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Junge Leiden.

Von Julie Dohmke.

Sie heißt Mathilde und ist ein Engel!« Das war alles, was mein geistreicher Herr Bruder mir über seine verlobte Braut zu schreiben geruhte, und darauf hin sollte ich einen zärtlichen Brief absenden, denn das hatte er, natürlich erst in einer Nachschrift, mit folgenden Worten verlangt: »Ich hoffe, daß Du ihr einen netten Brief schreibst, und nicht in Deiner gewohnten Backfischmanier –« Was in aller Welt sollte ich ihr aber schreiben? – Vater und Mutter, die mir helfen konnten, hatte ich nicht, sie waren schon seit Jahren tot, mein Vormund war griesgrämig und alt, seine Frau gut, aber beständig krank, – ich mußte alles allein mit mir selbst ausmachen.

»Na, warte,« dachte ich – »die Rache ist süß, – habe ich erst einmal einen Bräutigam (der Gedanke gefiel mir), da schreibe ich dem Franz auch nur: »Leberecht heißt er,« (um Himmelswillen nur nicht, aber wenn es doch der »Rechte« wäre?) »und eine Nase hat er.« Aber bei längerem Nachsinnen verging mir aller Scherz und das Rachegelüste schmolz in weiche Wehmut. Mein Bruder war doch der einzige, zu dem ich mich als gehörig betrachtete, und nun sollte ich auch den verlieren an eine andere, völlig Fremde? Alle die liebsten besten Erinnerungen meiner Jugend reihten sich um die Gestalt meines Bruders. Als Kind schon hatte ich zu ihm aufgeblickt und in ihm mein Orakel verehrt. Der Student hat sich wohl etwas weniger um das heraufgeschossene, viel jüngere Schwesterchen gekümmert, aber als er hier im Hause meines Vormunds als Privatdozent wohnte, da war die goldene Zeit meines Backfischlebens gekommen. Ich fand in ihm den geduldigsten Zuhörer für alle meine kindischen Plaudereien. Von allen Ereignissen in und außer dem Hause mußte er notwendig stets in Kenntnis gesetzt werden. Wenn große Wäsche war, in der Küche irgend ein Mißgeschick sich ereignet hatte, alles mußte Bruder Franz erfahren. War ich zu einem Kaffee oder Thee bei meinen Freundinnen gewesen, der Franz mußte alles mit anhören, was wir gegessen, getrunken, geklatscht und gesungen hatten; ich weiß zwar nicht, ob er wirklich viel davon hörte, denn er rauchte dabei seine Zigarre und sah bisweilen garnicht danach aus, als ob er bei meinem Kaffee wäre, aber er ließ mich ungehindert schwatzen, und das that mir schon so gut. Doch nicht immer nur schwatzen, nein, er las mir vor, und da lauschte ich eifrig mit glühenden Wangen und feuchten Augen, wenn die weiche schöne Stimme mich mit den Schätzen unserer Literatur bekannt machte! Dann schöpfte ich auch alle meine politische Weisheit aus diesem Quell und verteidigte häufig die Ansichten meines Bruders, die ich natürlich adoptierte, gegen die Anfechtungen meiner Backfisch-Freundinnen. Und seit er als Professor der Chemie an die Universität T. gerufen worden, da hatte ich ihn so bitter vermißt, und nur der Gedanke an sein Abschiedswort: »Warte nur, Anna, sobald ich eingerichtet bin, da hole ich Dich und Du führst mir die Wirtschaft,« hatte mir die langweilige Zeit bei dem Vormund immer wieder erträglich gemacht.

Und nun? – da hatte er denn diese Mathilde kennen gelernt und jetzt sich sogar mit ihr verlobt! War das recht? Sollten überhaupt Brüder sich verloben und gar heiraten, wenn noch eine unverheiratete Schwester dasitzt? Gewiß nicht! Eigentlich sollte ein neues Gesetz gegeben werden, wonach dies ein- für allemal ausdrücklich verboten würde! Doch was hilft das Klagen? Ich muß doch – nolens volens – den Brief an meine – o wie schwer kommt mir das Wort über die Lippen – Schwägerin schreiben. – Doch als ich das Papier zurechtgelegt und mich endlich zum Schreiben angeschickt hatte, da war wieder ein verräterischer Tropfen aus heißen Augen auf das Blatt gefallen und als ich ihn wegwischen wollte, folgten mehr und mehr, da warf ich denn meinen Kopf auf beide Arme und schluchzte und weinte bitterlich. Ach, Bruder Franz, wohin sind meine schönen Träume von unserm Zusammenleben?

Es klopfte an die Thür – ich fuhr wie schuldbewußt empor. Das Dienstmädchen trat herein. »Ein Brief an Sie, Fräulein, gewiß vom Bruder«, sagte sie schmunzelnd. Ach, mußte auch alles dazu dienen, mein Herz noch tiefer zu verwunden, wußten denn alle darum, wie unentbehrlich zu meinem Glücke er mir war? Ich nahm ihr den Brief ab, ohne sie dabei anzusehen, ich fürchtete mich, dem mitleidigen Blicke ihrer Augen zu begegnen, doch ich fühlte ihn auf meinem verweinten Gesichte ruhen, denn die alte Katharina hatte mich lieb. Großer Gott! Wer hatte mich nun noch lieb in der ganzen weiten, weiten Welt, wenn man mir den einzigen Bruder raubte? O, diese Mathilde, wie haßte ich sie! In dieser bittern Stimmung riß ich den Brief auf und fand allerdings, daß die Alte Recht gehabt hatte, er war von Franz. Darin eingeschlossen lag noch ein zierlich gefaltetes, duftig rosiges Blättchen, welches ich ahnungsvoll zwischen den Fingern hielt, es brannte wie Feuer darin – es war von ihr. Ich legte es rasch bei Seite.

»Erst kommt der Franz«, sagte ich und las seinen lieben guten Brief, der mir aber an jenem Morgen kalt und lieblos vorkam, da mir jedes Wort der Liebe und der Anerkennung über seine Braut, jede Äußerung des Glücks wie eine absichtliche Verhöhnung meines armen, einsamen Selbst erschien. Franz schrieb nur kurz, wie immer, daß die Hochzeit nach getroffener Übereinkunft mit den Schwiegereltern, schon in vierzehn Tagen sein würde, daß er mich dabei zu sehen hoffte, falls ich nicht vorzöge, nach ihrer Rückkehr von der kurzen Hochzeitsreise, ihnen auf länger Gesellschaft zu leisten und verwies mich im übrigen auf Mathildens Brief, den ich nun auch mit glühenden Wangen und einer gewissen Herzenshärtigkeit in die Hand nahm, um ihn zu lesen. Eine elegante, schöne Handschrift, viel schöner als meine eigenen ziemlich steifen Schriftzüge, sah mich gleichsam freundlich grüßend an, doch ich wollte den Gruß nicht verstehen und die Bitterkeit gegen die Schreiberin steigerte sich noch, indem ich las:

»Liebste Anna!

Da uns der Himmel selbst in der Person des besten, edelsten Mannes einander als Schwestern zugewiesen hat, so komme ich Dir auch gleich mit Schwestergruß und Kuß zärtlich und vertrauensvoll entgegen. Wieviel hat mir mein geliebter Franz von Dir erzählt, wie ernst empfinde ich meine Pflicht, Dich ihm zu ersetzen; und wie schwer hast Du mir das gemacht, liebstes Schwesterchen, denn er liebt und ehrt Dich sehr. Du mußt mir aber helfen, ihn so zu verstehen, wie Du es kannst, und in der gegenseitigen Liebe zu ihm da müssen sich auch unsere Herzen ja selbstverständlich finden, selbst wenn es Dir anfangs schwer werden sollte, die Fremde an Deinem Platze zu sehen. Habe nur Vertrauen zu mir, teure Anna, und denke, daß Du den Bruder nicht verloren, sondern eine Schwester noch hinzugewonnen hast. Unser Hochzeitstag ist für den 12. Mai festgesetzt worden, und wie gerne wir Dich dabei hätten, bedarf wohl kaum einer Versicherung. Dennoch meint Franz, es wäre besser, Du sähest uns erst in unserm kleinen Daheim, um dann hoffentlich bei uns zu bleiben als unser geliebtes, durch alte und neue Liebe verzogenes Schwesterchen.

Nimm meinen Gruß so auf, wie ich ihn Dir gebe, mit offenen Herzen, und glaube und vertraue Deiner

Mathilde.«

– Wenn ich jetzt diese Zeilen überlese, wie so ganz anders sehen sie mich an – aber damals, o es war mir, als ob das Samtpfötchen einer schönen Katze über meine heiße Wange streichelte, und doch zu gleicher Zeit die Krallen nach meinem Herzen ausstreckte. Ich warf den Brief auf den Tisch, den des Bruders dazu und hatte nur den trotzigen, finstern Gedanken: »sie wollen mich nicht bei ihrer Hochzeit haben,« – der blieb fest in mir und daran verstockte und verhärtete sich mein Herz. Was für qualvolle Tage und Nächte ich verlebte, ach – wer kann das nachempfinden? Gab es wohl je ein thörichteres Mädchenherz? Aber großer Gott, – ich hatte ja nichts, nichts so lieb als ihn, als meinen einzigen, einzigen Bruder, und alle andere Liebe, die mir entgegengebracht wurde – denn ich hatte ja auch Freunde, liebe gute Freunde – sie erschien mir im Vergleich zu der seinigen so nichtig und unwichtig. Mein Vormund und seine Frau waren sehr gütig gegen mich, viel zu gütig, denn ihr Mitleid mit meinen bleichen Wangen, meinen matten Augen, meiner Appetitlosigkeit, ihr Bedauern über den Grund meiner Leiden, den auch sie nur in der bevorstehenden Heirat des Bruders suchten, diente nur dazu, mich selbst für das unglücklichste Geschöpf auf Gottes weiter Erde zu halten, für eine Dulderin, für eine in ihren heiligsten Empfindungen grausam Gekränkte, und die trübste Weltanschauung trat an die Stelle meines sonst so fröhlichen Naturells. – Ich hatte an Franz geschrieben, auch in steifen Worten seiner Braut gedankt, in Worten, deren steife Kälte so recht den Standpunkt meiner Gefühle für sie bekundete, hatte für die Einladung zur Hochzeit ablehnend gedankt und angedeutet, daß ich jedenfalls nach der Rückkehr des jungen Paares noch einmal meinen Bruder sehen würde. Dies »noch einmal« hatte ich dick unterstrichen, damit er die geheimnisvolle Deutung ahnen sollte. Denn – es stand fest in mir, ich wollte und konnte nicht mehr hier bleiben bei den alten Leuten, denen ich so gar nichts sein konnte, aber auch nicht zum Bruder gehen, um Zeugin eines Glückes zu werden, welches mein thörichtes Herz zerfleischen würde, und – wunderbar – da kam ein Ausweg in Gestalt eines Briefblattes aus Amerika. Die einzige Tochter meines Vormundes war in Philadelphia verheiratet, an einen tüchtigen, braven Mann, Dr. Holm, der als Direktor eines Mädcheninstituts eine sehr geachtete Stellung einnahm. Sie schrieb, daß ihr Mann eine Lehrerin im Deutschen für die jüngeren Classen seines Instituts suche, und bat den Vater, sich doch nach einer passenden Dame umzusehen. Als mein Vormund mir das erzählte, fügte er lächelnd hinzu: »Das wäre ja was für Dich, Anna!« Da sprang ich auf, fiel ihm um den Hals, daß er ganz erstaunt und verlegen über diesen seltenen Gefühlsausbruch da stand, und beschwor ihn, für mich jene Stelle anzunehmen, es sei mein voller Ernst, ich wolle je eher je lieber fort, je weiter, je besser – fort nach Amerika.

»Aber so weit fort, Ännchen, das geht doch nicht an – und was wird der Herr Bruder dazu sagen?« rief die Frau meines Vormunds. Ich aber, durch die Äußerung nur noch mehr in meinem Entschlusse bestärkt, rief mit von Thränen halb erstickter Stimme: »Gerade deshalb – ihm wird's ganz recht sein.« Und damit stürzte ich zur Thür hinaus. Die guten Alten mögen wohl die Köpfe geschüttelt haben.

Danach ging alles seinen Gang, ganz wie ich es gewollt. Dem Bruder hatte ich in kurzen, sehr entschiedenen Worten meine Absicht, als Lehrerin in das Institut des Dr. Holm in Philadelphia einzutreten, angekündigt, darauf auch von ihm einen sehr ernsten Brief zur Antwort erhalten, worin er die Absicht, sich »nützlich« machen zu wollen, die ich in meinem Schreiben stark betont hatte, wohl als sehr lobenswert anerkannte, doch darauf hinwies, daß dies wohl näher noch leichter und besser zu erreichen sein dürfte, und eine Verbannung von der Heimat und dem einzigen Bruder nicht unbedingt notwendig sei. Doch wolle er mir nicht raten, – ich sei ja, wie es ihm schien, so selbständig und sicher, daß er davon absähe, sich mir mit seiner reiferen Erfahrung aufzudrängen. Nur verlange er ganz entschieden, daß ich, ehe ich die große Reise anträte, ihn in T. besuchen müsse, es gäbe doch vieles zu besprechen, was bei einer solchen Trennung fürs Leben notwendig geschehen und brieflich nicht abgemacht werden könnte. Von Mathilden sein Wort.

Herr Gott! – wie fiel mir jedes Wort auf die Seele, Trennung fürs Leben! Ich weinte so viel in dieser Zeit, daß meine Augen immer verschwollen aussahen und als ich einmal die gute Katherine zum Stubenmädchen auf dem Vorsaale sagen hörte: »Ach Gott, unser Fräulein sieht sich gar nicht mehr ähnlich, die wird nicht wieder, die hält's nicht aus! S'ist aber auch nicht halb recht vom Herrn Professor, daß er geheiratet hat!« Da hielt ich mich in der That schon für eine Todeskandidatin und machte heimlich mein Testament, wobei ich doch großmütig meinen treulosen Bruder mit all' meinen Habseligkeiten bedachte.

Längst war die Hochzeit vorüber – es war Mitte Juni, die Rosen blühten und dufteten, die ganze Natur prangte wie ein Brautschmuck, so schön hatte sich meine alte Heimat noch einmal, wie mich dünkte, für die Scheidende geschmückt. Von Dr. Holm aus Philadelphia hatte ich einen herzlichen Brief bekommen mit der Bitte, ich möchte wo möglich Ende Juni abreisen. Das hatte ich dem Franz gemeldet und ihm meinen Besuch angekündigt. »Ich reise aber nur durch, und werde Dich durchaus nicht lange belästigen,« diktierte mir der böse Genius, der mich beherrschte, in die Feder Darauf kam die rasche Antwort, kurz und befehlend: »Du mußt einige Tage bei mir bleiben, es soll Dich niemand stören. Mathilde reist zu ihren Eltern«.

Sonderbar – das war mir auch nicht recht, denn gerade ihr hatte ich entgegentreten wollen mit meinem bleichen, verweinten Gesichte, ihr, der Zerstörerin meines Glückes, als ein schweigender Vorwurf; hatte mir vorgenommen in meines Herzens Härtigkeit, allen ihren Anordnungen und Ansichten eine starre Opposition entgegenzustellen, war ja überhaupt auf dem besten Wege, mich selbst und alles, alles zu vertieren; diese Notiz aber brachte mich doch etwas aus der Fassung. »Sie haßt mich also!« dachte ich nun wieder, und fühlte mich dadurch aufs neue gekränkt. Hatte ich denn aber auch nur einen Finger gerührt, um ihre Liebe zu gewinnen? Ein Gefühl von Beschämung zog durch meinen Trotzkopf, aber nur flüchtig – es haftete nicht lange darin.

Der Tag meiner Abreise kam heran. Ich hatte mir das Scheiden von dem Vormund und seiner Frau so leicht gedacht, und doch, wie schwer wurde es mir – ich hing doch an allem, was mich umgab, mit ganzem Herzen, und sah erst jetzt recht, wie lieb man mich hatte, und ich sollte nun fort – wollte mich losreißen nach eigenem Willen, eine Trennung fürs Leben! Hatte er nicht so geschrieben? Wie ich nach T. gekommen bin, ich weiß es nicht, meine Augen konnten gar nicht mehr weinen, soviel hatten sie schon darin geleistet, aber es brach doch ein verhaltener Strom daraus hervor, als ich das liebe, ernste Gesicht meines Bruders erblickte, der auf dem Bahnhofe mich erwartete. »Franz« schrie ich, und warf mich fast aus dem Wagen in seine Arme. »Ruhig, ruhig, Anna«, sagte er, indem er meinen Kopf zwischen seine beiden Hände nahm und mich auf die Stirne küßte. »Wie schlecht du aussiehst, armes Kind« sagte er dabei mitleidig. Dies Mitleid wühlte wieder alles vermeintlich erlittene Unrecht in mir auf. »Ist das ein Wunder?« rief ich vorwurfsvoll. Er aber nahm mich bei der Hand, hob mich in den Wagen, besorgte mein Gepäck und schweigend erreichten wir sein Haus. Es war Abend geworden. Das Haus lag im Garten; Weinlaub und Rosen umrankten es. Wir traten hinein. Die Fenster nach dem Garten zu waren geöffnet, Rosenduft durchwehte die reizend eingerichteten Zimmer. Ein nettes Dienst-Mädchen brachte mich zuerst in mein Stübchen. Wie lieblich, blütenweiß und duftig war hier alles! So echt mädchenhaft! Rosen auf der Tapete, Rosen in der Nase, auf dem Tische eine Schale voll duftender Erdbeeren, und darauf ein rosenfarbenes Zettelchen mit derselben seinen Handschrift, die ich einmal neidisch bewundert hatte, beschrieben: »Willkommen bei den Geschwistern!«

Ich sank in den weichen Lehnstuhl und bedeckte mein Gesicht mit den Händen. Warum war Mathilde vor mir entflohen! Das Herz war mir weicher geworden in dieser Umgebung; es wehte mich so eigentümlich heimatlich an, – es war mir, als ob das längst gestorbene, geliebte Mütterchen hier segnend gewaltet, ihr guter Geist in einer anderen wieder aufgelebt sei. – Jetzt hätte Mathilde eintreten, jetzt mich an ihr Herz ziehen sollen – jetzt war der rechte Augenblick gekommen, wie ich meinte. Statt dessen aber klopfte die Magd und bat, wenn ich ausgeruht habe, in die Studierstube des Herrn Professors zu kommen, wo er mich erwarte. Ich glättete mein Haar, ich wusch meine verweinten Augen und hatte wieder die Lippen in starrem Trotz fest aufeinander gepreßt, als ich in sein Arbeitszimmer trat. Wie war auch dieser Raum so poetisch schön – wie zeigte sich überall neben der strengen Wissenschaft das holde Walten einer kunstsinnigen Natur, die zarte Hand eines liebenden Weibes. Die Bilder an den Wänden waren geschmackvoll geordnet, die schön gebundenen Bücher standen in sauber glänzenden Reihen; auf dem großen mit Büchern und Heften bedeckten Schreibtische prangten frische Rosen im Glase, duftende Rosen glühten wieder auf dem kleinen Seitentische vor dem Ecksofa, – es war doch nie so schön bei uns gewesen damals, als ich noch jedes Buch höchst eigenhändig ausgeklopft hatte, ich mußte es mir zugestehen, – doch mit diesem Zugeständnis wachte der böse Geist des Neides wieder in mir auf.

»Armes Kind«, sagte mein Bruder wieder, indem er mir mit ausgestreckten Händen entgegenging. »Du hast schwer gelitten und tapfer gekämpft, aber nicht wahr, nun ist's vorüber und du bist ausgesöhnt und bleibst bei uns?« Dabei hatte er mich sanft an sich gezogen und sah mir liebevoll ins Gesicht. Ich aber riß mich los. Vor leidenschaftlichem Jammer sprang mir fast das Herz. Da kämpften Reue und Stolz, Zorn und Trennungsschmerz und heiße, heiße Liebe miteinander, und der Zorn war der mächtigste diesmal und siegte. Und ich rief: »Du beklagst mich? Du? Bist du nicht schuld daran, Du und jene Mathilde, die mir zum Trotz aus jeder Ecke, aus jedem Gegenstande, den ich sehe, hervorzublicken scheint? O, wie ich sie hasse, die dich mir geraubt! Wie? – und du bemitleidest mich? Hast du je daran gedacht, ehe du dich mit ihr verlobtest, daß du damit das Herz der Schwester brechen –« Hier versagte mir die Stimme, ich sank in einen Stuhl und brach in krampfhaftes Weinen aus. Hatte ich nun gedacht, mein Bruder würde mit weicher Stimme und durch zärtliche Liebkosungen mich zu besänftigen, zu trösten versuchen, – so irrte ich mich. Als ich, durch sein Schweigen überrascht, durch meine Thränen hindurch zu ihm aufblickte, sah ich das liebe, schöne Gesicht so finster, so kalt auf mich gerichtet, daß ich schon einlenken und etwas Versöhnliches sagen wollte, doch ließ er mich nicht zu Worte kommen. Mit einer bei ihm ungewohnten Lebhaftigkeit rief er: »Genug – mit dir ist nicht zu rechten. Du bist verrückt geworden. Weder Verstand, noch Liebe ist bei dir zu finden; denn liebtest du mich wirklich, so müßtest du diejenige lieben, die mein Leben zum Leben erst gemacht hat; aber den schnödesten Egoismus, der nur einzig und allein an sich denkt, den nennst Du Liebe? Pfui, Kind! – Daß ich mich Deiner je schämen sollte, das hätte ich nicht gedacht. Und wo bleibt denn Dein Verstand? Und du willst hingehen und Mädchen erziehen helfen – selbst unerzogen und ungezogen – ja es muß heraus! Geh, ich halte Dich nicht, – wir haben Dir liebevoll eine Bruder- und Schwesterhand geboten, Dich schonend und zärtlich behandelt, im festen Vertrauen auf den edlen Kern Deiner Natur, der sich durchringen würde, – aber vergebens. – Und nun ist's aus zwischen mir und Dir – in meinen Augen bist und bleibst Du nichts weiter, Anna, als – eine Gans.« – Und nach diesen Worten ging er hinaus, warf heftig die Thüre zu und ich blieb allein.

Was war denn aber das? Es war ja wie erlösend über mich gekommen, als der Strom seiner heftigen Worte über mein schuldiges Haupt sich ergoß! Immer tiefer hatte sich mein Kopf gesenkt, wie eine Blume unter dem Gewitterregen; bei dem Donnerschlag aber, der so recht eigentlich bei mir einschlug, bei der »Gans«, da hatte er sich so rasch wieder aufgerichtet, als wie in der Natur sich alles neu erquickt erhebt, wenn der Gewittersturm vorübergebraust ist. O, diese göttliche Grobheit, sie gab mich mir selbst wieder. Wie gesund war diese bittere Wahrheit meiner Albernheit, meiner krankhaften Sentimentalität geworden! Wie reinigend hatte dies Gewitter in meiner umnachteten Seele gewirkt! Denn wie einen Sonnenstrahl durch den Nebel meiner unsinnigen Verblendung sah ich die Liebe wieder hell hindurch scheinen, die Liebe, die auf die sonst milden Lippen so harte Worte gelegt! Denn liebte er mich nicht – würde es ihn so kümmern, was ich thörichtes Ding thun und lassen wollte? Ach, wie that mir der Gedanke so wohl, wie legte er sich, wie Balsam auf dies wunde Herz! Und wie schön hatte er ausgesehen, als er so gezankt! Wie blitzten die blauen Augen so zornig, die sonst nur so mild auf das alberne Schwesterchen geblickt hatten! Ach! und nun gar – wie er grob wurde! Ich mußte fast lachen, als ich daran dachte. Da war ja wirklich wieder einmal eine Gans zur Retterin einer einfältig behüteten Festung geworden! Aber – daß ich es soweit hatte kommen lassen, war das nicht schmachvoll?

Ich blieb sitzen, die Hände vor mein heißes Gesicht gedrückt und schämte mich so recht gründlich und ordentlich. Da kam mir erst alles wieder in den Sinn, wie ich von Anfang an mich so ungeberdig gezeigt, wie ich mich selbst in ein Gefühl hineingetrotzt hatte, welches weder mein selbst, noch meines edlen Bruders würdig war.

»Mein Gott; was wird Mathilde von mir denken!« rief ich plötzlich ganz laut aus, denn mein ganzes Benehmen ihr gegenüber fiel mir plötzlich wie Blei auf die Seele.

»Was sie von Dir denkt, meine Herzensschwester?« flüsterte hier eine weiche Stimme dicht an meinem Ohre, »das will sie Dir nur so sagen,« und sanfte Lippen küßten meine heiße Wange. –

Als ich aus einer Art von Betäubung erwachte, lag ich in Mathildens Armen; fest hielt ich ihren Hals umklammert und immer und immer wieder küßte ich unter heißen Thränen das liebe, milde Gesicht, die zarten Hände, die mich so tröstend streichelten. Und mein Mund floß über in bitterer Selbstanklage, so bitter, so scharf, daß die feinen Finger sich oft beschwichtigend auf meine Lippen legten; und als ich endlich erschöpft innehielt und mit meiner ganzen Seele in Augen und Stimme bat! »Ach, Mathilde, vergieb mir und habe mich lieb!« Da perlte es wie Thau auch über ihre blühenden Wangen, und mich zärtlich an sich drückend rief sie: »Franz, Franz, komm geschwind herein, wir haben unser Schwesterchen wieder!«

Da kam er denn auch herein, mein alter, lieber Junge, wie ich ihn immer noch nennen darf, und in den großen schönen Augen standen helle Thränen. »So ist's recht, so habe ich es gewünscht«, rief er, als er uns beide in inniger Umarmung fand –

»Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In Eurem Bunde der Dritte.«

Und Schwester- und Bruderarme umschlossen fest die noch kurz vorher so trostlose Verlassene.

»Was wird nun aber mit der Reise nach Amerika?« fragte Franz, nachdem die erste Rührung überwunden, mit schelmischen Lächeln. »Wir lassen dich nicht fort, meine Frau braucht Dich zu nötig und – im Vertrauen gesagt – so schön kann Mathilde doch die Handschuhknöpfchen nicht annähen, wie Du – ich muß Dich dafür engagieren, mit glänzendem Gehalt natürlich!«

Ich blickte verlegen zu Boden. »Aber es ist ja alles abgemacht, Dr. Holm erwartet mich!«

»Abgemacht? Glaubst Du wirklich, Kleine, daß man den älteren Bruder so ganz ungefragt lassen würde, wenn es sich um so Wichtiges handelte? Holm erwartet durch mich erst die definitive Entscheidung, hat auch schon eine andere im Vorschlag, falls Du es vorziehen solltest, hier zu bleiben, denn auch ihm ist Dein Entschluß zu rasch gefaßt erschienen. Ist es Dir recht, Schwesterchen, so machen wir die Sache wieder gut und Du ziehst nicht übers Meer.«

Was sollte ich sagen? Überstimmt, überwältigt und überglücklich gab ich alles in seine Hände; doch als mich Mathilde endlich zärtlich besorgt in meine Stube führen wollte, damit ich zur Ruhe käme, da wandte ich mich noch einmal zu Bruder Franz um, streckte ihm die Hand hin und schluchzte: »Ich danke Dir für die rettende Gans!«

Sie lachten aber nicht darüber, obgleich ich selbst unter Thränen versuchte, sie küßten mich Beide mit nassen Augen. –

»Wie will ich Dich pflegen, mein Herz, daß Du bald Deine roten Bäckchen und frohen Augen wieder haben sollst!« sagte Mathilde, und ich ließ alles mit mir geschehen, wie sie es wollte, ließ mich behandeln wie ein Kind, war weich wie Wachs in ihren Händen. Und wie herzig war das Gesicht, in welches ich wie verzückt immer wieder hineinschauen mußte. Diese lieben braunen Augen, dieser frische Mund, diese schöne breite Stirne, die schlanke Gestalt, der melodische Klang der Stimme! »Ja, Dich mußte er lieben,« sagte ich so recht aus voller Seele heraus, als sie mir das Mützchen unter dem Kinn festband und die Decken dicht um mich hüllte, und zog dankbar ihre Hand an meine Lippen. Matt und müde, wie eine aus schwerer Krankheit Erstandene, lag ich in dem weichen Bette, und war ich nicht auch in Wahrheit genesen? Ach! und wie wohl that mir dies holde Umsorgen! »O, Segen über dies Haus, Segen über die geliebten Geschwister!« So schlief ich ein und so segnete ich auch mein Erwachen.

So war denn das heimatlose Kind in der Heimat, das trotzige, verzagte Herz wieder ruhig, froh und dankbar geworden, und gar herrlich war das Leben, welches nun für uns drei begann. Freilich schien es, als ob alle zurückgehaltene Liebe für Mathilde jetzt mit der Gewalt eines Bergstromes aus einem übervollen Herzen entströmen wollte, so leidenschaftlich hing ich an den geliebten braunen Augen, so eifersüchtig war ich auf jeden ihrer Blicke. Ja, Bruder Franz sagte bisweilen im Scherz, er fühle sich ganz zurückgesetzt und würde nun anfangen, eifersüchtig zu werden. Aber es war mir, als hätte ich der liebenswürdigen Frau es täglich wieder von neuem abzubitten, daß ich nicht von Anfang an mich ihr so ganz und voll hingegeben hatte.

Und wie lohnte sie es mir! Wie Mutter und Schwester zugleich, so zärtlich, klug und verständig wußte sie mich zu nehmen, bemühte sie sich, mich zu verstehen, und das Jahr unter ihrer Leitung brachte gar manchen guten Keim in mir zur Entwicklung, der unbeachtet liegen geblieben wäre, hätten ihre liebevollen Augen ihn nicht erspäht. Aber nur ein kurzes Jahr war es mir vergönnt, im Hause der geliebten Geschwister zu leben, da kam alles so ganz anders, als wir gedacht. Die weite Ferne, die ich in frevelhaftem Trotz mir damals unüberlegt als Zuflucht gewählt hatte, sollte sich doch noch zwischen mich und die jetzt doppelt geliebte Heimat legen. Die Liebe sollte mich Hingeleiten, und mir jene Liebe, von der ich mich schmerzlich losreißen mußte, am eigenen Herde ersetzen. Ein Freund und Schüler meines Bruders, ein junger Chemiker, der in Boston eine chemische Fabrik eingerichtet hatte, war zum Besuch in die Heimat gekommen, und kam viel in unser Haus. Und nicht lange währte es, so war er mir lieb und teuer geworden, so daß mir vor dem Abschied bangte; und als vom lieben Munde, aus dunklen Augen die Frage an mich herantrat: ob ich ihm folgen wolle? da sagte ich ein freudiges »Ja« und folgte dem Zuge meines Herzens.

Meine »junge Leiden« sind nun zu Ende; denn mag nun kommen, was da will, ich habe eine feste Stütze zur Seite, die mir tragen helfen wird so Freud als Leid, und jene inneren Kämpfe, die ich so thörichterweise mir selbst geschaffen, sollen nicht umsonst gewesen sein. Bruder Franz und Schwester Mathilde sollen sich ihrer Geretteten nie wieder zu schämen haben.

J. D.

finis

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