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Das nackte Weib

Von Anna Julia Wolff

Ein Pfaffe, ein Oberlehrer, ein Arzt, ein Jurist und ein Künstler machten an einem herben Maienmorgen gemeinsam einen Ausflug über Land. Plötzlich legte der Künstler, wie von einer visionären Erscheinung geblendet, die Hände über die Augen. »Seht, Freunde – da – nur wenige Schritte entfernt – ein Weib – ein nacktes Weib!«

Man stürmte vorwärts, man stieß sich hastig beiseite, man riß die Augen groß und weit auf: »Wahrhaftig ein Weib!« »Und gänzlich unbekleidet!« »Wo kommt sie her?« »Wie seltsam, o wie seltsam!« –

Und in der Tat, schön und märchenseltsam war der Anblick, der sich verwirrten Männeraugen bot. Hingebettet in wogende Kornähren lag ein schlafendes Weib. Kein schützendes Gewand verhüllte neidisch die prachtvollen, jungfräulich schwellenden Formen. Die Hände ruhten, friedsam gefaltet und eine volle rote Mohnblüte umklammernd, auf dem knospenden Busen, und ein Hauch göttlicher Reinheit umspielte das süße, junge Antlitz. Kosend wühlte der Wind in den nachtschwarzen Locken und zitternd küßten die goldenen Ähren die weißen, pulsenden Glieder des Mädchens.

Der Pfaffe war mittlerweile ganz nahe an die schlafende Gestalt herangetreten, sein feistes Gesicht wurde immer zorniger und empörter, und mit einer Gebärde tiefgründiger Verachtung zischte er es heraus: »Ha, dieses gottverfluchte, schamlose Gesindel! In gemeiner, widernatürlicher Nacktheit treibt es sich nachts in Feld und Wald umher und scheut sich nicht, ehrsame Christenmenschen durch seine ekelhafte Blöße zu verletzen. Pech und Schwefel über solch Geschöpf, das in seiner geilen Unzucht den heiligen Frieden der Natur entweiht, Pech und Schwefel ...«

»Erlaube mal, lieber Freund,« unterbrach ihn der Mediziner, »hier handelt es sich um eine Sache, die denn doch noch von bedeutenderer Tragweite ist. Da liegt nun dieses leichtsinnige Frauenzimmer völlig unbekleidet bei acht Grad Celsius auf der feuchten Erde, eine Lungenentzündung, oder wenn's gut geht eine Angina ist ihr sicher. Der Puls geht schon ganz unnormal, wartet einmal – siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig ...«

Inzwischen hatte sich der Oberlehrer über das schlummernde Weib gebeugt und ihr mit einer geschickten Bewegung die rote Mohnblüte aus den Händen gewunden. »Merkwürdig, in der Tat sehr merkwürdig«, ließ sich seine quetschende Stimme vernehmen. »Wenn nicht alles trügt, hat man es hier mit einem Exemplar des Papaver rhoeas auch Klatschrose genannt, zu tun, deren Blätter geschlitzt und borstig zu sein pflegen. Da aber diese Blüte glatte, fleischige Blätter besitzt, so ist die Schlußfolgerung nicht zu verwerfen, daß dies gar keine Papaver rhoeas ist, sondern ...«

»Und ich sage, es ist grober Unfug,« unterbrach der nervös umherlaufende Jurist die Rede des Magisters, »ohne Zweifel, ein anderer Paragraph kann gar nicht in Anwendung kommen. Erregung öffentlichen Ärgernisses? Nein! Es ist fünf Uhr Morgens, die Gegend zu dieser Stunde völlig ausgestorben, von öffentlichem Ärgernis kann also keine Rede sein. Vielleicht der Unzuchtparagraph? Ja, zur Unzucht gehören ja wohl eigentlich zwei – bleibt eben einzig und allein ›der grobe Unfug‹, der in Frage käme.« –

Ein wenig abseits von den anderen stand der Künstler. Er sprach kein Wort. Aber seine Augen senkten sich mit einer so tiefen Innigkeit in die weißen Mädchenglieder ein, als wollten sie sich vollsaugen an dem Anblick, für alle Ewigkeit. Dann nahm er in scheuer Andacht Stift und Skizzenbuch zur Hand und zauberte in heiligem Schönheitsdrang wieder, was die Natur so göttlich erschaffen. –


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