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Das sanfte Glück

Von Paul Nikolaus

Müde lehnt Fred, der kleine Boy, an der Marmorplatte der Damengarderobe. Es ist alles so schwer um ihn und an ihm: die schmalen Händchen hängen wie Klötze, und die Füße heben sich so ungern, als ob ein Magnet sie hielte.

Früher war alles so leuchtend und klar. Als er aus der Bretagne auszog, um die Welt zu erobern, war dies nicht eine leere Phrase, an die er selbst nicht glaubte. Er glaubte es fest. Und er fühlte, wie Blumen und Sonne und Wind ihn streichelten, ihm zuflüsterten, ihm Mut gaben.

Aber dann steckte man ihn in Paris im Hotel de Clendom in die zierliche Livree, und nichts blieb ihm von Kraft und Lust. Er hat die Damen zu bedienen und ein gefälliges Lächeln zur Schau zu tragen.

Er ist gar nicht überrascht, als man dieses Lächeln erwidert. Man: das sind die großen Damen und die großen Kokotten, die den Fünf-Uhr-Tee des Hotels besuchen. Er gefällt ihnen.

Die schlanke Sängerin mit der hohen Frisur und den schmalen Lippen, die mit zwei Fingern – stets in gleicher Bewegung jedesmal – ihm hinter dem Ohr sanft herunterstreicht, hat ihn »Labelle« getauft.

Irgendeine machte den Anfang: verführte ihn. – Dann wandert er von einem Arm in den anderen. Kein Mann ist auf ihn eifersüchtig: ein Spielzeug der großen Damen, gekauft, benutzt, entlassen. – – –

Labelle lehnt sich schwer an die Marmorplatte der Damengarderobe: er fühlt sich müde und schmutzig.

Als die letzten Damen gegangen sind, schleicht er sich die schmale Dienerschaftstreppe hinauf. Im zweiten Stock verstellt ihm Jeannette, das Zimmermädchen, den Weg. Sie legt die Hände um seinen Kopf und küßt ihn. Er wehrt ab. Sie drängt ihn. Hart legt er die Zähne aufeinander, daß die Backenknochen hervortreten: er weiß, das gibt seinen klassisch weichen Zügen einen energischen Ausdruck: »Ich will nicht, es macht mir keinen Spaß.«

Jeannette schaut ihn groß an: »Keinen Spaß? Bei mir keinen Spaß?! Und bei der Baronin heute und gestern bei Mme. Dériaux und vorgestern – – –«

»Dafür werde ich bezahlt.«

Er weiß nicht, was er angerichtet hat; Jeannette geht; höhnisch, hinterlistig lächelnd.

Abends, beim gemeinsamen Essen des Personals, rückt alles von ihm ab; der Zimmerkellner Pierre sagt's ihm ins Gesicht: »Alphonse!« – Er steht auf und geht zum Direktor, bittet um seine Entlassung. Man gewährt sie ungern; man weiß, was Labelle für das Hotel de Clendom bedeutet. Besser als die große Tradition des Hotels, Inserate und Plakate war die Reklame des Boudoirgeflüsters gewesen. – – –

Als Fred das Hotel de Clendom verläßt, ist Labelle tot.

Ballastfrei bekommt er eine neue Stelle: Concierge in einem Mädchenpensionat in Genf. Das heißt: Concierge war mehr der Ehrentitel; er war auch Hausbursche und Gärtner.

Das einzige männliche Wesen zwischen zwei Dutzend Frauen und Mädchen. – Die deutsche Lehrerin begrub sofort alle Hoffnungen: er hatte eine abweisende Höflichkeit, die keine Erwartungen zuließ.

Mit den Mädchen kam er selten zusammen; wenn er sie sprach, war er zuvorkommend und liebenswürdig; sie hatten ihn alle gern. – –

Marguerite erzählte Ellen nachts im Bett, sie wolle sparen, um ihm zu Weihnachten etwas Hübsches zu schenken.

Ellen erzählte es unter dem Siegel der Verschwiegenheit weiter; alle sparten für ihn. –

Indes putzte er Abend für Abend die Stiefelchen aus weichem, zartem Leder, die Schuhchen aus glattem, heißem Lack. Er liebte sie, streichelte, küßte sie.

Er schwärmte: saß nachts am offenen Fenster und träumte ins Dunkel. In sein Herz schnitzte er Namen und Monogramme. Die ruhige Schönheit dieser Mädchen war das Höchste für ihn. Die Bewunderung für ihre unbewußten Gesten und Bewegungen, für ihre harmlose Lust bedeutete ihm mehr als die rohen leiblichen Liebenswürdigkeiten der Pariser großen Damen.

Niemand wußte, was in ihm vorging; morgens schlich er, wenn die Mädchen beim Unterricht waren, in die Zimmer, öffnete die Waschkommoden und glitt mit liebenden Händen über die zarte Wäsche. Er glaubte, daß seine Gefühle unerwidert seien und war glücklich in seiner Hoffnungslosigkeit. –

Dann kam Weihnacht; Mme. Grobolon betrachtete mißmutig den Riesengabentisch des Concierge. Als sie ihn aber davor stehen sah, erst baß erstaunt, dann fassungslos, kaum fähig, Rührung zu verbergen, da schwand ihr Mißmut: sie beschloß, durch fünf Franken Extragratifikation an Neujahr das Unrecht wieder gutzumachen, das sie ihm innerlich angetan. –

Seit diesem Weihnachtstage bestand eine zarte Beziehung zwischen dem kleinen Concierge und den Mädchen: eine Liebschaft, die nicht in Äußerlichkeiten zum Ausdruck kam, die sich in Gedanken erschöpfte und in Gefühlen, die Träume blieben.

Sie mieden sich; wenn die Mädchen im Garten gingen, verschwand der Concierge; dann stand er am Kellerfenster und sah hinaus. Wenn sie nahe waren, sah er nur ihre Füßchen und die zarten Knöchel; in ihrer vollen Größe sah er sie nur weit hinten an der Mauer, wenn ihre sanften Bewegungen sich von dem harten Gestein abhoben.

Marguerite schrieb glühende Briefe an ihn – in ihr Tagebuch, Briefe einer verzehrenden Sehnsucht. – Mme. Grobolon fand eines Tages das Buch: sie las die Briefe und entließ Fred auf der Stelle. Sie hatte keinen Glauben an die Reinheit der Gefühle.

Fred ging auf sein Zimmer und packte seine Sachen in stumpfer Ruhe. Er fühlte sich verkannt und doch Sieger. Was dumpf in ihm geruht in der Lauheit der letzten Jahre, jetzt glutete es wieder auf. Er wollte wieder nach Frankreich; dort war Krieg. Die Backenknochen strafften sich unter dem Druck der Zähne: er wollte in den Kampf ziehen, Held werden, ein großer Feldherr. Feinde und Tod waren Dinge, für die in seinem Empfinden kein Raum war.

Als er die Straße hinunterging, preßten siebzehn Nasen sich an die Fenster, siebzehn Augenpaare schauten ihm nach: die Augen aller Mädchen, bis auf Marguerite; sie hatte sich in ihrem Zimmer, das auf die andere Seite hinausging, eingeschlossen.

Siebzehn Mädchen schauten ihm nach, wie er aufrecht-schlank, mühelos die schwere Handtasche tragend, gegen die Sonne ging. Laut pfiff er den stolzen Marsch seines Vaterlandes: Sambre et Meuse.

Als er nur noch wie ein Punkt auf der schnurgeraden weißen Landstraße dunkelte, trat Marguerite in das Zimmer. Sie trug ein dunkelblaues Kleid; leichenblaß, unbewegt stand sie vor Ellen, die inbrünstig ihre Hände drückte: »Ich bin Mutter geworden: ich habe einen Gedanken geboren.«


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