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Dreizehntes Kapitel.

Coupeau machte in dieser Nacht eine seiner Saufreisen. Am nächsten Morgen erhielt Gervaise zehn Franken von ihrem Sohn Etienne, der Mechaniker bei einer Eisenbahn war. Der Kleine schickte ihr hin und wieder ein Fünffrankenstück, weil er wußte, daß zu Hause Schmalhans Küchenmeister war. Sie setzte sich einen Topf mit Fleisch und Gemüse an das Feuer und aß das Gericht ganz allein auf, denn das Vieh, der Coupeau, war auch am folgenden Tage nicht heimgekommen. Es kam der Montag, der Dienstag, niemand ließ sich sehen. Die ganze Woche verging so. Ah! Den Teufel auch! Wenn den irgendeine Dame entführt hätte, so könnte man das einen glücklichen Umstand nennen! Gerade am Sonntag bekam Gervaise ein amtliches Schreiben, das sie zuerst erschreckte, weil es wie ein Brief von der Polizei aussah. Als sie es las, beruhigte sie sich; es war ganz einfach die Mitteilung, daß ihr Schwein im Begriffe sei, im Annenkrankenhause vor die Hunde zu gehen. Das Schriftstück sagte es höflicher, aber es kam im Grunde genommen auf dasselbe hinaus. Ja, ja, es war also doch eine Dame gewesen, die Coupeau entführt hatte, und diese Dame hieß Sophia Drehauge, die letzte gute Freundin der Trunkenbolde.

Nein, wahrlich, deswegen beunruhigte sich Gervaise nicht. Er kannte ja den Weg, er würde vom Asyl schon allein wieder nach Hause finden; er war dort schon so oft geheilt worden, daß sie ihm wohl noch einmal den bösen Streich spielen würden, ihm wieder auf die Beine zu helfen. Hatte sie nicht erst heute morgen gehört, daß man während ganzer acht Tage Coupeau gesehen habe, wie er trunken wie ein Igel bei allen Weinwirten von Belleville sich umhergetrieben habe. In seiner Gesellschaft war Mes-Bottes; und Mes-Bottes war es auch, der alles zahlte; er mußte einen tiefen Griff in die verborgenen Schätze seiner sauberen Ehehälfte getan haben, die ihre Ersparnisse mit dem hübschen Spielchen gewann, das ihr alle kennt. Es war ein recht reinliches Geld, was sie da vertranken, kein Wunder, wenn ihnen da alle möglichen Krankheiten in die Knochen fuhren. Desto besser, wenn Coupeau ein bißchen Leibschmerzen davon bekommen hatte! Gervaise war ganz wütend bei dem Gedanken, daß diese beiden verdammten Selbstsüchtigen auch nicht einmal daran gedacht hatten, sie abzuholen und ihr auch einen Schluck anzubieten. Hat man je so etwas gesehen! Ein Gelage von acht Tagen und so unhöflich gegen eine Dame! Wenn man allein getrunken hat, kann man auch allein krepieren, so ist es!

Am Montag hatte Gervaise eine recht hübsche, kleine Mahlzeit für den Abend, es war ein Rest Bohnen und ein Schoppen Wein. Sie überredete sich, daß eine kleine Promenade ihren Appetit verbessern würde. Der Brief da auf der Kommode war ihr unbequem. Der Schnee war geschmolzen, das Wetter war angenehm, der Himmel zwar bewölkt, aber die milde Luft hatte etwas Erfrischendes, in ihrem leisen Wehen lag es wie Frühlingsahnen. Ein solches Wetter läßt auch ein bedrücktes Menschenherz aufs neue hoffnungsreich schlagen. Sie machte sich schon mittags auf, denn der Weg war lang; man mußte quer durch ganz Paris, und ihr Bein schleppte immer nach; dabei war eine Menge von Menschen auf den Straßen, alle Welt war heiter und guter Dinge, so kam denn auch sie ganz munter dort an. Als sie ihren Namen genannt hatte, erzählte man ihr eine ganz tolle Geschichte: es schien, als ob man Coupeau bei der Neuen Brücke aufgefischt habe; er hatte sich über die Brustwehr gestürzt, weil er glaubte, daß ein bärtiger Mann ihm den Weg versperrte. Ein hübscher Sprung, nicht wahr? Wie Coupeau auf die Neue Brücke gekommen war, das konnte er selbst nicht erklären.

Ein Wärter führte Gervaise. Als sie eine Treppe in die Höhe stiegen, hörte sie ein Geheul, das ihr das Mark gefrieren ließ.

»Nicht wahr? Der macht eine Musik!« sagte der Wärter.

»Wer denn?« fragte sie.

»Nun, Euer Mann! So heult er schon seit vorgestern. Und dabei tanzt er, Ihr werdet gleich selbst sehen!«

Oh! Mein Gott! Was war das für ein Anblick! Sie blieb wie angedonnert stehen. Die Zelle war von oben bis unten gepolstert, auf der Erde lagen zwei Strohsäcke, einer auf dem anderen und in der Ecke eine Matratze und ein Keilkissen, weiter nichts. In diesem Räume tanzte und heulte Coupeau. Er sah aus wie eine richtige Gründonnerstagsmaske mit seiner zerlumpten Bluse und seinen Gliedern, die in der Luft umherfuchtelten. Aber die Maske war nicht komisch, nein, diese Maske tanzte da einen Tanz, der dem Zuschauer jedes Haar des Körpers vor Entsetzen emporsträubt. Seine Maske stellte einen Sterbenden dar. Heiliger Himmel! war das ein Mensch! Er hüpfte auf das Fenster zu, und wenn er rückwärts schreitend von dort fortging, schlug er mit den Armen den Takt und schüttelte die Hände, als wolle er sie von sich schleudern, damit sie den Leuten ins Gesicht flögen. Man trifft in den Tanzkneipen Spaßmacher, die es nachahmen, aber sie machen es schlecht nach; wenn man sich eine richtige Meinung von dieser Säuferquadrille verschaffen will, muß man es von einem sehen, der es ganz ernsthaft aufführt. Auch das Lied hat seinen eigenartigen Charakter, es ist ein fortwährendes Karnevalsgeheul, wobei aus dem weit offenen Munde stundenlang dieselben Noten wie aus einer heiseren Posaune kommen. Coupeau schrie wie ein Hund, dem man eine Pfote zerquetscht hat. Und dabei fortwährend: Die Herren vor! Hinüber zu den Damen!

»Himmlischer Vater! Was ist das? Was hat er denn? ...« fragte wiederholt Gervaise, die schier versteinert war.

Ein junger Mediziner, ein starker, blonder, rosiger Bursche mit einer weißen Schürze, saß ruhig und machte Notizen. Der Fall war interessant, der junge Mann ließ den Kranken nicht aus den Augen.

»Bleibt einen Augenblick hier, wenn Ihr wollt!« sagte er zur Wäscherin. »Aber verhaltet Euch ruhig ... Versucht es mal ihn anzureden, er wird Euch nicht erkennen.«

Coupeau schien wirklich seine Frau nicht einmal zu bemerken. Sie hatte ihn beim Hereintreten nur schlecht sehen können, weil er sich so viel hin und her bewegte. Als sie ihm nun näherbei ins Gesicht sah, ließ sie ihre Arme vor Schreck niedersinken. Wie war es, um Gottes willen! nur möglich, daß er ein solches Gesicht hatte mit blutunterlaufenen Augen und dicken Krusten auf den Lippen? Sie hätte ihn sicherlich nicht wiedererkannt. Er schnitt auch viel zu viel Gesichter, ohne zu sagen, weshalb; den Mund zog er plötzlich ganz schief, die Nase zog sich faltig zusammen und die Backen waren gespannt, so daß er ein wahres Tiergesicht hatte. Seine Haut war so heiß, daß die Luft um ihn herum dampfte, dabei war sein Fleisch glänzend und schwere Schweißtropfen rannen an ihm nieder. Wenn man so seinem rasenden Tanz zusah, merkte man recht gut, daß er sich dabei nicht wohl fühlte, daß ihm sein Kopf schwer war und seine Glieder ihn schmerzten.

Gervaise hatte sich dem jungen Mediziner genähert, der mit den Fingern auf der Stuhllehne einen Marsch trommelte.

»Sagen Sie doch, mein Herr, dieses Mal ist es also ernsthaft?«

Der Mediziner nickte mit dem Kopfe, ohne zu antworten.

»Sagen Sie, plappert er nicht ganz leise? Nicht wahr? Sie hören es auch, was ist denn das?«

»Das sind Dinge, die er sieht!« murmelte der junge Mann. »Seid still und laßt mich hören.«

Coupeau sprach ruckweise. Dabei schien ein Funke von Spaßhaftigkeit in seinen Augen aufzuleuchten. Er blickte rechts und links zu Boden und drehte sich um sich selbst, als ob er im Vincenner Gehölz spazieren gehe und mit sich selbst spreche.

»Ei! Das ist hübsch, das ist gelungen ... Da sind ja niedliche Buden, ein ganzer Jahrmarkt. Und die hübsche Musik! Was tanzen die toll! Die verbrechen da drinnen alles Geschirr wie an einem Polterabend ... Sehr hübsch! Ei! Da steigen ja auch rote Luftballons auf, wie die springen, wie die abgehen ... Oh! oh! Wie viele Laternen an den Bäumen hängen! ... Es ist ganz verdammt hübsch hier! Überall Springbrunnen und Wasserfälle, und das Wasser plätschert und murmelt, ah! als ob Kinder im Chor sängen ... Es ist erstaunlich! Solche Wasserfälle!«

Er richtete sich auf, als ob er das entzückende Lied des Wassers besser hören wolle; er sog in starken Zügen die Luft ein, weil er den frischen Hauch von den Wasserfällen zu atmen glaubte. Aber nach und nach nahm sein Gesicht den Ausdruck der Angst an. Jetzt krümmte er sich zusammen und lief an den Wänden der Zelle entlang, wobei er dumpfe Drohworte vor sich her murmelte.

»Noch immer die Schufte und all das andere! Oh! Ich traute ihnen nicht... Ruhe da! Ihr Haufen von Schurken! Ja, ihr kümmert euch nicht um mich! Ihr wollt euch über mich lustig machen, wenn ihr da drinnen mit euren Weibsbildern sauft ... Ich werde euch in Stücke schlagen, euch und eure Bude! ... In drei Teufels Namen! Wollt ihr mich in Ruhe lassen?«

Er ballte die Fäuste. Rauhes Schreien kam aus seinem Munde und er lief, sich niederduckend, an den Wänden entlang. Dann stotterte er, und die Zähne klapperten ihm vor Entsetzen.

»Ich soll wohl ein Ende mit mir machen? Nein, ich werfe mich da nicht hinein! ... All das Wasser, das bedeutet, daß ich keinen Mut habe. Nein, ich stürze mich doch nicht hinein!«

Die Wasserfälle flohen bei seiner Annäherung und rückten vor, wenn er zurückwich. Plötzlich blickte er stumpfsinnig um sich und stammelte mit kaum vernehmbarer Stimme:

»Das ist, ja unmöglich, die Naturforscher haben sich gegen mich verschworen!«

»Ich gehe jetzt fort, mein Herr. Guten Abend!« sagte Gervaise zu dem Mediziner. »Es ist mir zu schmerzlich, ich werde wiederkommen!«

Sie war bleich vor Entsetzen. Coupeau fuhr mit seinem Tanzschritt fort, immer vom Fenster zur Matratze und von der Matratze zum Fenster; dabei schwitzte er, spannte all seine Kräfte aufs äußerste an und bei alledem schlug er noch selbst den Takt. Da lief sie fort. So schnell wie sie auch die Treppe hinabeilte, bis unten hörte sie immer noch den entsetzlichen Lärm, den ihr Mann machte. Wie gut war es doch draußen, da atmete man auf. Am Abend sprach das ganze Haus in der Goldtropfenstraße von der sonderbaren Krankheit Vater Coupeaus. Die Boches, die die Humpelliese jetzt ganz über die Achsel ansahen, verehrten ihr doch einen Johannisbeerschnaps in ihrem Zimmer, um von ihr näheres zu erfahren. Madame Lorilleux kam dazu und auch Madame Poisson. Da gab es denn ellenlange Erklärungen. Boche hatte einen Tischler gekannt, der ganz nackt auf die Martinstraße gegangen war; beim Polkatanzen ist er gestorben, der Bursche trank Absinth. Die Damen wandten sich vor Lachen, weil es ihnen zu komisch vorkam, obgleich es eigentlich sehr traurig war. Als sie noch immer nicht recht begriffen, wie so etwas zugehe, schob Gervaise die Leute beiseite und rief, daß man ihr Platz machen solle; und dann ahmte sie in der Mitte des Zimmers, während die anderen ihr zusahen, Coupeau nach, wie er brüllte und hopste und dabei abscheuliche Grimassen schnitt. Ja, auf Ehrenwort! Ganz so war es! Jetzt verwunderten sich alle; das sei ja nicht möglich! Ein solches Toben könne ein Mann ja keine drei Stunden aushalten! Nun! Sie schwor bei allem, was es Heiliges gab. Coupeau mache es schon seit dem vorigen Morgen, sechsunddreißig Stunden lang. Wenn man es ihr nicht glaube, könne man ja hingehen und nachsehen. Aber Madame Lorilleux erklärte, sie danke dafür, sie sei schon einmal im Annenkrankenhause zu Besuch gewesen und werde auch nicht erlauben, daß Lorilleux einen Fuß dahin setze. Virginie, deren Laden täglich schlechter und schlechter ging, so daß sie mit einer wahren Leichenbittermiene umherwankte, begnügte sich zu murmeln, daß das Leben nicht immer lustig sei, nein, bei Gott! Gar nicht lustig! Man trank den Johannisbeerschnaps aus, und Gervaise wünschte der Gesellschaft einen guten Abend. Wenn sie nicht mehr sprach, so nahm ihr Gesicht sogleich einen närrischen Ausdruck an, wobei ihre Augen weit offen standen. Wahrscheinlich sah sie im Geiste ihren Mann tanzen. Als sie am andern Morgen aufstand, nahm sie sich vor, nicht wieder hinzugehen. Wozu auch? Sollte sie denn auch noch ihr bißchen Verstand verlieren? Aber doch fing sie alle zehn Minuten wieder aufs neue an, darüber nachzudenken; sie war nicht recht bei sich, wie man zu sagen pflegt. Es sei doch zu merkwürdig, wenn er immer noch seine Tanzübungen mache. Als es zwölf Uhr schlug, konnte sie sich nicht mehr halten, sie bemerkte selbst nicht einmal die Länge des Weges, so groß war ihr Verlangen und ihre Furcht zu sehen, was sie dort erwarte.

Sie brauchte sich gar nicht nach dem Befinden des Patienten zu erkundigen. Schon unten auf der Treppe hörte sie Coupeaus Lied, ganz dieselbe Melodie, ganz denselben Tanz! Sie hätte glauben können, sie sei nur eine Minute hinuntergegangen und komme jetzt zurück. Der Wärter von gestern, der Töpfe mit Medizin über den Flur trug, nickte ihr zu, als er sie wiedererkannte, um sich liebenswürdig zu zeigen.

»Also immer noch!« sagte sie.

»Oh! noch immer!« antwortete er, ohne stehenzubleiben.

Sie trat ein, aber sie hielt sich nahe bei der Tür, denn es waren Leute bei Coupeau. Der blonde, rosige Mediziner stand und hatte den Stuhl an einen alten, dekorierten Herrn abgetreten, der kahlköpfig war und ein Gesicht wie ein Fuchs hatte. Es war wahrscheinlich der Chefarzt, denn er warf so schnelle, scharfe Blicke um sich, die einem durchbohrten. Alle diese Totenhändler haben solche Blicke an sich.

Übrigens war Gervaise nicht dieses Herrn wegen gekommen, deshalb richtete sie sich hinter ihm auf und verschlang Coupeau mit den Augen. Der Rasende tanzte und brüllte noch stärker als tags zuvor. Sie hatte früher bei den Fastnachtsbällen wohl gesehen, wie die Hausdiener aus den Waschanstalten, die alle sehr stramme Burschen waren, sich für eine ganze Nacht solchem Tanz hingegeben hatten; aber nimmermehr hätte sie sich träumen lassen, daß ein Mann so lange daran Vergnügen finden könne. Wenn sie »Vergnügen finden« sagte, so war es eine Redensart, denn es kann unmöglich sehr viel Spaß machen, wider Willen wie ein Karpfen zu springen, als ob man ein Pulverfaß verschluckt habe. Coupeau, der in Schweiß gebadet war, dampfte noch stärker, das war alles; sein Mund schien sich von dem vielen Schreien vergrößert zu haben. Oh! Schwangere Frauen taten sehr wohl daran, diesem Anblick fern zu bleiben. Er war soviel zwischen der Matratze und dem Fenster hin und her gegangen, daß man auf dem Fußboden den Weg sich abzeichnen sah, den er machte; auch die Strohsäcke waren von seinen Schuhen zu Boden getreten.

Nein, wahrlich, so ein Anblick war nicht schön, und Gervaise fragte sich zitternd, weshalb sie eigentlich wieder hergekommen war. Da hatte man abends bei den Boches gesagt, daß sie zu stark aufgetragen habe. Nun! Sie hatte es noch nicht zur Hälfte so gemacht, wie es wirklich war. Jetzt sah sie noch besser, wie Coupeau sich dabei benahm; sie würde es nie mehr vergessen, wie er seine Augen weit aufriß und ins Leere starrte. Trotzdem fing sie einiges von dem Gespräch zwischen dem jungen und dem alten Arzt auf. Der erstere gab in Ausdrücken, die sie nicht verstand, einen Bericht über den Verlauf der Nacht. Während der ganzen Nacht habe ihr Mann geplaudert und getanzt, was das nur eigentlich bedeute? Jetzt endlich schien der alte, kahlköpfige Herr, der übrigens nicht sehr höflich war, ihre Anwesenheit zu bemerken; als der junge Mann ihm gesagt hatte, daß sie die Frau des Kranken sei, stellte er ein Verhör mit ihr an, als ob er ein Polizeikommissar sei.

»Hat der Vater dieses Mannes auch getrunken?«

»Ja, mein Herr, ein klein wenig, wie jedermann ... Er hat sich das Genick abgestürzt, als er eines Tages in der Trunkenheit vom Dach fiel.«

»Hat seine Mutter auch getrunken?«

»Aber, mein Herr, so wie am Ende jede trinkt. Sie wissen schon, hin und wieder einen Schluck ... Die Familie ist sehr anständig! ... Es war noch ein Bruder da, der sehr jung an Krämpfen gestorben ist.«

Der Arzt sah sie mit seinen durchdringenden Augen an. Dann sagte er mit brutaler Stimme:

»Und Ihr trinkt auch?«

Gervaise stotterte Worte der Entschuldigung hervor und legte dabei die Hand aufs Herz, um das, was sie sagte, glaubhafter zu machen.

»Ihr trinkt! Nehmt Euch in acht, Ihr seht, wohin es führt, wenn man trinkt ... Eines schönen Tages werdet Ihr dann ebenso sterben!«

Da blieb sie an die Wand gelehnt stehen. Der Arzt hatte ihr den Bücken zugedreht. Er bückte sich nieder, ohne sich zu beunruhigen, daß dabei sein Bockschoß den Staub des Strohsackes vom Boden wischte, und studierte lange das Zappeln Coupeaus; er wartete, bis er vorbei kam und folgte ihm mit den Augen. An diesem Tage zappelten nur die Beine, das Zittern war mehr nach unten gegangen, von den Händen war es auf die Füße gekommen; er war wie ein Hampelmann, bei dem man unaufhörlich die Strippe zog, als ob seine Glieder zum Vergnügen hüpften. Das Übel nahm langsam Schritt für Schritt zu. Es war, als ob unter der Haut ein fortwährender Strom fließe. Das begann alle drei oder vier Sekunden aufs neue, rollte einen Augenblick und hielt dann an, um einem kleinen Schauder Platz zu machen, wie er die verlorenen Hündchen zu ergreifen pflegt, wenn sie im Winter unter einem Torweg frieren. Der Bauch und die Schultern hatten schon jetzt eine Art von Zittern wie kochendes Wasser. Es war eine merkwürdige Art der Zerstörung, und bei alledem sich so winden zu müssen, wie ein Mädchen, das das Kitzeln nicht vertragen kann!

Hin und wieder klagte Coupeau mit dumpfer Stimme. Er schien bedeutend mehr zu leiden als tags zuvor. Seine abgerissenen Klagen ließen alle Arten von Schmerzen ahnen. Tausende von Stecknadeln pikten ihn. Überall hatte er auf der Haut etwas Schweres, was ihn drückte; ein kaltes, nasses Tier wand sich um seine Schenkel und biß in sein Fleisch. Dann waren es wieder andere Tiere, die sich ihm auf die Schultern setzten und ihm mit ihren Tatzen den Rücken zerkratzten.

»Ich habe Durst! Oh! Ich habe Durst!« brummte er unaufhörlich.

Der junge Mediziner nahm einen Topf mit Limonade von einem Brett und gab ihn ihm. Er ergriff den Topf mit beiden Händen und schlang gierig einen Schluck herunter, wobei er die Hälfte der Flüssigkeit vergoß; aber er spie den Schluck gleich mit Ekel wieder aus und schrie wütend:

»Pfui Teufel! Das ist ja Branntwein!«

Da wollte auf ein Zeichen des Arztes der junge Mediziner ihn Wasser trinken lassen, ohne daß er die Flasche losließ. Diesmal schluckte er die Flüssigkeit herunter, aber er heulte nachher, als ob er Feuer getrunken hätte:

»Das ist ja Branntwein! Pfui Teufel! Das ist ja Branntwein!«

Seit dem vorigen Abend schien ihm alles, was er trank, Branntwein zu sein. Das verdoppelte seinen Durst und er konnte doch nicht trinken, weil alles ihn wie Feuer brannte. Man hatte ihm eine Art Suppe gebracht, aber er glaubte, daß man ihn vergiften wolle, denn diese Suppe roch ihm nach Vitriol. Das Brot war sauer und verdorben. Er sah nichts wie Gift um sich herum. Die Zelle roch nach Schwefel. Ja, er beschuldigte die Wärter, daß sie unter seiner Nase Schwefelhölzchen ansteckten, um ihn verdorbene Luft atmen zu lassen.

Der Arzt war aufgestanden und hörte Coupeau zu, der jetzt am hellen Mittag neue Gebilde sah. Glaubte er doch an den Wänden Spinngewebe zu sehen, die so groß wie Bootssegel waren. Dann wurden diese Spinngewebe Netze mit Maschen, die sich zusammenzogen und ausdehnten; es war ein drolliges Spielzeug! In den Netzen rollten schwarze Kugeln, wie die Gaukler sie haben; zuerst waren sie wie Billardkugeln, dann groß wie Kanonenkugeln, sie schwollen an und verkleinerten sich, alles nur, um ihn zu ärgern. Plötzlich schrie er:

»Oh! Die Ratten! Da sind die Ratten, jetzt um diese Zeit!«

Die Kugeln hatten sich in Ratten verwandelt. Diese ekelhaften Tiere wurden größer, kletterten aus den Netzen, sprangen auf die Matratze oder verschwanden wieder. Er sah auch einen Affen, der aus der Wand kam und auch dort wieder hineinging, der kam ihm jedesmal so nahe, daß er zurückwich, weil er fürchtete, er werde ihn in die Nase beißen. Plötzlich änderte sich alles; er mußte glauben, die Mauern seien ins Wanken gekommen, denn er wiederholte mit schreck- und wuterstickter Stimme:

»Da, da ist es schon wieder! Oh! Je! Halt doch! Stützt mich! Mir soll's recht sein! ... Oh! Weh! Die ganze Bude! Oh! Weh! Alles fällt um! ... Ja, läutet nur die Glocken, ihr schwarzes Volk! Spielt nur die Orgel, damit ich nicht nach der Wache rufen kann! ... Sie haben eine Maschine hinter die Mauer gestellt, dieses Lumpengesindel! Ich höre es ja, wie sie pustet, sie wollen uns in die Luft sprengen ... Feuer! Um Gottes willen! Feuer! Alle rufen jetzt Feuer! Ha! wie es flammt! Oh! wie hell es wird! Wie hell es wird! Der ganze Himmel brennt in rotem Feuer, in grünem Feuer, jetzt ist es gelb ... Hierher! Zu Hilfe! Feuer!«

Sein Geschrei erstarb in einem Röcheln. Er stammelte nur noch unzusammenhängende Worte hervor, vor seinem Munde stand Schaum, und sein Kinn war von dem Speichel genäßt, der ihm aus dem Munde floß. Der Arzt rieb seine Nase mit dem Zeigefinger, das schien eine Bewegung, die ihm angesichts schwerer Fälle eigentümlich war, dann wandte er sich an den jungen Kollegen und fragte ihn halblaut:

»Und die Temperatur ist immer noch vierzig Grad, nicht wahr?«

»Ja, mein Herr!«

Der Arzt zog eine Grimasse. Noch zwei Minuten blieb er da und sah Coupeau unverwandt an. Dann zuckte er die Achseln und meinte:

»Fahren Sie mit derselben Behandlung fort: Bouillon, Limonade, Milch, einen leichten Extrakt von Chinarinde in Dosen ... Verlassen Sie ihn nicht; wenn er sich verändert, lassen Sie mich rufen!«

Er ging fort. Gervaise folgte ihm, um ihn zu fragen, ob denn gar keine Hoffnung mehr sei. Aber er ging so steif den Flur entlang, daß sie es nicht wagte, ihn anzusprechen. Einen Augenblick blieb sie stehen und zögerte, ob sie wieder hineingehen und ihren Mann noch einmal sehen solle. Der eine Besuch schien ihr schon schwer genug. Als sie ihn noch immer schreien hörte, daß die Limonade nach Branntwein rieche, da machte sie, daß sie fortkam, sie hatte von der Vorstellung gerade genug. Als sie auf der Straße war und den Galopp der Pferde sah, und die Wagen rollen hörte, glaubte sie, das ganze Annenkrankenhaus sei ihr auf den Fersen. Die Drohung des Arztes kam ihr ins Gedächtnis. Wahrhaftig! sie glaubte, sie habe die Krankheit auch schon. In der Goldtropfenstraße wurde sie von den Boches und den anderen schon erwartet. Sowie sie im Torweg erschien, rief man sie in das Pförtnerzimmer. Nun! Hielt denn Vater Coupeau noch immer aus? Mein Gott! ja, er hielt es noch immer aus. Boche schien verdutzt und bestürzt: er hatte einen Liter gewettet, daß Coupeau es nicht mehr bis zum Abend machen werde. Wie! er lebte immer noch? Die ganze Gesellschaft konnte sich darüber vor Erstaunen gar nicht fassen und schlug sich auf die Schenkel. Das war ein zäher Bursche! Madame Lorilleux rechnete nach, wieviel Stunden es schon währte: sechsunddreißig Stunden und vierundzwanzig Stunden, sechzig Stunden. Heiliger Vater! Schon sechzig Stunden zappelte er mit den Beinen und strapazierte seine Kehle! Nie hatte man solche Kraftleistung gesehen! Boche wollte nicht recht an die Sache glauben wegen seines Liters, er befragte Gervaise mit zweifelhafter Miene, ob sie auch ganz sicher sei, daß er sich nicht doch hinter ihrem Rücken davongemacht habe. Oh! Nein, er hopse zu stark, er habe gar nicht Lust, abzugehen. Da bat Boche noch inständiger, sie möge doch zeigen, wie er es mache, damit man sich davon einen Begriff machen könne. Ja, ja, noch ein bißchen! Auf allgemeines Verlangen! Die Gesellschaft meinte, es sei doch so nett von ihr, wenn sie es tue, denn es seien gerade zwei Nachbarinnen da, die es am Abend zuvor noch nicht mit angesehen hätten und die eigens heruntergekommen seien, um der Vorstellung beizuwohnen. Der Pförtner rief den Leuten zu, daß sie Platz machten; man ließ die Mitte der Loge frei und stieß einander, vor Neugierde zitternd, mit den Ellenbogen. Aber Gervaise senkte den Kopf. Wahrhaftig, sie fürchtete, daß sie sich krank machen werde. Da sie aber zu beweisen wünschte, daß sie sich nicht nötigen lasse, so machte sie zwei oder drei kleine Sprünge; aber es wurde ihr übel, und sie mußte sich niedersetzen; auf Ehrenwort, sie könne nicht! Ein Murmeln der Enttäuschung lief durch die Gesellschaft: Das war schade, sie ahmte es so vollendet nach! Mein Gott! wenn sie nicht konnte! Da Virginie in ihren Laden zurückkehrte, vergaß man schnell den Vater Coupeau, um sich lebhaft über das Poissonsche Ehepaar zu unterhalten. Da ging jetzt alles drunter und drüber; am vorigen Abend waren die Gerichtsvollzieher gekommen; der Schutzmann werde wohl seinen Posten verlieren; Lantier scherwenzele um das Kellnermädchen im Restaurant nebenan; es sei eine prächtige Person, die davon spreche, sich als Kaldaunenhändlerin einzurichten. Verdammt noch eins! Darüber war des Lachens kein Ende, man sah schon den Kaldaunenhandel in dem Laden eingerichtet; nach der Leckerei etwas Solides. Der Hahnrei, der Poisson, machte zu alledem ein gutmütiges Gesicht; den Teufel auch! wie war es nur möglich, daß ein Mann, dessen Beruf es ist, mit allen Hunden gehetzt zu sein, sich in seinem Hause so blind und täppisch zeigte? Plötzlich schwiegen alle still, weil sie ganz hinten Gervaise bemerkten, die für sich, mit Händen und Füßen zitternd, Coupeau nachzuahmen versuchte. Bravo! Das war das Wahre, mehr konnte man nicht verlangen. Sie war wie betäubt und schien aus einem Traum zu erwachen. Dann ging sie schnell fort. »Schön guten Abend, meine Herrschaften!« So ging sie nach oben und versuchte zu schlafen.

Am anderen Tage sahen die Boches sie um die Mittagsstunde fortgehen, gerade so wie an den Tagen zuvor. Sie wünschten ihr viel Vergnügen. An diesem Tage zitterte im Annenkrankenhause der Flur von dem Geheul und dem Fußstampfen Coupeaus. Sie hatte das Treppengeländer noch nicht losgelassen, als sie ihn schon heulen hörte.

»Pfui! Ist das ein Gesindel von Dirnen! ... Kommt doch mal ein bißchen her, daß ich euch die Knochen zerschlage! ... Ah! sie wollen mich kalt machen, ah! die Dirnen! Ich bin schlauer als ihr alle! Schert euch fort in Teufels Namen!«

Einen Augenblick atmete sie vor der Tür hoch auf. Schlug er sich denn mit einer Armee? Als sie eintrat, nahm es noch zu, wurde noch toller. Coupeau war tobsüchtig, als ob er aus Charenton entsprungen sei. Er stand in der Mitte der Zelle und marterte sich ab, überallhin schlug er mit seinen Händen, auf sich selbst, an die Wände und den Fußboden, fortwährend schwankend, führte er seine Hiebe ins Leere; er wollte das Fenster öffnen, er versteckte sich, rief und antwortete sich selbst und führte so einen wahren Hexensabbat auf wie ein Mann, der in einem schweren Traum sich gegen eine Menge von Angreifern verteidigt. Dann verstand Gervaise, daß er auf einem Dache zu sein glaube, wo er seine Zinkplatten lege. Er ahmte mit seinem Munde das Pusten des Blasebalges nach, er wandte die Eisen auf dem Kohlenfeuer um, legte sich auf die Knie, um mit dem Daumen auf der Naht des Strohsackes entlangzufahren, weil er glaubte, er löte dort. Ja, sein Handwerk flackerte noch einmal vor seinem Geiste auf in dem Augenblick, wo es mit ihm zu Ende ging; wenn er jetzt so sehr heulte und schrie, so tat er es, weil eine Bande von Schweinehunden ihn daran hinderte, seine Arbeit ordentlich fertigzumachen. Auf allen Nachbardächern waren Spitzbuben, die ihn foppten. Und dabei jagten ihm die Schwätzer ganze Banden von Ratten zwischen die Beine. Oh! Diese ekelhaften Tiere sah er immerwährend! Wenn er auch noch so viele davon mit den Füßen zerstampfte, es kamen immer neue Scharen, das ganze Dach war schwarz. Und waren denn nicht auch große Spinnen da? Er riß an seiner Hose, um die dicken Spinnen an seinen Schenkeln zu zerquetschen, die da hineingekrochen waren. In drei Teufels Namen! er konnte gar nicht mit seinem Arbeitstag zu Ende kommen, man wollte ihn durchaus verderben, sein Meister werde ihn ins Arbeitshaus schicken. Als er nun schneller arbeitete, glaubte er, daß er eine Dampfmaschine in seinem Leibe habe; er machte den Mund weit auf, als ob er Rauch ausatme, eine dichte Rauchwolke erfülle die Zelle und ging dann durch das Fenster; nun beugte er sich vor und sah draußen die langen Streifen Rauch sich entrollen und am Himmel emporsteigen, wo sie die Sonne verfinsterten.

»Halt!« schrie er, »das ist die Bande von der Chaussee Clignancourt; die sind als Bären verkleidet und machen einen Lärm ...«

Er blieb vor dem Fenster sitzen und blickte hinaus, als ob oben in der Höhe der Dächer ein Zug vorüberkomme.

»Da sind ja auch die Löwen und die Panther, die Grimassen schneiden ... Da sind Kinder als Hunde und Katzen angezogen ... Da ist ja auch die große Clemence, die hat die ganze Perücke voller Federn. Ei! den Teufel auch! Die überschlägt sich und zeigt alles, was sie hat! ... Du höre mal, Liebchen! Wollen wir zusammen durchgehen ... Du da! Schuftiger Schlingel, willst du sie wohl nicht wegnehmen! ... Ziehe nicht so, Donnerwetter! Ziehe doch nicht so!...

Seine Stimme wurde lauter und klang rauh und fürchterlich, dann bückte er sich schnell und sagte, daß da unten Polizei sei und Rothosen, die mit ihren Flinten auf ihn zielten. In der Wand sah er den Lauf einer Pistole, die auf seine Brust angeschlagen war, Wieder raubte man ihm das Mädchen.

»Zieht doch nicht so! In Teufels Namen! Ihr sollt nicht so ziehen ...«

Dann stürzten alle Häuser ein, und er ahmte das Krachen eines ganzen Viertels nach, das zusammenpurzelt; dann verschwand alles, alles hatte sich verflüchtigt. Aber es blieb ihm keine Zeit, Atem zu schöpfen, andere Bilder zogen mit außerordentlicher Schnelligkeit vorüber. Eine wütende Sucht zu sprechen füllte ihm den Mund mit Worten, die er dann ohne Zusammenhang hervorschnatterte. Immer sprach er mit lauter Stimme:

»Ah, sieh da! Du bist es! ... Mach doch keinen Unsinn, du stopfst mir ja deine Haare in den Mund!«

Dabei fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht und pustete, um die Haare loszuwerden. Der Mediziner fragte ihn:

»Was seht Ihr denn?«

»Nun, wen sonst als meine Frau!«

Während er das sagte, sah er die Wand an und drehte Gervaise den Rücken zu.

Diese bekam keinen schlechten Schreck, auch sie blickte nach der Wand, um zu sehen, ob sie da noch einmal sei. Er fuhr zu sprechen fort:

»Du weißt, du darfst mir nichts vorflunkern ... Ich will nicht, daß man mir was aufbindet ... Donnerwetter! Wie siehst du schön aus! Wo hast du die famose Toilette her? Womit hast du das verdient, du Tier! Du kommst ja von den Boulevards, du Kamel! Warte mal, dir werde ich den Kopf zurechtsetzen! ... Nun? Du versteckst ja deinen Herrn hinter deinen Röcken! Wer ist denn das da? Bücke dich doch, damit ich sehen kann ... In drei Teufels Namen! Da ist er schon wieder!«

Mit einem schrecklichen Satz stürzte er vorwärts und stieß sich den Kopf an die Wand, aber die Polsterung milderte den Stoß, man hörte nur das Aufschlagen seines Körpers auf dem Strohsacke, wohin der Stoß ihn geworfen hatte.

»Wen seht Ihr denn?« fragte der Mediziner.

»Den Hutmacher! Den Hutmacher!« heulte Coupeau.

Der Mediziner fragte Gervaise, wer das sei, doch diese stammelte etwas, ohne ordentlich antworten zu können, denn diese Szene erweckte in ihr das Andenken an allen Verdruß ihres Lebens. Der Zinkarbeiter streckte die Fäuste vor.

»Komm heran, mein Bursche! Endlich muß ich einmal mit dir abrechnen! Ach! Du kommst so ohne weiteres mit diesem Geschöpf am Arm daher, um mich vor den Leuten lächerlich zu machen. Nun gut! Ich will dich erwürgen, ja, ja, ich, und ich werde mir keine Handschuhe dazu anziehen! Tue nur nicht so großspurig ... Da, stecke das ein! Und nochmal! nochmal! nochmal!«

Er hieb mit den Fäusten ins Leere. Es hatte sich seiner eine tolle Wut bemächtigt. Da er sich beim Zurückweichen an die Wand gestoßen hatte, so glaubte er, daß man ihn auch von hinten angreife, und wandte sich wütend der Wand zu. Er sprang vorwärts und setzte von einer Ecke in die andere, dabei schlug er sich auf den Bauch, den Hintern und die Schultern, wälzte sich auf dem Boden umher und sprang wieder auf. Seine Knochen wurden mürbe und sein Fleisch so weich, daß es bei jedem Schlage so klang, als sei es nasses Werg. Dieses Spiel unsinniger Drohungen begleitete er mit wilden, rauhen Kehltönen. Es schien, als ob die Schlacht für ihn ein schlechtes Ende nehme, denn sein Atem wurde kurz, seine Augen traten aus ihren Höhlen, und es überkam ihn nach und nach die Furchtsamkeit eines Kindes.

»Ah! Der Mörder! Ah! Der Mörder ... Macht alle beide, daß ihr fortkommt! ... Oh! Die Schlechten, sie lachen noch! Da streckt sie alle viere in die Luft, das liederliche Weib! Die muß auch dran glauben, soviel ist sicher... Ach! der Räuber, jetzt zerfleischt er sie! Er schneidet ihr mit seinem Messer ein Bein ab! Das andere Bein liegt am Boden, der Bauch ist entzwei. Da ist alles voll Blut ... Oh! mein Gott! Oh! mein Gott! Oh! mein Gott!.,.«

In Schweiß gebadet, mit gesträubten Haaren und einem entsetzlichen Ausdruck im Gesicht wich er zurück und bewegte abwehrend seine Arme vor sich, wie um diese fürchterliche Szene zurückzustoßen. Zwei entsetzliche, klagende Schreie rangen sich aus seiner Brust, und er stürzte auf der Matratze nieder, über die seine Füße gestolpert waren.

»Mein Herr! Mein Herr, er ist tot!« sagte Gervaise mit gerungenen Händen.

Der Mediziner war näher herzugetreten und zog Coupeau auf die Mitte der Matratze. Nein, er war nicht tot. Man hatte ihm seine Schuhe ausgezogen, seine nackten Füße sahen aus den Hosen hervor; die tanzten ganz allein, einer neben dem anderen, im Takt, einen kleinen, schnellen, regelmäßigen Tanz.

Gerade jetzt trat der Arzt ein. Er brachte noch zwei Kollegen mit, einen Mageren und einen Dicken, die beide, wie er, dekoriert waren. Alle drei beugten sich über den Kranken, ohne ein Wort zu sprechen, sie betrachteten den Mann überall; dann tauschten sie mit leiser Stimme, sehr schnell sprechend, ihre Meinungen aus. Sie hatten den Mann von den Hüften bis zu den Schultern entblößt, und Gervaise sah, als sie sich auf die Zehen stellte, seinen nackten Oberkörper. Das Zittern war die Arme hinabgegangen und an den Beinen in die Höhe gestiegen, selbst der Leib nahm schon an dem Zittern teil. Wirklich, dieser Hampelmann lachte jetzt auch mit dem Bauch. Längs der Seiten krampften sich die Muskeln wie zum Lachen zusammen, und über den Bauch hin zog es sich, wenn er mühsam atmete, wie ein tolles Gelächter, das das Bauchfell zu sprengen drohte. Alles bewegte sich, es war nicht zu sagen! Die Muskel tanzten sich gegenüber, die Haut zitterte wie ein Trommelfell, ja selbst die Haare walzten und grüßten einander. Nun endlich mußte der große Kehraus sein, es war der Galopp am Ende, wenn der Tag schon graut und die Tänzer sich an den Händen halten und mit den Füßen stampfen.

»Er schläft!« murmelte der Chefarzt.

Er machte die beiden anderen auf das Gesicht des Mannes aufmerksam. Coupeau, der mit geschlossenen Augen dalag, hatte kleine, nervöse Zuckungen, die ihm das ganze Gesicht verzogen. Er war, wie er so ermattet dalag, noch viel abscheulicher mit seinem hängenden Unterkiefer und dem Antlitz eines Toten, der mit einem gräßlichen Fiebertraum hinübergegangen ist. Als die Ärzte die Füße angesehen hatten, beugten sie sich mit tiefem Interesse ganz nahe darauf nieder. Die Füße tanzten noch immer. Coupeau konnte schlafen soviel er wollte, die Füße tanzten! Wenn ihr Herr und Meister auch schnarchte, das kümmerte sie nicht, sie setzten ihr Zittern fort, ohne sich zu beeilen oder langsamer zu werden. Es waren ganz mechanische Füße; Füße, die ihrem Vergnügen nachgingen, wie es ihnen beliebte.

Als Gervaise gesehen hatte, wie die Ärzte ihre Hände auf den Körper ihres Mannes legten, wollte sie ihn auch befühlen. Sie trat leise näher und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sie ließ sie dort wohl eine Minute lang. Mein Gott! Was ging denn darin vor? Das tanzte ja bis in das Fleisch, bis auf die Knochen, ja selbst die Knochen mußten noch mittanzen. Es liefen Schauder über den Körper, und es kamen Wallungen von weit her und flössen wie Ströme unter der Haut fort. Wenn sie ein wenig aufdrückte, fühlte sie das schmerzliche Zucken bis ins Mark hinein. Mit dem Auge sah man nur die kleinen Wellen, die die Haut bewegten, wie ein leiser Wirbelwind eine Wasseroberfläche; aber im Innern mußte eine arge Zerstörung sein. Was war das für ein verdammtes Arbeiten drinnen, wie Maulwurfswühlen! Das war das Vitriol des »Totschlägers«, das seine Unterminierungsarbeit verrichtete. Der ganze Körper war damit durchdrängt, und wahrlich! es war Zeit, daß diese Arbeit zu Ende kam, bei der Coupeau zerbröckelte und durch die große, allgemeine und fortgesetzte Zerrüttung seines Leibes dahinschwand.

Die Ärzte waren fortgegangen. Als eine Stunde vergangen war, sagte Gervaise, die mit dem jungen Mediziner allein geblieben war, mit leiser Stimme:

»Mein Herr, mein Herr, er ist tot ...«

Aber der junge Mann sah nach seinen Füßen und schüttelte mit dem Kopfe; die nackten Füße, die über die Matratze hinausragten, tanzten noch immer. Sie waren nicht sehr sauber, und sie hatten lange, überwachsene Nägel. So vergingen noch zwei Stunden. Plötzlich wurden sie steif und bewegten sich nicht mehr. Da wandte sich der Mediziner zu Gervaise herum und sagte:

»Jetzt ist es zu Ende!«

Der Tod allein hatte die Füße anhalten können.

Als Gervaise in die Goldtropfenstraße und in das Haus zurückkam, fand sie bei den Boches eine Menge Frauen, die alle lebhaft durcheinanderschwatzten. Sie glaubte, daß man auf sie gewartet habe, um von ihr zu hören, wie es gehe, wie an den vorigen Tagen.

»Es ist aus mit ihm!« sagte sie, wobei sie mit ruhiger Miene die Tür zumachte und sich ermüdet und zerschlagen niedersetzte.

Aber niemand achtete auf sie. Das ganze Haus befand sich in der größten Aufregung. Es war eine unbezahlbare Geschichte! Poisson hatte seine Frau mit Lantier abgefaßt, man wußte nicht ganz genau, wie es zugegangen war, denn jeder erzählte die Geschichte auf seine Art. Darin waren alle einig: er war in einem Augenblick über sie hergefallen, wo sie ihn nicht erwarteten. Man erzählte sich sogar Einzelheiten, bei denen die Damen die Lippen zusammenkniffen, wenn sie sie eine der anderen ins Ohr sagten. Ein solcher Anblick hatte natürlich Poisson aus seiner gewöhnlichen Ruhe aufgerüttelt. Er war wie ein Tiger, dieser Mann, der so wenig sprach und immer so aussah, als ob er einen Ladestock verschluckt habe; er war kirschrot geworden und umhergesprungen wie unsinnig. Dann hatte man nichts mehr gehört. Lantier mußte dem Ehemann die Sache erklärt haben. Wie dem auch sei, so konnte es nicht weitergehen. Boche erzählte, daß das Mädchen aus dem Restaurant nebenan ganz bestimmt den Laden miete, um darin einen Kaldaunenhandel anzufangen. Dieser Spitzbube, der Lantier, liebte Kaidaunen über alles.

Als Gervaise Madame Lorilleux und Madame Lerat ankommen sah, sagte sie leise:

»Es ist aus mit ihm ... Mein Gott! Vier Tage zu springen und zu heulen ...«

Die beiden Schwestern konnten nicht anders, sie mußten ihre Taschentücher ziehen. Ihr Bruder hatte ja viele Fehler gehabt, aber es war doch immer ihr Bruder. Boche zuckte die Achseln und sagte laut genug, um von jedermann gehört zu werden:

»Bah! Nun gibt es einen Säufer weniger!«

Seit diesem Tage verlor Gervaise manchmal ihren Verstand; es war eine der Merkwürdigkeiten des Hauses, sie Coupeau nachahmen zu sehen. Man hatte gar nicht nötig, sie deshalb zu bitten, sie gab die Vorstellungen umsonst; sie zitterte mit den Händen, mit den Füßen und stieß kleine unwillkürliche Schreie aus. Ohne Zweifel hatte sie diese Sonderbarkeit vom Annenkrankenhause her, wo sie zu lange ihrem Manne zugesehen hatte. Aber sie war nicht so glücklich, sie ging an der Sache nicht zugrunde. Es beschränkte sich darauf, daß sie Grimassen wie ein weggelaufener Affe schnitt und von den Straßenjungen mit Kohlstrunken beworfen wurde.

Gervaise lebte so noch Monate lang hin. Sie sank noch tiefer, nahm die mutwilligsten Beschimpfungen geduldig hin und verhungerte alle Tage ein bißchen mehr. Sowie sie vier Sous hatte, vertrank sie sie und taumelte längs der Mauern hin. Man beauftragte sie mit den schmutzigsten Geschäften im Viertel. Eines Abends hatte jemand gewettet, daß sie etwas Ekelhaftes nicht essen werde; sie hatte es doch gegessen, um zehn Sous zu bekommen. Herr Marescot hatte sich entschlossen, sie aus dem Zimmer im sechsten Stock hinauszuwerfen. Aber da man den Vater Bru in seinem Loch unter der Treppe tot gefunden hatte, wollte er ihr gern diese Wohnung überlassen. Jetzt bewohnte sie das Loch des Vater Bru. Dort klapperte sie auf altem Stroh mit den Zähnen, wenn sie mit leerem Bauch und steifgefrorenen Knochen dalag. Anscheinend wollte die Erde sie nicht mehr haben. Sie wurde blödsinnig und dachte nicht mehr daran, sich vom sechsten Stock auf das Pflaster des Hofes zu stürzen, um ein Ende zu machen. Der Tod mußte sie so klein bei, Stück für Stück nehmen; sie schleppte ihr jammervolles Leben, das sie sich selbst bereitet hatte, bis ans Ende. Man hat es nie so recht erfahren, woran sie eigentlich gestorben ist. Man sprach von einem Fieber. Aber die Wahrheit war, daß das Elend, der Schmutz und die Ermüdung ihrem Leben ein Ende machten. Sie krepierte an ihrer Vertiertheit, wie die Lorilleux' sagten. Eines Morgens roch es so schlecht auf dem Flur; da erinnerte man sich, daß man sie seit zwei Tagen nicht mehr gesehen hatte; man fand sie schon ganz grün in ihrem Loch.

Gerade kam der Vater Bazouge mit seinem Sarge, um sie einzupacken. Er war an diesem Tage wieder recht hübsch angerissen, aber er hatte einen gutmütigen Rausch und war munter und lustig wie ein Fisch. Als er seine Kundschaft erkannt hatte, erging er sich, während er sein kleines Geschäft besorgte, in philosophischen Betrachtungen.

»Alle Welt kommt dahin ... Man braucht sich gar nicht zu drängen; es ist Platz für alle ... Ist das dumm, wenn's einer so eilig hat; er kommt deshalb nur noch später an ... Ich bin ja gern aller Welt gefällig. Die einen wollen, die anderen wollen nicht. Macht es untereinander ab, um zu sehen, wer recht hat ... Da ist auch eine, die wollte nicht, und dann wollte sie wieder. Da hat man sie warten lassen ... Endlich ist sie zur Ruhe, und wahrhaftig! Sie hat dabei gewonnen! So mag sie denn lustig den letzten Weg gehen!«

Und als er Gervaise mit seinen großen, schwarzen Händen umfaßte, überkam ihn eine seltsame Zärtlichkeit, er hob sie sanft auf, diese Frau, die gegen ihn eine so lange Feindschaft gehegt hatte. Als er sie auf den Boden der Bahre mit väterlicher Sorgfalt niederlegte, stammelte er zwischen zwei Schluchzern:

»Weißt du ... merke dir's gut ... ich bin Bibi der Lustigmacher, den man auch den Tröster der Damen nennt ... Gehe hin, du bist glücklich! Und nun schlafe sanft, meine Schöne!«


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