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Siebentes Kapitel

Die beiden Wörtlein ›wenn‹ und ›dann‹ sind es, um die sich viele, unzählige Menschen ebenso unnütze wie törichte Kümmernisse, Vorwürfe, bittere Stunden, Tage, ja womöglich Jahre bereiten. »Wenn ich oder jener das und das gesagt oder getan hätte, dann wäre dies oder jenes nicht geschehen.« – »Wenn mein Nachbar friedlicher wäre, dann hätte ich seiner bösen Zunge wegen nicht so viel zu leiden.« Das alles mag ja richtig und unbestreitbar sein, aber eigentlich ist es doch ganz unverständlich, sich um dieses vertrackte ›wenn‹ schlimme Zeiten selbst zu schaffen, genau so, als ob man jammern wollte: »Wenn der Elefant Flügel hätte, dann könnte er fliegen und er käme rascher von der Stelle.« Denn eins ist ausgerechnet so dumm wie das andere, mag man es drehen wie man will. Gewiß, ›wenn‹ Eschweiler sich hätte entschließen können, vierundzwanzig Stunden oder auch nur zwölf Stunden später von Siena abzureisen, ›dann‹ wären ihm viele Aufregungen erspart geblieben. Da wir Menschen allzumal jedoch aus eigener Machtvollkommenheit nicht in die Zukunft, nicht einmal in die allernächste sehen können, so ist es wirklich nicht nur überflüssig, sondern geradezu töricht, sich und andere mit dem fatalen ›wenn‹ zu quälen, für das man doch in den meisten Fällen nicht verantwortlich zu machen ist.

Eschweiler wollte und konnte durch fruchtloses Verzögern kein Gras über den Weg wachsen lassen, den einzuschlagen ihm Pflicht und Gewissen vorschrieben, nachdem er die Gewißheit erlangt hatte, daß Margarita nach Recht und Gesetz seine Frau nicht war. Die Kette der Beweise dafür war so gut wie geschlossen, denn wenn auch der rechtmäßige Gatte seinen Brief an Eschweiler nicht mit seinem Namen unterzeichnet hatte, sondern mit seinem › alias›, so war gerade dieses, das er nachträglich dem mit Maschine geschriebenen Brief mit Tinte in Klammer seinem Henri Leclair vorgesetzt, so gut als hätte er statt dessen »Heinrich Liczewski« geschrieben, was auch als ein Beweis anzusehen war, daß er am Leben war, als seine Frau, abgesehen von ihrer Scheinehe mit dem Fürsten Karabugas, eine zweite Ehe einging, die nicht nur ungültig war, sondern vor dem Gesetz als Bigamie galt, selbst wenn sie im guten Glauben gehandelt hatte, die Witwe des ersten Gatten zu sein.

Es war kurz vor Mitternacht, als Eschweiler auf der für Schnellzüge fakultativen Haltestelle eintraf, welche seinem Landsitz, etwa zwei Kilometer davon entfernt, am nächsten lag. Schon von Rom aus hatte er sich bei dem Schloßverwalter den Wagen nach dieser Station bestellt; die Karte mußte, seiner Berechnung nach, spätestens am Nachmittag dieses Tages in den Händen des Adressaten gewesen sein. Der Wagen aber war nicht da, also war die Karte entweder noch nicht eingetroffen, oder der Verwalter hatte die Bestellung verdöst, was beides wohl möglich war, weil Postsachen, namentlich aus dem Ausland, sich öfter verspäten und es auch in den besten Häusern vorkommt, daß Bestellungen auf der langen Bank liegen bleiben, das heißt vergessen werden. Da von dieser Station aus eine telephonische Verbindung bei Nacht nicht möglich war, so blieb Eschweiler nichts anderes übrig, als sein Gepäck beim Stationsvorstand zu hinterlegen, und sich zu Fuß auf den Heimweg zu machen, ahnungslos, daß ihm auch aus diesem Zwischenfall ein Schnitt in sein Kerbholz gemacht werden sollte.

Zum Glück war die Nacht schön und mondhell, als er etwa zehn Minuten nach Mitternacht seinen Weg antrat, und wenn es ja auch nicht gerade angenehm war, nach der langen Eisenbahnfahrt noch zu einem Spaziergang gezwungen zu werden, so mußte eben gute Miene zum bösen Spiel gemacht werden und war schließlich immer noch der Alternative vorzuziehen, auf den harten Holzbänken des sogenannten ›Wartesaals‹ der Haltestelle zu warten, bis der verschlafene Gepäckträger sich auf den Weg gemacht, daheim erst den Kutscher geweckt hatte und dann mit dem Wagen zurückgekehrt war. Eschweiler war ein flotter Fußgänger, und so hatte er die paar Kilometer in etwa einer halben Stunde zurückgelegt und betrat nach Ablauf dieser Zeit die Anlagen vor seinem Landsitz, der im hellen Mondlicht so schön, friedlich und malerisch vor ihm lag wie nur irgend möglich.

Die einfache Bezeichnung ›Haus‹ hätte man füglich entweder für eine übergroße Bescheidenheit oder aber für eine großartige Überhebung halten können; denn das Gebäude durfte man schon ohne jede Übertreibung ›Schloß‹ nennen. Es war ein in der Front langgestreckter Palast mit Kuppel im Spätbarockstil, zu dessen einzigem, über ein hohes Souterrain aufstrebenden, mit hohem Mansardendach gekrönten Stockwerk eine doppelte, weit ausladende Freitreppe hinaufführte. An diesem Haupttrakt waren zu beiden Seiten nach dem Park zu hufeisenförmig Seitenflügel angebaut, mit dem Hauptgebäude einen nach Norden zu offenen Hof bildend, von welchem aus man durch Seitentüren in die beiden Flügel gelangen konnte, ohne das große Portal oberhalb der Freitreppe zu benutzen. In diesem Hof befand sich ein schöner Brunnen, der eine genaue Nachbildung der Fontana del' Tritone auf der Piazza Barberini in Rom war. Der Hof selbst öffnete sich nach dem großen, wohlgepflegten Park, in welchem sich der von uralten Eschen umgebene Weiler befand, der dem Schloß und seinen ersten Besitzern den Namen gegeben.

Eschweiler schritt links um das vom silbernen Mondlicht märchenhaft umflutete Haus, dessen Fensterscheiben zu dieser späten Stunde alle dunkel waren, betrat den Hof und zog den Schlüssel, den er für das Patentschloß der Tür zum linken Flügel bei sich hatte, aus der Tasche, um zu seinen Zimmern hinaufzugelangen. Der Hof bildete, wie schon erwähnt, ein nach Norden zu offenes Viereck, von drei Seiten eingefaßt durch den Mitteltrakt und die beiden Seitenflügel, deren Zimmerfenster nach außen lagen, während innen um die drei Seiten ein durch viele Fenster erleuchteter, loggienähnlicher Korridor lief, welcher die Verbindung aller Flügel miteinander vermittelte. Margarita hatte, als sie nach ihrer Vermählung in Baden-Baden zum erstenmal Haus Eschweiler für wenige Tage betrat, den rechten Flügel zu ihren Wohnräumen gewählt – nebenbei eine Flucht von acht größeren und kleineren Zimmern –, die Möbel aus dem linken Flügel, in welchem Eschweiler sich mit zwei Gemächern für seine Junggesellenbedürfnisse begnügt hatte, herüberschaffen, andere von dort hinübertragen lassen und sich also von ihrem Gatten vollständig abgesondert, ohne erst lange zu fragen, ob es ihm so recht sei, während er an einem der wenigen Morgen nach seinen Bergwerken geritten war. Ihn dahin zu begleiten, hatte sie mit der Begründung abgelehnt, daß Bergwerke sie gar nicht interessierten. Nun, das mochte sein wie ihm wollte, aber Eschweiler hatte die wenig freundliche Ablehnung verstimmt und gekränkt, schon weil er es für klüger hielt, einen Mangel an Interesse für die Kuh, so die Milch gab, das heißt den Reichtum des Hauses darstellte, wenigstens unter einer Maske zu verbergen, weil die Knappschaft der Gemahlin ihres Grubenherrn einen feierlichen Empfang vorbereitet hatte, der dadurch ins Wasser fiel. Und weil Margaritas Weigerung, ihn zu begleiten, ihn verstimmt und für seine Leute mit verletzt hatte, so ging er über die während seiner Abwesenheit in Szene gesetzte Veränderung der Wohnung ohne ein Wort hinweg, ließ die von ihr verlassenen Räume abschließen und zog sich in seine alten Junggesellenzimmer zurück. Eine andere Erklärung von Margaritas Seite, als daß sie nach Osten gelegene Wohnräume vorziehe, erfolgte nicht. Er ließ sie ohne Kommentar, und als nach der Heimkehr von London Margarita ihren Flügel bezog und er den seinen, blieb die Scheidewand zwischen den beiden Gatten bestehen, wie sie von ihr aufgerichtet worden war. Frau zur Mühle hatte eines der schönen großen Mansardenzimmer mit Ochsenaugenfenstern oberhalb der Wohnung Margaritas bezogen. Zu diesen Zimmern führte eine Treppe hinauf, die in dem Knie mündete, welches der Verbindungskorridor nach dem Mitteltrakt zu bildete und sein Gegenstück jenseits im Westflügel hatte.

Als Eschweiler den Schlüssel in die Haustür zu dem letzteren steckte, warf er einen Blick hinüber nach dem Ostflügel, eine rein mechanische Bewegung, um sich zu versichern, daß alle Fenster geschlossen, alles dort in Ordnung war. In diesem Augenblick sah er, wie sich die Tür zu dem innen noch erleuchtete Schlafzimmer Margaritas öffnete und rasch wieder schloß, auch meinte er einen dunklen Schatten über die helle Rückwand des verglasten Korridors nach der Treppe zu huschen zu sehen. Beide Wahrnehmungen befremdeten ihn jedoch nicht, denn er wußte, daß Margarita schon aus Gewohnheit späte Stunden liebte und überdies auch eine Nachtlampe brannte. Und was den Schatten betraf, so mochte es der der Kammerfrau gewesen sein, die für die vielen nächtlichen Störungen, veranlaßt durch die unberechenbaren Wünsche und Launen ihrer Herrin, ein glänzendes Gehalt bezog und darum auch ›getreu‹ ausharrte.

Eschweiler ließ sich also in sein Haus ein, stieg in seine Zimmer hinauf, und nachdem er die Fenster seines Schlafzimmers weit geöffnet, weil die Luft darin schwer und dumpf war, und sich im Badezimmer durch eine Dusche erfrischt hatte, legte er sich zur Ruhe. Aber einschlafen konnte er nicht. Nach einer langen Eisenbahnfahrt pflegen die Nerven durch das unablässige Schütteln und Rütteln des Zuges auch bei gesunden Menschen noch eine Weile nachzuvibrieren, zudem war Eschweiler von der Station aus rasch gelaufen, und endlich beschäftigte ihn, was ihm bevorstand, zu sehr, um ihn gleich zur Ruhe kommen zu lassen. Infolgedessen dämmerte der neue Tag schon mit seinem opalartigen, unirdischen Licht im Osten, die ersten Vogelstimmen, das leise, süße Flöten der Amseln ließ sich bereits hören, als er endlich einschlief und erst, als acht Uhr schon vorbei war, durch den Eintritt seines Dieners wieder geweckt wurde, der pfeifend nachsehen kam, was die offenen Fenster der Zimmer seines Herrn zu bedeuten hatten, und nun einen Schreck bekam, ihn, den er gottweißwo glaubte, im Bett liegend fand. Eschweiler, jäh ermuntert, klärte den Mann, der schon lange in seinem Dienst stand, über seine Anwesenheit auf und erfuhr von ihm, daß der Verwalter eine Nachricht von der bevorstehenden Ankunft des Schloßherrn nicht erhalten haben konnte, da er keine Anweisung zur Abholung von der Station und zum sonstigen Empfang erteilt. Dagegen war nun nichts mehr zu wollen, und Eschweiler schickte den Diener fort, heißes Wasser zum Rasieren zu holen und das Frühstück für ihn zu bestellen, sowie die sofortige Abholung des Gepäcks vom Bahnhof zu veranlassen. Eine handliche, leichte Reisetasche mit den allernötigsten Toiletteutensilien und seinen Papieren hatte er selbst heimgetragen, und während er auf das Wasser wartete, schloß er sie auf, um die Papiere einstweilen in seinen Tresor einzuschließen. Er war damit eben fertig, als der Diener mit einer Kanne heißen Wassers zurückkehrte und diese hinstellend, ganz verstört sagte:

»Herr Graf, halten zu Gnaden – es ist etwas geschehen – ein Unglück, wie es scheint. Nämlich, als die Kammerfrau soeben den Tee zur Frau Gräfin hineintrug, den sie im Bett zu nehmen pflegen, fand sie Frau Gräfin daselbst – wie soll ich's nur sagen? – schon ganz kalt vor – sozusagen tot, fürchte ich – –"

»Tot?« wiederholte Eschweiler wie erstarrt. »Das – das ist doch nicht möglich –"

»Frau Gräfin waren gestern noch recht wohl, machten nachmittags eine Ausfahrt mit Frau zur Mühle, und heut – –" stotterte der Diener.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zog Eschweiler seinen Rock an und lief durch den Korridor hinüber nach dem Ostflügel, in welchem er mit Frau zur Mühle, gefolgt von der schreckensbleichen Kammerfrau, zusammenstieß.

»Haben Sie schon – hat man Ihnen gesagt –?" rief sie aus, ein Taschentuch an ihre Augen drückend.

Eschweiler achtete gar nicht auf sie. Ohne Gruß lief er an ihr vorüber und trat in das offenstehende Schlafzimmer Margaritas, vor dessen Tür sich das Personal des Hauses schon mit blassen Gesichtern und neugierigen Augen eingefunden hatte und nun auseinanderstiebend dem unerwartet erschienen Schloßherrn Platz machte, der bei seinen Untergebenen ebenso beliebt, wie seine Frau ihrer Launen und hochmütigen Nichtachtung wegen unbeliebt war.

Und nun stand Eschweiler vor dem Bett, in dessen raffiniert kostbarer, spitzenbesetzter und gestickter Wäsche langausgestreckt die stille Gestalt der Frau lag, um deren Besitz er seinem besseren Instinkt zum Trotz sein Lebensglück aufs Spiel gesetzt.

Sie lag auf dem Rücken, die starren, wachsweißen Hände verkrampft in die rosaseidene Steppdecke, den Kopf mit den furchtbaren, nun weiß gewordenen Narben der linken Wange zurückgeworfen in die Kissen, über die das wellige, bronzebraune Haar offen ausgebreitet lag.

Ein jäher Tod ist immer erschütternder, als ein langersehnter und erwarteter, als Erlöser von schweren Leiden begrüßter. Das plötzliche, unvorhergesehene Hinscheiden eines Menschen, der jemand nahegestanden,

›Bereitet oder nicht zu gehn,
Er muß vor seinem Richter stehn –‹

löscht so manches aus, womit er gefehlt und wehe getan hat, und mag auch die Narbe zurückbleiben, die Wunde schließt es oder sollte es doch tun. Angesichts der erstarrten, marmorkalten Form erlosch der Groll in Eschweilers Herzen, und ein gewisses Mitleid mit dieser irregeleiteten, vom Leben verdorbenen Existenz schlich sich leise in seine Seele ein; und doch – vielleicht war es für die Arme besser so, als wenn sie nach der unvermeidlich gewordenen Trennung womöglich, von Stufe zu Stufe sinkend, irgendwo verdorben und untergegangen wäre. Nun durfte er Großmut üben und was er von ihr wußte, unter seinem ehrlichen Namen begraben lassen. ›Es sollte ihre letzte Lüge sein‹, und mit diesem Entschluß drückte er ihr die Augen zu, mit denen sie im Leben so viel Unheil angerichtet.

Das Bett, in welchem die Leiche lag, stand, das Kopfende an der Wand, mit beiden Seiten frei in das Zimmer herein. Der Tür zunächst, durch die Eschweiler eingetreten, hatte er sich auf der rechten Seite befunden und ging nun um das Bett herum, um die von der Kammerjungfer, als sie mit dem Tee gekommen war, schon aufgezogenen Fenstervorhänge wieder zuzuziehen. Dabei zurückblickend, sah er auf der linken Bettseite, wo der Nachttisch stand, zu Füßen desselben die wie ein Spielzeug aussehende Browningpistole kleinsten Kalibers liegen, welche Margarita besessen und immer in der Nachttischschublade geladen neben ihrem Bett hatte; denn sie hatte eine krankhafte Angst vor nächtlichen Überfällen, schlief aber trotzdem immer bei unverschlossenen Türen. Eschweiler sah dabei aber noch mehr, was er, an der rechten Bettseite stehend, nicht bemerkt: nämlich in der linken Schläfe der Toten ein kleines, rotes, ringsum versengtes und geschwärztes Loch, ein Beweis, daß ein Schuß, aus dieser Waffe nur eine geringe Detonation verursachend, dicht an der Schläfe abgefeuert worden war. Hatte Margarita Selbstmord verübt? Und an der linken Seite, mit der linken Hand?!

Ein paar Atemzüge lang stand Eschweiler mit stockendem Herzen vor dieser Entdeckung still; dann, die Vorhänge offen lassend, schloß er die beiden Seitentüren des Zimmers, rechts in den Garderobenraum Margaritas, links in ihr Boudoir führend, innen ab, und verließ das Schlafzimmer durch die Tür zum Korridor, vor der noch das ganze Personal des Hauses, zusammengedrängt wie eine Schafherde im Gewitter, versammelt stand, an der Spitze Frau zur Mühle, mit dem Taschentuch die Augen trocknend, was diese gar nicht nötig zu haben schienen.

»Darf ich nähertreten?« fragte sie mit bebender Stimme, als Eschweiler herauskam.

»Nein«, sagte er laut und hart. »Niemand darf dieses Zimmer betreten, kein Gegenstand darin berührt werden, bis der Kriminalbeamte kommt, nach dem ich sofort telephonieren werde. Der Tod meiner Frau ist durch ein Verbrechen verursacht worden.« Und ohne auf das entsetzliche Gemurmel zu achten, das durch die kleine Versammlung lief, machte er, Frau zur Mühle einfach zur Seite schiebend, die Tür zu, schloß sie ab, steckte den Schlüssel in die Tasche und ging zurück in seine Wohnung, in deren Arbeitszimmer er sein eigenes Telephon hatte. Durch dieses rief er das in der Kreisstadt befindliche Kriminalgericht an, um sofortige Absendung eines Beamten und des Gerichtsarztes unter kurzer Begründung des Gesuches bittend.

Nachdem diese wichtige Aufgabe erfüllt war, spürte Eschweiler eine Anwandlung physischer Schwäche, die ihn nötigte, sich zu setzen. Er hatte seit gestern nachmittag nichts mehr genossen; die Erregung über den unerwarteten Tod Margaritas, dann die furchtbare Entdeckung der Ursache ihres Hinscheidens, die jähe Wendung alles dessen, was ihm schon so viele schlaflose Nächte und qualvolle Tage verursacht – kein Wunder, daß ihm die Nerven nun zu versagen drohten, die Natur ihr Recht forderte. Aber er wußte auch, daß noch viel Schweres, Nervenzerreißendes vor ihm lag und ihn zwang, sich zusammenzunehmen. Da trat sein Diener mit einem Servierbrett ein.

»Ich dachte, Herr Graf würden das Frühstück vielleicht lieber im Zimmer nehmen«, sagte er entschuldigend. »Herr Graf sollten wirklich etwas essen, denn so ganz mit leerem Magen – – ich meine, weil man ja doch auch in der Trauer weiter leben muß."

Der ungekünstelte Ausdruck und die ihm zugrunde liegende Fürsorge und Teilnahme des treuen Menschen taten Eschweiler so wohl, daß ihm die Augen feucht wurden. Er ließ ihn aber nicht erst den Tisch decken, sondern trank nur hastig eine Tasse schwarzen Kaffee und ließ sich zureden, ein paar der vorsorglich gleich gestrichenen Brötchen zu essen, worauf er sich wirklich wesentlich besser fühlte.

»Sie haben den Schuß nicht gehört, mit dem meine Frau getötet wurde?" fragte er, als der Diener das Servierbrett wieder hinaustragen wollte.

»Den Schuß?" wiederholte der Mann erstaunt. »Frau Gräfin sind durch einen Schuß – –? Du lieber Gott! Nein, Herr Graf, ich habe keinen Schuß gehört. Ich schlafe ja hier im Westflügel nach dem Garten heraus. Und ich schlafe ja auch so fest, daß ich nicht einmal gehört habe, wie Herr Graf zurückkamen."

Eschweiler war ganz davon überzeugt, daß der Diener die Wahrheit sprach; überdies wußte er auch, daß die Waffe, mit der Margarita getötet worden war, nur eine schwache Detonation verursachte, die bestimmt nicht bis zur Gartenseite des Westflügels gehört werden konnte.

Nachdem der Diener gegangen, vervollständigte er seine noch recht flüchtige Toilette und setzte sich dann an den Schreibtisch, um dem Oberst von Wettenhausen den tragischen Abschluß der ihm ja bekannten Angelegenheit mitzuteilen, sicher, bei diesen beiden Menschen die Teilnahme zu finden, deren er bedurfte, nach der er sich sehnte. Die Feder in der Hand saß er noch vor dem leeren Briefblatt, als es an seiner Tür anklopfte, und auf sein etwas ungeduldiges »Herein!« erschien Frau zur Mühle, ›ganz mit Würd' und Hoheit angetan‹.

»Verzeihung, wenn ich zu dieser Stunde schon störe«, begann sie mit klagendem Ton. »Da Ihr Verhalten mir gegenüber ja aber immer schon ein, wenn auch wortloser Protest gegen meine Gegenwart war, den Sie eben noch zur offenen Unhöflichkeit zu steigern für gut fanden, was ich Ihnen jedoch in Anbetracht der Umstände nicht übelgenommen habe, so wird es wohl angezeigt sein, mich sobald als möglich aus Ihrem Haus zu entfernen. Ich darf mich also wohl als entlassen betrachten.«

Eschweiler schluckte heldenmütig den ihm auf die Zunge tretenden Ausruf ›Scheren Sie sich meinetwegen zum Teufel!‹ hinunter und erwiderte statt dessen kühl:

»Dem Gesetz nach löst der Tod des einen Kontrahenten den Vertrag mit dem anderen mit sofortiger Wirkung auf. Ich halte Sie natürlich nicht zurück, da ich Ihrer nicht bedarf, und Sie ja wohl auch nicht den Auftrag Ihrer Behörde haben, mich politisch zu überwachen. Womit ich nur sagen will, daß ich vollkommen über Ihre Person und den Zweck, zu welchem Sie bei meiner Frau waren, unterrichtet bin. Also wünsche ich Ihnen eine glückliche Reise.«

Der Blick, mit welchem Frau zur Mühle diese Worte quittierte, bewies ihm deutlich, daß er ins Schwarze getroffen. Aber sie faßte sich rasch, bekam einen kleinen Hustenanfall, zuckle mit den Achseln und sagte hohnvoll:

»Herr Graf, Sie sprechen in Rätseln. Nun, es ist wohl jetzt nicht die Stunde, um eine Erklärung zu fordern; denn Sie sind naturgemäß erregt, und da soll man Worte nicht auf die Goldwage legen. Also, ich gehe. Mein Gehalt – –«

»Ach ja, richtig, Ihr Gehalt!« fiel Eschweiler ein. »Bitte einen Moment zu warten, damit ich Ihnen eine Anweisung auf mein Rentamt schreibe, daß Ihnen an Stelle einer monatlichen Kündigung das dafür zustehende Gehalt nebst Reisegeld auszahlen wird. Mit der Abreise werden Sie jedoch noch so lange warten müssen, als die Gerichtskommission, welche wohl bald hier eintreffen dürfte, dies für angezeigt hält.«

»Ist das notwendig?« fragte sie hastig.

»Unumgänglich«, bestätigte er. »Alle die Personen, welche in den letzten Tagen und Stunden mit meiner Frau in Berührung gekommen sind, werden behufs Aufnahme des Befundes zweifellos vernommen werden. Danach wird Ihrer Abreise jedenfalls nichts mehr im Wege stehen.« Ohne Frau zur Mühle zum Niedersetzen aufzufordern, schrieb Eschweiler rasch die Anweisung für sein Rentamt, gab ihr das Papier, das sie ohne überflüssigen Dank trotz des sehr anständig bemessenen Reisegeldes entgegennahm, worauf sie sich ohne Abschied entfernte. Den Blick, der mit einem roten Licht in ihren Augen aufleuchtete, als sie zwischen Tür und Angel sich noch einmal umdrehte, sah Eschweiler nicht mehr; er hätte ihm dann gesagt, daß er einen Todfeind mehr in dieser schönen Welt hatte.

Er schüttelte sich aber, als er die Tür unsanft zuschlagen hörte, und suchte seine Gedanken für den Brief an Wettenhausen zu sammeln, aber ehe er noch soweit war, klopfte es wieder, und mit verweinten Augen erschien die Kammerjungfer. Sie war eine gute fleißige Person, der Dienerschaft angehörend, die Margarita bei ihrer letzten Anwesenheit in Rom selbständig gemietet, um von ›Überwachung‹ befreit zu werden. Diese waschechte Sächsin hatte sicher den Vorzug, in dieser Begehung ganz unverdächtig zu sein; Margarita hatte sie von einer Dame übernommen, die das Mädchen – übrigens eine recht ›bestandene Jungfer‹, dem Alter nach – in Rom entlassen hatte, weil sie, das heißt die Dame, eine überseeische Reise antreten wollte. Daß Minna ihre durchaus nicht bequem gewesene Herrin beweinte, war schon alles mögliche, hatte aber doch noch einen anderen Grund.

»Herr Graf wollen gnädigst entschuldigen«, begann sie schluchzend. »Nämlich, die gnädige Frau zur Mühle, der ich eben begegnete, sagte mir, ich soll nur gleich mein Bündel schnüren und mich packen, weil Herr Graf gleich uns alle 'rausschmeißen wollen, die bei Frau Gräfin selig dienten –«

»Rausschmeißen ist wohl zu stark ausgedrückt«, fiel Eschweiler freundlich ein. »Daß ich keine Kammerzofe brauche, werden Sie ja wohl selbst einsehen, aber ich will Ihnen gern erlauben, noch so lange hier zu bleiben, bis Sie eine andere Stellung oder sonstige Unterkunft gefunden haben. Sie sollen statt der Kündigungsfrist dann einen vollen Monatslohn erhalten und dürfen auf ein empfehlendes Zeugnis von mir rechnen. Übrigens brauchen Sie nichts darauf zu geben, was Frau zur Mühle Ihnen sagt. Wollen Sie noch etwas?« setzte er hinzu, als Minna einen Schritt vortrat, und sichtlich mit sich kämpfte, ob sie reden sollte oder nicht. Statt dessen fragte sie nur zaghaft:

»Darf Frau zur Mühle auch noch dableiben?«

»Sie bleibt vermutlich nur noch so lange, bis die Herren vom Gericht, die bald eintreffen werden, einige Fragen an sie gestellt haben werden«, erwiderte Eschweiler. »Warum wollen Sie das wissen?«

»Ach, ich dachte nur so, und auch vielen schönen Dank, Herr Graf«, sagte sie sichtlich erleichtert und knixte sich rasch hinaus.

Eschweiler hatte einen Moment gute Lust, sie zurückzurufen, weil es ihm vorkam, als hätte sie ihm eine Mitteilung machen wollen, aber da er eigentlich keinen Wert darauf legte, eventuell etwas über Frau zur Mühle zu hören, so ergriff er wieder die Feder, doch mußte der Brief an Wettenhausen abermals einen Aufschub erleiden, denn ein Hupensignal vor dem Schloß kündete es ohne besondere Meldung an, daß die Gerichtskommission angelangt war, und er eilte hinab, sie zu empfangen, die aus einem Kriminalkommissar, dem Gerichtsarzt, einem Schreiber und einem Polizisten bestand.

Nachdem Eschweiler den beiden erstgenannten Herren knapp und klar das Notwendigste mitgeteilt, was er ja auch schon telephonisch getan, führte er sie hinauf in das Sterbezimmer, versichernd, daß, wenigstens durch ihn, nichts darin berührt oder verändert worden war, worauf der Arzt den Tod der Verblichenen infolge eines Kopfschusses feststellte, und daß der Tod bereits einige Zeit vor Mitternacht eingetreten sein mußte. Die Möglichkeit, daß Selbstmord anzunehmen war, schloß er nicht aus, und der Kriminalkommissar fragte, ob für diese Annahme ein plausibler Grund vorliege.

»Man könnte ihn vielleicht in den furchtbaren Verheerungen suchen, durch welche, wie Sie sehen, das Gesicht meiner Frau infolge eines Vitriolattentates, dessen ungewolltes Opfer sie wurde, entstellt wurde«, sagte Eschweiler zögernd. »Daß sie sich in ihr Unglück niemals gefunden haben würde, darf ich wohl aussprechen beziehungsweise vermuten, denn wenn eine gefeierte Schönheit, deren ganze Existenz auf der Pflege und Erhaltung dieser Gabe beruhte, sich plötzlich und so grausam ihrer beraubt sieht, dann ist sie zu allem fähig. Die Art und Weise, wie meine Frau ihr Unglück aufgenommen, war für ihre Umgebung ebenso peinlich wie schmerzlich; wollte sie doch selbst mich, der ich doch wahrhaftig ganz unschuldig daran war, nicht mehr sehen und zwang mich durch diese Stimmung zu verreisen. Ich bin erst heute nach Mitternacht zurückgekehrt und sah meine Frau erst als Leiche wieder. Immerhin aber möchte ich die Theorie eines Selbstmordes nicht annehmen; nicht nur, weil meine Frau ja noch jung genug war, um die Zeit mildernd einwirken zu lassen und der Hoffnung auf eine, wenn auch nur langsame Heilung Raum zu geben. Fällt es Ihnen, meine Herren, nicht auf, daß die Schußwunde in der linken Schläfe sitzt? Meine Frau aber war nicht linkshändig! Und dann: kann ein Mensch, der sich einen augenblicklich tötenden Schuß beigebracht hat, nachdem die Waffe seiner Hand entfallen, diese noch in der Bettdecke verkrampfen?«

Die Herren sahen einander an.

»Haben Sie einen Verdacht, Herr Graf?« fragte der Kriminalkommissar.

»Nein. Ich wüßte auch wirklich nicht, auf wen«, erwiderte Eschweiler ohne Zögern. »Hier im Haus ist doch sicher keiner, der den Mord begangen haben könnte. Zwar kenne ich wohl die meisten der Bekannten meiner Frau nicht, aber wenn sie unter diesen einen Feind gehabt haben sollte, was ja freilich nicht ausgeschlossen wäre, so würde er zu einem Racheakt wohl kaum gewartet haben, sie hier dazu aufzusuchen. Auf einen Raub scheint es auch kaum abgesehen gewesen zu sein, denn ich sehe dort, auf jenem Tisch, ihren stählernen Schmuckkasten unversehrt stehen. Er ist ohne den Schlüssel, für den sie nachts ein nur ihr bekanntes Versteck hatte, ohne Gewalt nicht zu öffnen.«

»Und diese Browningpistole?« fragte der Kommissar, die Waffe aufhebend und sichernd.

»Sie gehört meiner Frau, die sie stets im Nachttisch neben ihrem Bette hatte, übrigens ist auch, soviel ich weiß, ihr Name auf dem Kolben eingraviert.«

»Richtig: ›Margarita‹ mit einer Krone darüber – einer Fürstenkrone?«

»Ja; sie besaß die Pistole schon, als sie noch Fürstin Karabugas hieß.«

»Ich gestehe offen«, sagte der Gerichtsarzt nun, »daß ich unter der Voraussetzung eines Selbstmordes der links in der Schläfe befindlichen Schußwunde nicht gleich die nötige Bedeutung zugeschrieben habe, weil es eben viele linkshändige Menschen gibt. Die Verkrampfung der linken Hand in der Bettdecke könnte, nachdem die Pistole ihr entfallen war, immer noch eine rein mechanische Muskelbewegung gewesen sein, mithin nicht unbedingt für einen Mord sprechen. Indes haben beide Hände gleichzeitig dieselbe Bewegung ausgeführt, was darauf schließen läßt, daß es in der Überraschung durch den unversehens abgefeuerten Schuß geschah. Mithin stehe ich nicht an, mein Gutachten für die Wahrscheinlichkeit eines Mordes auszusprechen.«

»Also werden unsere Nachforschungen sich nach dieser Richtung hin zu bewegen haben«, versetzte der Kriminalkommissar. »Ich werde nun zunächst das Dienstpersonal vernehmen. Ist niemand davon abwesend?«

»Es ist mir wenigstens nicht bekannt, daß jemand nicht zur Stelle ist«, antwortete Eschweiler. »Die Gesellschafterin meiner Frau, eine Frau zur Mühle, wünschte gleich abreisen zu wollen, ich bedeutete ihr jedoch, daß sie wenigstens noch so lange bleiben müßte, bis die Gerichtskommission dagewesen sei, da sie jedenfalls vernommen werden würde. Ich selbst weiß über die letzten Tage und Stunden der Verblichenen nichts auszusagen, da ich ja erst nach Mitternacht von meiner Reise zurückgekehrt bin und meine Frau erst wiedersah, als sie schon längst tot gewesen sein mußte, also heut früh zwischen acht und einhalb neun Uhr. Wo wollen Sie die Leute vernehmen? Hier oder drüben, zum Beispiel im Speisesaal?«

»Ja, dort. Aber lassen Sie die Leute bis zu ihrem einzelnen Aufruf in einem Nebenraum warten. Ich werde zuvor dieses und die anstoßenden Zimmer nach etwaigen zweckdienlichen Spuren untersuchen«, entschied der Kommissar, und Eschweiler entfernte sich, nachdem er die Herren gebeten, ihn nach erfolgter Vernehmung in seinem Arbeitszimmer aufzusuchen, da er annahm, daß seine Gegenwart dabei nicht erwünscht sein dürfte, was ihm bestätigt wurde.

Er gab also seinem eigenen Diener den nötigen Auftrag, kehrte in sein Zimmer zurück und wartete.

Er hatte lange zu warten, seiner Meinung nach unbegreiflich lange, selbst wenn anzunehmen war, daß das Forschen nach etwaigen Spuren in Margaritas Zimmern mit großer Gründlichkeit vorgenommen ward und die Aussagen der eigentlich nur in Betracht kommenden Personen aus der nächsten Umgebung der Toten infolge von Ängstlichkeit und Nervosität vor einer Gerichtsperson verworren und dumm ausfielen und darum nur mit Geduld zu erreichen waren. Bei Frau zur Mühle konnte das freilich wohl kaum zu erwarten, immerhin aber auch da nicht ausgeschlossen sein, denn man weiß ja aus den gerichtlichen Zeugenaussagen, was selbst gebildete Leute dabei oft für törichtes Zeug zusammenschwatzen.

Schließlich nimmt aber jede Wartezeit einmal ein Ende, und nach langer Spannung traten die Herren mit sehr ernsten Gesichtern bei Eschweiler ein.

»Nun, haben Ihre Nachforschungen irgendein Resultat gehabt?« rief er ihnen erleichtert entgegen.

»Gewiß, und zwar ein ebenso überraschendes, als ernstes«, erwiderte der Kriminalkommissar stark betont. »Es tut mir leid, Herr Graf, aber auf Grund einer Sie schwer belastenden Aussage bin ich genötigt, Sie als des Mordes Ihrer Frau verdächtig im Namen des Gesetzes zu verhaften.«

»Waaaas?« prallte Eschweiler zurück. »Nun, da hört alles auf! Ich, der Sie gerufen, darauf aufmerksam gemacht hat, daß ich einen Mord vermute, ich selbst sollte – – aber das ist doch barer Unsinn! Wer in aller Welt – –«

»Ich habe nicht die Befugnis, einem Verhafteten Auskünfte zu erteilen«, versetzte der Kommissar steif. »Sie werden das alles seiner Zeit schon erfahren und haben nicht mehr das Recht, Fragen zu stellen. Auch mache ich Sie darauf aufmerksam, daß alles, was Sie sagen, zu Ihren Lasten ausgelegt werden kann und daß Sie besser tun, mir ohne Widerstand zu folgen, widrigenfalls ich zu mir selbst sehr peinlichen Zwangsmaßregeln genötigt wäre.«

»Diese Drohung ist überflüssig«, versetzte Eschweiler, nach der ersten Überraschung vollkommen beherrscht. »Ich kenne das Gesetz und die Formeln, werde Ihnen also ohne jede Schwierigkeit folgen. Die Anklage wird und muß sich ja sehr bald in Wohlgefallen auflösen. Ich darf mir doch einige notwendige Effekten mitnehmen?«

»Die Sie in meiner Gegenwart einpacken werden, gewiß«, erwiderte der Kommissar. »Alles, wie es hier steht und liegt, dürfen Sie ruhig so zurücklassen, denn der von uns mitgebrachte Polizist bleibt zur Bewachung hier, Herr Graf«, setzte er außerdienstlich und nicht ohne Wärme hinzu. »Es tut mir aufrichtig leid, handeln zu müssen, wie es geschieht, aber ich kann und darf nicht anders, nachdem mir in Gegenwart des Herrn Gerichtsarztes und des Schreibers Angaben, gemacht worden sind, die Sie schwer belasten und zu Protokoll genommen werden mußten.«

»Ich bin ganz davon überzeugt, daß Sie nur Ihre Pflicht tun«, versicherte Eschweiler, und nachdem er das Nötigste in seine Reisetasche geworfen, verließ er an der Seite seiner Begleiter das Haus als ein schweren Verbrechens verdächtiger Gefangener. Aber er verließ es hocherhobenen Hauptes und rief der Dienerschaft, die blaß und je nach Geschlecht schluchzend vor der Tür des Westflügels im Hof aufgebaut stand, ein lautes, zuversichtliches »Auf Wiedersehen! Haltet mir einstweilen das Haus in Ordnung!« zu. Dann bestieg er das vor der Tür wartende Automobil mit den drei Gerichtspersonen, und im festen Glauben an seine baldige Freilassung fuhr in den nun schon angebrochenen Nachmittag hinein, kein freier Mann mehr. Und da selbstverständlich keiner seiner Begleiter das Wort an ihn richtete, so hatte er Muße, darüber nachzudenken, wer von seinen Angestellten wohl so niederträchtig, oder bestenfalls so dumm gewesen sein konnte, Aussagen gegen ihn zu machen, die entweder erstunken und erlogen waren oder auf Einbildungen beruhten. Und weil er sich ja auch sagen mußte, daß seine Verhaftung wie ein Lauffeuer herumkommen, kein Geheimnis bleiben würde, so zog sich ihm das Herz schmerzlich bei dem Gedanken an seine Freunde in Siena zusammen. Würden sie, würde Veronika an seine Schuld glauben? Und selbst wenn er bald wieder aus seiner Haft entlassen wurde, wäre es möglich und denkbar, daß sie noch freundlich an einen Mann denken konnte, auf dem, wenn auch nur vorübergehend, solch' ein Makel gehaftet? Er kannte die Welt genug, um zu wissen, daß sie auch nach seiner Freisprechung bei Nennung seines Namens sagen würde: ›Ach, ist das der Eschweiler, der wegen Ermordung seiner Frau im Gefängnis gesessen? Wer weiß, ob er nicht wirklich – –‹ Falls nämlich der wahre Täter nicht gefunden wurde, und womöglich auch dann noch! Lieber Gott, die Welt ist nun einmal so, und wenn sie erst einmal anfängt zu munkeln, zu flüstern oder gar zu schreien, ist es schwer, sich wie Odysseus die Ohren mit Wachs zu verstopfen. Das brachte wohl auch Veronika Wettenhausen nicht unbedingt fertig, und wennschon – mit der Zeit mußte das Wachs doch einmal schmelzen.

Also: Vale, carissima! So oder so – der Traum war ausgeträumt.

*

Eschweiler blieb in der Tat nicht lange hinter Schloß und Riegel. Immerhin aber waren die drei Tage, während welcher er nichts sah und hörte, als seine kahlen Gefängnismauern und das Klirren der Schlüssel, wenn der Wärter kam, sein Essen zu bringen und das Geschirr wieder zu holen, von einer Länge, die Jahre zu dauern schien. Und während dieser im Schneckentempo dahinschleichenden Stunden die fortwährend in demselben Pol kreisende Frage: ›Wie war das möglich? Wer in aller Welt ist mir so feindlich gesinnt, daß er falsches Zeugnis wider mich ablegen konnte? Wer?‹

Am vierten Tage wurde er geholt und zum Verhör vor den Untersuchungsrichter geführt. Vor diesem lag auf dem Tisch ein Konvolut von Papieren; ein Beweis, daß der Amtsschimmel schon tüchtig getummelt worden war. Außer dem Gerichtsschreiber mit gezückter Feder wohnten dem Verhör ein junger Assessor, der Kriminalkommissar, der Eschweiler verhaftet hatte, und, ostentativ sich abseits haltend, der Kriminalgerichtspräsident bei.

›Es liegt das Aas, die Raben steigen nieder‹, dachte Eschweiler grimmig; er kannte den Präsidenten und den Untersuchungsrichter persönlich, beide Herren hatten schon manches heitere Junggesellendiner in seinem Hause mitgemacht, gern seine guten Weine getrunken – – ›Rrrrr! Ein anderes Bild!‹ heißt's im Guckkasten des Lebens.

»Nehmen Sie Platz, Herr Graf«, sagte der Richter, ein schneidiger Jurist, den die Verbrecher fürchteten, nach der ersten stummen Begrüßung und fuhr dann in dem anfangs immer milden Ton fort, den er im entscheidenden Augenblick schroff zu wechseln pflegte, um wirkungsvoll einzuschüchtern: »Das Resultat der Voruntersuchung Ihres Falles hat Momente ergeben, welche es nicht unwahrscheinlich machen dürften, Sie eventuell gegen Kaution in Freiheit zu setzen, falls«, hier setzte der veränderte Ton ein, »falls es Ihnen möglich wäre, ein Alibi über den genauen Zeitpunkt Ihrer Rückkehr von Ihrer Reise in der Mordnacht nachzuweisen. Allerdings ist zu fürchten, daß Ihnen das schwer fallen dürfte. Nach einer wochenlangen Abwesenheit kehren Sie heimlich zurück, schleichen sich wie der Dieb in der Nacht in Ihr Haus ein –«

»Verzeihung, wenn ich unterbreche«, fiel Eschweiler mit rotem Kopf ein. »Vor allem habe ich mich nicht ›eingeschlichen‹, sondern mir mit meinem eigenen Hausschlüssel die Tür geöffnet –«

»Bitte, das sind Silbenstechereien«, unterbrach ihn der Richter verweisend.

»Pardon, das Wort ›eingeschlichen‹ ging mir eben nur auf die Nerven«, fuhr Eschweiler ruhiger fort, »Ich bin also nicht ›heimlich‹ zurückgekehrt, denn ich habe von Rom aus meinem Verwalter meine Ankunft gemeldet und mir den Wagen zur Abholung an die Station Dingsda bestellt. Die Karte mußte meiner Berechnung nach an dem bewußten Tage spätestens mit der Mittagspost eintreffen; da der Wagen jedoch nicht zur Stelle war, so nahm ich entweder eine Verspätung oder eine Vergeßlichkeit des Verwalters an. Eine Anfrage bei ihm, ob meine Anmeldung eingetroffen oder ausgeblieben ist, müßte er doch wohl endgültig beantworten können. Ich bin im Drange der Ereignisse jenes Morgens nicht mehr dazu gekommen, ihn zu sprechen und darüber zu befragen, was übrigens durch das Telephon leicht nachzuholen wäre.«

Der Richter nickte zustimmend und beauftragte den Assessor sofort mit der Ausführung.

»Warum ist der Verwalter nicht verhört worden?« wandte er sich dann an den Kriminalkommissar.

»Es schien überflüssig, weil der Mann nicht im Schloß, sondern abseits desselben im Verwaltungsgebäude wohnt«, erklärte dieser. »Er konnte demnach über die Vorgänge der Mordnacht im Schloß voraussichtlich gar nichts aussagen.«

Der Richter blätterte in seinen Papieren, und Eschweiler enthielt sich weiterer Worte, bis der Assessor vom Telephon zurückkehrte.

»Die Sache hat seine Richtigkeit«, berichtete er. »Der Verwalter hat die Karte des Herrn Grafen mit dem Poststempel Rom vom 27. September erst am Morgen nach der Tat erhalten und aufbewahrt.«

»Danke«, sagte der Richter und fuhr fort: »Diese Frage wäre damit zu Ihren Gunsten erledigt. Wo wollen Sie sich nach Ihrem Eintreffen auf der Haltestelle Dingsda aufgehalten haben, bis Sie Ihr Haus erreichten?«

»Ich habe mich nirgends aufgehalten«, erklärte Eschweiler, der auf diese Frage gewartet hatte. »Fahrplanmäßig traf ich mit dem Schnellzug vom Süden nachts 11 Uhr 55 Minuten in Dingsda ein, gab dem Mann an der Bahnsteigsperre meine Fahrkarte ab, und da ich meinen Wagen nicht vorfand, so deponierte ich bei dem mir ja persönlich bekannten Stationsvorsteher mein Gepäck bis zur Abholung und ging zu Fuß nach Haus. Flott zuschreitend erreichte ich den Eingang zu den Anlagen vor meinem Haus, als die Kirchturmuhr von Dorf Eschweiler gerade halb ein Uhr schlug, was ich mit Bestimmtheit sagen kann, da ich die Zeit mit meiner Taschenuhr verglich. Es war so heller Mondschein, daß ich das Zifferblatt ohne Mühe erkennen konnte.«

Wieder schickte der Untersuchungsrichter den Assessor ans Telephon, um von dem Stationsvorstand von Dingsda diese Aussage bestätigen zu lassen, was restlos erfolgte.

»Nun«, sagte der Richter dann mit einem verbindlichen Lächeln, »das nennt man ein lückenloses Alibi, das zwei Hauptpunkte befriedigend klärt.«

»Mir fällt eben etwas ein, woran ich bisher gar nicht mehr gedacht habe«, fiel Eschweiler ein. »Ob es freilich sachdienlich ist, mag dahingestellt bleiben. Als ich, heimgekehrt, die Tür zum Westflügel mit meinem Hausschlüssel aufschloß, um in meine darin gelegenen Zimmer hinaufzugehen, blickte ich zufällig hinauf zu der loggienartigen, verglasten Galerie des Ostflügels, den meine Frau bewohnte, und sah gerade, wie die Tür ihres erleuchteten Schlafzimmers aufging und wieder geschlossen wurde. Es hat dies mich nicht befremdet, denn meine Frau liebte späte Stunden, an die sie durch ihr mondänes Leben gewohnt war, und legte darum dem Umstand, daß noch Licht bei ihr war, keine Bedeutung bei. Außerdem pflegte sie eine Nachtlampe zu brennen. Mir war auch, als ob eine dunkle Gestalt sich durch den Korridor der inneren Treppe zu bewegte, bin dessen aber nicht sicher. Aber auch selbst, wenn ich recht gesehen hätte, hätte es mich noch nicht beunruhigt; denn die Kammerjungfer, welche oben in einer der Mansardenstuben wohnt, mußte jederzeit gewärtig sein, von meiner Frau herbeigeläutet zu werden wegen irgendeiner Handreichung. Das ist alles, und wahrscheinlich ohne Bedeutung.«

»Doch nicht so ganz, wie wir nachher sehen werden«, versetzte der Richter, der aufmerksam zugehört und dann in seinen Papieren nachgeblättert hatte. »Zunächst habe ich Ihnen einen Brief des Oberst a. D. von Wettenhausen, datiert aus Siena, zu übergeben, der einem Schreiben desselben Herrn an das Kriminalgericht beigelegt war. Den Brief an Sie, der sachgemäß unverschlossen war, haben wir natürlich zur Notiz genommen.«

Damit reichte er Eschweiler den offenen Brief. Er war ganz kurz und enthielt nur die wenigen Worte: ›Mein lieber Eschweiler! Wir beide glauben nicht mit einer Silbe an die Wahrheit der unerhörten Anschuldigung, unter der Sie verhaftet worden sind. Falls Sie mich irgendwie brauchen können, komme ich sofort, Ihnen zur Seite zu stehen. Unentwegt in alter, treuer Freundschaft und so weiter Ihr A. von Wettenhausen.‹

Diese Stimme aus der Ferne wirkte mehr noch belebend auf Eschweiler, als die ihm in Aussicht gestellte, bedingungsweise Freiheit. ›Wir beide!‹ Nicht ›ich‹ allein, hatte der gute, alte Oberst geschrieben – das ging dem geprüften Mann durch die Adern wie ein Glas Champagner, belebte und überwältigte ihn gleichzeitig. Der Richter ließ ihm Zeit, seiner Bewegung Herr zu werden, und fuhr dann sachlich fort:

»Der Oberst von Wettenhausen, der natürlich nicht verfehlt hat, sich dem Kriminalgericht ordnungsmäßig auszuweisen, verlangt, als Entlastungszeuge in Ihrem Prozeß vorgeladen zu werden, und fügt dem Gesuch verbaliter folgenden Passus bei: ›Graf Eschweiler hat schon deshalb keinen Grund gehabt, seine Frau zu töten, weil er ja erst vor kurzem hier in Siena davon unterrichtet worden ist, daß sie gar nicht seine rechtmäßige Gattin war, sondern die eines noch lebenden, nie von ihr geschieden gewesenen Mannes. Ich selbst habe mit eigenen Augen die Bestätigung dieser Tatsache durch die Polizeibehörde in Warschau gelesen. Graf Eschweiler reiste zu dem Zweck nach Hause, die Trennung von der Dame, welche absichtlich oder unabsichtlich den Betrug verübte, in die Wege zu leiten, da es natürlich ausgeschlossen ist, stillschweigend mit ihr weiterzuleben und so weiter.‹ Warum haben Sie das bei, beziehungsweise nach Ihrer Verhaftung nicht zu Protokoll gegeben?«

»Weil ich, sie daheim tot vorfindend, entschlossen war und noch bin, die Sache auf sich beruhen zu lassen«, erwiderte Eschweiler, peinlich berührt. »Was hätte es wohl jetzt noch für einen Zweck, Staub aufzuwirbeln, der sich schon gesetzt hatte, als Mörderhand ihr die Augen schloß? Ob es ›gesetzlich‹ ist oder nicht, wenn ihre irdischen Überreste unter meinem Namen im Grabe liegen oder nicht, hoffe ich vor meinem Gewissen verantworten zu können; es geschieht damit niemand etwas zuleide. De mortius nil nisi bene.«

»Nun, persönlich wäre ja das sehr mild gedacht, aber vom Standpunkt des Gesetzes ließe sich schon des Nachlasses der Dame wegen einiges dagegen einwenden«, sagte der Richter.

»Des Nachlasses wegen!« wiederholte Eschweiler perplex. »Wahrhaftig, daran habe ich noch mit keiner Silbe gedacht. Nein, die Erbschaft der Verblichenen weigere ich mich allerdings anzutreten – nicht mit einer Zange möchte ich sie berühren! Nun ja, des Nachlasses wegen, der nicht unbeträchtlich sein dürfte, müßte man versuchen, den rechtmäßigen Gatten aufzurufen; ob die Aussicht darauf ihn herlocken würde, ist freilich noch die Frage, da er sich mit seinem Erscheinen vermutlich in die Nesseln setzen würde, da er ja auch Verschiedenes auf dem Kerbholz hat, was die Gerichte interessiert. Immerhin – vielleicht finden sich noch irgendwo, zum Beispiel in Schlesien, mehr oder minder entfernte Verwandte der Erblasserin, denen der Ursprung des Nachlasses gleichgültig ist. Non olet hat schon der Kaiser Vespasian vom Gelde gesagt.«

»Ich verstehe«, nickte der Richter. »Der Oberst von Wettenhausen hat nämlich in seinem Schreiben den Lebenslauf der bisherigen Gräfin Eschweiler soweit skizziert, als er sich der Umstände aus Ihren eigenen Mitteilungen und der Auskunft durch die Polizeibehörde in Warschau erinnert –«

»Ob er mir durch diese Indiskretion einen Dienst erwiesen hat, möchte ich denn doch bezweifeln«, unterbrach ihn Eschweiler gequält.

»Es war jedenfalls seine Absicht, es zu tun«, sagte der Richter. »Wo befinden sich die auf den Fall bezüglichen Dokumente, die einzusehen erforderlich sein wird, denn das Schreiben des Oberst von Wettenhausen an das Gericht ist offiziell und darf damit nicht ad acta gelegt werden.«

»Ich verschloß diese Papiere nach meiner Heimkehr im Stahltresor in meinem Schlafzimmer – wie mir jetzt einfällt, habe ich den Schlüssel darin stecken lassen.«

»Das hat nichts zu sagen, denn Ihre Zimmer sind abgeschlossen und werden durch Polizei bewacht. Übrigens«, fuhr der Richter fort, »kann ich die Auffassung des Herrn von Wettenhausen nicht teilen, daß Sie gar nicht nötig gehabt hätten, Ihre Frau aus den angeführten Gründen zu töten. Einmal konnte das Motiv Rachsucht sein. Rache an der Frau zu nehmen, sie für den gespielten Betrug zu richten, wäre als Beweggrund zur Tat sehr denkbar und auch nicht ungewöhnlich, wie die Kriminalstatistik beweist. Mit philosophischer Ruhe wird wohl kaum ein Ehemann von nur wenigen Monaten eine solche Entdeckung hinnehmen können.«

»Sicher nicht«, gab Eschweiler zu. »Aber zwischen mordlustiger Rachsucht und philosophischer Ruhe gibt es wohl doch noch ein Mittelding, das zwischen dem tierischen Instinkt und dem fühllosen Klotz liegt. Ich selbst bin weder rachsüchtig veranlagt, noch das letztere; nur habe ich im Lauf meines Lebens gelernt und mich bemüht, auch einem Gegner gerecht zu werden. Einmal auf abschüssiger Bahn angelangt, mag es für eine Frau schwer, wenn nicht aus eigener Kraft unmöglich sein, dem Wege abwärts zu entgehen. Die Sentenz vom ›Fluch der bösen Tat‹ war nicht nur ein dichterischer Einfall, sondern ist leider eine alte Erfahrung.«

»Besonders, wenn dazu noch die Veranlagung, der Mangel an sittlichem Halt kommt«, pflichtete der Richter bei und fuhr dann sachlich fort: »Es gibt aber noch andere Motive für den Mord, zum Beispiel Habsucht, der Erbschaft wegen, aber bei Ihrer eigenen glänzenden Lebenslage und in Anbetracht Ihrer bereits abgegebenen Erklärung nach dieser Richtung dürfen wir darüber zu dem dritten Motiv übergehen: der Furcht und der Abneigung gegen den öffentlichen Skandal, der unvermeidlich war, wenn die Dame am Leben blieb. Ich halte Sie in diesem Punkte für sehr empfindlich, Graf Eschweiler.«

»Darin haben Sie vollkommen recht«, gab dieser ohne Zögern zu. »Der Gedanke an den unvermeidlich gewesenen Skandal, der meinen guten Namen durch den Schmutz gezerrt hätte, hat mir viele bittere Stunden bereitet. Aber,« setzte er mit erhobener Stimme hinzu, »man kann einen reinen Namen nicht nur nach außen beschmutzen, sondern schlimmer noch innerlich, vor den eigenen Augen, und das wäre geschehen, wenn ich, um vor der Welt rein dazustehen, die Schänderin meiner Ehre getötet hätte. Meine Hand ist gottlob rein geblieben. Ich sage ausdrücklich ›gottlob‹, denn ich weiß sehr wohl, wessen ein Mensch, der gerade kein Fischblut in den Adern hat, im ersten Moment des Affektes fähig sein kann. Vielleicht hat mich vor diesem ersten Moment der Umstand bewahrt, daß ich dabei fern von der Heimat war, diese nur durch eine lange Eisenbahnfahrt erreichen konnte. Ich hoffe, daß ich mich nicht zu einer Gewalttat hätte hinreißen lassen, falls die Entdeckung mich daheim erreichte, weil ich glaube, zu einer solchen überhaupt nicht fähig zu sein, weil das Gewalttätige nicht in meiner Natur liegt, aber wer kann in solch' einer Stunde für sich selbst stehen? Da kann nur die Gnade von oben rettend eingreifen.«

Eine Pause entstand, während welcher Eschweiler zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, gar nicht darauf achtete, welchen Eindruck seine Worte gemacht. Aber der Eindruck war ein guter.

Nach einer Weile räusperte sich der Untersuchungsrichter und begann wieder:

»Ich komme nun zu den Entlastungsmomenten. Es waren die Sie schwer belastenden Aussagen der Gesellschafterin Ihrer – der Verewigten, der Frau Barbara zur Mühle, die Ihre Verhaftung herbeiführten –«

»Was?« fiel Eschweiler wie gestochen ein. »Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, wer in aller Welt belastend gegen mich ausgesagt haben könnte, aber auf diese Person bin ich wahrhaftig nicht gekommen! Nachdem ich ihr eine Stunde zuvor noch außer ihrem Gehalt, aus purer, dummer Gutmütigkeit den dreifachen Betrag als ›Reisegeld‹ habe auszahlen lassen!«

»Das hat sie als einen Bestechungsversuch zum Schweigen gedeutet und eigens zu Protokoll nehmen lassen«, fuhr der Richter fort. »Diese Frau zur Mühle will Sie gesehen haben, wie Sie etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht – sie war ganz positiv in der Zeitangabe – das Schlafzimmer ihrer Herrin verließen, wohin sie auf dem Wege war, als sie durch einen Knall wie von einer Schußwaffe erweckt, nachsehen wollte, ob die Gräfin etwas brauchte. Diese Zeitangabe, die den wesentlichen Punkt der Aussage bildete, ist durch Ihr Alibi als unrichtig nachgewiesen worden. Dem Herrn Kriminalkommissar machte die Dame den Eindruck, als hätte sie eine persönliche Ranküne gegen Sie. Können Sie darüber irgendwelche Angaben machen?«

»Nun, geliebt wird Frau zur Mühle mich wohl kaum haben«, sagte Eschweiler offen. »Sie war mir eine höchst unsympathische Person, die mir gegen meinen ausgesprochenen Willen von der Verewigten sozusagen mit in die Ehe gebracht wurde. Der Himmel weiß, was ihr dieses Weib so unentbehrlich gemacht haben mochte! Da ich es leider nie gelernt habe, aus meinem Herzen eine Mördergrube zu machen, so habe ich der Frau zur Mühle meine Antipathie vielleicht mehr gezeigt, als sich mit der Höflichkeit verträgt. Die Quittung dafür ist allerdings glänzend – mehr kann man wirklich nicht verlangen.«

Der Richter räusperte sich wieder.

»Frau zur Mühle hat ihre Aussage noch durch einige Details ausgeschmückt, die wir füglich übergehen können. Ihre Absicht, noch am nämlichen Tage abzureisen, wurde durch den ausdrücklichen Befehl verhindert, Haus Eschweiler nicht zu verlassen, um als Hauptbelastungszeugin dem Gericht jederzeit zur Verfügung zu stehen. Dem hat sie sich durch eine heimliche Flucht bei Nacht und Nebel unter Zurücklassung ihres Gepäcks entzogen, das, polizeilich durchsucht, natürlich nichts enthält, das die Frau belasten oder auf ihre Spur führen könnte. Augenscheinlich hat sie nichts, als eine kleine Reisetasche mitgenommen.«

»Glückliche Reise. Meinen Segen hat sie«, versicherte Eschweiler.

»Aber nicht den des Gerichts, denn diese Flucht ist verdächtig und ein Steckbrief bereits hinter ihr her«, sagte der Richter. »Verdächtig ist die Flucht auch infolge einer nachträglich erfolgten Aussage der Kammerfrau Minna Oschatz, zu der Sie vielleicht eine Erklärung geben können. Die Kammerfrau, deren erste Aussage vor dem Herrn Kriminalkommissar so gut wie nichts zur Sache beitrug, als daß sie gleich der Ihres Dieners wie auch des übrigen Dienstpersonals nicht nur nichts Belastendes gegen Sie, Graf Eschweiler, enthielt, sondern im Gegenteil entschieden die bloße Möglichkeit Ihrer Schuld bestritt, was ich hierdurch zu Ihrer Kenntnis bringe – die Kammerfrau also erschien gestern freiwillig hierselbst, um ein unter der Matratze der Toten versteckt gewesenes, beim Aufräumen von der Zeugin gefundenes Schreiben zu deponieren und um ihre erstmalige Aussage zu ergänzen, was sie aus Furcht vor Frau zur Mühle unterlassen, solange diese im Schlosse anwesend war. Laut dieser von ihr unter Eid gemachten Aussage war sie am Vorabend des Mordes Zeugin einer Unterhaltung, wenn man es so nennen kann, zwischen ihrer Herrin und deren Gesellschafterin. Kurz zuvor hatte Minna Oschatz einen mit der Abendpost gekommenen Brief an ihre Herrin dieser in das Schlafzimmer gebracht, wohin sich die letztere bereits zurückgezogen, und war dann in die nebenan liegende Garderobe gegangen, um dort irgend etwas herzurichten. Nach einer Weile hatte die Gräfin heftig geläutet und dem herbeigeeilten Diener befohlen, Frau zur Mühle sofort zu ihr zu rufen. Diese erschien auch alsbald, und Minna Oschatz wurde nun Zeugin der Unterhaltung zwischen den beiden Damen, die namentlich von seiten der Herrin so laut geführt wurde, daß nebenan jedes Wort zu verstehen war, was eingestandenermaßen durch ihr Ohr am Schlüsselloch wesentlich erleichtert wurde. Danach hatte die Frau Gräfin in großer Erregung ihrer Gesellschafterin zugerufen, daß irgendein Schein, den die letztere ihr gegeben, gefälscht sei, was sie eben durch ein Schreiben ihrer Bank erfahren habe. Frau zur Mühle hat darauf erwidert, daß sie nicht verstehe, um was es sich handele, worauf die Frau Gräfin laut den nämlichen Brief vorgelesen habe, den die Zeugin, unter der Matratze der Toten versteckt, gefunden. In diesem Schreiben der N.'schen Bank teilte diese ihrer Klientin mit, ›daß eine aus ihrem Depot zurückgeforderte Perle niemals durch eine Frau zur Mühle im Auftrag der Frau Gräfin von Eschweiler dort abgegeben worden sei. Der zur Rückgabe der Perle von der Frau Gräfin übersandte Depotschein sei eine flagrante Fälschung, denn die Bank stelle solche Scheine erstens immer nur auf einem eigens dazu mit Firmenaufdruck versehenen Papierbogen aus und unterschreibe zweitens niemals nur ›die N.'sche Bank‹. Jeder Schein sei von den verantwortlichen Beamten eigenhändig mit Namen unterschrieben und von dem Direktor gegengezeichnet.‹ – – Was Frau zur Mühle auf die Vorlesung des Briefes geantwortet, hatte die Kammerfrau nicht verstehen können; die Frau Gräfin habe ihr danach laut zugerufen: ›Machen Sie keine läppischen Ausflüchte, die weder Kopf noch Schwanz haben! Das Lange und Kurze der Sache ist so klar wie nur etwas: Sie haben die Perle gestohlen und mir eine gefälschte Bescheinigung der Bank gebracht. Und wenn die Perle binnen vierundzwanzig Stunden nicht wieder in meiner Hand ist, werde ich Sie der Polizei übergeben. Und nun machen Sie, daß Sie hinauskommen!‹ – Frau zur Mühle war danach anscheinend in Tränen ausgebrochen, denn die Gräfin habe ausgerufen: ›Lassen Sie das Heulen, damit rühren Sie mich nicht!‹ Worauf Frau zur Mühle versetzt habe: ›Sie werden es bereuen, eine unschuldige, wehrlose Frau des Diebstahls [bezichtigt] zu haben!‹ und war dann hinausgelaufen, die Tür zuschmetternd ›wie der Satan, der sie ist‹, laut der Aussage der Minna Oschatz. Bevor ich nun in deren weiteren Aussagen fortfahre, wollen Sie, Herr Graf, erzählen, was Sie über das eben Mitgeteilte wissen."

»Darüber weiß ich begreiflicherweise nichts, da ich ja nicht anwesend war«, erwiderte Eschweiler, der sehr gespannt zugehört. »Ich kann nur so viel sagen, daß meine – daß die Verewigte eine ungemein kostbare Perle besaß, ein Unikum in ihrer Art, die ich ihr geschenkt. Sie war an einer von Diamanten gebildeten Schleife als Anhänger befestigt. Diese Perle war es, auf die in London zum Zweck ihrer Vernichtung das Attentat ausgeübt wurde, dem leider ihre Besitzerin zum Opfer fiel. Nachdem sie soweit wieder hergestellt war, um ohne Gefahr reisen zu können, kehrten wir nach Haus Eschweiler zurück, und dort bekam die Verewigte plötzlich die fixe Idee, daß die Perle in Gefahr sei, von der Attentäterin gestohlen zu werden. Sie schickte daraufhin ihre Gesellschafterin mit der Perle, die sie der Post nicht anvertrauen wollte, nach Berlin, um sie in der Stahlkammer der Bank, die ihr Vermögen verwaltet, aufbewahren zu lassen. Das erfuhr ich aber erst, als Frau zur Mühle mich bat, beziehungsweise ersuchte, ihr den Wagen zu stellen, der sie zur Bahn in die Kreisstadt fahren sollte. Bei dem unbegrenzten Vertrauen, das meine Frau in ihre Gesellschafterin setzte, war es einfach überflüssig, sie davon zu überzeugen, daß die Post die entschieden zuverlässigere Beförderungsart gewesen wäre, denn eine Person kann unterwegs beraubt werden oder eine Sache verlieren. Ich selbst hätte mich dem Auftrag gern unterzogen, wurde aber darüber belehrt, daß Frau zur Mühle versichert habe, niemals etwas zu verlieren, und außerdem Besorgungen in Berlin erledigen sollte, von denen ein Mann nichts verstünde. Frau zur Mühle reiste also mit der Perle ab, kam nach einigen Tagen mit einer Menge von Paketen zurück und übergab ihrer Herrin den Schein der Bank für die deponierte Perle. Hätte sie mir den Schein gezeigt, würde ich ihn wohl auf der Stelle als eine Fälschung erkannt haben, und ich wundere mich nur, daß meine sonst nicht geschäftsunkundige Frau sich damit täuschen ließ. Frau zur Mühle hat also im Vertrauen darauf, daß der Schein mir nicht gezeigt werden würde, ein recht kühnes Spiel gespielt; was mich nur wundert, ist, daß sie nicht gleich mit der Perle durchgebrannt ist, statt es darauf ankommen zu lassen, mit der Wiederabholung betraut zu werden oder nicht. Daß meine – Frau doch evident, ohne ihrer Gesellschafterin, die ja auch ihre Sekretärin war, etwas davon zu sagen, die Perle selbst von der Bank zurückforderte, läßt darauf schließen, daß sie entweder Verdacht geschöpft hatte, oder aber, daß eine Erkältung in dem Vertrauensverhältnis der beiden Damen eingetreten war. Jedenfalls dürfte diese Möglichkeit nicht im Programm der Frau zur Mühle gestanden haben.«

»Sicher nicht; ich halte aber Ihre Annahme, daß die Gräfin Verdacht geschöpft hat, für die wahrscheinlichere«, sagte der Richter. »Und nun zum Schluß der Aussage der Kammerfrau. Nachdem diese ihrer Herrin beim Auskleiden geholfen und dabei eine große Erregung der letzteren wahrgenommen, schloß sie auf eine unruhige Nacht, und weil, Minna Oschatz wußte, daß sie während einer solchen öfter herabgeklingelt wurde, so wollte sie sich die schon gewohnte Mühe des Aufstehens und Herablaufens dadurch erleichtern, daß sie ihre Matratze und sonstiges Bettzeug holte und sich damit ein Lager in der Garderobe zurechtmachte, wodurch sie es möglich machte, sofort zur Stelle zu sein. Sobald ihre Herrin zu Bett gegangen war, legte sie sich nieder und ließ die Tür zum Schlafzimmer ein Ritzchen offenstehen, um es gleich hören zu können, wenn sich drinnen etwas rührte. Sie bekundete, einen leisen Schlaf zu haben, und glaubt auch, bald eingeschlafen zu sein, wachte aber jäh durch ein scharfes Geräusch auf, ohne sich Rechenschaft darüber geben zu können, aus welcher Richtung das gekommen. Sich auf ihrem Lager aufsetzend, hörte sie sodann nebenan leise Schritte und gleichzeitig die Kirchturmuhr des Dorfes elfmal schlagen. Da sie die Schläge zählte, ist sie ganz positiv in dieser Angabe. Dann hörte sie nebenan das Aufziehen von Schubladen und das Knistern von Papieren. Neugierig geworden, warum ihre Herrin noch im Schlafzimmer herumgeisterte, stand sie leise auf und sah durch die Türritze nicht die Gräfin, sondern Frau zur Mühle beim Schein der Nachtlampe und einer brennenden Kerze damit beschäftigt, ein tragbares Schreibpult, das ihre Herrin benutzte, wenn sie bis zum späten Morgen im Bett lag, emsig durchzustöbern. Dieses Pult war für gewöhnlich verschlossen, der Schlüssel dazu an einem Schlüsselbund, der über Nacht im Schubkasten des Nachttisches lag. Anfangs glaubte die zuschauende Kammerfrau, daß Frau zur Mühle herabgekommen sei, ohne daß sie es gehört, um für die Gräfin irgend etwas zu suchen oder nach ihrem Diktat zu schreiben, da aber vom Bett her, das sie von ihrer Stelle aus nicht sehen konnte, kein Laut, kein Wort kam, so fahle Minna den Verdacht, daß die Gesellschafterin, den anscheinend festen Schlaf der Gräfin benutzend, auf eigene Faust etwas zu suchen gekommen war, und zwar irgendein Papier. Nachdem sie das Pult wieder geschlossen, sah Minna sie den Schlüssel abziehen und jedenfalls in die Nachttischschublade zurücktragen, wobei sie sich keine Mühe gab, ein Geräusch zu vermeiden; dann ging Frau zur Mühle, den Leuchter mit der brennenden Kerze in der Hand, in das anstoßende Boudoir der Gräfin, dessen Tür sie hinter sich zumachte, und da sie nun weiter nichts mehr hörte und sah, so legte sich Minna wieder nieder, konnte aber nicht einschlafen und lag wach, bis die Kirchturmuhr Mitternacht schlug. Da sie während der ganzen Zeit keinen Laut, kein Geräusch nebenan gehört, der darauf schließen lassen konnte, daß die Gräfin, die doch sonst solch leisen, unruhigen Schlaf hatte, sich auch nur im Bett herumgedreht haben konnte, so fühlte Minna plötzlich den Drang, nach ihr zu schauen; sie stand auf, öffnete die Tür leise so weit, daß sie das Bett und die anscheinend ganz ruhig schlafende Gräfin sehen konnte, und hatte die Tür wieder bis auf einen kleinen Ritz zugezogen, als sich auch schon die gegenüberliegende öffnete und Frau zur Mühle mit ihrem Licht in der Hand aus dem Boudoir heraustrat, in welchem sie die ganze Zeit gesteckt haben mußte. Zu welchem Zweck? fragte sich die Kammerfrau und gab sich selbst die Antwort auf diese Frage: Um etwas zu suchen! Denn sie setzte dieses Geschäft im Schlafzimmer noch einmal fort, sie öffnete eine in der Sehlinie der Minna stehende Chiffonniere, und kramte darin herum, öffnete ein darin gefundenes Bündel Briefe oder was sonst es für Papiere sein mochten, sah jedes einzelne genau durch, bis die Turmuhr die halbe Stunde nach Mitternacht schlug – ein von der Kammerfrau beschworenes Faktum – und nachdem sie noch eine Weile mit ihrem Licht herumgeleuchtet hatte und danach wieder in den Gesichtskreis der Minna trat, schüttelte sie zu deren Entsetzen mit einem Ausdruck ›wie eine Teufelsfratze‹ die Faust nach dem Bette zu und verließ dann das Schlafzimmer durch die Tür zum Korridor, nachdem sie zuvor das Licht ausgeblasen und auf den Nachttisch gestellt hatte. Und die ganze Zeit über wunderte sich die Kammerfrau über den ungewöhnlich festen Schlaf ihrer Herrin, daß sie von dem nächtlichen Besuch nichts gemerkt, nicht davon erwachte. Die Ursache dieses festen Schlafes wurde ihr erst klar, als sie am Morgen den Tee an das Bett der Gräfin brachte. Summa summarum: Sie haben sich also nicht getäuscht, Herr Graf, als Sie heimkehrend und die Tür zum Westflügel aufschließend, die Schlafzimmertür sich öffnen und schließen und eine dunkle Gestalt durch den Korridor schlüpfen sahen. Ihre und der Kammerfrau Zeitangaben, sowie die des Gerichtsarztes, zu welcher Stunde der Tod der Verblichenen eingetreten sein mußte, stimmen also genau überein.«

»Ah! Darum also hatte die Person solche Eile, abzureisen!« rief Eschweiler. »Darum! Während es doch schicklich gewesen wäre, das Begräbnis ihrer Prinzipalin abzuwarten. Aber was, in aller Welt, kann sie denn in den Zimmern meiner Frau so lange gesucht haben?«

»Es ist nicht schwer, darauf zu schließen, daß sie das Schreiben der Bank suchte, um diesen Zeugen ihres Raubes zu vernichten«, erwiderte der Richter. »Als sie herabkommend – ob etwa, um noch eine Unterredung, beziehungsweise Überredung der Gräfin zu ihren Gunsten zu versuchen, mag dahingestellt bleiben – ihre Dame schlafend fand, was sie zu dieser Stunde, also kurz vor elf Uhr wahrscheinlich noch nicht angenommen, hat sie dann – so rekonstruiere ich den Vorgang – leise die Nachttischschublade geöffnet, um den Schlüssel zu dem Pult herauszunehmen und aus demselben das Schreiben der Bank zu eskamotieren, denn damit hätte sie ja Zeit gewonnen, das drohende Unheil so lange aufzuhalten, bis sie sich in Sicherheit gebracht. Dabei mag sie – falls das nicht vorweg der Zweck der Übung war – die Pistole der Gräfin gefunden haben, und da diese, gerade aus dem ersten leisen Schlaf erweckt, die Augen aufschlug, hat sie ihr die Waffe gegen die Schläfe gedrückt und abgeschossen. Das war der Knall, von dem die Kammerfrau nebenan erwachte. Daß Frau zur Mühle von deren unmittelbaren Nähe nichts wußte, geht deutlich aus der Aussage der Minna Oschatz hervor. Kaltblütig hat die Gesellschafterin ihre Nachforschungen nach dem Schreiben sowohl angesichts ihres Opfers als auch in dem anstoßenden Boudoir mit großer Gründlichkeit fortgesetzt, und das könnte auch zu der Annahme führen, daß die Tat überhaupt schon geplant war, daß sie wußte, wo sie die Waffe zu suchen hatte, im Vertrauen darauf, daß ein Selbstmord angenommen werden würde. Dabei übersah sie, daß nur ein linkshändiger Mensch sich selbst durch die linke Schläfe schießen konnte. Wie dem auch sei, ob der Mord ein vorsätzlicher oder nur ein vom Moment eingegebener war – das Motiv zur Tat ist durch die Aussage der Kammerfrau und den versteckt gewesenen Brief erwiesen, hoffentlich werden wir auch bald den Täter dingfest haben, mithin –«

»Mithin«, fiel der Gerichtspräsident ein, indem er hervortrat, »mithin steht der Aufhebung Ihrer Haft, Herr Graf, nichts mehr im Wege. Ihr Alibi ist lückenlos, die Aussage der Kammerfrau so vollkommen entlastend, daß auch von einer Kaution nicht mehr die Rede sein kann. Damit ist auch von mir eine Last genommen, die mich gedrückt hat; wahrhaftig wehe hat es mir getan, Sie, lieber Graf, hinter Schloß und Riegel zu wissen. Und nun begleiten Sie mich in mein eigenes Büro, und bleiben Sie so lange, bei mir, bis Ihr eigener Wagen – ein offener soll es sein, damit jedermann Sie sehen kann –telephonisch herbeigerufen ist, um Sie, wieder ein freier, unbescholtener Mann, in das Haus Ihrer Väter zurückzubringen.«

Eschweiler hörte nur wie im Traum die Beglückwünschungen der anderen Herren, denn er fühlte nun doch die Reaktion des Grauens der durchlebten Tage seit seiner Heimkehr. Darum war er dem Präsidenten dankbar für das Glas Kognak, mit welchem er ihn in seinem Büro soweit stärkte, daß er die drohenden Anzeichen physischen und seelischen Versagens überwinden konnte. Bevor der herbeitelephonierte Wagen eintraf, hörte er auch noch, daß Margaritas irdische Überreste am Tage zuvor in aller Stille in der Familiengruft beigesetzt worden waren.

»Mögen sie dort bleiben«, entschied er. »Die arme, irregeleitete, ruhelose Seele steht vor ihrem Richter – und es ist nicht an mir, sie nachträglich hier auf Erden zu verurteilen. Dem Leib aber, dessen grausam zerstörte Schönheit hinieden soviele, unselige Leidenschaften – auch die meinen – entfacht, der ohne Reue rücksichtslos über vernichtete Existenzen auf seinem dunklen Lebenswege geschritten ist, will ich die letzte Ruhestätte nicht versagen. Requiescat in pace

Der Präsident ließ es sich nicht nehmen, Eschweiler auf seiner Heimkehr zu begleiten, an seiner Seite im offenen Wagen durch die Stadt zu fahren. Am Telegraphenamt vorbeifahrend, ließ Eschweiler einige Augenblicke halten, um ein Telegramm an den Oberst von Wettenhausen aufzugeben.

»Ich glaube zwar nicht, daß seine Intervention zu meinen Gunsten ohne mein Alibi und die Aussage der Minna Oschatz mir wesentlich genutzt hätte,« erklärte er dem Präsidenten, »aber er hat es gutgemeint und mir besonders durch seine paar Zeilen an mich selbst sehr wohlgetan. Darum soll er der erste sein, der die gute Nachricht hört, er und seine liebe Tochter, die ich ja schon gekannt, als sie noch in kurzen Röcken und mit langen Zöpfen wie eine wilde Hummel herumburrte.«

Die Fahrt durch die Stadt, wobei auf Veranlassung des Präsidenten, zum Zeichen, daß ihre Gemeinschaft eine freundschaftliche war, beide Herren eine Zigarre rauchten, war in der Tat eine Sensation, aber nach der ersten Überraschung bekam Eschweiler viele beglückwünschende Grüße von Bekannten, die ihm begegneten, und die Ankunft daheim gestaltete sich zu einer kleinen Demonstration von seiten der rasch zusammengetrommelten Beamten und Hausangestellten. Die Kammerfrau mochte wohl auch mit dem, was sie gewußt, nach der Flucht der Gesellschafterin nicht dichtgehalten haben. In der Tat hatte sie es zunächst dem Verwalter anvertraut und war damit auf dessen Veranlassung aufs Gericht gegangen, beziehungsweise von ihm mit sanfter Gewalt gebracht worden. Nun bat sie heulend, ›als ob der Bock sie stieß‹, Eschweiler um Verleihung, daß sie aus Angst vor Frau zur Mühle, ›die doch solch ausgewachsener Drache sei‹, ihre Beobachtungen verschwiegen. Auch habe sie sich geschämt, einzugestehen, daß sie gehorcht hatte, und erst, nachdem sie durch ihr feiges Schweigen den Herrn Grafen ins Gefängnis gebracht, sei sie sich ihres Unrechtes bewußt und von bitterer Reue gequält worden.

Eschweiler ließ ja natürlich Amnestie ergehen, aber er dachte bei sich, wie wahr es doch sei, daß das Böse zeitweilen zugelassen werde, um Gutes daraus zu ziehen, denn so wenig lobenswert und anständig es war, daß Minna gehorcht und spioniert hatte – in diesem Spezialfalle war es von einer gütigen Vorsehung dazu benutzt und gewendet worden, seine Unschuld ebenso an den Tag zu bringen, wie die Schuld der treulosen Gesellschafterin. Diese mußte hingegen wohl einem Höllenzwang gehorcht haben, als sie, statt mit der Perle einfach zu verschwinden, zurückkehrte, um die Schlinge zuzuziehen, in der sie sich fangen sollte. Ihre Rückkehr mit dem gefälschten Depotschein der Bank war psychologisch eine Unbegreiflichkeit, doch ist es eine erwiesene Tatsache, daß selbst abgefeimte Verbrecher oft dergleichen Unbegreiflichkeiten begehen, die sie früher oder später zu Falle bringen.

Der Präsident blieb bei Eschweiler an jenem Lage nur so lange in dessen Haus, bis er Einsicht in die Papiere genommen, welche sich auf die Lote und deren Antezedentien bezogen. Er war dazu verpflichtet, weil durch das Schreiben des Oberst von Wettenhausen dem Gericht diese Angelegenheit offiziell mitgeteilt worden war und damit aufgehört hatte, Privatsache zu sein, was sie ja ohnedem auch nicht geblieben wäre, wenn ›die p. p. Margarita Liczewska, geb. Mehlhorn‹ nicht vorzeitig mit dem Tode abgegangen wäre. Der Präsident nahm damit an, daß Eschweiler sich kaum damit begnügt hätte, eine stillschweigende Trennung von seiner unrechtmäßigen Gattin zu veranlassen, weil er sich damit selbst des ihm zustehenden Rechtes begeben hätte, eine andere rechtmäßige Ehe zu schließen – eine Annahme, die Eschweiler unumwunden als zutreffend einräumte. Dem Stein aber, der die Sache ins Rollen gebracht, dem Brief des ›( alias) Henri Leclair‹ maß der Präsident auch jetzt noch Bedeutung bei. Als eine anonyme Schmähschrift konnte er nicht gelten, da er, wenn ja auch mit › alias‹ und gerade darum, mit einem Namen unterzeichnet war, der an der Hand der Warschauer Polizeiakten eine direkte Spur zu seiner Verfolgung bot. Ob der Hinweis auf Frau zur Mühle, die der Mann darin ein Schandweib und eine ehemalige Zuchthäuslerin nannte, auf Wahrheit beruhte, konnte wohl unschwer ermittelt werden, weil es möglich und anzunehmen war, daß der ehemalige Polizeibeamte Heinrich Liczewski darüber etwas wußte, und mithin auch das Polizeiamt in Warschau.

»Alan sieht daraus wieder, daß man oft wie der Blinde von der Farbe urteilt«, sagte Eschweiler bitter. »Diese Frau zur Mühle war für mich in jeder Begehung ein so unbedeutender Begriff, daß es mir überhaupt nicht eingefallen wäre, mich eingehender mit ihr zu beschäftigen. Und dabei wuchs diese Schachfigur sich zum Schicksal für mich aus, dem ich verfallen gewesen wäre, wenn – es ist eigentlich nicht zu glauben – die Kammerzofe nicht eine Neigung zum Horchen hatte. Es war nur die Rücksicht auf die Wünsche meiner – der Verstorbenen, was mich daran verhinderte, dieses mir geradezu odiöse Weib aus meinem Hause zu entfernen. Da paßt ja wohl für mich wie für ihr Opfer der alte Spruch: Quem Deus pedere vult, dementat prius

»Ja, man kann aber auch, sagen: Nulla fere causa est, in qua non femina litem moverit«, Es gibt fast keinen Streitfall, zu dem nicht eine Frau den Anlaß gegeben meinte der Präsident trocken.

»Und was die Marionetten dieses Trauerspiels lenkte, war – eine Perle«, schloß Eschweiler das Thema.

Seiner Heimkehr durch das Feuer und das Wasser inneren und äußeren Erlebens folgte nun die Stille nach dem Sturm, aber er wußte, daß es nur die Stille vor dem neuen Sturm war, der unter dem Namen des Mordprozesses folgen mußte, sobald die flüchtig gegangene Barbara zur Mühle gefunden und vor ihre Richter gestellt wurde. Und dieser Sturm mußte dann alles wieder aufwühlen, ans Licht und vor die sensationsgierigen Ohren des lieben Publikums zerren, was das Grab nun deckte und besser darin verklungen, verweht und vergessen worden wäre. – –


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