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Das weiße Tier

Ein Nachtstück

Von Georg von der Gabelentz

Initial Wissen Sie, was es ist, wenn einen das Grausen packt? Es ist etwas ganz anderes als Angst. Man kann Angst haben bei einer Gefahr, vor drohenden Schmerzen, vor Krankheit oder vor dem Tode, doch ein Mann wird über solche Dinge hinwegkommen. In jener Nacht aber war es etwas tausendmal Schrecklicheres, vor dem ich gezittert habe, obgleich ich seine Nähe nur fühlte, nur ahnte. Da lernte ich, was es heißt, Grausen empfinden, feiges, nerventötendes Grausen. – –

Ich hatte mich als Arzt unweit der russischen Grenze niedergelassen. Mein Beruf führte mich bis in die einzelnen, abgelegenen Güter und Höfe der Umgegend, und ich unternahm oft stundenlange Ritte.

Als ich eines Tages von einem solchen nach meiner Wohnung zurückkehrte, traf ich vor dem Hause einen Reiter, er stieg aus dem Sattel und schritt auf meine Tür zu.

Ich rief ihn an, da zog er einen Brief aus der Brusttasche und überreichte ihn mir. Das Schreiben lautete:

»Herr Doktor, folgen Sie sofort meinem Boten, der Sie zu mir führen wird. Ich bin verloren, wenn Sie nicht kommen. Sorgen Sie, bitte, daß niemand von dem Besuche erfährt.

Ihr ergebener

Wilhelm Rosen.«

Ich fragte den Boten, der die gelockerten Sattelgurte seines Pferdes schon wieder anzog, nach dem Befinden und dem Leiden seines Herrn. Er zuckte die Achseln und entgegnete:

»Ich weiß es nicht.«

Dabei verzog er seinen Mund zu einem Grinsen, zwinkerte mit den Augen und wies mit der Hand auf seine Stirn:

»Was ist Ihr Herr –?«

»Ich weiß es nicht. Er bleibt sonst niemals am dritten Oktober zu Hause, denn er fürchtet sich, das weiße Tier könnte an dem Tage kommen.«

Damit wandte er sich um und saß auf, wenige Augenblicke später trabten wir nebeneinander davon.

Nach mehrstündigem Ritt bog mein Führer auf schmalem Wege in ein mir unbekanntes Waldtal ein, alte Föhren schlossen ihre Kronen über dem verwahrlosten Pfad zusammen und wölbten hohe Tore.

Bei Einbruch der Dämmerung standen wir vor einem einstöckigen Hause inmitten dieses Waldes, der Wohnung Rosens. Mein Begleiter nahm mir das Pferd ab, ich betrat das geräumige, einen Gutshof abschließende Gebäude. Im Flur, dessen Wände allerlei Beutestücke eines Jägers, Elchköpfe und Hirschgeweihe schmückten, erwartete mich ein älterer Diener und begleitete mich durch mehrere Zimmer nach dem Wohnraum des Besitzers. Dann zog er sich schweigend zurück.

Ein hagerer Herr erhob sich mühelos aus einem bequemen Stuhl, der neben einem auffallend großen Kamin stand, und reichte mir mit starkem Druck die Hand. Freudiges Lächeln glitt über seine nicht unschönen Züge. Er lud mich zum Sitzen ein und dankte mir für mein rasches Eintreffen. Dann sagte er:

»Ich fühlte mich vor einer Weile nicht ganz wohl, aber jetzt geht es mir schon besser.«

Nach diesen Worten ging er an die beiden Türen des Zimmers, von denen die eine nach dem Ende des Flurs führte, verschloß sie von innen und steckte die Schlüssel in die Tasche. Dann erst nahm er mir gegenüber Platz.

Ich sah meinen Patienten forschend an, er schien mir nicht leidend zu sein, seine Gestalt war trotz der sechzig Jahre, die ich ihm gab, hoch und kräftig, seine Bewegungen hatten nichts Krankes oder Schlaffes. Auch für geistig gestört konnte ich ihn nicht halten. Er sprach, ohne auf seinen Brief anzuspielen, in ruhigem Ton über die verschiedensten Dinge, über Politik und dergleichen. Seine Krankheit zu berühren, schien ihm peinlich zu sein, und so vermied zunächst auch ich es, danach zu fragen.

Mittlerweile war die Nacht gekommen. Der Wind hatte sich schlafen gelegt, nur manchmal regte er sich ganz leise mit einem seufzenden Ton in der Ferne der Wälder. Im Zimmer war es still, denn unsere Unterhaltung wurde, ich weiß nicht warum, wie auf gemeinsame Verabredung halblaut geführt, nur die alte Uhr auf dem Kamin tickte eintönig, mit dumpfem, metallenem Klang.

Rosen erhob sich, steckte alle Lichter und Lampen im Zimmer an und verteilte sie so, daß sie es bis in die entlegensten Ecken erhellten. Dann setzte er sich wieder zu mir.

Wir plauderten über die Freiheiten der Bauern und deren Nutzen oder Schaden für die Entwicklung des benachbarten russischen Staates, und mein Patient zeigte eine Sachkenntnis und einen Scharfblick, wie man sie bei einem wirklich geisteskranken Menschen sicher nicht gefunden hätte.

Da begann die Standuhr auf dem Kamin eine Stunde zu schlagen. Ich achtete nicht weiter darauf, folgte ich doch gerade den Ausführungen meines Gegenüber.

Rosen aber unterbrach sich mitten in seiner Rede, warf einen raschen Blick auf den Zeiger und zählte die Schläge der Glocke. Es waren acht. Da lehnte er sich in den Stuhl zurück und brummte vor sich hin:

»Erst acht Uhr. Es kommt noch nicht.«

Dann griff er den Faden der Unterhaltung wieder auf, wo er ihn fallen gelassen hatte, ohne sein Tun zu entschuldigen oder zu erklären. Meine Frage, ob er noch irgendeine Nachricht oder einen Besuch heute abend erwarte, schien er mit Absicht zu überhören, denn er fuhr fort, über Politik und soziale Verhältnisse zu sprechen.

Eine Stunde darauf wiederholte sich dasselbe Schauspiel. Als die Uhr zu schlagen begann, langsam und keuchend, als wolle ihr der Atem ausgehen, hielt Rosen in seiner Rede inne. Er ließ die brennende Zigarre aus der Hand in den Aschenbecher fallen, heftete den Blick auf das Zifferblatt und zählte die einzelnen neun Glockenschläge. Dann erhob er sich, ging noch einmal durch das Zimmer, versicherte sich von neuem, daß die Türen und Fenster fest verschlossen seien, und raunte, indem er wieder zu mir trat:

»Noch nicht. Wir müssen warten.«

Aus seinen Worten und seinem Tun sprach heimliche Angst. Er rückte seinen Stuhl näher an den meinen, doch noch immer gab er keine Erklärung seines Benehmens. Nun aber machte ich Miene, mich zurückzuziehen, denn ich war rechtschaffen müde geworden und hatte nicht Lust, mit diesem Manne die ganze Nacht zuzubringen, um alle Augenblicke Zeuge der Angewohnheiten eines Sonderlings zu sein und irgendein Ereignis abzuwarten, das ich nicht einmal ahnte, und das jener mir trotz meiner Andeutungen augenscheinlich auch nicht mitteilen wollte. Kaum aber hatte ich mich erhoben, als mich Rosen am Arm erfaßte und mit einer Kraft in den Stuhl zurückdrückte, die mich in Erstaunen setzte.

»Bleiben Sie, ich beschwöre Siel Ich habe nur darum heute das Haus nicht verlassen, das mich in dieser Nacht sonst nie in seinen Mauern sieht, um einen Versuch zu machen. Ich bin nicht krank. Was ich Ihnen schrieb, ist nicht wahr. Ich wollte nur Ihres Kommens sicher sein. Sie erweisen mir damit einen Dienst, dessen Größe Sie jetzt nicht im entferntesten schätzen können. Mein Benehmen muß Ihnen sonderbar erscheinen. Ich sehe es Ihnen an, daß Sie an meinem ruhigen Verstand zweifeln. Aber ich bin mir leider nur zu klar über alles, ich bin nicht überspannt, nicht im geringsten. Ich will nur versuchen, ob Ihre Nähe, die Anwesenheit eines ganz nüchternen, unbeeinflußten Mannes jenes Entsetzliche vertreiben kann, vor dem ich mich fürchte, und das – –«

Rosen schnellte vom Stuhl empor und griff nach einem jener haarscharfen, türkischen Säbel, Jatagan genannt, die eine gefährliche Waffe in der Faust eines Mannes bilden. Er hielt die Hand ans Ohr und lauschte. Ein Zittern ging durch seinen Körper. Auch ich stand unwillkürlich auf und horchte.

Ein unbestimmtes Geräusch, etwa wie das regellose Hin- und Herhuschen einer Ratte über Holzdielen, ließ sich vernehmen. Die Augen Rosens irrten suchend im Zimmer umher und blieben auf der Tür nach dem Flur haften, von dem die Laute zu kommen schienen.

»Hören Sie nicht?« flüsterte er und umklammerte mein Handgelenk.

Aber die leichten Schritte waren schon wieder verklungen.

Ich mußte den Erregten beruhigen.

»Ich höre nichts, absolut nichts,« log ich. »Ich glaube, Sie sind nur einem Irrtum unterworfen gewesen. Erklären Sie mir nur endlich, was Sie fürchten.«

Rosen setzte sich wieder und legte den Säbel dicht neben sich auf einen Tisch, auf dem allerlei Rauchgerätschaften standen. Er bot mir eine Zigarre an, und auch ich nahm von neuem Platz.

»Wie sonderbar,« sagte er. »Ich hätte darauf geschworen, daß ich es gehen hörte. – Aber freilich, wenn Sie meinen. Und Sie haben nichts gehört? Sind Sie dessen sicher?«

»Gewiß,« erwiderte ich, »vollkommen. Sie können ruhig sein, es war nichts.«

Mein Wirt prüfte mit den Fingerspitzen die Schärfe des Stahles.

»Glauben Sie,« rief er plötzlich ganz unvermittelt und ließ die Klinge pfeifend durch die Luft schwirren, »glauben Sie, daß man damit einem Menschen die Hand abhauen kann?«

»Gewiß, mit Leichtigkeit.«

Rosen sah mit einem sonderbaren, harten Blick auf die blitzende Waffe und wog sie in der Hand.

»Ja, ja, mit einem Schlage, mit einem einzigen Schlage bringt man das fertig! Und ein kurzer Stoß ins Herz genügt auch, einen Menschen aus der Welt zu schaffen. Aber, ich glaube, es gibt Wesen, die sind auch damit nicht zu töten. Glauben Sie nicht?«

Rosens Augen ruhten gespannt auf meinen Lippen.

Ich hätte die Waffe lieber in der Hand eines andern gesehen als in der dieses aufgeregten Kranken.

»Ich? Ja, mein Gott, das kommt ganz darauf an, was Sie töten wollen. Aber ich sollte meinen –«

Ich wurde jäh unterbrochen.

»Still! Hören Sie das Tasten dort, dort am Fenster? Um Gottes willen, hören Sie das nicht, wie es ans Fenster greift?«

Mein Gegenüber war wieder von seinem Sitz emporgefahren. Sein Antlitz war blaß geworden, seine Augen hatten sich unnatürlich erweitert und starrten nach den dunklen Scheiben. Wirklich vernahm auch ich von Zeit zu Zeit einen leisen Ton, als klopfe jemand von außen an das Glas der Fenster, als taste etwas suchend an ihm herum.

»Ich meine, es muß wohl der Wind sein, der welke Blätter aus Ihrem Garten an die Scheiben wirbelt,« bemerkte ich endlich. »Oder es sind die äußersten Ästchen der Linde, die vor dem Hause steht, und die gegen das Glas reiben. Wer sollte sich auch sonst an Ihren Fenstern zu schaffen machen?«

In diesem Augenblick schlug die Uhr. Rosen zählte, ohne den Blick vom Fenster abzulenken. Es waren zehn Schläge. Da setzte er sich in seinen Stuhl zurück.

»Meinen Sie wirklich, die Äste der Linde? Nun, Sie mögen recht haben. Es war nur der Wind. Es ist ja auch erst zehn Uhr. Es kommt noch nicht. Aber man kann ja nicht wissen.«

Wir schwiegen lange Zeit. Mich beschlich in der Nähe des Kranken allmählich ein unbestimmtes Gefühl von dumpfer Furcht, das ich nicht mehr loswerden konnte, so sehr ich mir auch Mühe gab, dagegen anzukämpfen. Eine schwüle, fast unnatürliche Ruhe lag über dem Raume, die vielen Lampen und Kerzen erhitzten die Luft. Wohl erhellten sie jeden Winkel, es war nichts Ungewöhnliches zu sehen, und trotzdem fühlten wir beide, daß sich etwas in unserer Nähe vorbereitete. Wenn ich nur gewußt hätte, was ich erwartete, welches das Wesen sei, das seit einer Stunde von uns gefürchtet, lauernd um unser Zimmer schlich, das uns drinnen gefangen hielt. Keiner von uns hätte jetzt mehr gewagt, die Türen oder eines der Fenster zu öffnen. Wir wußten, dann sprang es herein.

Was hätte ich darum gegeben, wenn ich das Haus erst wieder verlassen gehabt hätte. Mehr und mehr fühlte ich mich selbst in Rosens merkwürdige Wahnideen verstrickt, von der Aufregung meines Patienten angesteckt, und doch war es nur eine Ratte, waren es nur trockene Blätter, Ästchen, ein verirrter Nachtvogel vielleicht, die jene sonderbaren Geräusche hervorgebracht hatten. Ich wollte mich zwingen, an eine natürliche Erklärung zu glauben. Aber was ich mir auch einreden mochte, ich hielt jetzt diese Ruhe, dieses unverständliche Warten nicht mehr länger aus. Mein Gegenüber blickte sich fortwährend um, immer die Hand am Säbel, bald nach der Tür, bald nach dem Fenster horchend.

Es war draußen totenstill geworden, der Wind hatte sich gelegt. Lautlos zuckten blaue und gelbe Flämmchen vom erlöschenden Feuer des Kamins. Sobald das glühende Holz einmal knackte, fuhren wir beide zusammen.

»Soll ich nicht nach Ihren Leuten klingeln?« fragte ich. Ich sehnte mich danach, andere Menschen um mich zu sehen.

»Um Gottes willen, nein! Nein! Die dürfen ja nichts wissen, ich kann es doch jenen da nicht erklären, nicht sagen! Bleiben Sie sitzen.«

»Dann sagen Sie mir aber endlich, was Sie eigentlich so fürchten, was Sie mit jedem Glockenschlag erwarten!«

Ich wußte, ich würde aus dem Munde dieses Kranken etwas ganz Unsinniges hören; aber alles, auch das Schrecklichste, war mir in diesem Augenblick lieber als diese Unsicherheit.

Da begann er hastig:

»Sie sollen mir helfen. Sie wissen aus okkultistischen Schriften sicher so viel, daß der Einfluß eines willensstarken Menschen, eines Skeptikers die unheilvolle Verbindung zwischen dem Medium und seinem Meister zu zerreißen vermag. Sie sind Arzt, Sie allein können dies tun, können mich von jenem erretten. Heute ist die Nacht wiedergekehrt, in der ich ihn erwarte. Heute will ich ihm mit Ihrer Hilfe entgegentreten, um ihn vollends zu vernichten. Ich wollte Ihnen nichts sagen, um Ihnen Ruhe und Unbefangenheit nicht zu nehmen, doch Sie zwingen mich zu sprechen, und ich sehe ja, auch Sie ahnen seine Nähe.«

»Ja, aber um des Himmels willen, wer ist denn jener Entsetzliche, der Sie so peinigt,« fragte ich. »Lebt er in Ihrer Umgebung?«

»Das kann ich Ihnen nicht beantworten – er ist – tot, lange tot.«

»Tot?« fragte ich. »Aber beim Teufel – –«

»Ja, tot!« unterbrach mich Rosen. »Das weiß ich gewiß. Ein buckliger, kleiner, elender Schuft war's. Ich lebte damals in Genf. Ich verkehrte in einem spiritistischen Klub, da war er dabei, und er lief mir nach, er drängte sich an mich, verfolgte mich förmlich, zwang mich zu allem, was er wollte, wenn er mir mit der langen, weißen Hand über den Arm strich. Sie, wissen Sie, er hat mich zum Dieb gemacht! – Sagte er mir: Sie werden morgen das und das tun, das und das für mich stehlen, dann tat ich's, dann stahl ich, ohne zu überlegen, machtlos. Umsonst versuchte ich gegen ihn anzukämpfen. Da floh ich eines Tages fort. Ich versteckte mich vor Bekannten, Freunden, vor aller Welt, um ihm und seinem Einfluß zu entgehen. Ich nahm sogar einen andern Namen an, kaufte dies einsame Gut mitten im Wald und verließ es nicht mehr, aus Angst, ich könnte ihm draußen irgendwo begegnen.

Und – ich bin ihm doch noch einmal begegnet.«

Er brach ab, sprang auf, blickte sich um, durchmaß das Zimmer, die Waffe in der Rechten, blieb plötzlich horchend stehen, legte das Ohr an die Tür, suchte mit funkelnden Augen unter jedem Möbel umher und flüchtete dann endlich wieder an meine Seite, indem er sich mit der Hand über die Stirn wischte.

Nun wurde mir noch unheimlicher in der Nähe des Mannes, der in seinen Wahngebilden die Rückkehr eines längst Verstorbenen fürchtete. Sagte ich mir auch, daß ich es mit einem Irrsinnigen zu tun hätte, so teilte ich doch merkwürdigerweise die Angst jenes Unglücklichen. Trotzdem zwang ich mich, in gleichgültigstem Ton zu bemerken:

»Ich werde Ihnen helfen. Erklären Sie mir nur, ob Sie sich wirklich vor dem Toten fürchten. Wollen Sie etwa an Spuk glauben?«

»Nicht ihn selbst fürchte ich, den Toten, nur seine Hand, seine fürchterliche Hand! Den Buckligen, den schwachen Zwerg brauche ich nicht mehr zu fürchten. Aber diese Hand! Schwören Sie mir zu schweigen?«

Ich nickte.

»So hören Sie. Ich bin der Welt gegenüber verloren, wenn Sie etwas sagen, die Leute würden mich dann für einen Verrückten oder einen Verbrecher halten. – Aber – es ist vielleicht alles gleich. – Horchen Sie! Dort ist es schon wieder, das weiße Tier! Jetzt ist's im Kamin, ganz bestimmt im Kamin.

Bei diesen Worten stürzte sich Rosen an den Holzkorb und warf mit fieberhafter Hast ein Kiefernscheit nach dem andern in die von neuem auflodernde Glut. Ich hörte nichts anderes als das Knacken und Prasseln des frischen Holzes und das Zischen der Flammen. Die unheimliche Geschäftigkeit des Unglücklichen steckte an. Ich half ihm, und wir warfen den ganzen Inhalt des Korbes ins Feuer, so daß die Flammen hoch aufsprühten.

Jetzt hatte Rosen zum erstenmal selbst das weiße Tier erwähnt, von dem schon seine Diener gesprochen. Was mochte das sein? Wie kam es in den Vorstellungskreis seines kranken Hirnes, dies gespenstische Tier, dessen Name ihn erzittern machte, das sogar durch die Flammen zu ihm dringen wollte, und das er nun in einem Anfall sinnloser Wut zu verbrennen bemüht war.

Wieder horchten wir zusammen nach irgendwelchen Lauten, gespannt wie eine Schildwache, die in der Nacht das Heranschleichen eines Feindes erwartet. Bei Gott, hätten aus dem Kamin Schreie geklungen, Heulen, Winseln eines verbrennenden Tiers, ich hätte mich nicht gewundert.

»Wie das lodert! Wie das brennt!« frohlockte Rosen grimmig. »Ob es dem widerstehen kann?«

Er hatte vor dem Kamin gekniet, nun stand er auf. Mit hastig hervorgestoßenen Worten, immer wieder sich unterbrechend und um sich spähend, berichtete er kurz:

»Ich floh aus Genf, reiste hin und her, versteckte mich endlich hier. Mehrere Jahre vergingen, schon glaubte ich mich vom Buckligen befreit zu haben, kannte doch keiner meiner Freunde mein Versteck. Da eines Abends, es sind heute gerade siebzehn Jahre her, packt mich plötzlich eine seltsame Unruhe. Ich höre jemand kommen, die Tür öffnet sich, ich wende mich um, der Bucklige steht hinter mir. Allein, unangemeldet war er ins Zimmer gelangt. Ich ahnte vorher, daß er kommen würde, ich fühlte durch Stunden sein Nahen am magnetischen Einfluß. Seine Augen, sein triumphierendes Lachen verrieten mir, daß er mich abermals zu irgendeinem verbrecherischen Plan benutzen wollte. Darum streckte er auch wieder die Hand nach mir aus, mich von neuem in die Gewalt seines Willens zu bringen.

Da springe ich auf und flüchte hinter den Tisch und stoße diesen gegen den Eindringling. Ich konnte meine Leute nicht zu Hilfe rufen, sie waren alle zufällig an jenem Abend, es war Sonntag, zum Tanz in den Krug gegangen. Der Bucklige hatte es sicher so abgepaßt, um mich allein anzutreffen.

Das Scheusal sprang behend wie eine Katze hinter dem Tisch hervor und faßte mit seinen Affenfingern nach meinem Arm.

»Nehmen Sie sich in acht,« schrie er, »Sie sind mein, diesmal lasse ich Sie nicht wieder los!«

Da reiße ich die Waffe von der Wand und haue mit aller Kraft nach dieser Hand. Der Unhold fuhr mit einem Schrei zurück. Ich hatte, ohne es zu wollen, mit einem Hiebe die Hand vom Arm getrennt. Als ich das Blut sah, die vor Wut und Schmerz verzerrte abscheuliche Fratze, da warf ich mich in jäher Verzweiflung vollends auf ihn und stieß ihm, ehe er ausweichen konnte, den Stahl in den Leib. Dann riß ich den Buckligen empor, packte ihn und warf ihn mitten in die hoch auflodernden Flammen des Kamins. Rasch häufte ich alles Holz auf den Leichnam.

.

Ich kniete vor dem Feuer nieder und ruhte nicht eher, als bis der letzte Rest dieses fürchterlichen Menschen verbrannt war, der mich jahrelang gequält, der mich ruhelos umhergetrieben und nun – zum Mörder gemacht hatte. – Reue empfinde ich nicht über meine Tat. Ihm ist nur recht geschehen, er hatte sein Ende hundertfach verdient.

Als das Feuer niedergebrannt war, sammelte ich sorgfältig alle Knochenreste, um sie in einer Kiste zu bergen und zu vernichten. Ich fand sie alle, alle, es war eine schreckliche Arbeit. Nur die rechte Hand fehlte. Ich wandte mich um, suchte im Zimmer, sie war verschwunden. Ich mußte sie also auch ins Feuer geworfen haben und hatte das vielleicht in der Aufregung dieser Minuten vergessen. Noch einmal durchsuchte ich den ganzen Kamin, jedes Aschenhäufchen, nichts! Immer nichts! Da faßte ich mich an die Stirn und meinte wahnsinnig zu werden.«

Der Kranke beugte sich zu mir und starrte mir ins Auge.

»Sehen Sie, jene Hand, jene furchtbare Hand ist also nicht mit verbrannt. Sie ist heimlich, geräuschlos fortgekrochen, während ich am Kamin beschäftigt war. Sie ist flüchtend in irgendeine Ecke gerannt, vielleicht dort zu jenem Fenster hinausgeklettert, denn das Fenster stand offen. Ich habe alle Möbel von der Wand gerückt, zitternd unter jeden Schrank, jeden Stuhl geleuchtet. Ich bin wie ein Irrer noch einmal auf die schauderhafte Kiste losgestürzt, die die schwarzgebrannten Knochen enthielt. Ich habe sie einzeln herausgenommen, sie alle nebeneinander gelegt, bis das ganze Gerippe vor mir auf der Diele lag. Ich wischte mir hundertmal die Augen, immer fehlte die rechte Hand.

Dann die Asche des Kamins. Ich habe sie trotz der sengenden Hitze in kleinen Teilen durch meine Finger gleiten lassen, umsonst alles, umsonst. Die Hand fehlte.

Wie soll ich Ihnen schildern, was ich damals ausgestanden habe?

Niemand hatte den Buckligen bei mir eintreten sehen. Niemand hat sein Verschwinden bemerkt oder nach ihm geforscht. Dieser Mord blieb unentdeckt und ungesühnt.

Da erfand ich ein Märchen, um es meinen Leuten wahrscheinlich zu machen, daß ich einen Spuk fürchtete und seinetwegen nicht mehr in der Nacht der Tat hier im Hause bleiben wolle. Ein Wegziehen von hier – ich habe wohl daran gedacht – aber was hätte es mir geholfen? Ich hätte mich verdächtig gemacht, und jene Hand hätte mich doch zu finden gewußt. Meine Leute bangen vor dem weißen Tier, das keiner je gesehen hat. Auch ich, es ist lächerlich, ich habe es nicht gesehen, es ist eine Ausgeburt meiner Einbildungskraft, nicht wahr? Was soll es sonst sein, und doch fürchte ich, weiß ich, daß es einmal kommen wird. Mit Ihrer Hilfe will ich ihm heute entgegentreten, ich muß auch den letzten Rest jenes toten Unholds vernichten, der mir mein Leben zerstört hat.«

»Aber,« fragte ich, »wie können Sie an einer so unmöglichen Einbildung leiden? Nehmen wir an, es hat sich wirklich alles so begeben, wie Sie's erzählt haben, wie kann eine verschwundene Hand, die Hand eines Toten, Ihnen gefährlich werden?«

Ich gestehe, daß ich mich mit solchen Worten selbst beruhigen wollte. Rosen entgegnete rasch:

»Wie ich daran leiden kann? Haben Sie nicht selbst gefühlt, daß gerade diese Nacht etwas Besonderes hat? Es ist heute ganz anders, als es sonst in der Nacht zu sein pflegt, ganz anders. Oh, es gibt Nächte, in denen es hier draußen wunderbar schön und friedlich ist. Ich liebe diese Einsamkeit, diesen Wald, diese Wiesen. Aber heute, die Totenstille rings um das Haus, selbst den Bach hört man nicht plätschern wie sonst. Dieses Tappen und Tasten außen am Fenster, an den Türen, diese leisen Schrittchen vorhin. Dies Trippeln und Rascheln auf dem Gang. Sie glaubten, es seien Ratten. O nein, das ist das weiße Tier! Ich ahne, ja ich weiß, daß es heute wieder in der Nähe ist, daß es in dieser Nacht auf mich lauert, daß es ums Haus schleicht, daß es von irgend woher plötzlich auf mich zuspringen wird!«

Der Kranke sank im Stuhl zusammen, wie erdrückt von der Erinnerung an seine grausige Tat. Er sprach nicht mehr, stützte die beiden Hände auf den Säbel, den er vor sich hielt, und seine Augen suchten im Zimmer umher.

In der Stille glaubte ich das Klopfen unserer Herzen zu hören. Wir horchten und warteten. Ich wagte nicht, nach der glühenden Öffnung des Kamins zu blicken, in der Furcht, den toten Buckligen darin zu sehen.

Die Uhr schlug langsam elf Schläge. Rosen zählte sie einzeln nach.

»Elf Uhr. Hören Sie, es ist elf Uhr!« schrie er und sprang empor. »Wie damals elf Uhr! Jetzt muß es kommen!«

Der Unglückliche begann im Zimmer auf und ab zu rennen, den blitzenden Stahl in der geballten Faust schwingend und dabei von neuem angstvoll auf den Boden, unter die Möbel, in alle Ecken spähend.

Plötzlich blieb er mitten im Zimmer stehen, den Oberkörper weit vorgebeugt, wie ein Fechter, alle Muskeln am Körper gestrafft, den Blick fest auf die Tür gerichtet. Schweiß perlte in Tropfen auf seiner Stirn.

Auch ich war aufgesprungen. Der Wahnsinnige mit der geschwungenen Waffe flößte mir aber jetzt weniger Grauen ein als ein Geräusch, das immer deutlicher wurde und sich auf den Holzdielen des Hausflurs hören ließ. Man näherte sich der Tür. Aber das waren weder die ruhigen Schritte eines Menschen noch die eines Tieres, es schien mir das Kratzen von Fingernägeln zu sein.

Ich fühlte, wie es mich vom Kopf bis zu den Füßen kalt überlief. Umsonst sah ich mich nach einer Waffe um, obgleich ich wußte, daß sie mir nichts helfen würde. Im nächsten Augenblick mußte es hereinkommen, sich auf uns stürzen, dies gespenstische, weiße Tier. Ich rief laut, wiederholt schrie ich:

»Es ist nichts! Es ist bestimmt nichts, bleiben Sie um Gottes willen ruhig!«

Aber so sehr ich mir auch selbst immer wieder einreden wollte, daß es nichts anderes sei als der nächtliche Traum eines Fieberkranken, es wollte mir nicht gelingen.

»Es kommt!« keuchte Rosen.

Seine in sinnloser Furcht erweiterten Augen folgten einem unsichtbaren Wesen, das sich ihm auf der Diele kriechend nähern mußte, denn sie waren mit schauerlichem Entsetzen nach dem Boden gerichtet. Langsam hob er die bewaffnete Hand, hoch über seinem Haupt zum Hieb ausholend, seine Brust atmete schwer, seine grauen Haare sträubten sich.

Ich wußte, da war etwas. Hörte ich's doch über den Boden näherkommen, scharrende Fingernägel. Doch ich sah nichts, so sehr ich meine Blicke anstrengte. Aber ich fühlte, oh, ich fühlte es deutlich, daß wir beide nicht mehr allein im Zimmer waren. Diese Augenblicke vergesse ich nie mehr in Meinem Leben. Das Grausen schüttelte mich. Ich mußte mich am Tisch festhalten, mir versagte der Atem. Ich war nahe daran, umzusinken, meine Sinne waren angespannt gleich einer Bogensehne, die zu reißen droht.

Plötzlich fuhr die Waffe Rosens wie ein Blitz herab, aber schon im nächsten Augenblick stieß er einen gellenden, gräßlichen Schrei aus, taumelte rückwärts, als sei ihm etwas gegen die Brust gesprungen, und stürzte zu Boden. Seine Finger ließen den Säbel los, mit beiden Händen faßte er in die Luft nach irgend etwas, das auf seiner Brust zu hocken schien. Er zerrte und riß an einem unsichtbaren Gegner, sein Schreien ging rasch in Röcheln über.

Ich war nicht imstande, mich zu bewegen, meine Glieder waren wie mit Blei ausgegossen. Ich sah diesen fürchterlichen Kampf an, ohne retten oder auch nur helfen zu können.

Nach einigen Sekunden fielen Rosens Arme schlaff längs des Körpers herab. Bald war alles ruhig. Er bewegte sich nicht mehr. Da beugte ich mich über ihn. Seine Augen waren weit aus ihren Hohlen getreten und verglast, der Mund war geöffnet wie bei einem Erstickten.

Nun ermannte ich mich, mehr und mehr schwand das bedrückende Gefühl der Abhängigkeit von einer außer mir liegenden, stärkeren Kraft.

Ich rannte an die Klingel und stemmte mich mit aller Gewalt gegen die verschlossene Tür. Auch von außen half jemand. Sie sprang auf, der alte Diener stürzte herbei. Er half mir den Regungslosen aufheben und nach dem Bett tragen, auf das wir ihn niederlegten. Rosen war tot. Der untröstliche Diener versicherte immer wieder, daß sein Herr niemals krank gewesen sei, niemals über irgendwelche Schmerzen geklagt hätte.

Auch die anderen Dienstboten liefen zusammen. Ich erzählte ihnen, was sich zugetragen, sie standen gleich mir vor einem Rätsel. Wir öffneten alle Fenster, die dumpfe und heiße Luft des Zimmers weichen zu lassen. Die Leute sahen auf mich mit entsetzten Mienen. Sie behaupteten später, ich hätte im Gesicht schlohweiß ausgesehen wie eine Kalkwand.

Ich zog mich in ein Nebenzimmer zurück und verließ die jammernde und schwatzende Dienerschaft, mir noch einmal das Erlebnis in allen seinen Einzelheiten zu vergegenwärtigen und eine Erklärung zu finden. Noch niemals hatte ich einen ganz gesunden Menschen in so rätselhafter Weise enden sehen.

Es vergingen mehrere Stunden, der Tag war angebrochen, in den Räumen, die nachts einen so unheimlichen Eindruck gemacht, webte helles, freundliches Licht.

Da öffnete sich die Tür nach meinem Zimmer, der alte Diener rannte herein und stieß zitternd die Worte hervor:

»Ich bitte Sie, Herr Doktor, kommen Sie herüber! Sehen Sie, was geschehen ist.«

Ich folgte dem Alten nach Rosens Schlafgemach. Wir traten an das Bett.

Auf dem Halse des Unglücklichen zeigte sich deutlich die Gestalt einer großen, mageren, eng um die Kehle des Toten gekrallten Hand.

 

(Vom Verlag Egon Fleischel & Co in Berlin bewilligter Abdruck aus dem Novellenbuch »Das weiße Tier« von Georg von der Gabelentz


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