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Taumel

Von Walter Wolff

»... Jedes Weib hat Anrecht auf das Kind, auf Mutterschaft ...«

– – –

Ein Funke sprang von der Rednerin in die Zuhörerschar. Alle, die sie hier saßen, ehrsame Frauen und Kokotten, Ladenmädchen und blasse Kontoristinnen, geplagte Erzieherinnen und müde Lehrerinnen, begriffen auf einmal, wenn auch unbestimmt, des Lebens Inhalt. Röter färbten sich die Wangen. Schneller hoben und senkten sich die Brüste. An der Nachbarin Feuer gewann das eigene neue Nahrung. Vergessener, vom Einerlei des Alltags längst überwucherter Stunden des Glückes ihrer jungen Ehe dachten die Frauen und wurden heiß dabei. An unerfüllte Träume dachten die Mädchen und erschauerten. Selbst in den Dirnen stieg nebelhaft verlorene Erinnerung auf ...

Eros trieb das Blut in ihren Adern zu immer rascherem Schlage.

– – –

Draußen wollustschwüle Augustnacht. Ein Sich-Anschmiegen-Wollen, ein Sich-Geben, Sich-Nehmen-Müssen lag in der Luft.

In den Straßen strahlte der Asphalt die Liebessehnsucht feucht-warmer Spätsommernächte aus. Die Hausreihen in ihrer Endlosigkeit fingen die Sehnsucht auf und hielten sie fest. Flüstern drang aus Tornischen, Stimmengewirr aus Häuserwinkeln.

Im Parke dufteten die Bäume ihren berauschenden Liebeshauch. Weiß lag das Licht der Bogenlampen über roten Geranien und blauen Astern, über gelbem Kies und grünem Rasen; in der Mitte standen weiße Bilder. Auf Bänken und hinter Hecken umschlangen sich eng schwarze Schatten. Brünstig klang süßes Stöhnen.

Über die Hänge am Fluß, dessen Wasser träge dahinzogen, drang der moderige Duft ewigen Vergehens, aus dem ewig neues Leben sprießt. Myriaden kleiner und kleinster Wesen schwirrten und flogen und taumelten und fielen im Liebesspiel über die hin, die auf den Abhängen lagen und weltentrückt sich faßten und hielten.

– – –

Langsam leerte sich der Saal.

Und wie der Stein, der ins Wasser geworfen wird, mählich immer weitere Kreise zieht, ging eine neue Welle der Liebessehnsucht über die Stadt.

Sie schritten durch die Straßen, die ehrsamen Frauen und die Kokotten, die Ladenmädchen und die blassen Kontoristinnen, die geplagten Erzieherinnen und die müden Lehrerinnen, und tranken den Hauch der Liebe, der zwischen den endlosen Häuserreihen gefangen lag. Aus den Tornischen kam das Flüstern zu ihnen und aus den Häuserwinkeln das Stimmengewirr. Es zog sie in ihren Bann. Das Sprechen wurde zum Flüstern und das Flüstern zum Stammeln und das Stammeln zum Stöhnen ...

Eros zog durch die Straßen.

Andere gelangten zum Park. Da sahen sie die weißen Marmorbilder inmitten der Farbenpracht von Rot und Blau zwischen feucht überperltem Grün und goldigem Gelb. Sahen die schwarzen Schatten, die sich auf Bänken und hinter Hecken eng umschlangen. Sahen andere Bänke, die ihre weißen Arme weit, einladend zu ihnen ausstreckten. Und ob sie wollten oder nicht, es zwang sie auf die weißen Bänke, hinter die Hecken, zu den schwarzen Schatten ...

Eros zog durch den Park.

Und zum Flusse kamen die dritten. Mit geöffneten Nüstern sogen sie den moderigen Duft des Werdens und des Vergehens ein, der aus dem Wasser emporstieg. Durch das Plätschern des Wassers, in dem liebestollen Schlagen vieler Tausende kleiner Flügel klangen Worte, Bitten, Zärtlichkeiten an ihre Ohren. Die dunklen, weichen Hänge zu ihren Füßen lockten. Sie schritten nicht mehr, sie standen. Sie standen nicht mehr, sie sanken und glitten und lagen ...

Eros zog über die Hänge am Fluß.

– – –

Von irgendwoher stieg ein Schrei in die Luft, ein Schrei, aus Grausen und Entzücken, Schmerz und Wonne, Qual und Seligkeit gemischt. Den nahm die Nacht auf ihre grauen Flügel und trug ihn über die ganze Stadt. Von den Fittichen der Nacht tropfte es wieder herab als Tau des Vergessens, des Versinkens in seligem Taumel, tropfte nieder auf Straßen und Plätze, Park und Gärten und auf die Hänge am Fluß ...

Eros wandelte durch sein Reich. Ihm erlagen sie alle, die ehrsamen Frauen und die Kokotten, die Ladenmädchen und die blassen Kontoristinnen, die geplagten Erzieherinnen und die müden Lehrerinnen ... Eros wandelte durch sein Reich.

– – –

Eine nur schritt aufrecht durch Straßen, Park und Hänge. An ihr Ohr drang kein Flüstern, kein Stammeln, zu ihrem Herzen keine liebedurchflutete Spätsommernacht. Sie sah nicht Schatten noch Schemen auf ihrem Wege. Sie, die heute die Fackel in den dürren Dornbusch geschleudert hatte, daß er, Eros zu ehren, tausend glühende Rosen trieb und sie in lohendem Feuer gen Himmel warf, trug einen Panzer um Herz und Sinne, einen Panzer der Angst vor dem Aschermittwoch. Sie schritt durch Eros Reich, ohne es zu wissen, und spürte nicht, daß Eros an ihr vorüberging. Sie, ihres Gottes schlechteste Dienerin.


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