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Eiserne Grenzen

Von Friedrich Wallisch

Dort über die Straße kommt sie. Die Männer sehen ihr nach und denken: »Ein schönes Weib! Diese eine Nacht nur sollte sie bei mir sein, und ich hätte eine Erinnerung fürs Leben!« Die Kutscher lenken ihre Wagen beiseite und denken: »Die darf nicht unter meine Räder kommen. Erstens würde ich bestraft werden, und zweitens wäre es schade um dieses prächtige Frauenzimmer.« Sie hebt ihren Rock nur leicht und eilt über den unreinen Fahrweg. Die Mittelschüler, die eben aus dem Schulhause drängen, sehen ihre zarten Füße und die lichten Seidenstrümpfe. Und sie flüstern einander zu: »Ich möchte wissen, wie weit ihre Strümpfe nach oben reichen.«

Nun ist sie bei ihm. »Vera, endlich, endlich! Ich wartete so lange!«

»Ich bin pünktlich. – Pünktlich wie immer.«

»Komm, gehen wir!«

»Nur einen Augenblick, Hanns. Ich will mir die Korallen hier ansehen. In diesem Laden sind die schönsten Korallen, die ich je gesehen habe.«

»Seit wann findest du Gefallen daran? Du hast nie Interesse an Korallen gehabt.«

»Nein, Hanns. Aber diese hier sind besonders schön. Wie wenn noch Meerwasser an ihnen wäre.«

»Wann hast du diese Korallen zum erstenmal gesehen?«

»Heute vor einer Woche, als wir hier vorbeigingen.«

»Seit einer Woche liebst du Korallen, Vera, und ich erfahre es erst heute!«

»Ganz gleichgültig sind sie mir! Ich finde sie hübsch und nichts weiter.«

»Vor einer Woche! Und eine Woche lang trägst du das Bild dieser roten, seltsamen Dinge mit dir, trägst es neben mir her und enthüllst es mir nicht?« Er sah sich wieder vor einer Pforte, deren Schlüssel ins Meer versunken schien. »Da neben mir«, dachte er, »geht meine Geliebte, ganz nahe, ich berühre sie, ich fühle sie. Und sie ist doch unendlich weit von mir. Eine tiefe Unendlichkeit klafft zwischen uns. Woran denkt sie jetzt. An ein Spielzeug ihrer Kindertage, das ihr klar und deutlich vor Augen steht, und das mir doch immer fremd bleiben wird, – und wenn sie mir's noch so genau zu schildern versuchte? Oder denkt sie an jenen Mann, der sie im Vorbeigehen berührte, ehe sie die Straße überquerte? Wenn sie mir diesen kleinen, unwichtigen, blassen Gedanken mitteilen wollte, hätte sie ihn vielleicht vergessen, ehe sie den Mund öffnen könnte. Sie ist ein fremder Mensch. Was kenne ich von ihr? Die langsamen, trägen Worte der Sprache, die unwahr sind, sobald sie vernehmlich werden? Der Geist tanzt wie ein huschendes Irrlicht über die Weiten, die ihm die Sinne beleuchten, und wie ein ekliger Wurm kriecht die Sprache ihm nach. Von hundert Zufällen hängt es ab, ob der Wurm dem Irrlicht zu nahen vermag.«

»Ich kann dir doch nicht jede Kleinigkeit sagen, Hanns. Das wäre doch langweilig und dumm. Da müßte ich ohne Ende reden und immer wieder reden. Es gibt so viel wichtige, große, schöne Dinge ...«

»Ja, Kind, du hast recht.« Und das Verlangen nach Genuß drängte die Sehnsucht nach innerstem Besitz beiseite.

Sie traten in das Zimmer, das nur von einem zuckenden Kaminfeuer erhellt war. Der Widerschein des Lichtes tanzte über die Züge des Mädchens. Bald bleich, bald rot schienen die Wangen, und in den stillen Augen flackerte die hüpfende Hölle der Flammen.

»Genuß ist ein Zusammenstrahlen zweier Sonnen, die in unendlichen Fernen voneinander ihre Kreise ziehen. – Wo ist mein Besitz, Vera, wo? Dieser warme, zarte Körper, den mir ein Zufall zeigte, und den ich ebensogut nie hätte sehen können? Oder die Gedanken, die du mir gnadenweise darreichst, wenn es dir beliebt? Gefesselt stehe ich vor ihnen und sehe ihre Schatten, wie sie sich tummeln und drängen. Und ich kann nicht zu ihnen. Dann tritt einer hervor, lächelt mir Gnade, verschwindet wieder und eilt davon. Was ist mein Besitz? Dein Körper, in dem sich die unreinen Augen eines jeden Mannes baden, der dir begegnet? Wie sie an dir tasten, dich umarmen mit ihren scheelen Wünschen, wie sie dich in den Kot ihrer Straße zerren! Was gehört mir? Bin ich nicht ein Bettler in meinem Besitz?«

Die rötlichen Bilder der Flammen hüpften in zitternden Kreisen über die Decke des Zimmers, über die Wände, verloren sich, haschten einander, verbargen sich und glitten dann tänzelnd über Vera hinweg.

»Sie muß ganz mein werden«, dachte er weiter. »Du darfst nicht mehr Gedanken haben, die ich nicht kenne, Vera. Die Blicke der fremden Männer dürfen dich nicht mehr besudeln. – Alles ist mir fremd. Heute lebt dein Körper dir und mir. Wem soll er später leben? Dir und wem? Treiben deine Gedanken schon heimlichen Schacher mit ihm? Mein schwacher Wille prallt an der eisernen Grenze ab, die um dich steht. Weit, ganz weit von mir sehe ich dich. Ich küsse deinen Mund: Es ist ein fernes Grüßen zweier Wolken, die eine im Osten, die andere im Westen. Ich berühre deine Haare: Ein Firmament wölbt sich über die Erde. Du! Du! Wo bist du? Wo ist das Ich, dessen Widerschein im Irdischen ich liebe, so überirdisch liebe, als meine Erdensinne es vermögen? Wäre ich als Zwillingsschwester mit dir zur Welt gekommen, als Mädchen, das dein Empfinden teilen könnte vom ersten Blick der Augen an, dann ahnte ich vielleicht, wie du bist. Aber ich bin ja so fern von dir! Ein Mann, ein anderartiges Wesen, das anders lebt als du. – Rot! Siehst du dieses Feuer rot? Ja, du nennst die Farbe rot. Aber ist die Farbe, die du so nennst, dasselbe, was ich empfinde? Vielleicht empfinden deine Augen die Kaminglut als das, was ich grün nenne. Oder anders. Vielleicht als eine Farbe, die mir unbekannt ist. Sag' mir, wie empfindest du rot? Kannst du mir's sagen? Nein. Siehst du, wie fern, wie unerreichbar fern du mir bist? In eine unendliche Ferne schwankt meine Liebe ... Ja, jetzt halte ich dich in meinen Armen. Zwischen meiner Brust und meinem Arm ruhst du und in dir die Unendlichkeit, an deren Pforte ich verblute. In diesen kleinen Raum, den mein Arm umspannt, ragt die höhnende Ewigkeit ...«

Es wird dunkel. Die Flammen im Kamin sind immer kleiner geworden und plötzlich ganz verschwunden. Eine letzte Spitze züngelt noch auf. Dann sinkt auch sie zurück. Und jetzt huscht ein blauer Schein über die Glut. Er huscht und tänzelt wie das Lachen eines, der aus Trotz zu sterben geht.

Vera schreit auf. »Hanns! Was ist mit dir? Was ist mit deinen Augen? Schau nicht so starr auf mich!«

»Siehst du auch etwas Neues an mir, etwas Fremdes, Unerwartetes? Vielleicht bin ich gar nicht der gute Mensch, für den du mich hältst. Vielleicht bin ich ein Dieb, ein Betrüger, vielleicht ein Mörder. Dein Einfluß mag mich für eine Zeit gebessert haben. Und nun bricht die Natur wieder in mir durch. Oder vielleicht habe ich meinem Laster auch bisher immer gefröhnt, aber es vor dir verheimlicht. Vielleicht. Was weißt du denn von mir? Was? Nichts weißt du. Schau her, wie ich morde!« Er faßte sie an der Kehle und würgte sie.

Sie entwand sich ihm leicht. »Nicht solche Scherze machen, Hanns! Ich habe Angst. Es ist so finster hier.«

»Vor mir hast du wohl Angst, nicht vor der Finsternis. So wenig kennst du mich?«

»Nicht vor dir, nicht vor der Finsternis. Ein unbestimmtes, sinnloses Angstgefühl. Hanns, Hanns, hilf mir!« Sie klammerte sich mit ihren kleinen Händen an ihn, und ihr kindlicher Körper zitterte.

»Ganz, ganz mein bist du jetzt, Vera. Niemand soll dich sehen, keine Gedanken sollst du haben, die ich nicht kenne. Alles gehört mir.« Er erdrückte ihr Zittern in der Macht seiner Umarmung.

»Ich gehöre ganz dir«, flüsterte sie.

»Mein Besitz!« lachte es in ihm. »Nur das gehört mir, was meinem Willen ganz untertan ist. Und nur das, was keinem andern gehören kann, nicht einmal sich selbst.« Und vor den Augen tanzte ihm das blaue Flämmchen und malte hell in die Finsternis: »Nur das besitzen wir, was wir vernichten!«

Mit starkem Druck schnürte er ihr die Kehle zu und vernichtete jedes Röcheln und alle Bewegung durch die Stärke seiner Hände.

Und aus der höchsten Wollust des ureigensten Besitzes sank ein schlaffer, toter Mädchenleib herab.

Das Kaminfeuer war völlig erloschen. Zwei zitternde Männerhände tasteten fragend durch das Dunkel.

Von der Straße tönte das Johlen eines Betrunkenen.


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