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Mutter und Tochter.

Novelle von Elise Polko.

Mit deinen blauen Augen
Schaust du mich lieblich an;
Da wird mir so träumend zu Sinne –

 

Er hätte sich 's nicht träumen lassen, der arme Lehrerssohn, der bescheidene Privat-Dozent der Universität Tübingen, daß ein ganz entfernter Verwandter, um den er sich nur zu Neujahr in der Form eines wohlstilisierten Glückwunsches zu kümmern pflegte, ihn zum Universalerben eines kleinen Vermögens und eines kleinen Landbesitzes machen würde – und das gerade zu einer Zeit, wo dieser Glücksfall für ihn einen doppelten Wert hatte: unmittelbar nach seiner Verlobung. Verlobt war er mit dem lieblichsten Geschöpf, das sich denken ließ, und der Gedanke, mit einer jungen Frau in eine ländliche Einsamkeit sich zurückziehen, dort seiner Lieblingsbeschäftigung, den geschichtlichen Studien, leben und schriftstellern zu dürfen, hatte ihn ganz trunken gemacht.

Es war nur ein grünumranktes bescheidenes Versteck, in Gestalt eines kleinen Landhauses, in einem großen, verwilderten Garten. Das Dorf lag eine Viertelstunde weiter am Rande eines Tannenwäldchens, und die nächste Landschaft war mit Hilfe eines rasselnden, schüttelnden Postwagens erst in zwei Stunden zu erreichen, – aber dem jungen Ehepaar, das dort einzog, erschien es als ein Paradies.

Die Geschichte seiner jungen Liebe hatte so ernst begonnen. Man hatte den jungen Privat-Dozenten, den früheren wohlempfohlenen Hauslehrer eines angesehenen Hauses, ersucht, für die Töchter einiger Familien aus den ersten Kreisen der Gesellschaft einen Privat-Cursus für Geschichte und Literatur einzurichten – was denn auch geschah, nach kurzem Kampfe mit einer angeborenen Schüchternheit, Damen gegenüber. Da faßte die jüngste der jungen Damen, ein kaum erblühtes sechzehnjähriges Mädchen, ein tieferes Interesse für ihren geistvollen Lehrer, als für den Gegenstand seines Vortrages. Zwischen allerlei Zahlen, die Lulu immer und immer verwechselte, und Aufzeichnungen, die großer Korrekturen bedurften, erwuchsen ganz im Stillen die Blumen einer reinen Liebe, scheu, rote jede echte Mädchenliebe, zwischen den Blättern sich verbergend.

Der jugendliche Gelehrte hätte noch Jahre lang Vortrag halten können, ohne daß er dies Veilchen entdeckt; es konnte niemand schüchterner und obendrein kurzsichtiger sein, als eben er. Die Vortragsstunden wurden stets im Hause von Lulus Vater, des reichen Banquiers Westen, gehalten. Dessen Schwester, die verwitwete Generalin Laura, saß mit ihrer Häkelarbeit stets kerzengerade und unnahbar würdevoll neben dem Platze des Professors und überflog mit Falkenaugen die jugendliche Schar, die da zuhörte ober auch nicht zuhörte, wie es eben kam. Es gab nicht Anmutigeres als diese kleine Gruppe, die frischen Rosengesichter und die fröhlichen dunkeln und hellen Augen, die sich auf den Vortragenden richteten. Der aber begegnete nie einem solchen sonnigen Blick.

War er eingetreten, so verbeugte er sich mit tadellosem Anstand vor seinen Zuhörerinnen, denen er am ersten Vortragsmorgen vorgestellt worden war, nahm in dem hochlehnigen Sessel Platz, beugte sich über seine Hefte und begann mit seiner sanften Stimme den Vortrag. Wenn er die braunen Augen mit dem flimmernden Blick der Kurzsichtigen erhob, so geschah es nur, um ihn auf eine bestimmte Stelle der rotseidenen Fenstervorhänge zu richten oder auf den Arm eines Wandleuchters, der sich ihm an der entgegengesetzten Wand entgegen streckte. Wie die jungen Hörerinnen aussahen, wußte er nicht.

Nur etwas hatte er bemerkt: gleich an der Ecke rechter Hand tauchte stets, wie Sonnenschein, ein goldhaariges Köpfchen auf – da mußte also eine besonders helle Blondine sitzen. Das Gesicht, das zu diesem Haar gehörte, kannte er freilich nicht; aber er hatte von jeher eine Vorliebe für goldig schimmerndes Haar, wie seine Mutter und sein verstorbenes Schwesterchen es gehabt. Es hätte ihm etwas gefehlt, vielleicht würde es ihn geradezu gestört haben, wenn das helle Köpfchen an der Ecke einmal nicht an dem bestimmten Platze aufgetaucht wäre.

Allmonatlich wurden ihm die Hefte seiner Zuhörerinnen zur Durchsicht zugesandt, zum Beweise, daß die jungen Damen den Vorträgen mit Aufmerksamkeit und Nutzen gefolgt waren. Das aber war keine geringe Arbeit für den Herrn Privat-Dozenten, alle diese meist zierlich geschriebenen Seiten durchzulesen, hier und da zu korrigieren, verschiedene Frage- und Ausrufungs-Zeichen einzufügen und endlich eine kurzgefaßte Kritik darunter zu setzen. Die meiste Mühe machte ihm immer ein Heft, das den Namen Lulu trug, obwohl diese Aufzeichnungen die kürzesten waren. Die Verfasserin befleißigte sich der knappsten Umrisse, ließ alle Zahlen weg und notierte nur in denkbar einfachster Form den jedesmaligen Vortrag. Aber die Art und Weise dieser Wiedergabe erlaubte doch stets dem Lehrmeister, längere Sätze dazwischen zu schieben, Angedeutetes auszuführen, Abgebrochenes zu ergänzen, so daß zu den wenigen Seiten immer einige Blätter seiner Hand sich hinzugesellten. Wer wohl diese Lulu sein mochte, die sichs so leicht machte mit ihren Geschichts- und Literatur-Studien? Er mußte zuweilen darüber nachdenken und hätte gern irgend jemand darum gefragt, wenn er nur gewußt, wen.

So gingen zwei Winter hin, ohne daß diese Frage eine Lösung fand; ja es trat sogar ein Ereignis ein, das sie noch mehr verwickelte. Eines Abends – die ersten Frühlingsstürme rüttelten schon an den Fenstern seiner bescheidenen Junggesellenwohnung und fuhren über den kleinen Garten, der sie umgab, daß die alten Bäume seltsam ächzten und stöhnten in ihrem Schlaf – da lagen die gewohnten, elegant gebundenen Hefte wiederum auf dem Arbeitstisch des jungen Dozenten. Das Licht der Lampe fiel hell auf den Namen Lulu, der sich scharf von dem weißen Schilde abhob. Hatte das Heft so gelegen, oder hatte er selber es zuerst zwischen all' den andern hervorgesucht, – er wußte es nicht. Es lag ihm unter der Hand, und jetzt schlug er es auf.

Aber was war das? Nicht die gewohnten regelmäßigen Linien erschienen vor seinen Augen – nein, engbekritzelte Seiten, – Ausrufungs- und Fragezeichen und Gedankenstriche in Massen waren da; hin und wieder sogar – der Lesende erschrak geradezu – zeigten sich Verse, wirkliche Verse! Träumte er denn? Er wandte das Heft um ... es war keine Täuschung, es trug das gewohnte Kleid und den gewohnten Namen. Aber welch' ein Inhalt!

Reinhard las und las, und es war ihm, als wandele er in einem Garten voll blühender Bäume oder draußen auf den Feldern, zwischen den Hecken, während die Lerchen sangen und Veilchenduft berauschend zu ihm emporstieg. Von Minute zu Minute sagte er sich: »Das darfst du nicht lesen, das ist nicht für dich bestimmt!« und doch konnten Augen und Herz sich nicht trennen von diesem holdseligen Geplauder.

Es war ein Mädchen-Tagebuch mit all' seiner süßen Thorheit, das da aus irgend welchem Versehen an Stelle des gewohnten Schulheftes zu ihm geraten war. Wie in den Kelch einer eben erschlossenen Blume sah er in ein junges erwachendes Herz, das mit all' seinem Sehnen, Wünschen und Hoffen, mit all' der rührenden Hilflosigkeit und all' dem Enthusiasmus der Jugend, all' der schuldlosen Schwärmerei einer reinen Seele zu ihm sich hinneigte.

War es denn möglich, daß diese unschuldigen Empfindungen, die sich um den Namen Reinhard rankten, ihm galten, daß der Schatz dieser ersten Mädchenliebe, wirklich dem ungelenken, dozierenden Lehrmeister gehörte? Was fand sie denn an ihm, diese reizende, Zahlen verwechselnde und doch so poetische Lulu? Und wie viele Dichter waren von ihr angerufen worden! Mit welcher Feinfühligkeit hatte das junge Herz die schönsten Worte in Versen und Prosa herausgefunden und gleichsam als Illustration beigefügt!

War das wirklich dieselbe Lulu, die so wenig Nutzen gezogen zu haben schien aus all' seinen Vorträgen? Wer war sie, und wie mochte sie aussehen? Was hätte er darum gegeben, wenn er ihren Namen gewußt, nur um das Heft ihr direkt einsenden zu können. Das Herz stand ihm still in dem Gedanken, welches Entsetzen und welche Scham das liebliche Geschöpf erfüllen mußten bei der Entdeckung dieser Verwechslung. Und er konnte nichts thun, um diese Empfindungen zu mildern, geschweige denn sie zu verhindern. Unter all' den andern Arbeiten mußte er dies arme verirrte Schäflein an die Adresse der Generalin zurückgehen lassen, ohne ein Zettelchen einlegen zu dürfen mit dem beruhigenden Worte: »Ungelesen«. Das wäre ja eine Lüge gewesen.

Erst in nächster Woche wurden die Hefte zurückgesandt – und bis dahin waren noch volle sechs Tage zu durchleben. Die ganze folgende Nacht kam kein Schlaf in Reinhards Augen; ein abenteuerlicher Plan jagte den andern.

Als er am nächsten Abend am Hause des Banquiers die Klingel zog, zum gewohnten Vortrag, bebte seine Hand, und er fühlte, wie eine Todeskälte durch seine Adern zog.

Alles war wie sonst, als er eintrat; die jungen Gestalten begrüßten ihn und zogen schattenhaft an seinen Augen vorüber zu den gewohnten Plätzen. Die Generalin wechselte die üblichen Worte mit ihm. Ein Platz aber blieb leer. Die junge Blondine an der rechten Ecke fehlte, kein Goldschimmer flimmerte von dort zu ihm herüber. Seltsam! Er mußte immer hinsehen und versprach sich zu seinem Schrecken verschiedene Male.

Am Schluß seines Vortrages, als er noch etwas hastiger als sonst zum Abschied drängte, bemerkte die Generalin nebenher, daß ihre Nichte Lulu, die Tochter des Hauses, an einem unbedeutenden Fieber krank sei und deshalb fehle. Das Geheimnis war also enthüllt.

Wie im Traum kam Reinhard nach Hause. Sofort siegelte er mit zitternden Händen das Tagebuch ein, adressierte es an seine Besitzerin und ließ es durch einen besondern Boten direkt zu Fräulein Lulu Westen befördern. Es war ihm aber zumute, als habe man ihm einen Blumenstrauß aus dem Zimmer getragen.

Am andern Morgen nach einer abermaligen schlaflosen Nacht war ein großer Entschluß in dem Kopf und Herzen des jungen Privat-Dozenten aufgestiegen – er war geradeswegs in das Haus des reichen Banquiers gegangen, hatte um ein Gespräch unter vier Augen gebeten und bei dem Vater um die Hand der Tochter, um Lulu Westen angehalten. Höflich empfangen, höflich angehört, sah Reinhard doch schließlich auf dem Gesicht des Mannes, der ihm gegenüber saß, ein Lächeln aufsteigen, das ihm nichts Gutes verkündete. Und in der That schlug die Frage an sein Ohr: »Sind Sie denn der Zuneigung meiner Tochter gewiß? Wie könnte dies möglich sein, da Sie, so viel ich weiß, niemals Gelegenheit nahmen, mit ihr zu sprechen? Ich will nicht hoffen, daß ein heimlicher Briefwechsel ...«

»Herr Westen!« rief Reinhard, entrüstet aufspringend.

»Ereifern Sie sich nicht unnütz, lieber Herr Doctor, ich werde mit Lulu reden. Ihr Antrag ist in jedem Falle ehrenvoll, wenn auch Lulus Jugend einer Verlobung noch hindernd im Wege stehen dürfte. Ich erbitte mir Bedenkzeit und werde Ihnen im Laufe des nächsten Tages eine Antwort zugehen lassen. Einstweilen bitte ich, die Vorträge in meinem Hause suspendieren zu wollen.«

Am nächsten Morgen kam auch pünktlich, in sauberster Schrift, die verheißene Antwort; aber Reinhard meinte, es seien Jahre vergangen seit seiner Frage. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen, das Herz schlug ihm bis in den Hals; ein unerträgliches Erstickungsgefühl schnürte ihm die Kehle zu; und es währte ziemlich lange, ehe er begriff, daß man ihn abgewiesen, trotz der Phrasen von Prüfung der Liebe und der Bitte, nach einigen Jahren, wenn seine Stellung eine sichere geworden, und die Empfindungen sich gefestigt, noch einmal anzuklopfen. Lulu sei jetzt noch ein thörichtes Kind.

Der Boden brannte ihm unter den Füßen, seit er diesen Brief gelesen. »Fort, nur fort von hier!« rief es in seinem Innern.

Seine Stellung an der Universität war leicht zu lösen, und wie ein Wink des Himmels erschien ihm der Vorschlag eines alten Schulfreundes in einer entfernten Stadt, einige bedeutende Bibliotheken verschiedener verstorbener Gelehrten, die der Stadt als Vermächtnis zugefallen, zu ordnen: eine Arbeit, die vielleicht ein paar Jahre dauern würde.

Der Jugendtraum war zu Ende; das blonde Köpfchen schien aus dem Gesichtskreis Reinhards für immer verschwunden.

In seiner neuen Heimat angekommen, nahm Reinhard sich in den ersten Wochen kaum die Zeit, das Haus seines Schulfreundes Eichberg zu besuchen, um so weniger, als der wohlhabende Fabrikherr eine Viertelstunde entfernt wohnte. Er versenkte sich sofort in seine Arbeit, die ihn interessierte und zugleich von der Außenwelt abschloß. Nebenbei begann er eine Geschichte der Hohenstaufen, um sich keine freie Stunde zu gönnen, und nahm sich vor, nie mehr an das Mädchentagebuch mit dem Namen Lulu zu denken. Aber es geschah doch nicht selten, daß er, trotz dieses energischen Vorsatzes, die Arbeitsblätter plötzlich von sich schob, tief aufatmete und verwundert um sich blickte; weil etwas wie frischer Veilchenduft ihn anwehte und wie leichter Nebel vor seinen Augen aufstieg. Aus diesen Wölkchen aber löste sich allmählig ein Köpfchen mit goldblondem Haar und großen blauen Augen. In Wirklichkeit hatte er Lulus Augen nie gesehen; aber sie mußte blaue Augen haben: Mund und Nase des Phantasiebildes ergänzte er sich. Weiße schlanke Hände streckten sich aus der Wolke ihm entgegen, und die hielten ein braunes Buch mit einem weißen Schild; und darauf stand: Lulu.

Was wohl aus ihr geworden sein mochte ober werden würde? Nun, jedenfalls ein gefeiertes Mädchen und bald die Frau irgend eines reichen Mannes. Er begriff sich jetzt selber nicht, daß er damals so ohne weiteres um das einzige Kind eines als reich bekannten Hauses hatte anhalten können; es war kein Wunder, daß man ihn für einen Menschen hielt, dem es um eine Geldheirat zu thun war, für einen Unverschämten. Nun, Lulu hatte ihn jedenfalls verstanden; das sagte er sich zum Trost.

So verging unmerklich die Zeit in Arbeit. Das einzige Haus, das Reinhard besuchte, war das seines Schulfreundes. Die beiden Herren kamen zu einer Schachpartie jeden Sonntag zusammen und nahmen dann das einfache, aber vorzüglich zubereitete Souper mit der Hausfrau ein.

Drei heranwachsende Mädchen waren da und zwei Knaben die das Gymnasium besuchten. Da gab es der Familiensorgen und der Familienfreuden genug, über die sich plaudern ließ. Eine Schweizerin lebte als Erzieherin seit einem Jahr im Hause; ein Wechsel sollte jetzt eintreten, da die Arme an stillem Heimweh sichtlich dahinwelkte. Die Wahl war nicht leicht, die einlaufenden Briefe und Anerbietungen machten der Mutter den Kopf schwer. Nun endlich hatte eine entfernte Verwandte ein junges Mädchen als besonders angenehm im Wesen und Äußern empfohlen, eine Norddeutsche, die vortrefflich französisch und englisch spreche und Waise sei. »Ihre Sprachkenntnisse und ihre angenehmen Formen sind das beste an ihr, und ich glaube auch, daß sie fromm ist und Herz hat,« schrieb die Dame. »Im Übrigen gehen ja Deine Mädchen in die Schule, und das ist das Richtige. Diese jungen Lehrerinnen wissen trotz des Examens doch fast alle so gut wie nichts; es ist im Grunde doch nur, um eine Aufseherin oder Helferin zu haben, daß man sie ins Haus nimmt. Wenn sie rein und fließend fremde Sprachen sprechen, gute Manieren haben, liebenswürdig sind und sich in einen gewissen Respekt bei den Kindern zu setzen wissen, so ist das meiner Ansicht nach das Höchste, was wir bei solchen Experimenten erreichen können. Was man »musikalisch« zu nennen pflegt, ist mein Schützling nicht; und das lasse Dir nur lieb sein. Gieb Deine Mädchen, wenn sie Talent haben, zu einem tüchtigen Musiklehrer, und wenn sie keines haben, so quäle sie und andere nicht. Äußerlich wird sie Euch Allen gefallen, meine Empfohlene; und da sie so ehrlich ist, zu gestehen, daß sie noch wenig weiß, aber gern noch viel lernen möchte, so hoffe ich, wird es mit Deinen großen Mädchen schon gehen. Willst Du es also wagen, so schicke ich Dir ihre jetzige Adresse, und Du kannst alles mit ihr verabreden. Nimm sie einstweilen auf eine längere Probezeit. Ich glaube, das arme Ding sehnt sich nach jugendlicher Umgebung. Die alte, taube Präsidentin Moller ist eine unerträgliche Herrin und kündigte ihr, weil sie – zu hübsch sei.«

Die Unterhandlungen wurden rasch beendet, und eines Sonntags erfuhr Reinhard, daß das Fräulein, die neue Erzieherin, schon seit drei Tagen eingezogen sei.

»Nun, gefällt sie Ihnen?« fragte er.

»Es ist ein liebes Prinzeßchen,« lachte der Hausherr in seiner gemütlichen Weise. »Aber ich glaube, mit der Gelehrsamkeit ist es nicht weit her. Meine Frau hat ihr schon scharf auf den Zahn gefühlt. Besonders in der Geschichte scheint's zu hapern. Mich stört das nicht; das Glück, das die Frauen geben sollen, hängt nicht an den Daten. Mir ist's viel lieber, daß sie ein paar Daten durcheinander wirft, als daß sie ungenießbares Zeug auf den Tisch bringt oder schlumpig einhergeht, das Haus nicht in Ordnung hält und so weiter.«

Frau Anna war nicht ganz seiner Meinung. »Ich möchte nur von dem Leichtsinn reden, mit welchem die jungen Mädchen das schwere Amt der sogenannten Erzieherin betrachten, wie hoch sie ihr armseliges Wissen anschlagen«, klagte sie dem Hausfreund. »Sie meinen eben alle zur Lehrerin befähigt zu sein, wenn sie notdürftig durchs Examen schlüpften. Man kann noch froh sein, wenn man eine findet, die wenigstens zwei Sprachen rein spricht und schreibt: ihre eigene und eine fremde. Wie wenige gehen in die Welt, um zu arbeiten! Sie möchten unter fremden Menschen allerlei Interessantes erleben und nebenbei Erzieherin spielen. Selbst noch unerzogen, wollen sie Kinder erziehen. Ich habe ein Vorurteil gegen alle Gouvernanten, die noch ein eigenes Heim haben, weil ich meine, daß die Tochter, welche noch das Glück hat, Vater oder Mutter zu besitzen und Geschwister, daheim bleiben soll, um zu helfen, zu dienen und zu tragen, wenn nicht außergewöhnliche Verhältnisse oder bittere Noth sie forttreiben. Bleibt ihr freie Zeit, und sie hat irgend etwas gelernt, oder wurde ihr ein Talent bescheert, so mag sie Unterricht geben oder es in irgend welcher Weise verwerten; aber immer nur, um abends wieder heimzukehren ins Elternhaus. Jetzt aber ist eine wahre Töchterwanderung eingetreten; sie scheinen es alle nicht erwarten zu können, hinaus zu ziehen in die Welt. Als ob es daheim nichts zu thun gäbe, als ob man der Mutter nicht ein Ausruhen gönnen müsse, indem die Tochter ihr alles abnimmt; als ob ein Elternhaus nicht ein Schatz sei, den man unter keinen Umständen aus den Händen geben dürfe, wenn nicht eine höhere Gewalt ihn uns entreißt. Ich wäre froh, wenn meine Töchter eines Tages ein brillantes Examen ablegen würden, für alle Fälle; aber unglückselig, wenn sie mir auf solche Art auf und davon liefen. Unsere neue Helferin nahm ich zunächst, weil sie Waise ist. Sie hat ihre Mutter nie gekannt, eine Tante hat sie erzogen; der reiche Vater machte plötzlich Bankerott und starb infolge dessen sehr schnell. Man munkelt darüber allerlei; doch das geht mich nichts an. Ich habe es nur mit der Tochter zu thun. Die Kleine hat rein nichts, zog aber den Aufenthalt unter Fremden, als soi-disant Gesellschafterin oder Erzieherin, dem Zusammenleben mit ihrer Tante vor, wie sie mir gestand. Das Examen hat sie erst vor einem halben Jahre gemacht. Sie lebte früher in Tübingen ...«

»In Tübingen?« wiederholte Reinhard, und ein heißes Rot flog über sein Gesicht. »Wie heißt die junge Dame?«

»Lulu Westen!«

Der ehemalige Privat-Dozent sprang so lebhaft auf, daß er seinen Stuhl umwarf.

Seine Freunde starrten ihn erschreckt an. »Was fehlt Ihnen, Reinhard?« rief der Hausherr.

»Lulu Westen! ... Mein Gott ist's möglich? Könnte ich sie nicht sehen? ... Sie war ja meine Schülerin ... das heißt ...«

»O weh, Frau,« unterbrach Eichberg ihn lachend, »da hast Du etwas Hübsches angerichtet!«

»Sehen, bester Professor?« fügte die Hausfrau hinzu. »Sie ist oben bei den Kindern und um diese Zeit schon zur Ruhe gegangen. Aber erzählen Sie ... wir lassen Sie noch nicht fort.«

Er erzählte, aber nur sehr oberflächlich, mit Hinweglassung der wichtigsten Thatsachen. »Ich habe nichts von ihr gehört,« schloß er seinen kurzen Bericht, »und hatte also keine Ahnung, daß das arme Mädchen Waise geworden.«

An jenem Abend geschah es, daß der junge Privatdozent, jetzt Bibliothekar, beim Nachhausegehen in der Straße sich irrte und deshalb noch eine Stunde auf und ab wanderte, obgleich der erste Schnee vom Himmel fiel und auf Hut und Schultern sich festsetzte: für ihn war Veilchenduft in der Luft. Statt sich an seinen Arbeitstisch zu setzen, und, wie gewöhnlich, die halbe Nacht in sein begonnenes Geschichtswerk sich zu vertiefen, saß er neben dem erkalteten Ofen mit glühendem Kopf. Er blätterte im Geiste in einem braunen Hefte und las die Worte: »Mir ist, als könne ich nie einen Menschen auf der Welt so lieb haben wie unsern jungen Professor.«

Als Reinhard am andern Morgen vor Lulu stand und auf das goldige Köpfchen niedersah und auf die zierliche Gestalt, da streckte er doch nur stumm die Hand nach ihr aus. Eine kleine, bebende Hand lag einen Augenblick in der seinen, ein heiß errötendes Gesichtchen hob sich zu ihm empor; er sah es ganz dicht und deutlich vor sich, und zwei dunkelbraune, weiche Rehaugen begegneten seinem Blick. Also keine blauen Augen? Merkwürdig, er fand aber diese braunen schöner als alle blauen, die jemals von Dichtern besungen worden; ja, er fragte sich sogar, wie es möglich sei, daß man überhaupt blaue Augen jemals besänge. Erst nach einer langen Pause redeten die beiden mit einander; aber nur alltägliche Fragen und Antworten kamen über ihre Lippen.

So wurde zwischen ihnen eine strenge Förmlichkeit aufrecht erhalten; man sah sich zudem nie allein.

Aber das Weihnachtsfest war inzwischen gekommen, das alle Herzen – wären sie auch noch so erstarrt – auftauen läßt, wie die Frühlingssonne die Erde. Es war bestimmt, daß Reinhard, wie immer, auch diesmal herüber kommen sollte, um den Christbaum für die Kinder brennen zu sehen. Seine kleinen Geschenke für alle hatte er schon der Hausfrau zur Verteilung hinübergeschickt. Nur für Lulu Westen wollte er es selber bringen.

Von Laden zu Laden war er schon tagelang gewandert; an allen Schaufenstern hatte er mit nachdenklicher Miene gestanden, um etwas für sie auszusuchen. Ja, hätte er gewußt: was! Daheim hatte sie stets eine solche Fülle von glänzendem Tand um sich gehabt ... wie sie's nur jetzt aushielt, das arme Ding, in solcher Entbehrung! Er würde am liebsten sein ganzes Monats-Einkommen hingegeben haben für die hübschen unnützen Dinge, die ihm da unter die Finger gerieten, wenngleich er über die Preise erschrak, die man ihm abverlangte. Endlich fiel ihm ein in blauem Samt gebundenes kostbares Buch in die Augen, mit einem goldenen Schilde, worauf eingravirt stand: »Tagebuch«. Ja, das war das rechte Geschenk für Lulu und zugleich eine zarte Erinnerung an jene süße und doch so schmerzensvolle Zeit, als er sie seine Schülerin nennen durfte, an die Zeit, die jetzt so endlos weit hinter ihm lag.

Als er in das Haus des Freundes kam, sein Packet fest an das seltsam klopfende Herz gedrückt, da brannte in dem Wohnzimmer nur eine kleine Lampe. Die Kinder tummelten sich aufgeregt im Gange. Im größern Empfangszimmer waren Vater und Mutter mit dem Aufbau beschäftigt. Durch das ganze Haus zog eine Duftwelle von Äpfeln und Tannengrün; das stille, matt erleuchtete Wohnzimmer war zum Berauschen davon erfüllt, meinte Reinhard. Er hörte die Magd in der Küche fröhlich lachen, und die brummende Stimme des alten Dieners bildete zu der hellen Oberstimme den Baß.

Vorsichtig legte er sein Packet auf den runden Tisch. Ein leises Geräusch in der letzten Fensternische ließ ihn aufschauen; dort regte sich etwas. Er trat zögernd näher. War das nicht ein unterdrücktes Schluchzen? Aber er hatte sich wohl getäuscht; denn im nächsten Moment trat Lulu ihm entgegen, und ihre weiche, kindliche Stimme bot ihm guten Abend.

Reinhard trat mit ihr zum Fenster zurück. Im gegenüberliegenden Hause flammten schon die Weihnachtslichter auf, helle Kinderstimmen sangen das Lied von der stillen heiligen Nacht. Überall Freude, festes Aneinanderschließen, das beseligende Gefühl der Zusammengehörigkeit. Wie es kam, daß da plötzlich die bebenden Hände zweier Einsamen sich faßten und verschlangen? Sie wußten es nicht. – die jungen Glücklichen. Gesprochen wurden nur einige Worte, aber in zwei Herzen war voll und ganz der Weihnachtsglanz gefallen, und die Engel hatten ihre Freude daran.

Wenige Minuten später, als die Klingel des Christkindchens ertönte, die Thüre sich für alle öffnete, und jenes wunderbare Licht herausströmte, dem kein anderes irdisches Licht zu vergleichen ist – die Kinder aber den Eltern ans Herz stürzten, jauchzend mit heißen Wangen und strahlenden Augen – da trat der Bibliothekar, an der Hand das schlanke Mädchen führend, vor seine Freunde hin und sagte mit nicht ganz fester Stimme: »Hier bringe ich meine liebe Braut, meine kleine Lulu, und übers Jahr, so Gott will, soll bei uns Weihnacht gefeiert werden mit Euch allen.«

Als der allgemeine Lärm der Teilnahme und Verwunderung sich etwas gelegt hatte, betrachteten die Kinder etwas scheu und zaghaft ihr Erzieherin, die nun Braut war; da erinnerte sich Reinhard des Weihnachtspackets auf dem Tische im Wohnzimmer, und er stürzte fort, es zu holen und in Lulus Hände zu legen. Sie lächelte und errötete, flüsterte ein paar unhörbare Dankesworte und drückte das Buch fest an die Brust.

Das war ein glückseliges Christfest für Reinhard! Er ging wie auf Wolken, er sah alles wie durch einen goldenen Schleier; und als es ans Abschied nehmen ging, da konnte er gar nicht loskommen von der Geliebten.

Spät Abends, als Eichberg und Frau Anna sich allein sahen, sagte die Hauherrin seufzend: »Kannst Du Dir denken, wie diese Ehe ausfallen wird? Diese beiden unpraktischen Leute werden ja im ersten Vierteljahr mit der ganzen Einnahme fertig. Sie versteht absolut nichts von häuslichen Dingen. Sie hat sich nur in großen Verhältnissen bewegt, nur aus dem Vollen wirtschaften gesehen. Wie soll sie da rechnen und überlegen lernen? Er aber ist vernarrt in sie und wird die unsinnigsten Ausgaben machen, um ihr eine Freude zu bereiten und sie in die Tage der sorglosen Mädchenzeit zurückzuversetzen. Kann man für die Kleine ein tolleres Geschenk auswählen als dies hellblaue Samtbuch? Was soll sie damit anfangen? Ein Kochbuch wäre nötiger gewesen. Sie werden schweres Lehrgeld geben, diese beiden!«

»Nun, liebe Frau, dann thue Dein Möglichstes, daß sie in der kurzen Zeit, die sie noch in unserm Hause sein wird, recht viel von Dir lernt. Laß sie weniger um die Mädchen, aber um so mehr um die Haushaltung sich kümmern.«

Wenige Monate später waren jene beiden Mann und Frau, und wie in einem Feenmärchen war das kleine Gütchen ihnen in den Schooß gefallen und die unverlierbare kleine Rente, die Reinhard unerschöpflich schien.

Lulu jubelte wie ein Kind und erklärte, nur auf dem Lande vollkommen glücklich sein zu können; es sei von Kindheit auf ihr heißester Wunsch gewesen, fort und fort auf dem Lande zu leben. Der junge Ehemann sah auf der eigenen Scholle seinen Herzensträum verwirklicht, seinen Studien leben zu dürfen. Er gab die provisorische Stelle ohne Zaudern auf und beschäftigte sich nun sorglos mit seiner Geschichte der Hohenstaufen.

Lulu war freilich etwas enttäuscht bei ihrer Ankunft auf dem Gütchen, wo die beiden für Lebenszeit übernommenen Dienstboten, ein Ehepaar, die Köchin und der Gärtner, sie und ihren Herrn etwas von oben herab behandelten.

»Das sind ja die reinen Kinder«, äußerte die ältliche Martha achselzuckend; »sie können beide Gott danken, daß sie uns haben.«

»Du hast Recht,« lautete die Antwort; »wir müssen ein wenig streng nach dem Rechten sehen. Sonst fliegt alles zum Fenster hinaus; unser alter Herr, Gott hab' ihn selig, würde sich im Grabe umdrehen. Wenn sie beide nichts haben, was ich nicht weiß, so können sie nur auskommen, wenn sie alles bis aufs Tippelchen vom I berechnen; und ob sie das können, wird sich zeigen. Der alte Herr brauchte nichts als seine Pfeife und alle Jahre einen neuen Schlafrock – nun, da konnte er wohl leben. Warten wir's ab, Alte. Bessere Behandlung werden wir haben als von ihm; das merke ich jetzt schon. Und wenn die junge Frau mich anlacht, da geht mirs Herz auf.

»Sie hat Wäsche mit Spitzen besetzt, wie unsere Prinzessinnen sie nicht schöner haben können«, sagte die Haushälterin kopfschüttelnd. »Wenn sie aber meint, daß ich den Trödelkram, den sie mitgebracht und in ihrem Zimmer aufgestellt hat, Tag für Tag abwischen soll, so irrt sie sich. Das mag sie selber besorgen – sie hat ja doch nichts zu thun. Hat man sein Lebtag gehört, daß man einen ganzen Porzellanladen auf Tische und Kommoden umherstellt? Das sind neumodische Ideen. Wenn sie das Zeug selber rein halten soll, wird sie's schon wieder einpacken. Kommt Zeit, kommt Rat.«

»Und was das für ein Gerücke gibt! Sie läßt ja nichts auf der alten Stelle. Und was für lächerliche, windige Gestelle diese neuen Möbel sind, die sie mitgebracht haben! Da paßt ja nichts mehr ordentlich zusammen – unserm alten Herrn würde vor Staunen und Ärger die Pfeif' ausgegangen sein!«

Ja, das war in der That so; es paßte nichts mehr ordentlich zusammen. Frau Lulu sah das am besten; sie kam oft genug, legte ihren Arm um den Hals ihres Mannes, sah mit den zärtlich schimmernden Augen zu ihm aus und sagte: »Wenn ich doch noch einen kleinen Schrank ober einen kleinen Tisch oder eine Etagère hier hätte, so würde das Zimmer wirklich einige Ähnlichkeit haben mit dem Zimmer, das Papa daheim ... weißt du, Reinhard, wo ich das Tagebuch schrieb.«

Er sagte dann nichts, er sah sie nur zärtlich an; aber er schrieb an den ersten Möbelhändler in der nächsten Stadt, und – Lulus Wunsch wurde erfüllt. So wurde noch mancher Wunsch nicht vergebens laut.

»Mein junges Weib soll sich bei mir nie im Geheimen nach dem Behagen im Vaterhause sehnen«, sagte sich Reinhard. »So lange ich noch einen Groschen in der Tasche habe, will und werde ich ihn ausgeben für meine Kleine. Und sie wird schon nach und nach eine Hausfrau werden; Martha wird sie schon in die Schule nehmen. Ich habe auch keine Köchin geheiratet, sondern eine liebliche, holdselige Gefährtin, die mich Murrkopf lebendig, frisch und jung macht und erhält. Gott gebe, daß sie hier auf diesem stillen Fleckchen glücklich wird!«

Ob Lulu wirklich glücklich war, auf dem Lande leben zu dürfen? Sie meinte im Stillen, daß doch alles anders sei wie daheim – manches freilich viel schöner, anderes wieder nicht. Aber Reinhard war ja die Güte selbst, und sie änderte und wandelte beständig an der Einrichtung in ihrem neuen Heim, bis kein Stück mehr von den alten Möbeln zu sehen war in den Räumen, in welchen sie sich aufhielt. In ihres Mannes Zimmer blieb freilich alles auf dem alten Fleck, und nichts durfte angerührt werden.

Es war so einsam, niemand kam zum Besuch ..., dann war auch niemand da, der die Wege so hübsch rein hielt, daß man mit seinen weißen Kleidern – Lulu trug nur Weiß im Frühjahr und Sommer – ungefährdet gehen konnte.

Auch fand sie es im Stillen unerhört, daß Martha unverhohlen über die viele Wäsche der weißen Kleider schalt und über das mühsame Bügeln. Wie konnte man denn in der guten Jahreszeit anders gekleidet gehen?! Sie hatte, so lange sie denken konnte, immer in Frühjahr und Sommer Weiß getragen. Einmal versuchte sie, aus Furcht vor Martha, heimlich sich selbst ein Kleid zu waschen und zu bügeln. Aber der Versuch hatte leider nur den Erfolg, daß sie sich die Hände zerrieb und die schönen gestickten Säume verbrannte. Die junge Frau konnte nicht aufhören, sich zu wundern, das alle diese sogenannten »Hausarbeiten« so schwer wären; und doch konnten die derben Hände gewöhnlicher Leute sie vollbringen! Auch in die Wissenschaft des Kochens einzudringen, welche sie für so kinderleicht gehalten, gab sie auf den dringenden Rat Marthas gar bald wieder auf und begnügte sich, beim Kartoffelschälen und Gemüseputzen zuzusehen, bis ihr die Küchenluft unerträglich wurde und sie hinaus trippelte. Sie sah an der Seite ihrer Hausverwalterin auch im Geflügelhofe und Kuhstall nach; aber die Viehmagd, welche die beiden Kühe und den Schweinestall versorgte, während Martha auf dem Geflügelhofe herrschte, kicherte über die Frau Professorin mit den Papierschuhen und gestickten Unterkleidern. Martha dagegen ärgerte sich über das nach ihrer Meinung bodenlos ungeschickte und verschwenderische Futterstreuen. Lulu selber fand, daß das Futterstreuen, welches auf Kaulbachs Bilde, Lilis Park, so reizend aussah, gar nicht so leicht war, und man vor allen Dingen sein Kleid unmöglich rein halten konnte unter dem gierigen geflügelten Volke.

»Unsere Professorin«, man gab ihr nun einmal den Titel, »ist ein lieber Schnack«, sagte Martha eines Tages zu ihrem Mann; »aber ich bin doch froh, daß unser Seliger sie nicht kannte, die beiden hätten's nimmer mit einander ausgehalten!«

»Und der Professor ist ein guter Herr, aber von der Gärtnerei und Feldwirtschaft versteht er nicht die Bohne. Es ist und bleibt ein Glück, daß wir da sind!«

So ging denn alles genau so fort, wie der Selige es gehalten – bis eine Zeit kam, wo fast täglich irgend eine Sendung aus der Stadt eintraf. Der junge Gelehrte hätte die Sterne vom Himmel holen mögen für seine junge Frau, er würde alles hingegeben haben um ein frohes Lächeln ihrer Lippen. Aber sie war eigentlich unermüdlich im Wünschen.

Ein Hoffnungsstern war hier aufgezogen, dessen Licht die Prunkzimmer des Palastes wie das enge Kämmerlein des armen Mannes vergoldet, wie kein anderes Licht der Welt es vermag; ein Kind wurde erwartet in dem kleinen Landhause. Lulu ließ sich hegen und pflegen wie ein Prinzeßchen, machte die reizendsten Toiletten und sah der Ankunft des neuen Erdenbürgers wie einer Christbescheerung entgegen. Es gab nichts Niedlicheres als jene, freilich sehr kostbare Miniatur-Ausstattung, die sie um sich her aufbaute, obgleich Martha die Hände zusammenschlug über diese unnützen und kostbaren Dinge, von denen solch ein kleines »Wurm« doch nichts verstände.

Ein Tag kam endlich, an welchem Reinhard, nach Meinung des Gärtners und Haushofmeisters Franz, wie ein Wahnsinniger sich benahm, und alles im Hause drunter und drüber ging. Nur der alte Herr Kreisphysikus behielt den Kopf oben. Abends aber wurde in diesen Mauern ein seit undenklichen Zeiten unerhörter Laut vernommen; das Weinen eines schwachen Kinderstimmchens. Ein Töchterchen war da. Die junge Mutter betrachtete halb scheu, halb glückselig das Kind und fand es schöner als alles, was man sich in den kühnsten Träumen vorstellen konnte.

Der junge Vater stimmte zwar in das hohe Lied der Mutterfreude mit ein, fand es aber im stillen rätselhaft, wie man solch ein winziges, krebsrotes Etwas schön finden konnte. Franz ging hierin noch weiter und äußerte, freilich nur seiner Frau gegenüber, daß ein junges Hühnchen, eine junge Katze und ähnliches Getier ohne Frage viel hübscher sei, als solch ein Menschenkind.

Es währte etwas lange, ehe die junge Mutter sich erholte; eine Amme für das Kind mußte angenommen werden, eine junge Bäuerin aus dem Dorfe, und in diesen derben Armen gedieh das kleine Mädchen prächtig. Der junge Vater war mit allem zufrieden und vor allem froh, sein Weib so glückstrahlend zu sehen; aber er blieb doch dabei, das kleine Ding mit einer gewissen Scheu zu betrachten. Es erschien ihm doch gar zu zerbrechlich, und er hatte auch im Grunde seines Herzens einen Sohn gewünscht, der ihm später einmal helfen könnte bei der Arbeit.

Aber lieb hatte er in seiner Weise die kleine Gudrun, so ließ er sie taufen. Nur hielt er sich gern in angemessener Entfernung. Geschah es einmal, daß Lulu ihm sein Kind in die Arme legte, so hielt er es fest, ohne sich zu regen; aber die Angsttropfen traten ihm auf die Stirn, und er bat flehentlich, es ihm wieder abzunehmen.

Seine Arbeiten rückten nun in erstaunlicher Weise vor; er durfte ja seine Frau ohne Gewissensbisse allein lassen, und sie vermißte ihn kaum.

Welch eine Quelle von Zerstreuung und Thätigkeit, aber freilich auch der fabelhaftesten Ausgaben war doch dies kleine hilflose Wesen! Die junge Mutter wurde selber wieder zum reichen Kinde. Sie überschüttete ihr eigenes Kind immer von neuem mit allen erdenklichen Dingen und Spielsachen, die gar bald als unnütz in den Winkel geschoben wurden und an die man nur wieder dachte, wenn die Rechnungen kamen.

Welch ein stiller und weiser Helfer der ersten Erziehung war nun der wilde Garten; der elegante Kinderwagen wurde von der jungen Mutter schon am frühen Morgen hinausgeschoben unter einen Baum, und auf dem spitzenbesetzten Kissen lag dann, wie eine frisch herabgewehte Apfelblüte, ein rosiges Kindergesicht. Große blaue Augen schauten fröhlich in die grüne, blühende Wunderwelt hinein, verfolgten die Schmetterlinge und Vögel und das leichte Spiel der Blätter; kleine dicke Händchen mühten sich, die Sonnenstrahlen zu haschen, welche über die weiße Decke huschten.

Das war eine glückliche Zeit für alle Bewohner des grünumrankten Hauses; denn auch Martha und Franz beteiligten sich, jeder in seiner Art, an der Bewunderung des neuen Familienmitgliedes. Ein Kind war ja, seit sie selber hier wohnten, nie in diesen Räumen gesehen worden. Saßen die beiden in der Küche zusammen, und der Ton des hellen Jauchzens drang zu ihnen herein, so sahen sie sich lächelnd an. Weinte Gudrun, das heißt, schrie sie herzhaft zur Übung ihrer Lungen, so steckten die beiden Alten ratlos und angstvoll die Köpfe zusammen. Franz griff unwillkürlich nach der Mütze, um in das Dorf zu laufen zum alten Doktor. Aber zum Glück wuchs Gudrun ohne besondere Hilfe des Arztes auf. Sie überraschte das Haus in angemessenen Zwischenräumen mit den niedlichsten Perlenzähnchen, lief und fiel möglichst rasch und geschickt und wurde das fröhlichste Geschöpf, welches sich denken läßt, mit den sonnigsten Augen der Welt.

Natürlich war Gudrun der allgemeine Liebling aller lebenden Wesen, die nur irgend mit dem Fleckchen Erde, auf dem sie aufwuchs, in Berührung kamen. Selbst in dem Studirzimmer des Vaters durfte sie umherlaufen. Am liebsten saß sie dort auf irgend einem großen Folianten, mit ihrer ewig zerzausten Puppe still plaudernd.

»Sie wird später meine alten Geschichtsklassiker lieben lernen«, sagte der Gelehrte.

»Sie wird einmal eine vornehme Frau werden – sie wird bildschön!« behauptete die junge Mutter.

Hüpfte Gudrun in die Küche, und schleppte sie ihr Fußbänkchen zum Gemüse-Eimer Marthas mit der Bitte, ihr putzen helfen zu dürfen, so versicherte das brave Geschöpf ihrem Gefährten, daß sie ihren Kopf verwette, dies kleine Ding werde in wenigen Jahren schon viel mehr wissen als seine Mutter. Pflückten die Kinderhände ohne Wahl im Garten Blüten und Blätter ab, so erzählte Franz, daß in der Kleinen ein Botaniker stecke, vor dem er sich selber eines Tages in acht nehmen müsse.

Alles verzog und verwöhnte das kleine Ding; die Mutter am meisten, der Vater am wenigsten. Aber es giebt Naturen, welche trotz alledem einfach, harmlos und lenksam bleiben. Gudrun vertrug ohne Schaden jenen ungetrübten blauen Himmel, der über ihrem Kinderhaupte sich wölbte, volle zehn Jahre lang. Da zog die erste schwere Wolke herauf. Die Mutter starb nach einer Krankheit von wenigen Tagen an einem Nervenfieber. Im Dorfe wütete eine Epidemie, und den Keim der Krankheit hatte sie sich in dem Hause einer Kranken geholt, die sie gegen den Rat des Arztes besucht hatte.

Wie eine kalte Hand lag es lange Zeit auf dem Herzen des Kindes, bis endlich die himmlische Fröhlichkeit der Jugend, diese unfehlbare Siegerin, wieder die Oberhand gewann. Die frohen Augen blickten so unwiderstehlich glücklich wie sonst; nur das laute Singen und Lachen kam in den Räumen des Hauses nicht wieder, höchstens draußen in einem entfernten Winkel des Gartens. Der arme, liebe Papa hätte es ja hören können, und das würde ihm weh gethan haben.

Ja, der Papa war sehr verändert seit die Mama gestorben. In sein Gesicht war ein Zug gekommen, den das Kind früher nicht gekannt. So sah der Garten aus, wenn ein Rauhfrost über Nacht sich auf die Herbstblumen gelegt hatte.

»Warum sieht der Papa so ernsthaft und traurig aus?« fragte das Kind die treue Hüterin. »Er weiß doch, daß die Mama ein schöner Engel ist und immer bei uns sein darf, wenn wir sie auch nicht sehen können«.

»Mein Kind, er hat Sorgen ... er muß jetzt viel Geld schaffen. Viele unnütze Dinge sind gekauft worden, und die müssen bezahlt werden«.

»Wenn wir sie nicht brauchen, so können wir sie ja zurückgeben«.

»Das geht nicht, Schätzchen; die Kaufleute nehmen sie nicht zurück. Du mußt nur nie Geld vom Papa verlangen und deine Sachen hübsch schonen; dann sind wir bald wieder heraus!« versicherte Martha und küßte ihren Liebling.

Nein, Gudrun wollte gewiß nie etwas haben von ihm, wenn er nur wieder fröhlich werden würde. Der liebe arme Papa! Für ihn sorgte, an ihn dachte Gudrun unablässig; für ihn wollte sie künftig sorgen, das war ihr einziger Wunsch, ihr einziger Gedanke. Hätte sie doch selber Geld verdienen können, um ihm zu helfen; aber das war nach Ansicht Martha's geradezu unmöglich.

Hätte nur der Papa mehr für sich von ihr verlangt – sie war ja von der wachsenden Sehnsucht erfüllt, etwas für ihn thun zu dürfen. Aber er lebte so still fort, ohne Wunsch und ohne Bedürfnisse. Er arbeitete nur fleißiger denn je. Bei den Mahlzeiten mittags und abends sah er sein Kind, und dann plauderte sie wie ein Bächlein. Seine Wortkargheit erschreckte sie nie, sie kannte ja den Vater kaum anders; auch sah sie ihm an den Augen an, daß ihr Geschwätz ihn erheiterte. Nur in einem Falle hörte sie nie auf, sich zu beklagen: er sprach nie einen Wunsch aus. Und es gab doch einen Geburtstag und einen Namenstag und das herrliche Weihnachtsfest!

An Gudruns zwölftem Geburtstag kam, auf Wunsch des Vaters und mit Hülfe der treuen Freundin, der Frau Eichberg, eine schlichte, liebenswürdige Schweizerin ins Haus, welche nun in der äußern Erziehung ein wenig nachhelfen sollte. Den eigentlichen Unterricht seines Kindes hatte von allem Anfang an der Gelehrte allein übernommen. Das machte ihm die größte Freude; denn keine Schülerin konnte fleißiger sein und aufgeweckter, als sein Töchterchen. Sie lernte mit einer Leichtigkeit, das Köpfchen war so klar und dachte so selbständig, und sie fragte so viel, daß der Vater oft staunte. Als das Mädchen sein fünfzehntes Lebensjahr vollendet, hätte es, seiner Meinung nach, sofort als Lehrerin in jedes Haus treten können.

Welche wehmütige Erinnerungen kamen, ihren zierlichen Schreibheften gegenüber, ihm an jenes verhängnisvolle Buch mit dem Namen Lulu! Welch ein Unterschied zwischen Mutter und Tochter! Und doch hatte einst jenes Buch ihn verzaubert, und die Schreiberin erst recht.

So ernst Gudrun in ihren Lehrstunden und ihren Arbeiten auch war, so blieb doch zu des Vaters Genugthuung der Blick der blauen Augen unverändert in seiner strahlenden Freude. Wenn die Thüre seines Arbeitszimmers hinter ihr zugefallen war, verwandelte sie sich wieder in das glückselige Kind, für das der wilde Garten zu jeder Jahreszeit der liebste Aufenthalt war.

»Ich gebe mein Kind in keine Pension, überhaupt nicht von mir«, hatte Reinhard wiederholt seinen Freunden in der Ferne schwarz auf weiß erklärt. »Für jetzt ist in jeder Weise für sie gesorgt, und später nehme ich irgend eine Professur an in einer größeren Stadt. Da mag sie noch lernen, was ich sie nicht lehren kann. Sie hat einen so guten, festen, wissenschaftlichen Grund, daß sich darauf mit leichtester Mühe weiterbauen lassen wird.«

Er schrieb auch wirklich bald hierhin, bald dorthin und meldete sich; doch war er im Herzen froh, daß noch keine Vacanz sich zeigte, in die er sich einschieben lassen mußte. Die grünumrankte Stille war doch der süßeste Aufenthalt der Welt, und nirgends in der Welt ließ sich so gut arbeiten. Blätter über allerlei Zeitfragen der Wissenschaft flogen von seinem Schreibtisch, trotz seiner größern Geschichtsarbeit, in die Gelehrtenkreise. Sie erregten Aufsehen. Briefe, unterzeichnet mit berühmten Namen, fanden ihren Weg in diese Einsamkeit; Fäden aller Art knüpften sich an, die ihn in interessante Beziehungen brachten und ihn lebhaft beschäftigten.

Welch' liebliche Rose allgemach in seinem Hause erblühte, sah er nicht. Für ihn blieb Gudrun nur – das Kind. Die schlichten Kleider des Mädchens, deren Stoff die gute Schweizerin aussuchte und verarbeitete, bezahlte er zuweilen kopfschüttelnd mit dem Gedanken: wozu wohl ein Kind so viele verschiedenartige Dinge brauchte. Wie viele Dinge seine Lulu verlangt und für nötig gehalten hatte, das war längst vergessen, obgleich er noch immer an den Folgen litt. Zu seinem Erstaunen beschenkte sein kleines Mädchen, Dank den geduldigen Unterweisungen der Erzieherin, im Laufe der Zeit ihn mit so vielen Handarbeiten, die kleinen Hände häkelten und stickten so fleißig unverdrossen Fußsäcke, Schlummerrollen und Nachtschuhe, Pfeifenständer und Cigarrentaschen, daß er eines Tages zu der Erklärung sich genötigt sah, er fühle sich versorgt bis zu seinem hundertsten Jahre mit all' dergleichen Dingen.

Gudrun war sechszehn Jahre alt geworden – da kam wieder der Herbst und mit ihm der Namenstag des Papa.

Das Feuer brannte schon im Ofen, und der Wind fuhr mit leisem melancholischen Singen durch alle Ritzen und flüsterte: schließt euch, das Spiel hört auf, der Winter kommt.

Draußen im Garten kehrte Franz Haufen von welken Blättern zusammen oder ließ sie auch vom Winde zusammenfegen. Hier und da schaute sich noch eine kleine Aster mit erschrockenen Augen nach irgend einer Gefährtin um; oben am Himmel erschienen die schweren grauen Wolken, die vor dem Winter hertrieben.

Gudruns Augen blickten zum erstenmal nicht so froh wie sonst. Allen Schmeicheleien, aller zärtlichen List zum Trotz war der Papa nicht zu bewegen gewesen, einen Namenstagswunsch zu verraten. Aber heute auf dem Wege von der kleinen Dorfkirche, die er regelmäßig jeden Sonntag mit seinem Kinde besuchte, nach dem grün umrankten Hause, am Tage vor dem Feste, hatte er plötzlich geäußert: »Ich möchte doch einmal solch eine recht uralte, bauchige, langhalsige Flasche voll dunkeln Weines vor mir sehen, wie sie auf den Tischen der alten Knaben standen, von denen ich eben jetzt schriftlichen Bericht erstatte. In den großen Weinkellern reicher Leute findet man dergleichen spinnenwebenbedecktes, versiegeltes Zeug noch. Das würde mir wirkliches Vergnügen machen. Ans Trinken denke ich dabei nicht, aber beim Arbeiten möchte ich das Ding bei mir haben.«

Papa hatte wirklich einen Wunsch, und sie konnte ihn nicht erfüllen! Gab es eine größere Pein für Gudruns Herz? ... Wie sollte sie in die Weinkeller reicher Leute gelangen, wenn sie auch in diesem Moment jeden Einbruch mit Vergnügen vollbracht haben würde, um eine dickbäuchige, langhalsige, spinnenwebenbedeckte, versiegelte Flasche zu erbeuten. Zum erstenmal standen die blauen, frohen Augen in Thränen. Es war eine absolute Unmöglichkeit, ein solches Ding bis zum morgigen Tage beizuschaffen. Ein Telegraphen-Amt befand sich erst im nächsten Städtchen, und wenn auch vielleicht der Rest des kleinen Taschengeldes, der noch zu ihrer Verfügung stand, zu einem Telegramm gereicht hätte, an wen und was sollte sie telegraphieren?

Aber hatte Franz nicht von dem Haufen leerer alter Flaschen in dem ehemals großen Weinkeller seines verstorbenen Herrn erzählt? Sie trug ihr schweres Herz zu den beiden alten treuen Freunden ihrer Kindheit; die gute Mademoiselle Louison konnte ja weder raten noch helfen. Martha schlug zuerst vor, beim Herrn Pfarrer nachzufragen; aber Franz wußte ganz genau, daß da nur ganz gewöhnlicher roter Landwein zu finden sei, und nicht einmal immer. Denn den kleinen Weinkeller des gütigen Seelenhirten leerten die Kranken seiner armen Gemeinde.

So wanderte man denn hinab in den äußersten Winkel des eigenen Kellers, wo ganze Haufen alter Flaschen verschiedenartigster Form aufgetürmt waren. Das gab ein Suchen und Wühlen, während Louison geduldig die Laterne hielt. Gudrun zitterte vor Aufregung. Lange, lange war alles Forschen umsonst. Da endlich – das Mädchen schrie laut auf vor Freude – geriet ein seltsam geformtes Ding in die kleinen Hände; langhalsig und dickbauchig, von grünem Glase. Franz meinte sich zu entsinnen, daß er Medizin darin geholt habe für seinen verstorbenen Herrn.

So konnten wohl jene Flaschen im Altertum ausgesehen haben – Papa selber wußte es doch bestimmt nicht so genau, meinte Gudrun. Zum Glück war auch der nötige Staub und das Spinnengewebe in Hülle und Fülle unten im Keller zu finden. Und so kalte Schauer das Mädchen auch überliefen beim Gedanken an eine Spinne, so mutig ging sie ans Sammeln. Keine kunstvolle Handarbeit hatte ihr jemals so viele Mühe gemacht wie die Herstellung dieser Kunstflasche für das geliebte Festtagskind. Franz wußte ein altes Stückchen Siegellack zu finden, dessen Farbe das tiefste Braun zeigte, eine alte römische Münze, die immer in Papas Schreibzeug lag, sollte das möglichst undeutliche Siegel bilden. Und die Füllung? Ja, die mußte selbstverständlich so dunkel wie möglich sein. Verschiedene Versuche erwiesen sich als mißglückt. Das Licht strahlte immer durch und schien alles Alter in helle Jugend zu verwandeln. Ein verzweifeltes Sinnen und Grübeln, endlich ein Aufschrei des Entzückens: auch diese Aufgabe war gelöst. Abends aber standen die drei Gefährten in stummer Bewunderung vor dem Kunstwerk, das an Staubumhüllung und Spinnengewebe seines Gleichen vergebens suchte, und lauschten andachtsvoll dem Vortrage des Fräuleins. Ja, so mußten die Flaschen ausgesehen haben, aus denen einst Adam und Eva tranken, meinte Franz zuversichtlich.

Am andern Morgen stand nun die Flasche auf dem mit Kuchen und Herbstblumen geschmückten Geburtstagstisch. Der gelehrte Herr küßte sein Kind und lächelte schalkhaft. Er faßte das seltsame Geschenk fast so behutsam an wie sein Töchterchen.

»Du bist eine Hexe. Wo hast Du sie nur so schnell hergezaubert?« fragte er, und über den Blick in ihr glückstrahlendes Gesicht vergaß er den Brief zu öffnen, den der Postbote ihm eben gebracht.

»Ist sie ganz so, wie Du sie Dir gedacht?« fragte sie, fast atemlos vor Freude.

»Nicht ganz ... aber doch annähernd. Das Ding soll fortan auf meinem Arbeitspult stehen, bis wir sie zu irgend einer festlichen Gelegenheit entkorken.« Er küßte die schöne Mädchenstirn zärtlich, und die blauen Augen strahlten ihn froher an denn je.

»Aber der Brief, Papa,« rief Gudrun jetzt. »Es steht ja citissime darauf.«

Jetzt brach er ihn auf und las. Über sein Gesicht flog es wie Sonnenschein. »Das ist auch ein Geburtstagsgeschenk!« rief er heiter. »Bestelle bei Martha, daß sie besonders gut für unsern Mittagstisch sorge; ein mir persönlich noch unbekannter jüngerer Professor der Geschichte, der berühmte W. aus München, besucht mich. Er macht mir zu Liebe den Umweg von einem halben Tage! Jeden Augenblick kann er mit Extrapost hier sein. Heute Abend will er wieder abreisen. Also werden wir viel zu plaudern haben.«

»Ihr nur? Wie schade! Ich hätte so gern einmal einem berühmten Manne zugehört.«

»Du darfst ja während des Mittagsmahles bei uns sein.«

Das gab einen Aufruhr im grünumrankten Hause! Ein Gast! Hätte Fräulein Louison nicht den Kopf oben behalten, es würden nur verdorbene Gerichte auf den Tisch gekommen sein.

Er kam wirklich. Gudrun versteckte sich, um ihn aussteigen zu sehen. Also das war der berühmte Mann? Sie hatte ihn sich doch ganz anders gedacht. Wie leicht und unbefangen schritt er einher, wie herzlich begrüßte er den Papa, wie hell klang seine Stimme! Nein, man brauchte vor ihm keine Angst zu haben. Aber wie jung er noch war! Gudrun dachte, alle berühmten Leute müßten mindestens graues Haar haben. War denn der Weg zum Ruhm so kurz?

Beim Mittagsmahl erschien Gudrun zu Ehren des Geburtstages in einem weißen Kleide – Mama hatte es einst getragen. Zum ersten Male fiel ihr auf, daß es etwas kurz geworden war. Sie begrüßte den Gast, der sie erstaunt ansah und sich dann tief vor ihr verbeugte. Wie komisch das war!

Sie sprach nicht viel, aber sie hörte mit ganzer Seele zu, wenn die beiden Männer redeten, und ihre Augen strahlten den Fremden an, der den Papa so heiter und gesprächig werden ließ! Nie hatte sie ihn so gesehen, und ein Strom von Dankbarkeit gegen den Gast ging durch ihr Herz.

»Was würdest Du sagen, Kind,« rief der Gelehrte einmal zu ihr herüber, »wenn wir nach München zögen?«

»Ich würde mich freuen, wenn Du dich freutest, Papa. Aber wir kämen doch wieder hierher zurück?«

»Nur in den Sommerferien. Aber darüber werden wir noch viel reden ... Wir nehmen den Kaffee in meinem Arbeitszimmer; sorge, daß wir ungestört bleiben.«

Gudrun bereitete den braunen Trank in gewohnter Weise noch am Tisch, geräuschlos und anmutvoll. Die dunkeln Augen des Gastes wichen nicht von ihr. Dann standen die Herren auf und Gudrun trug den Kaffee in des Vaters Arbeitszimmer.

Sie setzte sich mit einer Arbeit in der Wohnstube ans Fenster und schaute in den klaren Herbsttag hinaus. Wie schön erschien ihr der wilde Garten, über dessen alten Bäumen es wie ein Goldnetz hing! Eine Welt des Friedens breitete sich vor ihr aus; ihre Augen flogen weit hinaus über die Wipfel, den Hügeln zu, wo die untergehende Sonne eben ein goldenes Pünktchen wie mit dem Pinsel aufsetzte: das Kreuz der kleinen Dorfkirche, zu deren Füßen auch das Grab der Mutter lag.

Das Mädchen fühlte erst jetzt, wie froh es in dieser Einsamkeit gelebt, und wie ihr Herz an diesem Fleckchen Erde hing. Die Bilder, welche das Wort »München«, die große Stadt, hervorzauberte, waren noch so nebelhaft und verworren, hier aber lag alles so durchsichtig klar vor ihrem Blick. Doch wenn der Papa glücklich sein würde und heiter, dann wollte sie es auch sein – Louison, Martha und Franz würden doch jedenfalls mitgehen, dachte sie, und der junge berühmte Professor käme doch sicher jeden Tag zu Tische; sie durfte dann zuhören wie heute ... O, wie schön das doch war – und wie angenehm seine Stimme klang!

Da hörte sie plötzlich den Papa nach Weingläsern rufen. Schnell sprang sie auf, lief an den Schrank, stellte das Gewünschte zierlich zurecht und trug es in sein Zimmer. War sie doch gewohnt, ihn zu bedienen.

»Wozu braucht er aber jetzt Weingläser?« fragte sie sich doch, heimlich verwundert.

Das Gesicht des Gelehrten strahlte. »Heute ist ein hoher Festtag, mein Kind«, sagte er feierlich. »Dein Vater hat eine über Verdienst beglückende und ehrenvolle Berufung nach München erhalten. Wir siedeln noch diesen Winter dahin über. Mein junger Herr Kollege ist der Überbringer der Anfrage und nimmt nun die bejahende Antwort mit zurück. Das muß gefeiert werden. Das Wunder deiner alten Flasche mag sich erschließen und ergießen. Komm, mein Kind ... Du selber, als die Geberin, magst den Feuertrank dem Gaste kredenzen.«

Totenblässe überzog die blühenden Mädchenwangen – starr und angstvoll blickten die Augen.

»Aber, Papa ...«

»Nun ja ... ich begreife ... Du willst nicht, daß Deine Geburtstagsflasche sofort angebrochen werde«, lachte er fast übermütig. »Hilft nichts ... jetzt bin ich der Besitzer. Eine bessere Gelegenheit ist nicht denkbar. Sieh', da weicht das Siegel schon! ... Wo lag dieser alte dicke Staub wohl?«

Lachen und Weinen kämpften jetzt in dem reizenden Gesicht – matt streckten sich die kleinen Hände aus – da floß schon der dunkele Strom unaufhaltsam in das erste Glas ... Ein Ruf – ein ausbrechendes schallendes Lachduett ... das Glas hatte sich mit Tinte gefüllt.

Sehr viel später erst hat Gudrun erfahren, daß der berühmte erste Gast des grünumrankten Hauses damals beim Abschied schon dem Papa gestanden, daß er nur ein Mädchen der Welt zu seiner Frau machen möchte: Gudrun mit den frohen Augen.

Jetzt hat er sie längst heimgeführt als sein Weib. Ob ihre Augen noch immer so froh lachen und leuchten? Hoffen wir es!

finis

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