft das, was?«

Sie sagte das ganz harmlos, mit einem Anflug von Humor.

»Ah, gestohlen?« fragte Engel.

»Ja, Sonnabend schickte mein Verlobter – übrigens: bis jetzt sind wir noch heimlich verlobt – diese beiden hier, und in der Nacht vom Sonntag zum Montag wurden die beiden letzten von dem Kassendiebe mitgenommen.«

»Kassendiebe? Also auch noch ein Kassendiebstahl?« fragte Engel scheinbar überrascht.

»Jawohl, bei Behrend u. Sohn in Neuenfelde. Haben Sie denn davon nicht gelesen?« Und sie erzählte dem Besucher die ihr bekannten Einzelheiten und nannte im Eifer des Gespräches auch ihren Verlobten Juritz.

Engel wußte genug. Diese beiden Frauen hier waren harmlos, das konnte ein Blinder erkennen. Engel fragte sie nicht weiter, ob auch die Möbel von dem »Verlobten« herrührten, er nahm es ohne diese Bestätigung als gewiß an und verabschiedete sich von den Damen mit freundlichen Dankesworten.

Noch eine kurze Unterredung mit dem Beamten, dann benutzte Engel den nächsten Zug und war bald nach sechs Uhr wieder in Neuenfelde.

*

Engel begab sich, als Franz berichtete, Herr Behrend sei bereits in der Wohnung, sofort nach der Villa. Der Hausherr empfing ihn mit herzlicher Begrüßung und klagte ihm nach einer Weile, daß der Hamburger Beamte immer noch nicht eingetroffen sei.

»Doch!« entgegnete Engel.

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Er ist bereits seit Freitag abend hier.«

»Nicht möglich – woher wollten Sie das wissen –?«

»Ich bin es selbst, Herr Behrend.« Und er legitimierte sich.

»Sie der Kommissar?«

»Ja.«

Der alte Herr vermochte vor Überraschung kaum zu sprechen. Er ließ sich in einen Sessel nieder und sah halb scheu, halb bewundernd zu dem Beamten auf.

»Ich bin Ihnen, Herr Behrend,« nahm Engel das Wort, »die Erklärung schuldig, daß es ein Polizeikniff ist, bei Reisen nach auswärts den Zeitpunkt der Ankunft nicht zu verraten, vielmehr einen späteren Termin festzusetzen und inzwischen schon in aller Heimlichkeit tätig zu sein. Auch ich bin an der Arbeit gewesen, und wenn ich jetzt mit Genugtuung feststellen darf, daß ich Erfolg hatte, so wird meine Freude darüber doch durch den Gedanken getrübt, daß ich mit der Aufklärung des Verbrechens Ihnen einen Schmerz bereiten, ja Sie noch auf weitere, bisher nur unentdeckte Verluste vorbereiten muß.«

»Was sagen Sie da? Schmerz – und – noch weitere Verluste?« fragte der alte Behrend hastig.

»Leider beides. Zunächst, Herr Behrend, der Dieb – ist einer Ihrer Angestellten.«

Der alte Herr sprang erregt auf.

»Wer?« Er schrie es fast.

»Ihr Vertrauensmann.«

Behrend wankte und tastete nach einer Stuhllehne.

»Wer?« wiederholte er heiser.

»Juritz.«

Ein Aufschrei entrang sich den Lippen des alten Mannes, der die betagte Hausfrau herbeieilen und besänftigend auf ihn einsprechen ließ. Erschüttert ließ er sich in einen Sessel fallen, und Tränen spiegelten sich in seinen und der greisen Gattin Augen.

»Mein Beruf ist oft grausam,« hob nach einer Weile der Kommissar wieder an; »aber glauben Sie mir, ich fühle trotzdem mit Ihnen. Man muß oft hart sein, aber das Herz ist dann unbeteiligt. Ich muß es auch jetzt schweigen lassen und Ihnen den Rat geben: fassen Sie sich und übergeben Sie den Verbrecher seinem wohlverdienten Geschick. Und mir gestatten Sie, Ihnen kurz zu berichten. Daß ich bereits am Freitag abend angekommen bin, habe ich schon gesagt. Den ersten Verdacht faßte ich an diesem Abend in der ›Weintraube‹. Die Dörfler sprachen von Ihrem Herrn Juritz feindselig, dem einzigen in Ihrem Hause. Solche eingewurzelte, von allen ausgesprochene oder im stillen geteilte Feindschaft ist nie ohne Grund, und man trifft in neunzig von hundert Fällen das Richtige, wenn man, sind die Angreifer ehrliche Menschen, dem Angegriffenen minderwertige Eigenschaften zuschreibt. Der stille Haß der Leute wurde mir begreiflich, als ich Herrn Juritz kennen lernte. Er ist keine offene Natur – diese Überzeugung stand sofort in mir fest. An seiner Gleichgültigkeit und Zerstreutheit meinem Auftrage gegenüber glaubte ich auch Mangel an Geschäftsinteresse zu erkennen, und da er ohne Eifer nicht zu seiner hervorragenden Stellung gekommen sein konnte, mußte dieser ihm erst neuerdings verlorengegangen sein, vielleicht erst in den allerletzten Tagen, nach dem Verbrechen, nach dem ihn andere Gedanken mehr in Anspruch nahmen. Weitere Nahrung erhielt mein Mißtrauen durch den Umstand, daß Juritz die Nachforschungen vorwiegend nach außerhalb der Fabrik verlegte, und durch die auffallende Tatsache, daß der Geldschrank genau da erbrochen war, wo sich im besonderen Fache das Geld befand und wo es nur von einem Eingeweihten vorausgesetzt werden konnte. Ein Wink der Leute im Wirtshause wies mich zu Recherchen nach Kiel. Dorthin sollte er oft gefahren, auch, wie ich schließen konnte, dort seinem Vergnügen nachgegangen sein. – Pardon, ich muß eine Bitte um Verzeihung einflechten. Aus dem Album in Ihrem Arbeitszimmer habe ich das Bild Juritz' an mich genommen. Vergeben Sie gütigst! – – Es hat seine Dienste getan. Es hat die Ermittlung seiner Geliebten ermöglicht. Und die Entdeckung in deren Wohnung überraschte auch mich. Ich glaube nicht einen Augenblick an eine Mitschuld des jungen Mädchens, das vielleicht nicht bedeutend sein mag, aber gewiß auch nicht schlecht, höchstens leichtsinnig ist. Die Wohnung der Dame und ihrer Mutter ist recht kostspielig eingerichtet, von Ihrem Herrn Juritz. Und – das Überraschendste – unter den Geschenken an die Dame befinden sich – die beiden gestohlenen Spachtel-Stores ... Das Fräulein war eben mit der nicht leichten Aufgabe beschäftigt, das Initial mit der Krone zu entfernen, vielleicht, um das Kreisrund mit anderen Initialen auszufüllen. Dieser Fund genügte mir, Herr Behrend. Ich ließ die Damen ohne Aufklärung und bin jetzt hier, um meines Amtes weiter zu walten und den Dieb zur Haft zu bringen. Eine strenge Revision der Bücher wird zu dem Diebstahl sicher leider auch noch Unterschlagungen ergeben, von denen die Kosten der luxuriösen Wohnung bestritten wurden.«

Behrend bedeckte beide Augen mit den Händen, und seine Gattin streichelte ratlos sein graues Haar.

Minutenlang herrschte Schweigen.

Dann rang es sich rauh von den Lippen des alten Herrn:

»Tun Sie Ihre Schuldigkeit!«

Der Kommissar verbeugte sich und ging.

Noch an demselben Abend ging an den Senator Lachmann ein ausführliches Telegramm ab:

»Einbruch aufgeklärt. Täter Prokurist Juritz verhaftet. Auf seine Spur führte mich Übelwollen gegen ihn hier im Dorfe. Kieler Kollege hat sich täuschen und von dem Verbrecher selbst führen lassen. Zur Überführung dienten die in der Zeitung gar nicht, in Behrends Brief nebensächlich erwähnten Spachtel-Stores. Hat sie in der Verbrecherdummheit seiner Geliebten geschenkt. Behrend sehr erschüttert. Telegramm würde wohltun, wenn Rat erlaubt.

Wolff.«

Nach Monaten fand die Hauptverhandlung vor dem Gerichte statt, und die Zeitungen brachten unter der Überschrift: ›Die verhängnisvollen Spachtel-Stores‹ lange Berichte. Juritz wurde schuldig erklärt und wanderte auf Jahre ins Zuchthaus. Bald nach seiner Verhaftung hatte er das Versteck des geraubten Geldes angegeben und gleichzeitig der Wahrheit gemäß ausgesagt, daß sich ein Sparkassenbuch über unterschlagene Gelder im Besitze seiner Geliebten befinde. Die Unterschlagungen hatten einen großen Umfang angenommen, indes wurde der größte Teil des Geldes zurückbeschafft.

An Juritz' Stelle trat der nach dem traurigen Vorgang sofort zurückberufene Behrend junior, und als dieser im Herbste mit der Tochter Senator Lachmanns sich vermählte, fehlte auf der Hochzeit auch der Kommissar Wolff nicht, ›unser Engel‹, wie ihn der glückliche junge Ehemann nannte, ›der Engel mit den Spachtel-Stores‹, wie ihn seine Kollegen seit der Neuenfelder Affäre scherzweise getauft hatten.

 

(Mit Genehmigung des Verlages Robert Lutz entnommen Dietrich Thedens Erzählungsband: »Das lange Wunder«)


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