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Der Sachverständige

Von Paul Bourget

I.

Initial Wer sich für Medizin interessiert, hat sicher schon den Namen Professor Courrioles' gehört. Sein »Lehrbuch der Psychiatrie« ist sehr bekannt. Wie Kraepelin und Krafft-Ebing in Deutschland Autoritäten auf dem Gebiete der Geisteskrankheiten sind, so gilt er als Kapazität in Frankreich. – Es ist möglich, daß seine Hypothese über die »Halb-Psychose« von den kommenden Generationen angezweifelt werden wird, jedenfalls aber ist sein Stil so packend, seine Beschreibungen sind so » graphic«, um ein treffendes unübersetzbares englisches Wort zu gebrauchen, daß man auch in der Zukunft seine Werke lesen wird. Diejenigen, die ihn gesehen haben, werden ihn nie vergessen, seine Persönlichkeit muß sich dem Gedächtnis eines jeden einprägen. Der blonde Hüne mit der goldenen Brille könnte für einen deutschen Gelehrten gehalten werden, aber hinter den Gläsern verrät der Ausdruck des Auges die lateinische Rasse.

Das Leben Courrioles' spielt sich immer gleichmäßig ab. Vormittags ist er in einem Vorstadtkrankenhaus beschäftigt, in dem er die Abteilung für Geisteskranke leitet. Nachmittags hat er im Kriminalgericht zu tun: es ist dort für ihn eine Krankenabteilung eingerichtet worden, die den Namen »Gerichtsklinik« führt. Verbrecher, die man für geisteskrank hält, werden dem großen Arzt vorgeführt. Zweimal wöchentlich macht er diese Untersuchungen vor einem kleinen Zuhörerkreis, der aus Ärzten und Studenten besteht. Zu Hause arbeitet er noch an seinen wissenschaftlichen Werken bis spät in die Nacht hinein.

Man muß den Gelehrten mit den Patienten verkehren sehen, um beurteilen zu können, wie leidenschaftlich ihn seine Wissenschaft interessiert. Aus den Augen leuchtet Begeisterung, er bebt vor Spannung und Erregung, die richtige Diagnose zu stellen. Wie ein Jäger oder ein Detektiv beobachtet der Professor das vor ihm sitzende männliche oder weibliche Wesen.

Wen hat der Arzt nun vor sich? Ist es ein Verbrecher, der simuliert? Oder ist es wirklich ein Kranker? Was fehlt ihm? Die Verantwortung, die er durch seine Diagnose auf sich nimmt, ist entsetzlich. Denn durch die wenigen Worte, die er schreibt, wird der Verhaftete entweder in ein Irrenhaus transportiert oder in Freiheit gesetzt. Die erste Hypothese zieht weniger schwere Folgen nach sich. Denn in einer Anstalt wird der Patient von neuem untersucht, Courrioles' Ansicht wird entweder bestätigt oder modifiziert. Wird sie umgestoßen, so fallen die Konsequenzen, nicht auf den Professor zurück. Aber wie anders, wenn er den Kranken für gesund erklärt, wenn er den Wahnsinn nicht erkannt hat und der aus dem Gefängnis entlassene Sträfling gleich wieder ein Verbrechen begeht, weil er eben geisteskrank ist.

Es ist die Sorge, einen Irrtum zu begehen, die so tiefe Falten in die Stirn des Professors gräbt, und die Freude an dem beruflichen Interesse wird durch die Schwere der sozialen Pflichten getrübt. Immer gleich groß ist die Wißbegierde, mit der er jeden neuen Fall betrachtet. Seine Teilnahme zeigt sich in seiner Sprechweise, seine Stimme untersucht buchstäblich die Patienten. Einschmeichelnd, langsam versucht der Psychiater, kurze Fragen stellend, zu ergründen, wie groß der Verstand und das Empfindungsvermögen des vor ihm sitzenden Kranken noch sind. Plötzlich unterbricht er seine Konsultation und wendet sich zu den beiden Studenten, die der Untersuchung beiwohnen:

»Nun, Portehaut, wie lautet Ihre Diagnose?«

Schüchtern antwortet der Angeredete: »Eine P. L., Herr Professor.« (Die Krankenhausabkürzung für Paralyse.)

»Was meinen Sie, Croulebois?«

»Ich halte ihn für einen Paranoiker« (an zeitweisen Wahnvorstellungen leidend), antwortet Croulebois sicherer.

»Es ist weder das eine noch das andere,« erwidert Courrioles. In wenigen Worten setzt er seine Beobachtungen auseinander und demonstriert an dem Patienten. Dieser folgt, manchmal lächelnd, manchmal wütend den Erklärungen oder läßt stumpfsinnig zusammengekauert alles über sich ergehen.

Der Professor macht nun einen kurzen Bericht über den Kranken, und wenn er mit wenigen Worten das traurige Lebensbild entrollt, ist er unvergleichlich.

Kein Romanschriftsteller könnte fesselnder erzählen, kein Detektiv könnte genauer die geringsten Einzelheiten des Verbrechens, das der geisteskranke Sträfling begangen hat, belauscht haben. Aus jeder Frage, die der Arzt stellt, fühlt man den Meister heraus. So sicher wie ein Geisterseher weiß er die Tatsachen zu berichten, aus denen er gewandt die Hauptmomente herausgreift.

Der Patient wird von dem Wärter oder der Wärterin hinausgeführt, und der Arzt sagt ruhig: »Der Folgende.« – Aber er ist nicht ruhig, sein Interesse ist zu lebhaft. Vielleicht ist der nächste Fall ein Simulant ganz besonderer Art, ein außergewöhnliches Muster für seine Sammlung. Denn ist Courrioles nicht eine Art Sammler? Ungeduldig spähen seine Augen der sich öffnenden Tür entgegen, der Wärter führt einen »neuen Fall« herein.

II.

Anfangs vorigen Winters hatte der von seinem Berufe so begeisterte Gelehrte eine große Freude: er hatte sich als Sachverständiger mit einem Verbrecher zu beschäftigen, der vor einigen Jahren viel von sich reden gemacht hatte. Es war ein gewisser Guillaume Ribier, der einen Uhrmacher in Grenoble erschlagen hatte. Zum allgemeinen Erstaunen billigten ihm die Geschworenen mildernde Umstände zu, und er wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Kurze Zeit nach Antritt seiner Strafe wurde Ribier wahnsinnig und wurde einer Irrenanstalt überwiesen. Einige Monate darauf war er geheilt und begann aus dem Zuchthaus Bittschrift auf Bittschrift zu schreiben. Er wandte sich an den Präsidenten, die Minister und an alle möglichen Beamten. Er behauptete, das Verbrechen im Wahnsinn begangen zu haben; jetzt, nach seiner Heilung, sei ihm seine Tat erst klar geworden.

Zufälligerweise las ein Abgeordneter das Bittgesuch. Es war ein Arzt, der sich speziell mit Geisteskrankheiten beschäftigt hatte. Der Politiker war von der Aufrichtigkeit, die aus der Bittschrift sprach, so überzeugt, die Schilderung der Krankheitssymptome erschien ihm so richtig, daß er darüber mit einem maßgebenden Gerichtsbeamten sprach, der denselben Eindruck hatte und veranlaßte, daß Courrioles als Sachverständiger hinzugezogen wurde.

»Ich habe sämtliche Akten durchgelesen,« erzählte der Professor seinem Famulus. »Es interessiert mich, den Mann zu sehen. Er beschreibt seinen Zustand vor dem Verbrechen so sachlich, daß ein Irrenarzt es nicht richtiger machen könnte. Der Mann ist Tischler, medizinische Studien hat er nie gemacht, also müssen doch seine genauen Angaben auf Tatsachen beruhen. Nur etwas macht mich stutzig!«.

»Daß er nicht schon bei der Schwurgerichtsverhandlung die Krankheit als Entlastungsgrund angegeben hat?« fragte Portehaut.

»Nein,« erwiderte Courrioles, »das nicht, Ribier hätte sich der geistigen Störung damals gar nicht bewußt zu sein brauchen, die schon vor dem Mord begonnen haben kann. Nein, die Beschreibung frappiert mich durch den großen Zusammenhang, der Krankheitsbericht klingt zu wohlgeordnet. – Ich erinnere mich des Ausspruchs eines Antiquars, den ich einst kannte: das echte Objekt unterscheidet sich dadurch vom falschen, daß das Unechte eine zu große Vollkommenheit zeigt. Wir werden ja sehen ...«

Die Unterhaltung fand vor der Sprechstunde in der Gerichtsklinik statt. Der Professor nahm an seinem Schreibtisch Platz, und sein Blick überflog die Liste, auf der die vorzuführenden Kranken vermerkt standen. »Liegt nichts Dringendes vor?« fragte er den Wärter.

»Ich glaube nicht, Herr Professor.«

»Dann fangen wir mit Ribier an, Habert.«

Der Wärter Habert war früher Soldat. Trotz des fürchterlichen Berufes, den er jetzt bekleidete, blickten die Augen immer vergnügt aus dem roten, jovialen Gesicht.

Gehorsam führte er die Hand gegen die Mütze, wie er es früher in der Kaserne gewöhnt war, und diese Bewegung erklärte Courrioles seinen Schülern durch die Worte: »Stereotypie des militärischen Grußes.«

Zwei Minuten später führte Habert einen 25 jährigen Mann in Sträflingskleidung herein. Der Arzt lud ihn mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen, und ruhig, wie er in das Zimmer getreten war, nahm der Gefangene Platz. Er sah sich den Gelehrten forschend an, und dieser fixierte ihn ebenfalls scharf. – Guillaume Ribier hatte ein ganz hübsches, feines Gesicht, doch wirkte es durch seine Ausdruckslosigkeit unangenehm. Die Muskeln schienen vollkommen unbeweglich. Nur die Augen gingen in der starren Maske hin und her. Wie ein gefangenes Tier, das der Falle entschlüpfen will, schien er auf der Lauer zu liegen und nach einem Ausweg zu suchen.

Wenn der Verbrecher sprach, kam nicht die leiseste Bewegung in seine Züge; die Lippen wurden wie durch einen Automaten bewegt, als ob dieser Teil des Gesichts durch einen ganz unabhängigen Mechanismus funktionierte. – Die schnell aufeinander folgenden Worte klangen gedämpft, denn Ribier sprach mit fast geschlossenem Munde, und die monotone Rede wurde nicht durch die geringste Erregung gefärbt. Diese vollkommene Unbeweglichkeit hielt während der ganzen Unterredung an.

Courrioles begann mit den gebräuchlichen Fragen.

»Sie heißen Guillaume Ribier?«

»Jawohl, Herr Professor.«

»Sie haben den Uhrmacher Jacquin in Grenoble getötet. Sie sind wegen Mordes zu Zuchthaus verurteilt und dann in ein Irrenhaus gebracht worden?«

»Jawohl, Herr Professor.«

»Sie behaupten jetzt, daß Sie schon wahnsinnig waren, als Sie das Verbrechen begingen, und Ihre Krankheit Sie gehindert hat, sich während der Gerichtsverhandlung zu verteidigen?«

»Jawohl, Herr Professor.«

»Können Sie mir beschreiben, wie Sie sich vor dem Morde fühlten?«

»Gewiß, Herr Professor. Ich möchte aber vorausschicken, daß meine Mutter schon an Nervenstörungen litt. – Ich glaube, daß ich erblich belastet bin. – Mein Vater starb früh. Ich schlief im Zimmer meiner Mutter. Eines Morgens wurde ich durch ihr Schreien erweckt. Es war ein Frühlingstag, und ich sah in dem hellen Zimmer meine Mutter sich in Krämpfen winden. Der rechte Arm lag auf der Brust, der linke zuckte konvulsivisch, und auf mein lautes Fragen erhielt ich keine Antwort, meine Mutter schien bewußtlos. – Dann wurde sie vollkommen steif und stieß schnarchende Töne aus. Als sie nach einer Weile die Augen öffnete, blickte sie ins Leere und erkannte mich nicht.«

»War es ein hysterischer oder ein epileptischer Anfall?« fragte der Arzt.

»Das weiß ich nicht,« antwortete Ribier. Er schien die wissenschaftlichen Ausdrücke nicht zu verstehen. »Aber das Geschehene machte auf mich einen so entsetzlichen Eindruck, daß ich krank danach wurde. Meine Mutter starb kurze Zeit nachher, aber an einem Lungenleiden. – Ich wurde die Nervosität, die der Anblick bei mir hervorgerufen hatte, nicht mehr los. Ich war leicht gereizt. Sechs Monate vor der Mordtat wurde ich ohne jede Ursache traurig. Ich arbeitete bei einem sehr guten Meister. Er war mit mir zufrieden. Doch litt ich fortwährend an Kopfschmerzen. Ich konnte nicht essen und schlafen. Eine Woche bevor ich den Mord beging, änderte sich alles plötzlich. Ich fühlte mich außerordentlich wohl. Ich äußerte noch einem Kameraden gegenüber, ich hätte das Gefühl, die ganze Welt gehöre mir. Das Behagen wich wieder einer starken Erregung. Nicht eine Sekunde vermochte ich auf demselben Fleck zu bleiben, meine Gedanken jagten sich. Ich wunderte mich über mich selbst, denn was mich früher abstieß, zog mich nun unwiderstehlich an. Ich mußte Schnaps trinken, gegen den ich bis dahin Abscheu empfand. Die Frauen, die in meinem Leben nie eine Rolle gespielt hatten, lockten mich plötzlich. – Ein Mädchen, das mir eigentlich nur eine gute Freundin gewesen war, flößte mir mit einem Male eine heftige Leidenschaft ein, ihretwegen beging ich den Mord. – Denn als wir vor dem Schaufenster Jacquins standen, wünschte sie sich eine Uhr mit Kette, und ich wollte ihr durchaus ihren Wunsch erfüllen. Der Uhrmacher weigerte sich, mir die Schmucksachen ohne sofortige Bezahlung zu geben. – Das reizte mich so sehr, daß ich, wie von unsichtbarer Hand gepackt, mich auf Jacquin stürzte. Ich mußte Blut sehen, ich ermordete ihn. Von diesem Moment an bis zu meiner Entlassung aus dem Irrenhaus liegt ein Schleier über meiner Erinnerung. Die Verhaftung, das Gefängnis, die Verurteilung scheinen mir wie ein Traum. Die Zeit zwischen dem Morde und heute scheint mir unendlich. Mein Aufenthalt im Irrenhaus ist mir unbegreiflich. Als ich dort eines Morgens erwachte, war mein Verstand so klar wie heute. Durch den Anstaltsarzt habe ich erfahren, daß ich im Gefängnis wahnsinnig geworden und was vorher geschehen war. Es ist zweifellos, daß ich bereits vor der Mordtat nicht mehr im Besitze meines Verstandes war, und deshalb verlange ich eine Revision meines Prozesses.«

»Wie erklären Sie aber,« unterbrach ihn Courrioles, »wenn sich die Dinge so ereignet haben, wie Sie schildern, daß Sie den Geldschrank des Uhrmachers erbrochen und Schmucksachen und Wertpapiere beiseite gebracht haben, die nach den Büchern Jacquins sechzig- bis siebzigtausend Francs betrugen?«

»Das hat man mir gesagt,« antwortete Ribier, »daß eine solche Summe verschwunden ist. Ich hätte sie unbewußt, wie ich alles andere nach dem Morde tat, nehmen können. Aber meine Gedanken waren nur auf die Uhr und Kette, auf nichts anderes gerichtet, das weiß ich genau, mein Gedächtnis habe ich erst vollständig im Krankenhaus verloren.«

»Also vermuten Sie, daß ein anderer das Geld gestohlen hat?«

»Ja, Herr Professor. Wenn Sie meine Prozeßakten durchlesen, werden Sie finden, daß ich um fünf Uhr nachmittags zu Jacquin ging. Das steht fest. Die Nachbarn werden sich gewundert haben, den Laden um acht Uhr noch geöffnet und nicht erleuchtet zu sehen. Ich vermute, daß unbeobachtet jemand hineingegangen ist. Vielleicht hat ein Dieb die Gelegenheit benutzt. Jacquins Leiche hatte ich auf den Hängeboden geschafft; entweder ist sie von dem Eindringling entdeckt worden, oder er hat, ohne sie zu sehen, den Raubzug unternommen. Beide Möglichkeiten liegen vor.«

»Aber die Schlüssel? Wie ist der Dieb zu den Schlüsseln gekommen, wenn Jacquin sie bei sich hatte?«

»Der Räuber kann sie ihm doch abgenommen haben,« antwortete Ribier. »Ebenso kann er sie im Kontor gefunden haben. Weiß man denn, ob Jacquin, als er aus dem Hinterzimmer in den Laden kam, nicht gerade am Geldschrank zu tun hatte und die Schlüssel stecken ließ? Oder ob sie nicht in der Jacke waren, die man im Hinterzimmer fand? Der Ermordete war wegen der Hitze in Hemdsärmeln. – Aber schließlich geht es mich gar nichts an, wer die Schlüssel gefunden hat und wie der Einbruch ausgeführt worden ist, das hat mit meiner Angelegenheit nichts zu tun. Sie müssen doch zugeben, Herr Professor, daß ich in meinem guten Rechte bin, wenn ich sage, ein Geisteskranker ist für seine Taten nicht verantwortlich. Und ich war krank. Man wußte es eben nicht. Es hat sich erst gezeigt, als ich im Zuchthaus saß. Deshalb bitte ich um eine Revision des Prozesses, denn jetzt, nachdem ich wieder meinen Verstand habe, kann ich mich doch verteidigen.«

Ribier hatte während der ganzen Verhandlung mit derselben monotonen Stimme gesprochen, die Silben klangen regelmäßig und abgehackt wie ein Metronom. Das Gesicht war gleichmäßig bewegungslos geblieben. Entweder überwachte er sich mit geradezu staunenerregender Aufmerksamkeit, oder die Starre war ein Zeichen des gestörten Nervensystems. Courrioles war von dieser Unbeweglichkeit betroffen.

»Wir wollen noch einmal über die Symptome sprechen, die Sie schilderten,« begann er von neuem. »War noch jemand außer Ihnen dabei, wenn Ihre Mutter die Anfälle bekam?«

»Mein Vater,« antwortete Ribier, »sonst niemand. Sie hatte sie nur nachts.«

»Litt sie schon in ihrer Jugend daran?«

»Sie erzählte, daß sie im ganzen drei Anfälle gehabt habe,« erwiderte Ribier, »bei dem ersten war sie 27 Jahre alt.«

»Also wußte sie von diesen Krankheitserscheinungen?« fragte Courrioles.

Die wenigen Fragen und Antworten schienen so einfach. Aber es war ein erbitterter Zweikampf, der nun begann. Der eine Zeuge, Portehaut, verstand jede kleine Einzelheit, aber der Wärter Hadert verstand nicht genug von Pathologie, um die Falle zu sehen, die der Psychiater dem Zuchthäusler stellen wollte. Das Charakteristische für hysterische und epileptische Anfälle ist, daß die Patienten keine Erinnerung an die durchgemachte Krise haben. Als Ribier noch einmal bestimmt erklärte, daß die Mutter selbst von ihrer Krankheit erzählt hatte, war es dem Professor klar, einen Simulanten vor sich zu haben. Ribier hatte die ganze Erzählung erfunden, um zu zeigen, daß er schon erblich belastet war. – Jetzt änderte er seinen Bericht. »Mein Vater hat es ihr gesagt. – Wenn sie aufwachte, wußte sie von nichts.«

»Hatte sie noch andere nervöse Symptome?« fragte der Arzt nach einer kleinen Pause.

Während der Gefangene antwortete, schien ihn der Professor mit seinen Blicken durchbohren zu wollen. Wie war es denn möglich, daß ein einfacher Arbeiter eine solche genaue Kenntnis über Gehirnkrankheiten hatte? Wo? Wann? Wie? Durch die letzte Frage hoffte der Professor, den Verbrecher zu fangen. Aber die Antwort war so sicher, daß sie entweder der Wahrheit entsprach oder der frühere Tischler verblüffende pathologische Kenntnisse besaß. Er begann nun eine Menge kleiner Einzelheiten zu berichten, die bewiesen, daß seine Mutter tatsächlich »die Fallsucht« gehabt haben müsse.

»Manchmal,« begann er, »wurde sie von Schlafsucht befallen. Sie schlief ein, wo sie ging und stand. Beim Erwachen klagte sie über heftige Kopfschmerzen. Oder plötzlich begann sie an allen Gliedern zu zittern ... Mir fällt noch etwas ein. Es passierte ihr, in irgendeiner Stellung, mochte diese auch noch so unbequem sein, so lange zu verharren, bis man sie anrief. – So sah ich sie einmal, wie sie eine Karaffe in der Hand hielt und sich niederbeugte, um Wasser einzuschenken. Eine halbe Stunde hielt sie den Arm ausgestreckt. – Solche Zwischenfälle abgerechnet, war meine Mutter ganz normal.«

Nach dieser Antwort änderte der Arzt seine Fragen. Er fing wieder an, von Ribier selbst zu sprechen. Kreuz und quer fragte er über den Aufenthalt in der Irrenanstalt und dem Zuchthaus.

Der Mörder antwortete ruhig, etwas langsam, wie willenlos. Oder die zögernde Sprechweise konnte auch der großen Sorgfalt entspringen, möglichst genaue Angaben zu machen. Es war zu verstehen, daß er sein ganzes Denken zusammennahm, um die Richtigkeit seiner Angaben zu beweisen und sich die Freiheit zu erkaufen.

Als nach einer Stunde Courrioles dem Wärter sagte: »Sie können ihn abführen,« schien die Starre des Zuchthäuslers zu weichen.

»Nicht wahr, Herr Professor, Sie lassen mich nicht so lange warten?« sagte er im Hinausgehen. »Sie können sich doch denken, wie hart es ist, für ein Verbrechen, für das man nicht verantwortlich ist, eingesperrt zu werden. Es ist schon entsetzlich genug, es begangen zu haben, ohne daß man etwas dafür konnte.«

III.

»Nun, was meinen Sie?« fragte der Professor den jungen Portehaut, als die Tür sich hinter Ribier geschlossen hatte und Lehrer und Schüler allein waren.

»Ich glaube, Herr Professor,« sagte der Student, »daß wir einen großartigen Simulanten vor uns gehabt haben.«

»Sie urteilen ein wenig vorschnell,« erwiderte kopfschüttelnd Courrioles. »Er hat uns doch den Zustand seiner Mutter richtig beschrieben. Ich kann mir kaum vorstellen, daß alles auf Erfindung beruht. Kahlbaum nennt diese Krankheitserscheinung Katatonie. Vielleicht hat sich der Kerl in seiner Zelle irgendein populäres Buch über Geisteskrankheiten verschafft und sich die eben erzählten Symptome eingepaukt. Die Möglichkeit ist vorhanden, aber ich glaube nicht sehr daran. Wie er soeben den Stimmungswechsel schilderte, das Unbehagen, das in Glücksgefühl umschlägt, die für Manie charakteristische Erregung und deren Folgen bis zu dem Moment, wo er eines Morgens wieder, vollständig normal, erwacht, klang alles so wahrscheinlich, daß ich selber nicht besser simulieren könnte. Und trotzdem ist Ribier nicht geisteskrank. Übrigens,« fügte der Gelehrte hinzu, »werde ich morgen ein Experiment mit ihm machen, auf das ihn kein Buch präparieren konnte, meine noch unbekannte Forschung der Endsilbenbetonung.« – Die letzten Worte sprach der Professor mit naivem Stolz aus.

»Bekanntlich gibt es zwei Kategorien von Geisteskranken, die Unempfindlichen und die Überempfindlichen. Die ersteren können bei großer Kälte nackt durch die Straßen laufen, ohne zu frieren, die Nerven der anderen hingegen sind so überfein, daß ihre Sinne auf alles schneller reagieren als die des Normalmenschen. Medizinisch lautet der Ausdruck dafür Hyperästhesie.«

Courrioles fuhr fort: »Hat Ribier auch die Anzeichen von Manie studiert, so kann er in den Büchern doch noch nichts von dem unwillkürlichen Reimgefühl gefunden haben; er hat in seiner Erzählung soeben die ältere Annahme, die Unempfindlichkeit der Geisteskranken, betont. Nun will ich ihn morgen auf das Gegenteil prüfen.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und ein Student trat herein. »Jetzt kommen Sie, Croulebois,« sagte der Arzt, »es ist etwas spät, Freundchen, aber Ihre Strafe ist, daß Sie etwas sehr Interessantes versäumt haben. Frau Suzanne führt uns wohl einen neuen Fall herein,« wandte er sich an die eingetretene Wärterin. Während der Student sich bei dem Professor wegen seines Zuspätkommens entschuldigte, verschwand die Wärterin, um mit einer achtzigjährigen Frau wiederzukommen, die sie fast hereintrug. Die Alte glich einem Wrack. Der Kopf wackelte hin und her, sie konnte nicht mehr auf den Füßen stehen, blödsinnig stierte sie vor sich hin.

Der Professor wandte sich den beiden Studenten zu: »Hier sehen Sie wieder, worauf ich Sie schon öfter aufmerksam machte. Alte Weiber haben einen bösartigen Ausdruck, alte Männer nicht. Sehen Sie die zusammengekniffenen Lippen und den mißtrauischen Blick. – Wenn sie alt werden, verstellen sie sich nicht mehr,« meinte er lachend.

»Hat Croulebois eine Liebschaft?« fragte der Professor Portehaut, als sie zwei Stunden später zusammen das Kriminalgericht verließen. Gewöhnlich pflegten die beiden Wagner dieses modernen Faust ihren Lehrer nach seiner Wohnung zu geleiten. »Er kam zu spät zur Sprechstunde und hat sich so schnell von uns getrennt. Seit einigen Tagen scheint er mir verändert. Als ich beim Anblick des alten blödsinnigen Weibes von der Bosheit der Frauen sprach, machte er diese Bewegung!« Und der sorgfältige Beobachter zuckte wie vorhin sein Schüler mit den Augenlidern.

»Ich hätte es Ihnen nicht gesagt, Herr Professor,« antwortete Portehaut. »Aber leider haben Sie recht. Er hat eine Geliebte, ein ganz schlechtes Frauenzimmer. Sie ist sehr hübsch, und sie wird ihn ins Unglück stürzen.«

»Auch ein Wahnsinn,« meinte achselzuckend Courrioles. »Das nennt sich Liebe. Wir müssen ihn von diesem Weib zu trennen suchen. Es ist mir lieb, daß ich Bescheid weiß, er soll tüchtig arbeiten, um auf andere Gedanken zu kommen. Gehen Sie gleich zu ihm. Sagen Sie ihm, daß Sie heute abend und morgen vormittag in Anspruch genommen sind und sich nicht mit Ribier beschäftigen können. Sie schildern ihm bis in die kleinsten Einzelheiten die stattgehabte Konsultation. Croulebois soll den Mörder im Gefängnis besuchen und ihn beobachten. Sagen Sie Ihrem Kollegen, daß ich keine Ausrede dulde. Ich kenne ihn, er wird gehorchen.«

IV.

Unter der rohen Außenseite versteckte der Gelehrte großes Feingefühl. Beschäftigte ihn der Fall Ribier auch sehr, so wurde sein Interesse doch noch stärker durch seinen Famulus Croulebois in Anspruch genommen. Als er am nächsten Tage in die Gerichtsklinik trat, war seine erste Frage nach dem Studenten.

»Herr Croulebois war hier und ist fortgegangen,« sagte der Wärter Habert.

»Fortgegangen?« fragte Courrioles erstaunt.

»Ja, Herr Professor, er hat einen Brief für Sie zurückgelassen.«

»Ich war gestern abend bei Ribier,« schrieb Croulebois. »Ich fand ihn sehr ruhig. Wir sprachen über seine Angelegenheit. Er bleibt bei seiner Behauptung, das Opfer eines gerichtlichen Irrtums zu sein. Seine Aufrichtigkeit schien mir ehrlich. Heute nachmittag ging ich wieder zu ihm. Ich fand eine Überreizung der selbsttätigen Verbindung von geistigen Vorstellungen. Wenn er ein Wort gesagt hatte, suchte er nach einem anderen, das denselben Klang hatte. So reimte er ganze Sätze aufeinander (intermittierende Manie). Diese zweite Hypothese wäre ein Beweis für Doculrebentes Theorie, die aussetzende Manie, die er bei »Fallsucht« beobachtet hat. Die erbliche Belastung von seiten der Mutter scheint mir auch ein wichtiges Moment.« Der Brief des Studenten schien einen großen Eindruck auf Courrioles zu machen.

Jedes Wort bis auf die Unterschrift sah er genau an. Nach der sorgfältigen Prüfung hatte sein Gesicht einen so strengen Ausdruck, daß der Wärter Portehaut zuflüsterte:

»Wenn Herr Croulebois kommt, soll er sich in acht nehmen, ich kenne den Professor, er ist wütend.«

Ebenso leise antwortete Portehaut: »Ich werde Courrioles schon beschwichtigen.« Das war Prahlerei.

Der Student wagte nicht ein Wort zu dem Professor zu sagen, der sehr zornig schien. Portehaut war etwa 24 Jahre alt. Das zarte Gesicht und das blondgelockte Haar bildeten einen seltsamen Kontrast zu dem schweren Beruf, den er sich erwählt hatte. Croulebois dagegen, der immer verärgert und ernst aussah, paßte besser in den düsteren Rahmen dieses seltsamen, psychologischen Laboratoriums hinein, das Courrioles leitete. Er war auch als der begabtere der Lieblingsschüler des Professors, deshalb war der Lehrer über den ungehorsamen Studenten doppelt wütend.

»Führen Sie Guillaume Ribier herein,« herrschte er den Wärter an; in demselben Tone wandte er sich an Portehaut:

»Haben Sie Croulebois meinen Auftrag nicht ausgerichtet?«

»Gewiß, Herr Professor,« stotterte dieser. Es war ihm sehr unangenehm, den Kollegen jetzt bei dem Professor denunzieren zu müssen, aber er wollte ihn entschuldigen, als er errötend hinzufügte: »Das Mädchen kam her, um ihn zu holen, ... darum ...«

»Darum? Sie wollen ihn wohl gar noch verteidigen? Zeigen Sie mir lieber Ihre Arbeit.«

Während der Professor den Bericht über die alte Frau von gestern durchlas, wurde Ribier hereingeführt.

Auf dem Gesicht lag derselbe starre Ausdruck wie am Tage vorher, die Augen rollten hin und her. Er öffnete kaum die Lippen, als er die Fragen des Sachverständigen beantwortete. »Sie scheinen recht gut geschlafen zu haben, Ribier?«

»Gut? Ja! Doch selbst im Schlafe dachte ich noch an meine Strafe

»Strafe?« fragte Courrioles und wiederholte so wie ein Echo das Wort Strafe im Reim auf Schlafe. »Aber Sie sehen doch, daß man Ihnen helfen will. Ich bin beauftragt worden, Sie zu untersuchen. Wir wollen nur Gerechtigkeit, wir wollen klar sehen ...«

»Ich habe kein Vertrauen mehr, Herr Professor, ich habe gesehen, zu streng behandelt man mein Vergehen.«

»Haben Sie Croulebois' Bericht gelesen?« fragte der Professor seinen Famulus deutsch. Und auf die verneinende Antwort zeigte er ihm den Satz von der selbsttätigen Verbindung geistiger Vorstellungen.

Ribier hatte auch in der zweiten an ihn gerichteten Frage eine Reimverbindung hergestellt, auf »klar sehen – Vergehen«. In dieser neuen Verhandlung, die wiederum eine Stunde dauerte, reimte er mit erstaunlicher Gewandtheit immer auf das Schlußwort der an ihn gerichteten Frage. Portehaut beobachtete mit Verwunderung, daß, entgegengesetzt der sonstigen Gewohnheit des Professors, er den Sträfling in genau demselben Wortlaut wie am Tage vorher befragte. Es schien, als ob Courrioles mit dem Verbrecher dasselbe Examen von gestern vornehmen wollte. Der Plan des Sachverständigen war sehr einfach, und darin lag das Großartige.

»An dem Tage, an dem Ihr Unfall geschah, wie Sie es nennen, war es da sehr heiß?« fragte Courrioles.

Der Mörder hatte am Tage vorher erzählt, daß es ungewöhnlich warm gewesen wäre.

»Ich weiß nicht, Herr Professor,« antwortete Ribier, »während meiner Krankheit hatte ich keine Empfindung.«

»Natürlich sehen Sie auch nicht gut,« fuhr Courrioles fort und schien vollständig auf die Ideen des anderen einzugehen, »und konnten auch nicht ordentlich hören?«

Der Verbrecher schien einen Moment zu stutzen, und als ob er seine Erinnerungen durchgehen müsse, erwiderte er langsam: »Nie war mein Auge schärfer, das geringste Geräusch konnte mich stören; ich weiß mir das nicht zu erklären.«

»Schön,« sagte Courrioles nach einer kleinen Pause.

Er gab Hadert ein Zeichen, den Gefangenen hinauszuführen. Ribier schien etwas erstaunt über das plötzliche Ende der Verhandlung zu sein. Er wollte sprechen, aber er besann sich und sagte nur im Hinausgehen: »Adieu, Herr Professor!«

»Sie hatten recht, Herr Professor,« sagte Portehaut, als die Tür sich hinter dem Mörder geschlossen hatte. »Ich glaube, der Mann simuliert nicht. Er konnte unmöglich Ihre Beobachtung des unwillkürlichen Reimes auf die Endsilbe kennen. Nach seinen heutigen Antworten wechselt auch Unempfindlichkeit mit Überempfindlichkeit bei ihm. Er ist periodisch wahnsinnig.«

»Dieselbe Diagnose stellte auch Croulebois. Wissen Sie, wo er augenblicklich ist?« fragte der Professor.

»Ich fürchte, bei dem Frauenzimmer,« antwortete Portehaut.

»Bitte,« erwiderte Courrioles, »nehmen Sie sich eine Droschke, fahren Sie zu ihm und bestellen Sie ihm, er solle sofort in meine Wohnung kommen. Wenn er nicht will, sagen Sie ihm, daß seine Beobachtungen meine Diagnose bestimmt hätten und er sofort den Bericht machen solle, den ich morgen abliefern will. Ich gehe jetzt nach Hause, um die Notizen zu machen. Mit der Droschke dauert es nicht lange. Wo wohnt das Mädchen?«

»Rue Monge.«

»Schön. Sie machen nachher die Krankenvisiten. Es sind im ganzen vier. Gehen Sie jetzt schnell.«

Wirklich war Croulebois eine halbe Stunde später im Arbeitszimmer des Professors am Quai de la Mégisseru.

Courrioles sagte ihm kaum Guten Tag, seine Blicke schienen den Schüler durchbohren zu wollen, diesem stand vor Angst das Herz still. Der Professor gab ihm ein Zeichen, sich zu setzen, und dann begann er: »Croulebois, Sie haben eine Geliebte, die gedroht hat. Ihnen den Laufpaß zu geben. Um jeden Preis wollten Sie sich nun Geld verschaffen. Sie wußten, daß der Mörder Ribier, den ich gestern und heute untersucht habe, dem Uhrmacher Jacquin 70 000 Francs gestohlen hat, die nicht gefunden worden sind. Durch Portehaut hatten Sie erfahren, daß ich den Verbrecher auf Überempfindlichkeit prüfen würde, um ihn so zu entlarven. Auf meinen Wunsch suchten Sie den Mann in seiner Zelle auf und haben die Gelegenheit benutzt, ihm Ihre Hilfe anzubieten, wenn er Ihnen einen Teil des gestohlenen Geldes auslieferte. Er ist darauf eingegangen. Sie brachten ihm das Symptom periodischer Manie bei: das Echo am Ende des Satzes. Aber Sie eignen sich schlecht zum Verbrecher, lieber Croulebois. Sie hatten sich zum Komplizen des Verbrechers gemacht, und Sie konnten deshalb der heutigen Prüfung nicht beiwohnen. Sie machten mir einen schriftlichen Bericht, aber Sie vergaßen, daß ich seit dreißig Jahren gewohnt bin, mir aus der Handschrift ein Urteil zu bilden. Sie waren so aufgeregt, daß die Buchstaben durch Ihre zittrige Hand unklar wurden und ich sehen konnte, daß etwas Außergewöhnliches in Ihnen vorging. Sie haben auch nicht überlegt, daß ich Ribier dieselben Fragen wie gestern stellen und er mir ganz andere Antworten darauf als gestern geben würde. Das hat ihn mir verraten. Habe ich recht, Croulebois? Antworten Sie mir!« Die Stimme des Professors wurde so drohend wie sein Blick. »Antworten Sie. Noch haben Sie Zeit zu gestehen und zu bereuen.«

»Herr Professor,« schrie der Student, dessen Züge sich bei jedem Worte des Lehrers mehr verzerrt hatten. Dann rief er in Schluchzen ausbrechend: »Ja, es ist wahr. Ich habe den Kopf verloren ... Ich bin ein Lump. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ins Wasser zu gehen.«

»Nein,« antwortete Courrioles mit verhaltenem Mitleid. »Sie sollen nur bereuen und mir versprechen, dieses Weib zu verlassen. Aber sofort. Ich bringe Sie heute abend selbst nach dem Bahnhof, Sie fahren nach München, ich gebe Ihnen einen Brief an meinen Kollegen Kraepelin mit. Das Geld für einen Aufenthalt von zehn Monaten leihe ich Ihnen. Sie verstehen genug Deutsch, um den Vorlesungen folgen zu können, und ich will von Ihnen einen täglichen Bericht über Ihre Tätigkeit haben. Wollen Sie mir das versprechen?«

»Sie sind zu gütig, Herr Professor,« antwortete noch immer weinend der Schüler. »Ich verspreche es.«

Von leidenschaftlicher Dankbarkeit und Gewissensbissen getrieben, wollte er Courrioles die Hände küssen, doch dieser stieß ihn zurück, er wollte sich von keiner Rührung überwältigen lassen, und sagte:

»Helfen Sie mir lieber, einen Punkt aufzuklären, auf den ich in meinem Bericht eingehen muß. Wie hat dieser Ribier so viel Medizin erlernen können, um so geschickt den an Manie leidenden Geisteskranken spielen zu können?«

»Im Zuchthaus war ein Arzt, der wegen Sittlichkeitsverbrechen verurteilt war, und dieser hat ihm die Rolle einstudiert.«

»Wissen Sie seinen Namen?«

Und auf die verneinende Antwort des Studenten fuhr der Gelehrte fort: »Ich muß ihn wissen und ich will diesen Menschen kennen lernen. Denn um einen Schüler so zu dressieren, muß er hervorragend tüchtig sein.. wirklich hervorragend tüchtig. Was für prachtvolles Material hat er täglich vor sich! Was könnte er für feine Beobachtungen in einer solchen Umgebung machen!! ...«

 

(Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischen von N. Collin)


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