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Geschichte des ersten Kalenders.

»Gnädige Krau, um Euch zu erzählen, wodurch ich mein rechtes Auge verloren habe, und was mich genötigt hat, das Kalenderkleid anzunehmen, muß ich Euch sagen, daß ich von Geburt ein Königssohn bin.

Der König, mein Vater, hatte einen Bruder, der wie er in einem benachbarten Staate herrschte; dieser Bruder hatte zwei Kinder, einen Prinzen und eine junge Prinzessin; der Prinz und ich, wir waren beinahe in demselben Alter.

Als meine Erziehung vollendet war und der König, mein Vater, mir eine anständige Freiheit gegeben hatte, besuchte ich regelmäßig jedes Jahr den König, meinen Oheim, und blieb an seinem Hofe einen oder zwei Monate, worauf ich wieder zu dem Könige, meinem Vater, zurückkehrte.

Diese Besuche gaben Anlaß, daß ich mit dem Prinzen, meinem Vetter, eine sehr feste und innige Freundschaft stiftete. Das letztemal, daß ich ihn sah, empfing er mich mit größeren Beweisen der Zärtlichkeit als sonst, und zu einem Feste, das er mir eines Tages gab, machte er außerordentliche Anstalten. Wir saßen lange bei Tische, und nachdem wir beide wohl gespeist hatten, sprach er zu mir:

»Lieber Vetter, Ihr würdet wohl nie erraten, womit ich mich seit Eurem letzten Besuche beschäftigt habe. Es ist ein Jahr seit Eurer Abreise verflossen: ich setzte eine große Anzahl Werkleute in Tätigkeit zur Ausführung eines Entwurfs, den ich im Sinne habe. Ich habe ein Gebäude aufführen lassen, das vollendet ist, und darin man schon wohnen kann: es wird Euch nicht leid tun, es zu sehen: aber Ihr müßt mir zuvor einen Eid der Verschwiegenheit und Treue leisten, diese beiden Dinge fordere ich von Euch.«

Die Freundschaft und Vertraulichkeit, die zwischen uns obwalteten, erlaubten mir nicht, ihm etwas zu versagen, und ich leistete ohne Bedenken den von ihm gewünschten Eid. Darauf sagte er zu mir: »Erwartet mich hier, ich bin in einem Augenblicke wieder bei Euch.«

In der Tat säumte er nicht wiederzukommen, und ich sah ihn mit einer prächtig gekleideten Frau von ungemeiner Schönheit eintreten. Er sagte mir nicht, wer sie wäre, und ich glaubte mich nicht darnach erkundigen zu dürfen. Wir setzten uns mit der Frau wieder zu Tische und blieben hier noch einige Zeit, indem wir uns von gleichgültigen Dingen unterhielten und dabei aus vollen Schalen gegenseitig auf unsere Gesundheit tranken.

Hieraus sagte der Prinz zu mir: »Lieber Vetter, wir haben keine Zeit zu verlieren; tut mir den Gefallen und nehmt diese Frau mit Euch und führet sie in der Richtung nach der Stelle, wo Ihr ein neugebautes Grabmal mit einer Kuppel sehen werdet. Ihr werdet es leicht erkennen; die Türe ist offen; tretet zusammen hinein und erwartet mich: ich werde mich auch bald dort einfinden.«

Meinem Eide getreu, verlangte ich nicht mehr zu wissen. Ich bot der Frau die Hand; und vermittelst der Anzeichen, welche der Prinz, mein Vetter, mir gegeben hatte, führte ich sie glücklich im Mondscheine hin, ohne mich zu verirren.

Kaum waren wir in dem Grabmale angekommen, als auch der Prinz erschien, der uns folgte und einen kleinen Krug voll Wasser, eine Haue und einen kleinen Sack voll Gips trug.

Er bediente sich der Haue, um ein Grab zu zertrümmern, welches mitten in dem Gebäude stand; er brach die Steine einen nach dem andern ab und schichtete sie in einem Winkel auf. Als er sie alle weggeräumt hatte, wühlte er die Erde auf, und ich sah eine Falltüre, die unter dem Grabmale verborgen war. Er hob sie auf, und darunter erblickte ich die obersten Stufen einer Wendeltreppe.

Jetzt wandte mein Vetter sich zu der Frau und sagte: »Schöne Frau, hier ist der Eingang zu dem Orte, von welchem ich Euch gesagt habe.«

Die Frau trat auf diese Worte näher und stieg hinab; aber zuvor wandte er sich nach mir um und sagte: »Lieber Vetter, ich bin Euch unendlich verbunden für die Mühe, der Ihr Euch unterzogen habt; ich danke Euch dafür. Lebet wohl!« – »Mein lieber Vetter,« rief ich aus, »was soll dieses bedeuten?« – »Lasset Euch hieran genügen«, antwortete er; »Ihr könnt den Weg wieder zurücknehmen, den Ihr gekommen seid ...«

Bis hierher war Scheherasade gekommen, als der Tag anbrach und sie verhinderte, weiter zu erzählen.

Der Sultan stand aus, sehr begierig, die Absicht des Prinzen und der Frau zu erfahren, welche sich lebendig begraben zu wollen schienen. Ungeduldig erwartete er die folgende Nacht, um Aufklärung darüber zu erhalten.

 

Zweiundvierzigste Nacht.

Nachdem Schachriar der Sultanin bezeugt hatte, daß sie ihm viel Vergnügen machen würde, wenn sie die Geschichte des ersten Kalenders fortsetzte, nahm sie den Faden derselben wieder aus mit folgenden Worten:

»Gnädige Frau,« sagte der Kalender zu Sobeïden, »ich konnte nichts weiter von dem Prinzen, meinem Vetter, herausbringen, und ich war genötigt, von ihm Abschied zu nehmen.

Indem ich zu dem Palaste des Königs, meines Oheims, zurückkehrte, stiegen die Weindünste mir zu Kopf. Ich erreichte jedoch glücklich mein Zimmer und legte mich nieder.

Als ich am folgenden Morgen bei meinem Erwachen an das zurückdachte, was mir die Nacht begegnet war, und alle Umstände eines so seltenen Abenteuers in mein Gedächtnis zurückrief, dünkte es mich wie ein Traum.

Erfüllt von diesem Gedanken, sandte ich hin und ließ fragen, ob ich den Prinzen, meinen Vetter, wohl besuchen dürfte. Aber als man mir den Bescheid brachte, daß er nicht zu Hause geschlafen hätte, und daß man nicht wüßte, was aus ihm geworden, und man deshalb sehr in Sorgen wäre, so erkannte ich wohl, daß die seltsame Begebenheit des Grabmals nur zu wahr wäre.

Ich wurde herzlich betrübt darüber, entzog mich aller Gesellschaft und begab mich heimlich auf den öffentlichen Begräbnisplatz, wo eine Anzahl Grabmäler standen, welche dem ähnlich waren, das ich gesehen hatte. Ich brachte den ganzen Tag zu, sie eines nach dem andern zu betrachten; aber ich konnte dasjenige nicht herausfinden, das ich suchte, und ich setzte vier Tage lang dieselbe Nachforschung vergeblich fort.

Ich muß bemerken, daß während dieser Zeit der König, mein Oheim, abwesend war; er war schon seit mehreren Tagen auf der Jagd. Es währte mir zu lange, ihn zu erwarten; und nachdem ich seine Minister gebeten hatte, ihm bei seiner Heimkehr meine Entschuldigung zu machen, verließ ich seinen Palast und begab mich wieder an den Hof meines Vaters, von welchem ich niemals so lange entfernt gewesen war. Ich ließ die Minister des Königs, meines Oheims, sehr in Sorgen über das Schicksal des Prinzen, meines Vetters. Aber um den Eid nicht zu verletzen, welchen ich ihm getan hatte, sein Geheimnis zu bewahren, wagte ich es nicht, sie aus der Unruhe zu ziehen und ihnen etwas von dem mitzuteilen, was ich wußte.

Ich kam in der Hauptstadt an, worin mein Vater seinen Hof hielt, und wider Gewohnheit fand ich an der Tür seines Palastes eine zahlreiche Wache, von welcher ich beim Eintritte umringt wurde. Ich fragte nach der Ursache davon: und der Offizier nahm das Wort und erwiderte: »Prinz, das Heer hat dem Großwesir anstatt Eures Vaters, der nicht mehr ist, gehuldigt, und ich nehme Euch im Namen des neuen Königs gefangen.«

Bei diesen Worten ergriff mich die Wache und führte mich vor den Tyrannen. Denket Euch, Herrin, mein Erstaunen und meinen Schmerz.

Dieser abtrünnige Wesir hatte einen tödlichen Haß auf mich, welchen er schon lange bei sich nährte. Folgendes war der Grund desselben: in meiner zartesten Jugend schoß ich gern mit der Armbrust; eines Tages stand ich oben auf dem flachen Dache des Palastes und belustigte mich damit, zu schießen: da zeigte sich vor mir ein Vogel, ich zielte nach ihm, aber ich schoß vorbei, und der Pfeil fuhr unglücklicherweise dem Wesir, welcher auf dem Dache seines Hauses frische Luft schöpfte, gerade ins Auge und bohrte es ihm aus. Sobald ich dieses Unglück erfuhr, ließ ich dem Wesir Entschuldigungen machen und machte sie ihm auch selber: er aber behielt stets den bittersten Groll gegen mich, von welchem er mir bei jeder Gelegenheit Beweise gab. Er ließ ihn auf eine unmenschliche Weise ausbrechen, als er jetzt mich in seiner Gewalt sah: wie ein Rasender rannte er auf mich zu, sobald er mich erblickte, griff mit seinen Fingern in mein rechtes Auge und riß es mir selber aus. Da habt Ihr das Abenteuer, wodurch ich einäugig ward.

Aber der Tyrann begnügte damit noch nicht seine Grausamkeit; er ließ mich in einen Kasten sperren und befahl dem Scharfrichter, mich in diesem Zustande weit vom Palaste wegzutragen und mich den Vögeln zum Raube zu geben, nachdem er mir den Kopf abgeschlagen hätte. Der Scharfrichter, in Begleitung eines andern Mannes, stieg zu Pferde, nahm den Kasten, ritt so hinaus und hielt auf dem Felde still, um seinen Befehl zu vollziehen. Aber ich brachte es durch meine Bitten und Tränen dahin, daß ich sein Mitleid erregte. »Gehet,« sagte er zu mir, »und verlasset schleunig das Königreich, und hütet Euch wohl, wieder herzukommen; denn Ihr würdet Eurem Verderben begegnen und zugleich der Urheber des meinen sein.« Er bekräftigte dies durch folgende Verse:

»Rette dein Leben, wenn Nachstellungen dich verfolgen, und laß dein Haus über die Abwesenheit seines Erbauers wehklagen.

Du wirst immer ein anderes Land finden anstatt dessen, das du verlässest; aber dich selbst kannst du nicht wieder herstellen.«

Ich dankte ihm für die Gnade, die er mir erwies, und ich war nicht sobald allein, als ich mich über den Verlust meines Auges tröstete, indem ich bedachte, daß ich einem noch größeren Unglück entronnen war.

In dem Zustande, worin ich mich befand, konnte ich keinen weiten Weg zurücklegen; ich verbarg mich bei Tage an abgelegenen Örtern und wanderte während der Nacht so weit, als es meine Kräfte erlaubten. Endlich langte ich in den Staaten des Königs, meines Oheims, an und begab mich nach seiner Hauptstadt.

Ich machte ihm eine umständliche Erzählung von der verhängnisvollen Ursache meiner Wiederkehr und des traurigen Zustandes, worin er mich sah. »Weh,« rief er aus, »war es noch nicht genug, meinen Sohn verloren zu haben! Mußte ich den Tod eines so teuren Bruders erleben und dich in diesem so jammervollen Zustande sehen!«

Er teilte mir die Unruhe mit, in welcher er sich befand, daß er keine Kunde von dem Prinzen, seinem Sohne, bekommen, welche Nachforschungen er auch angestellt und welche Mühe er auch angewendet hatte. Dieser unglückliche Vater weinte heiße Tränen, indem er mit mir sprach, und erschien mir in solcher Betrübnis, daß ich seinem Schmerze nicht widerstehen konnte. Welchen Eid ich auch dem Prinzen, meinem Vetter, geschworen hatte, es war mir unmöglich, ihn zu halten. Ich erzählte dem Könige, seinem Vater, alles, was ich wußte.

Der König hörte mit Verwunderung zu, und als ich geendigt hatte, sagte er zu mir: »Lieber Neffe, die Entdeckung, die du mir machst, gibt mir einige Hoffnung. Es ist mir bekannt, daß mein Sohn ein Grabmal erbauen ließ, und ich weiß ungefähr, in welcher Gegend: mit Hilfe der Erinnerung, welche dir davon geblieben ist, schmeichle ich mir, daß wir es wiederfinden werden. Aber weil er es heimlich hat bauen lassen und einen Eid von dir gefordert hat, so bin ich der Meinung, daß wir beide ganz allein ausgehen, es zu suchen, um alles Aufsehen zu vermeiden.«

Er hatte noch eine andere Ursache, aller Welt die Kenntnis hiervon zu entziehen, verschwieg sie mir aber. Und diese Ursache war eine höchst wichtige, wie der Verfolg meiner Geschichte kund tun wird.

Wir verkleideten uns beide und gingen durch eine Gartentür hinaus aufs Feld. Wir waren glücklich genug, bald zu finden, was wir suchten. Ich erkannte das Grabmal und hatte umso größere Freude darüber, als ich es lange vergeblich gesucht hatte. Wir traten hinein und fanden die eiserne Falltüre über dem Eingange zugeschlagen. Wir hatten Mühe, sie aufzuheben, weil der Prinz sie von innen mit dem Gips und Wasser, wovon ich vorhin gesagt habe, vermauert hatte; doch hoben wir sie endlich auf.

Der König, mein Oheim, trat zuerst hinein; ich folgte ihm, und wir stiegen etwa fünfzig Stufen hinab. Als wir am Fuße der Treppe waren, befanden wir uns in einer Art von Vorzimmer, das ganz von einem dicken, übelriechenden Dampfe erfüllt war, welcher das Licht von einem sehr schönen Kronleuchter verdunkelte.

Aus diesem Vorzimmer traten wir in einen großen Saal, der auf starken Säulen ruhte und von mehreren andern Kronleuchtern erhellt war. In seiner Mitte war ein Wasserbecken, und man sah hier auf der einen Seite Mundvorräte mancherlei Art aufgeschichtet. Wir waren sehr verwundert, auch hier niemand zu finden. Der Türe gegenüber war eine ziemlich hohe Bühne, zu welcher man einige Stufen hinanstieg, und auf welcher ein sehr breites Bette stand, dessen Vorhänge zugezogen waren. Der König stieg hinauf, öffnete sie und erblickte den Prinzen, seinen Sohn, neben der Frau liegen, aber beide ganz verbrannt und in Kohlen verwandelt, wie wenn sie in ein großes Feuer geworfen und wieder herausgezogen wären, bevor sie gänzlich verzehrt worden.

Was mich noch mehr als alles andere erstaunte bei diesem Entsetzen erregenden Anblick, war, daß der König, mein Oheim, anstatt Betrübnis über diesen scheußlichen Zustand seines Sohnes zu zeigen, ihm ins Angesicht spie, indem er mit erzürnter Miene zu ihm sprach: »Siehe, das ist die Strafe auf dieser Welt; aber die der andern Welt wird ewig dauern.«

Er begnügte sich hiermit noch nicht, sondern er zog seinen Schuh aus und gab damit seinem Sohne einen derben Schlag aus die Backe.

Aber Herr,« sagte Scheherasade, »es ist Tag, und es tut mir leid, daß Euer Majestät nicht Muße hat, weiter zu hören.«

Da die Geschichte des ersten Kalenders noch nicht vollendet war und sie dem Sultan sehr seltsam schien, stand er mit dem Entschluß auf, in der folgenden Nacht das übrige zu hören.

 

Dreiundvierzigste Nacht.

Als die Sultanin sah, daß ihre Schwester fast vor Ungeduld starb, das Ende der Geschichte des ersten Kalenders zu vernehmen, sagte sie:

»Nun wohl, höre denn, wie der erste Kalender Sobeïden seine Geschichte zu Ende erzählte.

»Ich kann nicht ausdrücken, gnädige Frau,« fuhr er fort, »wie groß mein Erstaunen war, als ich den König, meinen Oheim, auf solche Weise den Prinzen, seinen Sohn, im Tode mißhandeln sah. »Herr,« sagte ich zu ihm, »wie groß auch der Schmerz ist, welchen ein so unseliger Anblick mir verursachen mag, dennoch muß ich ihn hemmen, um Euer Majestät zu fragen, welches Verbrechen der Prinz, mein Vetter, begangen haben kann, das verdiente, daß Ihr seinen Leichnam also behandelt.« –

»Lieber Neffe,« antwortete mir der König, »ich muß dir sagen, daß mein Sohn, der unwürdig ist, diesen Namen zu führen, von frühster Jugend auf seine Schwester liebte und diese ihn ebenso wiederliebte. Ich widersetzte mich nicht ihrer aufkeimenden Zuneigung, weil ich das Unheil nicht voraussah, welches daraus entstehen konnte. Und wer hätte es voraussehen können? Diese Zärtlichkeit wuchs mit den Jahren und stieg zu einer Höhe, daß ich endlich die Folgen davon fürchtete. Ich wandte nun alle Gegenmittel an, die in meiner Macht standen. Ich begnügte mich nicht, meinem Sohn unter vier Augen einen scharfen Verweis zu geben, indem ich ihm das Frevelhafte der Leidenschaft vorstellte, der er sich hingab, und die ewige Schmach, womit er seine Familie bedecken würde, wenn er in seinen verbrecherischen Lüsten beharrte; ich machte meiner Tochter dieselben Vorstellungen, und ich sperrte sie so eng ein, daß sie keine Verbindung mehr mit ihrem Bruder hatte. Aber die Unglückliche hatte das Gift schon verschluckt, und alle Hindernisse, die meine Vorsicht ihrer Liebe entgegenstellen konnte, dienten nur dazu, dieselbe noch mehr zu reizen.

Mein Sohn war überzeugt, daß seine Schwester unverändert für ihn blieb, und er ließ unter dem Vorwande, sich ein Grabmal zu bauen, diese unterirdische Wohnung anlegen in der Hoffnung, eines Tages Gelegenheit zu finden, den mitschuldigen Gegenstand seiner Glut hierher zu entführen. Er hat die Zeit meiner Abwesenheit benutzt, den Gewahrsam seiner Schwester zu sprengen: und dies ist ein Umstand, welchen die Ehre mir nicht erlaubte kund werden zu lassen. Nach einer so verdammlichen Tat hat er sich dann mit ihr an diesem Orte versperrt, welchen er, wie du siehst, mit Vorräten aller Art versehen hat, um darin recht lange seiner grauenvollen Lüste zu genießen, welche alle Welt mit Entsetzen erfüllen müssen. Aber Gott hat diesen Greuel nicht dulden wollen und hat sie beide nach Verdienst bestraft.«

Er zerfloß in Tränen, indem er diese Worte aussprach, und ich vermischte meine Tränen mit den seinen.

Nach einer Weile warf er den Blick auf mich, und indem er mich umarmte, fuhr er fort: »Aber, mein lieber Neffe, wenn ich meinen unwürdigen Sohn verliere, so finde ich glücklicherweise in dir einen, der seine Stelle besser ausfüllt.« Die Betrachtungen, welche er hierauf noch über das traurige Ende des Prinzen und der Prinzessin anstellte, entlockten uns neue Tränen.

Wir stiegen dieselbe Treppe wieder hinauf und verließen endlich diesen grauenvollen Ort. Wir ließen die eiserne Falltüre nieder und bedeckten sie mit Erde und Schutt von dem abgebrochenen Grabe, um so viel als möglich ein so furchtbares Beispiel des göttlichen Strafgerichts zu verbergen.

Wir waren noch nicht lange zurück in den Palast, ohne daß jemand unsere Abwesenheit bemerkt hatte, als wir ein verworrenes Getöse von Trompeten, Pauken, Trommeln und andern Kriegsinstrumenten hörten. Ein dicker Staub, der die Luft verfinsterte, bedeutete uns alsbald, was es wäre, und verkündigte uns den Anzug eines furchtbaren Kriegsheeres.

Es war derselbe Wesir, der meinen Vater entthront und sich seiner Staaten bemächtigt hatte und nun mit zahllosen Heerscharen daherkam, um sich auch der Staaten des Königs, meines Oheims, zu bemächtigen.

Dieser Fürst, der damals nur seine gewöhnliche Leibwache um sich hatte, konnte so vielen Feinden nicht widerstehen. Sie umringten die Stadt, und da ihnen die Tore ohne Widerstand geöffnet wurden, so hatten sie wenig Mühe, sich derselben zu bemeistern. Nicht mehr Mühe hatten sie, bis zum Palaste des Königs, meines Oheims, vorzudringen, welcher sich zwar zur Wehr setzte, aber getötet wurde, nachdem er sein Leben teuer verkauft hatte. Ich meinerseits focht noch einige Zeit, aber als ich wohl einsah, daß ich der Übermacht weichen mußte, war ich auf meinen Rückzug bedacht. Ich hatte das Glück, mich auf Umwegen zu retten und mich zu einem Offizier des Königs zu flüchten, dessen Treue mir bekannt war.

Von Leiden gebeugt, vom Schicksal verfolgt, nahm ich meine Zuflucht zu einer List, als dem einzigen Mittel, das mir übrig blieb, mein Leben zu fristen. Ich ließ mir den Bart und die Augenbrauen scheren, und nachdem ich mich als Kalender gekleidet hatte, ging ich aus der Stadt, ohne daß jemand mich erkannte.

Hierauf war es mir leicht, mich aus dem Reiche des Königs, meines Oheims, zu entfernen, indem ich auf abgelegenen Wegen fortwanderte. Ich vermied, durch die Städte zu gehen, bis daß ich in das Reich des mächtigen Beherrschers der Gläubigen, des ruhmreichen und berühmten Kalifen Harun Arreschid gelangte, wo meine Furcht aushörte. Da ging ich mit mir zur Rate, was ich tun sollte, und faßte den Entschluß, hierher nach Bagdad zu gehen und mich diesem großen Fürsten zu Füßen zu werfen, dessen Edelmut überall gepriesen wird. »Ich werde ihn,« sagte ich bei mir selber, »durch die Erzählung einer so erstaunlichen Geschichte, als die meine ist, rühren; er wird ohne Zweifel Mitleid mit einem unglücklichen Prinzen haben, und nicht vergeblich werde ich seinen Schutz anflehen.«

Endlich nach einer Reise von mehreren Monaten habe ich heute das Tor dieser Stadt erreicht; gegen Abend bin ich hereingegangen, und indem ich ein wenig verweile, mich wieder zu sammeln und zu überlegen, nach welcher Seite hin ich meine Schritte lenken solle, kommt dieser andere Kalender, den Ihr bei mir seht, auch als Reisender an. Er grüßt mich, ich grüße ihn wieder. »Nach Eurem Aussehen,« sage ich zu ihm, »seid Ihr ein Fremder wie ich.« Er antwortet mir, daß ich mich nicht irre. In dem Augenblicke, daß er mir diese Antwort gibt, kommt der dritte Kalender, den Ihr hier seht, dazu. Er grüßt uns und gibt zu erkennen, daß er ebenfalls ein Fremder und neuer Ankömmling zu Bagdad ist. Als Brüder gesellen wir uns zueinander und fassen den Entschluß, uns nicht zu trennen.

Unterdessen war es spät geworden, und wir wußten nicht, wo wir eine Herberge finden sollten in einer Stadt, wo wir ganz unbekannt und nie zuvor gewesen waren. Aber unser gutes Glück führte uns an Eure Türe, und wir nahmen uns die Freiheit, anzuklopfen; Ihr habt uns mit so viel Freundlichkeit und Güte empfangen, daß wir nicht genug dafür danken können.

Da habt Ihr nun, gnädige Frau,« fügte er hinzu, »was Ihr mir befahlet, Euch zu erzählen: warum ich mein rechtes Auge verloren habe, warum ich den Bart und die Augenbrauen geschoren trage, und warum ich in diesem Augenblicke bei Euch bin.«

»Es ist genug,« sagte Sobeïde, »wir sind zufrieden; geht, wohin ihr wollt.« Der Kalender entschuldigte sich und bat die Herrin um die Erlaubnis, dableiben zu dürfen, um die Genugtuung zu haben, die Geschichte seiner beiden Mitbrüder zu hören, welche er, wie er sagte, nicht mit Ehren verlassen könnte, sowie die Geschichte der drei übrigen Personen der Gesellschaft.

Herr,« sagte Scheherasade bei dieser Stelle, »der anbrechende Tag verhindert mich, zu der Geschichte des zweiten Kalenders überzugehen, aber wenn Eure Majestät sie morgen hören will, so wird sie Euch nicht weniger unterhalten als die des ersten Kalenders.«

Der Sultan willigte darein und stand auf, um in die Ratsversammlung zu gehen.

 

Vierundvierzigste Nacht.

Dinarsade, die nicht zweifelte, daß die Geschichte des zweiten Kalenders ihr ebensoviel Vergnügen gewähren würde als die des ersten, ermangelte nicht, die Sultanin vor Tage aufzuwecken und sie zu bitten, die versprochene Geschichte anzufangen.

Scheherasade wandte sich sogleich zu dem Sultan und sprach also:

»Herr, die Geschichte des ersten Kalenders bedünkte der ganzen Gesellschaft sehr seltsam, und vor allem dem Kalifen. Die Gegenwart der Sklaven, mit ihren Säbeln in der Faust, hielt ihn nicht ab, ganz leise zu dem Wesir zu sagen: »Solange ich denken kann, habe ich wohl mancherlei Geschichten gehört, aber niemals habe ich etwas vernommen, das der Geschichte dieses Kalenders gleich käme.«

Während er also sprach, nahm der zweite Kalender das Wort, wandte sich zu Sobeïden und sprach also:


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