Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.

Diesen Winter wäre Mama Coupeau beinahe an einem Asthmaanfall erstickt. Jedes Jahr im Monat Dezember konnte sie sicher sein, daß diese langwierige Krankheit sie für zwei oder drei Wochen an das Zimmer bannte. Sie war nicht mehr fünfzehn Jahre alt, sie sollte am heiligen Antoniustage dreiundsiebzig Jahre alt werden. Dabei war sie sehr gebrechlich, für nichts und wieder nichts lag sie gleich da und röchelte, obgleich sie dick und fett war. Der Arzt hatte ihnen angekündigt, daß sie eines schönen Tages mit einem Hustenanfall in kürzerer Zeit abgehen würde, als man gebraucht hätte, um zu schreien: Gute Nacht, Jeanneton, das Licht ist aus!

Wenn sie zu Bette lag; wurde Mama Coupeau bösartig wie die Krätze. Man muß zugeben, daß das Kabinett, in dem sie mit Nana schlief, nicht gerade sehr luftig war. Zwischen ihrem und dem Bett der Kleinen war gerade soviel Platz, daß zwei Stühle stehen konnten. Die Tapeten von altem, verschossenem Grau hingen in Fetzen an den Wänden. Das runde Fenster bei der Decke ließ ein trübes, bleiches Licht in den Raum fallen, so daß man sich in einem Keller glauben konnte. Jünger machte solch ein Aufenthalt auch nicht gerade, besonders eine Person, die an Atembeschwerden litt. In der Nacht, wenn sie sich schlaflos umherwälzte, hörte sie die Kleine atmen. Das war doch eine Zerstreuung. Aber am Tage, wo ihr niemand Gesellschaft leistete und sie vom Morgen bis zum Abend allein lag, da schalt und weinte sie und wiederholte wohl stundenlang, wenn sie ihren Kopf auf dem Kissen hin und her warf:

»Mein Gott! wie bin ich unglücklich! ... Mein Gott! wie bin ich unglücklich! ... Wie im Gefängnis, ja, es ist ein Gefängnis, in dem sie mich sterben lassen!«

Wenn jemand zu ihr kam, Virginie oder Madame Boche, um sich zu erkundigen, wie es ihr gehe, so gab sie darauf keine Antwort, sondern fing sofort an, das Kapitel ihrer Klagen herzubeten.

»Oh, es ist bitteres Brot, das ich hier esse! Nein, bei Fremden würde ich soviel nicht auszustehen haben! ... Sehen Sie, ich habe eine Tasse Tee haben wollen, da haben sie mir einen großen Wasserkrug voll gebracht, um mir vorzuwerfen, daß ich zuviel trinke ... Auch die Nana, das Kind, das ich erzogen habe, läuft des Morgens barfuß weg, und ich sehe sie vor Abend nicht wieder. Es ist gerade so, als ob ich schlecht rieche. Und in der Nacht da schläft sie, daß ein Auge das andere nicht sieht; nie wacht sie auf und fragt mich, wie es mir geht, ob ich leide ... Ja, ja, ich bin ihnen zur Last, sie warten darauf, daß ich mich davonmache. Es wird ja nicht mehr lange dauern. Ich habe ja keinen Sohn mehr; diese Spitzbübin, die Wäscherin, hat ihn mir weggenommen. Sie würde mich schlagen und ein Ende mit mir machen, wenn sie nicht Angst hätte, gefaßt zu werden.«

Gervaise war wirklich hin und wieder roh. Ihr Geschäft ging täglich schlechter; jedes war schlechter Laune, und bei dem geringsten Anlaß war ein Zank da. Coupeau hatte eines Morgens, als er den Kater hatte, geschrien: »Die Alte sagt immer, daß sie sterben will, und sie stirbt nicht!« Solche Worte hatten Mama Coupeau ins innerste Herz getroffen. Man warf ihr vor, was sie koste, und sagte ruhig, daß es eine große Ersparnis sein werde, wenn sie nicht mehr da sei. Aber auch sie führte sich nicht so auf, wie sie es hätte sollen. Sobald sie ihre älteste Tochter, Madame Lerat, sah, klagte sie ihr ihre Not; sie verleumdete ihren Sohn und ihre Schwiegertochter und behauptete, daß man sie Hungers sterben lasse. Das tat sie, um nur einen Franken von ihrer Tochter herauszulocken. Das Geld vertat sie dann für Näschereien. Sie richtete auch ganz abscheuliche Klatschereien mit den Lorilleux' an, denn sie erzählte ihnen, wofür ihre zehn Franken verausgabt würden; die gingen für Gelüste der Wäscherin drauf, für neue Hauben, für Kuchen, die heimlich im Winkel gegessen würden, ja selbst noch für viel schlimmere Dinge, die man gar nicht andeuten könne. Zwei- oder dreimal hatte sie es schon soweit gebracht, daß die ganze Familie sich untereinander in die Haare geriet. Bald hielt sie es mit dem einen, bald mit dem anderen, es war eine wahre Höllenwirtschaft.

Als in diesem Winter ihre Krankheit sich immer steigerte, saßen eines Nachmittags Madame Lorilleux und Madame Lerat, die sich dort getroffen hatten, vor ihrem Bett; sie winkte ihnen mit den Augen, daß sie sich zu ihr neigten. Sie konnte kaum sprechen. Mit leiser Stimme flüsterte sie:

»Das ist eine saubere Geschichte! ... Ich habe sie diese Nacht gehört. Ja, ja, die Humpelliese und den Hutmacher ... Und die machten eine Wirtschaft! Coupeau ist ein netter Junge! Das ist eine saubere Geschichte!«

Sie erzählte nun in kurzen Sätzen, bei denen sie fast vor Husten erstickte, daß ihr Sohn wohl gegen Abend mit einem schrecklichen Rausch nach Hause gekommen sei. Da sie nicht schlafen konnte, habe sie sehr wohl all die verschiedenen Geräusche unterscheiden können: das Auftreten der nackten Füße der Humpelliese auf den Dielen, die flüsternde Stimme des Hutmachers, der sie rief, das leise Öffnen und Schließen der Verbindungstür und das übrige. Das müsse bis Tagesanbruch gedauert haben, sie wisse die Stunde nicht genau, weil sie ungeachtet ihres Ankämpfens gegen den Schlaf doch gegen Morgen eingeschlummert sei.

»Das Ekelhafteste dabei war, daß Nana alles hören konnte. Sie hat sich die ganze Nacht herumgewälzt, sie, die sonst so fest schläft. Sie sprang auf und drehte sich um, als ob sie glühende Kohlen in ihrem Bette habe.«

Die beiden Frauen schienen davon nicht überrascht.

»Potz tausend!« murmelte Madame Lorilleux. »Das wird wohl schon am ersten Tage angefangen haben ... Wenn Coupeau nichts dagegen hat, haben wir uns nicht dahineinzumischen. Wie dem auch sei, sehr ehrenvoll für die Familie ist es nicht!«

»Wenn ich da wäre,« meinte Madame Lerat, wobei sie die Lippen zusammenkniff, »ich würde sie erschrecken, ich riefe ihnen irgend etwas zu, ganz gleich was: »Ich sehe dich!« oder: »Da sind die Gendarmen!« ... Der Diener eines Arztes hat mir gesagt, daß so etwas in einem gewissen Moment eine Frau auf der Stelle töten könne. Nicht wahr? Das geschähe ihr recht; sie würde darin bestraft werden, worin sie gesündigt hat.«

Bald wußte das ganze Quartier, daß Gervaise jede Nacht zu Lantier ging. Madame Lorilleux zeigte vor den Nachbarn eine sehr wortreiche Entrüstung; sie beklagte ihren Bruder, diesen Trottel, den seine Frau zum Hahnrei machte. Wenn man sie hörte, ging sie überhaupt nur noch ihrer armen alten Mutter wegen in solches Haus, weil diese gezwungen sei, inmitten dieser Abscheulichkeiten zu leben. Jetzt hackte das ganze Quartier auf Gervaise. Sie müsse den Hutmacher verführt haben, man sehe es an ihren Augen. Ja, trotz all dieser häßlichen Gerüchte hielt alle Welt diesen unverschämten Patron für ein Opfer, weil er immer seine weltmännischen Manieren beibehielt, auf dem Bürgersteig gehend die Zeitung las und zuvorkommend und galant gegen die Damen blieb, denen er noch immer Näschereien oder Blumen mitzubringen hatte. Mein Gott! er tat eben, was er tun mußte; ein Mann ist eben ein Mann, man kann nicht von ihm verlangen, daß er Frauen widersteht, die sich ihm an den Hals werfen. Aber für sie gab es gar keine Entschuldigung, sie entehrte die ganze Goldtropfenstraße. Die Lorilleux' fühlten sich als Paten verpflichtet, Nana an sich zu ziehen, um noch Genaueres zu erfahren. Als sie sie auf eine versteckte Art ausfragten, machte das Kind ein dummes Gesicht und antwortete ausweichend, wobei sie ihre flammenden Augen hinter ihren langen Wimpern verbarg.

Inmitten dieser allgemeinen Entrüstung lebte Gervaise ganz ruhig, sie war so schlaff, als ob sie im Halbschlaf sei. Zu Anfang war sie sich wohl etwas schuldig vorgekommen, es war doch schmutzig, und sie bekam einen Ekel vor sich selbst. Wenn sie aus Lantiers Zimmer ging, machte sie sich einen Lappen naß und rieb sich damit Hals und Schultern beinahe bis aufs Blut, wie um die Schande abzureiben. Wenn Coupeau mit ihr anbändeln wollte, wurde sie böse und lief vor Kälte zitternd in den Laden und kleidete sich dort an; ebensowenig duldete sie, daß der Hutmacher sie anrührte, wenn ihr Mann sie eben geküßt hatte. Am liebsten hätte sie ihre Haut jedesmal ebenso wie den Mann gewechselt. Aber auch daran gewöhnte sie sich langsam. Es war zu schwierig und ermüdend, sich jedesmal zu waschen. Ihre Faulheit verweichlichte sie, und ihr Bedürfnis, glücklich zu sein, ließ sie danach streben, aus all diesen unerquicklichen Verhältnissen soviel Genuß wie möglich zu ziehen. Sie war nachsichtig gegen sich und gegen die anderen und trachtete nur danach, alles so einzurichten, daß niemand Ärger davon hatte. Nicht wahr? wenn ihr Mann und ihr Liebhaber zufrieden waren, wenn im Hause alles seinen gewöhnlichen Gang ging, wenn man vom Morgen bis zum Abend scherzte und allen dieses sanft dahinfließende Leben behagte, so hatte doch niemand das Recht, sich zu beklagen. Und dann schien es doch auch gar nicht etwas so Böses zu sein, weil es sich so zur Zufriedenheit der Beteiligten gemacht hatte; gewöhnlich trägt doch das Unrecht seine Strafe in sich. So war ihr die Liederlichkeit zur Gewohnheit geworden. Es war jetzt ebenso geregelt wie das Essen und Trinken; jedesmal wenn Coupeau betrunken nach Hause kam, ging sie zu Lantier. Das kam wenigstens in jeder Woche Montag, Dienstag und Mittwoch vor. Sie brachte dann ihre Nacht dort zu. Ja, sie war schließlich dahin gekommen, daß sie, wenn der Zinkarbeiter zu stark schnarchte, ihn einfach liegen ließ und ihren Schlaf auf den Kissen des Nachbars fortsetzte. Dabei empfand sie nicht etwa mehr Freundschaft für den Hutmacher, durchaus nicht, sie fand ihn nur sauberer, es ruhte sich in seinem Zimmer besser, wo es ihr zumute war, als ob sie ein Bad nahm. Sie war wie die Katzen, die sich auch gern auf weiße Leinwand niederlegen.

Mama Coupeau wagte niemals geradezu von diesen Dingen zu sprechen. Aber als Gervaise sie einmal bei einem Zank etwas geschüttelt hatte, sparte sie ihre Anspielungen nicht. Sie sagte, sie kenne Männer, die recht dumm seien, und Weiber, die große Spitzbübinnen seien, ja sie ließ noch andere Worte laut werden, deren Unzweideutigkeit ihr als früheren Westenstickerin geläufig waren. Die ersten Male hatte sie Gervaise gerade angesehen, ohne zu antworten; dann aber hatte sie sich, auch ohne die Dinge geradezu zu nennen, mit allgemein gehaltenen Gegengründen verteidigt. Wenn eine Frau einen Säufer zum Mann hat, einen schmutzigen Schlingel, der im Unrat lebt, so ist es ihr wohl nicht so sehr zu verübeln, wenn sie anderweit sich nach Reinlichkeit umsieht. Sie ging noch weiter, sie gab zu verstehen, daß Lantier ebensogut ihr Mann sei wie Coupeau, ja selbst noch mehr; hatte sie ihn nicht schon mit vierzehn Jahren gekannt? hatte sie nicht zwei Kinder von ihm? Unter solchen Verhältnissen sei alles verzeihlich, und niemand könne einen Stein auf sie werfen. Sie nahm für sich das Recht der Natur in Anspruch. Übrigens solle man sie nur nicht aufbringen, sie werde sonst sehr schnell auch den anderen ihre Rechnung machen. Die Goldtropfengasse sei nicht gerade so sehr reinlich. Die kleine Madame Vigouroux benutze ihre Kohlen von morgens bis abends als Sofa; Madame Lehongre, die Frau des Krämers, habe ein Verhältnis mit ihrem Schwager, dem großen Geiferer, den man nicht von der Erde aufheben möge, wenn man ihn gefunden habe; der Uhrmacher von gegenüber, dieser feine Herr, sei nur dicht am Zuchthause vorbeigekommen für eine Abscheulichkeit: er solle mit seiner eigenen Tochter, die eine freche Dirne sei und sich auf den Boulevards herumtreibe, ein Verhältnis haben. So erläuterte sie mit bezeichnenden Gesten das ganze Quartier; das dauerte nahezu eine Stunde, wenn sie so die schmutzige Wäsche der Leute ausbreitete; die Menschen schliefen wie das Vieh miteinander, es war ein Haufe von Vätern, Müttern und Kindern, die sich im Schmutze wälzten. Sie wußte davon zu erzählen, denn die Schweinerei gucke zu allen Ritzen heraus, das verpeste förmlich die Häuser in der Umgegend! Es sei eine saubere Sache, Mann und Frau in diesem Winkel von Paris, wo das Elend die Menschen so eng aneinandertreibe, daß sie fast einer auf dem andern lägen. Wenn man die beiden Geschlechter in einem Mörser zusammenstampfte, so würde nichts weiter herauskommen als Dünger für die Kirschbäume in der Ebene von Saint-Denis.

»Sie würden besser tun, nicht in die Luft zu spucken, es könnte ihnen auf die eigene Nase zurückfallen!« rief sie, wenn man ihr zu sehr zusetzte. Jeder fege vor seiner Tür, nicht wahr? Sie möchten doch nur ruhige Leute leben lassen wie sie wollten, dann werde man auch sie nicht belästigen. »... Ich finde, daß alles so ganz gut ist, wie es ist; aber ich will nicht von Leuten in den Schmutz gezerrt werden, die selber bis an den Hals darin stecken.«

Als sich Mama Coupeau eines Tages etwas deutlicher ausgesprochen hatte, sagte sie ihr mit zusammengebissenen Zähnen:

»Ihr seid in Eurem Bette, Ihr habt den Vorteil davon ... Hört mich an: Ihr tut unrecht, denn Ihr seht, daß ich liebenswürdig bin. Habe ich Euch je Euer Leben vorgehalten? Ich weiß wohl, eine recht nette Wirtschaft muß das gewesen sein, zwei oder drei Männer noch bei Lebzeiten des Papa Coupeau ... Nein, hustet nur nicht, ich habe schon aufgehört zu plaudern. Das war nur, weil ich sagen wollte, daß Ihr mich von jetzt an in Ruhe lassen sollt, versteht Ihr wohl?«

Die alte Frau wäre beinahe erstickt. Am nächsten Morgen war Goujet gekommen, um nach der Wäsche seiner Mutter zu fragen, als Gervaise gerade nicht da war. Mama Coupeau rief ihn zu sich und behielt ihn lange Zeit an ihrem Bett. Sie wußte wohl, welch innige Freundschaft der Schmied für Gervaise hegte; sie sah, daß er seit einiger Zeit düster und unglücklich war, weil er ahnte, wie häßliche Dinge vor sich gingen. Und jetzt teilte sie ihm aus Schwatzhaftigkeit und um sich für den Zank des vorigen Tages zu rächen, die nackte Wahrheit mit, als ob die schlechte Aufführung von Gervaise ein besonderes Unrecht gegen ihn gewesen sei. Als Goujet das Kabinett verließ, mußte er sich an den Wänden stützen, so gebrochen hatte ihn der Kummer. Als die Wäscherin zurückkam, rief ihr Mama Coupeau zu, daß man sie sogleich bei Goujets erwarte, sie solle die Wäsche, geplättet oder nicht, mitbringen wie sie sei. Die Alte war so lebhaft, daß Gervaise die Klatscherei schon ahnte; im Geiste sah sie schon die traurige Szene, der sie entgegenging, und fühlte den Herzenskummer, der sie bedrohte. Sie war sehr blaß geworden und ihre Glieder schon jetzt wie gebrochen. Sie legte die Wäsche in einen Korb und ging fort. Schon seit Jahren hatte sie keinen Sou mehr an die Goujets zurückgezahlt. Die Schuld betrug immer noch vierhundertfünfundzwanzig Franken. Sie nahm jedesmal das Geld für die Wäsche und sprach davon, wie knapp sie bei Kasse sei. Sie empfand es wie eine große Schande, denn es gab ihr den Anschein, als ob sie sich die Freundschaft des Schmiedes zunutze mache, um ihn auszubeuten. Coupeau war jetzt weniger empfindlich; er machte schlechte Scherze und meinte, daß Goujet sie wohl hinreichend in den Ecken um die Taille gefaßt habe und daß er damit bezahlt sei. Sie aber war, trotz ihres Umganges mit Lantier, entrüstet über solche Worte und fragte ihren Mann, ob er denn schon so weit sei, daß er solches Brot essen wolle? Man durfte in ihrer Gegenwart nicht schlecht von Goujet sprechen; ihre Zärtlichkeit für den Schmied war der letzte Rest von Ehrbarkeit in ihr, die sie wie ein Heiligtum pflegte. Daher kam es auch, daß jedesmal, wenn sie zu diesen braven Leuten Wäsche zu tragen hatte, sich schon auf der ersten Treppenstufe ihr Herz krampfhaft zusammenzog.

»Nun, seid Ihr endlich da?« sagte ihr trocken Madame Goujet, die ihr die Tür öffnete. »Wenn ich einmal den Tod herbeirufen will, möchte ich Euch danach schicken.«

Gervaise trat verlegen näher, sie wagte es nicht einmal, eine Entschuldigung zu stammeln. Sie war nicht mehr pünktlich, kam nie zur bestimmten Stunde und ließ oft acht Tage auf sich warten. Sie wurde nach und nach immer unordentlicher.

»Seit einer vollen Woche warte ich nun schon auf Euch«, fuhr die Spitzenklöpplerin fort. »Und dann lügt Ihr, Ihr schickt mir Euer Lehrmädchen, das mir Geschichten erzählt: man sei mit meiner Wäsche beschäftigt, man werde sie mir noch abends bringen, oder es sei irgend etwas passiert, ein Paket sei in den Eimer gefallen. Und ich verliere unterdessen meine Zeit, ich sehe nichts kommen und mache mir Gedanken darüber. Nein, Ihr seid unvernünftig ... Laßt einmal sehen, was Ihr in dem Korbe habt! Ist es wenigstens alles? Bringt Ihr mir die beiden Bettücher, die Ihr schon seit einem Monat habt, und das Hemde, das noch von der vorigen Wäsche her geblieben ist?«

»Ja ja,« murmelte Gervaise, »das Hemd ist da. Hier ist es!«

Aber Madame Goujet entsetzte sich. Das Hemd gehörte ihr nicht, sie wollte das nicht haben. Wenn ihr nun auch noch ihre Wäsche verwechselt werde, dann höre alles auf! Schon in der vorigen Woche hatte sie ihr zwei Taschentücher gebracht, die nicht ihr Zeichen hatten. Das war nicht nach ihrem Geschmack, solche Wäsche, von der man nicht wisse, wo sie herkam. Und dann lag ihr daran, ihre eigenen Sachen wieder zu haben.

»Und die Bettlaken?« fragte sie. »Die sind verloren? ... Nun, meine Kleine, macht, was Ihr wollt, aber ich will sie bis morgen früh hier haben, versteht Ihr mich?«

Da entstand ein Stillschweigen. Gervaises Verlegenheit wurde noch dadurch vermehrt, daß sie die Tür zu Goujets Zimmer halb offen stehen sah. Der Schmied mußte da sein, sie ahnte es; wie schämte sie sich, daß er all diese verdienten Vorwürfe mit anhörte, auf die sie nichts zu antworten wußte! Sie war so geschmeidig, so sanft, beugte ihren Kopf und legte so schnell wie möglich die Wäsche auf das Bett. Aber die Sache wurde noch schlimmer, als Madame Goujet anfing, die Stücke eins nach dem andern nachzusehen. Sie nahm sie und warf sie zurück, indem sie sagte:

»Ah! mit Eurer Tüchtigkeit ist es auch aus! Man kann Euch jetzt kein Lob mehr sagen ... Ja, ja, Ihr verludert Euch und verhaut Eure Arbeit jetzt ... Seht einmal her, dieses Vorhemd ist verbrannt, das Eisen ist zu sehen auf jeder Falte. Alle Knöpfe sind abgerissen. Ich weiß nicht, wie Ihr das anstellt, daß nie mehr ein Knopf sitzen bleibt ... Da ist eine Nachtjacke, die bekommt Ihr nicht bezahlt. Seht doch einmal her! Da ist ja noch aller Schmutz darauf, die habt Ihr ganz einfach gespült und aufgeplättet. Danke schön! wenn die Wäsche nicht einmal mehr rein ist ...«

Sie hielt inne und zählte die Stücke. Dann rief sie aus:

»Wie! Das bringt Ihr mir? ... Es fehlen zwei Paar Strümpfe, sechs Servietten, ein Tischtuch und die Wischlappen ... Ihr macht Euch wohl über mich lustig? Ich ließ Euch sagen, Ihr solltet alles wiederbringen, ob geplättet, ob nicht. Wenn in einer Stunde Euer Lehrmädchen nicht mit dem Rest hier ist, werden wir uns ernstlich erzürnen, Madame Coupeau, das sage ich Euch im voraus!«

In diesem Augenblick hustete Goujet in seinem Zimmer. Gervaise überlief ein leichtes Zittern. Wie man sie in seiner Gegenwart behandelte, mein Gott! Sie blieb verlegen und verwirrt in der Mitte des Zimmers stehen und wartete auf die schmutzige Wäsche. Als aber Madame Goujet die Rechnung nachgesehen hatte, nahm sie ruhig ihren Platz am Fenster wieder ein und arbeitete an der Ausbesserung eines Spitzentuches.

»Die Wäsche?« fragte schüchtern die Wäscherin.

»Nein, danke schön!« antwortete die alte Frau, »diese Woche ist keine Wäsche.«

Gervaise erbleichte. Man entzog ihr die Kundschaft. Da verlor sie vollends den Kopf, sie mußte sich auf einen Stuhl setzen, weil ihr die Beine den Dienst versagten. Sie versuchte es nicht einmal, ein Wort für sich zu sprechen; das einzige, was sie herausbrachte, war:

»Herr Goujet ist wohl krank?«

»Ja, er war leidend, er hatte nach Hause kommen müssen, anstatt in die Schmiede zu gehen, er hatte sich soeben auf seinem Bett ausgestreckt, um zu ruhen.« Madame Goujet sah bei diesen Worten sehr ernst aus, wie sie so in ihrem schwarzen Kleide und ihrer nonnenhaften Haube dasaß. Man hatte den Lohn der Nagelschmiede noch heruntergesetzt, von neun Franken war er auf sieben gefallen, wegen der Maschinen, die jetzt alle Arbeit machten. Sie setzte auseinander, daß sie an allem jetzt spare; sie wolle wieder ihre Wäsche selbst waschen. Es hätte natürlich sehr gut gepaßt, wenn die Coupeaus ihr jetzt das Geld wiedergegeben hätten, das ihr Sohn ihnen geliehen hatte. Sie würde ihnen ja nicht die Leute vom Gericht über den Hals schicken, wenn sie nicht zahlen könnten. Seit Madame Goujet von der Schuld sprach, schien Gervaise mit gesenktem Kopfe dem Spiel ihrer Nadel zu folgen, die mit großer Schnelligkeit Masche auf Masche bildete.

»Und dennoch,« fuhr die Spitzenklöpplerin fort, »wenn Ihr Euch ein wenig einschränktet, könntet Ihr ganz gut die Schuld tilgen. Denn Ihr eßt sehr gut, Ihr gebt sicher viel aus ... Wenn Ihr uns nur zehn Franken monatlich geben würdet ...«

Sie wurde durch Goujets Stimme unterbrochen, er rief: »Mama! Mama!«

Als sie fast augenblicklich zurückkam und sich wieder setzte, änderte sie das Gesprächsthema. Vermutlich hatte sie der Schmied gebeten, von Gervaise kein Geld zu verlangen. Aber unwillkürlich kam sie nach kaum fünf Minuten wieder auf die Schuld zurück. Sie habe wohl vorhergesehen, daß das so kommen werde, der Zinkarbeiter vertrinke den Laden, und das werde die Frau weit bringen. Auch hätte ihr Sohn niemals die fünfhundert Franken hergeliehen, wenn er auf sie gehört hätte. Er wäre dann heute verheiratet und brauche nicht vor Herzweh zu vergehen mit der Aussicht, sein ganzes Leben unglücklich zu bleiben. Sie wurde sehr lebhaft und sehr hart, sie klagte Gervaise geradezu an, sich mit Coupeau ins Einvernehmen gesetzt zu haben, um ihren törichten Jungen auszunützen. Ja, es gebe Frauen, die Jahre hindurch die Scheinheiligen spielten und deren schlechter Charakter erst ganz zuletzt plötzlich zutage komme.

»Mama! Mama!« rief zum zweitenmal Goujets Stimme noch heftiger.

Sie erhob sich, und als sie wiederkam, sagte sie, als sie sich wieder an ihre Spitzen setzte:

»Geht hinein, er will Euch sehen!«

Gervaise ließ zitternd die Tür offen. Die Szene bewegte sie sehr, denn sie erschien ihr wie ein Geständnis ihrer Zärtlichkeit vor Madame Goujet. Sie fand das kleine Zimmer so ruhig wie früher; mit den ausgeschnittenen Bildern an den Wänden und dem engen eisernen Bett glich es dem Zimmer eines fünfzehnjährigen Knaben. Der mächtige Körper Goujets, den die Mitteilungen Mama Coupeaus gebrochen hatten, lag auf dem Bett ausgestreckt, seine Augen waren gerötet und sein schöner blonder Bart von Tränen benetzt. Er mußte in seinem ersten Wutanfall mit seinen fürchterlichen Fäusten sein Kopfkissen zerfetzt haben, denn aus den Rissen quollen die Federn hervor.

»Glaubt mir, meine Mutter hat unrecht«, sagte er zur Wäscherin beinahe mit leiser Stimme. »Ihr seid mir nichts schuldig, ich will nicht, daß man davon spricht.«

Er hatte sich aufgerichtet und blickte sie an. Große Tränen kamen ihm in die Augen.

»Ihr seid leidend, Herr Goujet?« murmelte sie. »Was fehlt Euch denn? Sagt es mir, ich bitte Euch!«

»Nichts, danke! Ich habe mich gestern zu müde gemacht. Ich will ein wenig schlafen.«

Doch ihm brach das Herz, er konnte nicht länger an sich halten.

»Oh! mein Gott! mein Gott! niemals hätte das geschehen sollen, niemals! Ihr hattet mir es geschworen. Und jetzt ist es doch! ... Oh, mein Gott! Das tut mir zu weh, geht fort!«

Er winkte ihr mit bittender Gebärde zu gehen. Sie näherte sich seinem Bett nicht, sie ging fort, wie er es wünschte, stumpf und sprachlos, da sie kein Wort finden konnte, um ihn zu beschwichtigen. Im Nebenzimmer nahm sie ihren Korb; aber sie ging noch immer nicht, sie hätte so gern ein Wort gefunden. Madame Goujet fuhr mit ihrer Arbeit fort, ohne den Kopf zu erheben. Endlich sagte sie:

»Nun denn, guten Abend! Schickt mir meine Wäsche, wir rechnen dann später ab.«

»Jawohl, so soll es sein! Guten Abend!« stotterte Gervaise.

Sie schloß langsam die Tür, weil sie noch einen Blick in diese sauberen, ordentlichen Räume werfen wollte, in denen, wie sie glaubte, ein Stück von ihrer Ehrbarkeit zurückblieb. Sie kam nach Hause in ihren Laden zurück wie eine Kuh, die in den Stall geht, ohne sich über den Weg Sorgen zu machen. Mama Coupeau saß auf einem Stuhle nahe bei dem Plättofen, sie hatte zum erstenmal ihr Bett wieder verlassen. Aber die Wäscherin machte ihr selbst nicht einmal einen Vorwurf, sie war zu müde, die Knochen schmerzten sie, als ob sie geschlagen worden sei; sie dachte, daß das Leben schließlich doch zu hart sei, und da man doch nicht sogleich davongehen könne, nütze es auch nichts, sich selbst das Herz herauszureißen.

Jetzt fragte Gervaise nach gar nichts mehr. Sie hatte so eine unbestimmte Handbewegung, mit der sie sagen wollte: »Macht, was Ihr wollt, was kümmert's mich!« Bei jeder neuen Sorge vertiefte sie sich mehr in ihr einziges Vergnügen, das darin bestand, jeden Tag drei gute Mahlzeiten zu haben. Ihr Laden hätte zusammenbrechen können, vorausgesetzt, daß sie nicht gerade darin war, sie wäre gern ohne Hemd weggegangen. Und der Laden brach wirklich zusammen, nicht auf einmal, aber ein bißchen alle Tage, morgens und abends. Eine Kundschaft nach der andern erzürnte sich und trug ihre Wäsche anderwärts hin. Herr Madinier, Fräulein Remanjou und selbst die Boches waren zu Madame Fauconnier zurückgegangen, wo sie pünktlicher bedient wurden. Es wurde schließlich langweilig, wochenlang ein Paar Strümpfe nicht herauszubekommen und die Hemden mit den Fettflecken vom vorigen Sonntag wieder anzuziehen. Gervaise verlor kein Wort, um sie zurückzuhalten, sie rief ihnen »Glückliche Reise!« nach; ja sie hatte noch eine andere Art, sie zu verabschieden, sie meinte, sie sei sehr zufrieden, daß sie nicht mehr nötig habe, in ihrem Schmutz herumzuwühlen. Nun gut!

Das ganze Quartier konnte von ihr abgehen, da werde sie einen hübschen Haufen Schmutz los werden; und dann habe man auch weniger Arbeit. Inzwischen behielt sie nur die schlechten Zahler, die Dirnen, Frauen wie Madame Gaudron, deren Wäsche keine Wäscherin in der Neuen Straße waschen wollte. Der Laden war nicht mehr zu halten, sie hatte ihre letzte Arbeiterin, Madame Putois wegschicken müssen; so blieb sie allein mit ihrem Lehrmädchen, der schielenden Augustine, die immer dümmer wurde, je mehr sie wuchs; und selbst sie beide hatten nicht immer Arbeit und saßen ganze Nachmittage untätig umher. Es war ein vollständiger Sturz und roch ordentlich nach Ruin.

In demselben Verhältnis, wie die Faulheit und das Elend stieg, wuchs auch die Unsauberkeit. Man hätte diesen schönen blauen Laden nicht wiedererkannt, der ehemals der Stolz Gervaises gewesen war. Die Holzverkleidung und die Scheiben des Schaufensters, die man zu waschen vergaß, blieben von oben bis unten beschmutzt von dem Schmutz, den die vorüberfahrenden Wagen daranspritzten. Im Schaufenster hingen an den Messingdrähten drei graue Lumpen, die von Kunden, die im Krankenhause gestorben, zurückgeblieben waren. Noch erbärmlicher war es im Innern: die Feuchtigkeit der Wäsche, die unter der Decke trocknete, hatte die Tapeten abgelöst, das schöne Muster hing in Fetzen herab, die wie alte Spinngewebe dick mit Staub befallen waren; der zerbrochene und von dem Schüreisen durchlöcherte Plättofen ließ die Ecke, in der er stand, wie den Laden eines Alteisenkrämers erscheinen; der Arbeitstisch schien von einer ganzen Garnison gebraucht zu sein, soviel Kaffee- und Weinflecke waren darauf, so klebrig war er von dem Eingemachten und so fettig von den Schmausereien, denen man sich gewöhnlich am Montag hingab. Gervaise befand sich dabei sehr wohl, sie hatte es nicht bemerkt, wie der Laden immer schmutziger wurde, sie hatte das Bewußtsein dafür verloren und gewöhnte sich ebenso an die zerrissenen Tapeten und schmutzigen Ladenfenster, wie sie dahin gekommen war, aufgerissene Unterröcke zu tragen und sich nicht mehr die Ohren zu waschen. Selbst der Schmutz war für sie ein warmes Nest, und es behagte ihr, sich darin zusammenzukauern. Die Dinge ihrem Verfall entgegengehen zu lassen und zu warten, bis der Staub alle Löcher verstopfe und sich wie eine Decke von grauem Samt auf alles lege, in fauler Betäubung das Haus immer schwerer auf sich lasten zu fühlen, das war für sie eine wahre Wollust, in der sie sich berauschte. Wenn sie nur ihre Ruhe hatte, dann pfiff sie auf das übrige. Die immer höher anwachsenden Schulden machten ihr keine Sorgen mehr. Sie verlor ihre Rechtschaffenheit; ob man einmal bezahlen könne oder nicht, das blieb im Ungewissen, sie war nicht neugierig genug, um es wissen zu wollen. Wenn man ihr in einer Handlung den Kredit aufkündigte, fing sie anderwärts zu borgen an. Sie brandschatzte das ganze Quartier und war alle zehn Schritte etwas schuldig. Allein in der Goldtropfengasse wagte sie schon nicht mehr bei dem Kohlenhändler, bei dem Krämer und der Hökerin vorbeizugehen, so daß sie, wenn sie nach dem Waschhause ging, den Weg durch die Fischerstraße nehmen mußte, was ein Umweg von guten zehn Minuten war. Die Lieferanten behandelten sie als Spitzbübin. Eines Abends revoltierte der Mann, der die Möbel für Lantier geliefert hatte, die ganze Nachbarschaft, er heulte, daß er ihr eine Tracht Schläge verabfolgen und sich so an ihrem Leibe bezahlt machen werde, wenn sie ihm nicht sein Geld herausgebe. Nach solchen Szenen zitterte sie, doch sie schüttelte es ab wie ein geschlagener Hund, und wenn es vorüber war, schmeckte ihr das Mittagbrot deshalb nicht schlechter. Dieses unverschämte Pack, das ihr über den Hals kam! Sie hatte doch einmal kein Geld, sollte sie vielleicht welches machen? Und dann, bestahlen einen denn die Kaufleute nicht genug? Die konnten warten! So kauerte sie sich wieder in ihrem Loch zusammen und dachte absichtlich nicht an das, was notwendig am nächsten Tage geschehen mußte. Sie werde über die Klinge springen, gewiß! Aber bis dahin solle man sie ungeschoren lassen!

Mama Coupeau hatte sich noch einmal wieder erholt. Während eines ganzen Jahres stand das Geschäft so auf der Kippe. Im Sommer gab es natürlich immer mehr Arbeit, da waren die weißen Unterröcke und die Seidenkleider der Mädchen, die in den Ballsälen der äußeren Boulevards tanzten. Es war eine langsame Auflösung, jede Woche mußte sie die Nase tiefer in den Schmutz stecken; es ging einmal besser, einmal schlechter, manchen Abend schnürten sie sich vor dem leeren Speiseschrank den Bauch zusammen, und dann aßen sie auch einmal wieder so viel Kalbsbraten, daß sie davon hätten platzen können. Nur Mama Coupeau sah man noch auf der Straße, gewöhnlich verbarg sie Pakete unter ihrer Schürze und ging, als ob sie Spazierengehen wolle, nach dem Leihhause in der Polonceaustraße. Sie krümmte ihren Rücken und machte ein so scheinheiliges, lüsternes Gesicht wie eine Muckerin, die zur Messe geht; sie verachtete so etwas nicht, diese Art von Geldgeschäften machte ihr Spaß, dieses Verhandeln von alten Kleidern kitzelte ihre Leidenschaft für den Beruf einer Aushilfsmutter. Die Beamten in der Polonçeaustraße kannten sie schon recht gut, sie nannten sie die Vierfrankenmutter, weil sie immer vier Franken haben wollte, wenn man ihr drei bot für ihre Pakete, die nicht größer als ein Pfund Butter waren. Gervaise hätte gern das ganze Haus versetzt, sie hatte eine förmliche Leidenschaft für das Leihhaus, sie hätte sich gern den Kopf scheren lassen, wenn man ihr für ihre Haare etwas gegeben hätte. Es war gar zu bequem, dorthin zu laufen und sich Geld zu holen. Ihre ganze Wirtschaft ging dahin, ihre Wäsche, ihre Kleider, ja sogar die Möbel. Zu Anfang nahm sie Gelegenheit, in guten Wochen etwas auszulösen, wenn sie es auch in der folgenden Woche wieder hintrug. Dann aber, als sie ihr Geschäft gehen ließ, wie es wollte, ließ sie die Sachen verfallen oder verkaufte die Pfandscheine. Eine einzige Sache ging ihr nahe, das war, ihre Stutzuhr zu versetzen; doch als ein Gerichtsdiener wegen eines Wechsels von zwanzig Franken darauf Beschlag legen wollte, entschloß sie sich auch dazu. Bis dahin hatte sie geschworen, daß sie lieber Hungers sterben wolle, als ihre Stutzuhr anzurühren. Als Mama Coupeau sie in einer kleinen Deckelkiste forttrug, sank sie mit nassen Augen auf einen Stuhl und ließ ihre Arme schlaff herniederhängen. Als aber Mama Coupeau mit fünfundzwanzig Franken wiederkam, trösteten sie diese unerwarteten fünf Franken schnell über den Verlust; sie schickte gleich die alte Frau wieder fort, um für vier Sous einen Schluck zu holen, nur um die fünf Franken festlich zu begießen. Wenn sie gut Freund miteinander waren, tranken sie sehr oft an einer Ecke des Arbeitstisches Schnaps zusammen, es war zur Hälfte Branntwein, zur Hälfte Johannisbeersaft. Mama Coupeau hatte eine Geschicklichkeit, in ihrer Schürzentasche ein volles Glas zu transportieren, ohne einen Tropfen zu vergießen, die wirklich bewundernswert war. Die Nachbarn brauchten davon nichts zu wissen, nicht wahr? In der Tat wußten es die Nachbarn recht gut. Die Hökerin, die Kaldaunenhändlerin und die Ladenburschen des Krämers sagten: »Seht doch, die Alte geht zur Tante!« oder: »Seht doch, die Alte trägt ihr Tröstungswasser in der Tasche!« Und wie es nur natürlich war, brachte so etwas das Quartier gegen Gervaise noch mehr auf. Sie verjuxte alles, es werde nicht mehr lange dauern, dann sei der Laden aufgefressen. Ja, ja, noch drei- oder viermal das Maul vollgenommen, dann sei der Platz kahl wie abgeleckt.

Inmitten dieses allgemeinen Verfalls gedieh Coupeau. Diesem verdammten Saufbold war so wohl wie einem Fisch im Wasser; der Schnaps und der Branntwein machten ihn fett. Dabei aß er viel und kümmerte sich den Teufel um diesen Hund, den Lorilleux, der immer sage, daß der Suff den Menschen töte. Er antwortete ihm damit, daß er sich auf den Bauch klopfte, dessen Haut durch das Fett gespannt war wie eine Trommel. Er machte ihm darauf ein großes Konzert vor, wobei er mit Klopfen und Trommeln ein Musikstück aufführte, das vor der Bude eines Zahnausreißers viel Glück gemacht haben würde. Aber Lorilleux, der sich ärgerte, daß er keinen Bauch hatte, meinte, das sei alles nur gelbes Fett und tauge nichts. Aber es machte ihm nichts, er soff weiter, weil es ihm so gut bekam. Seine Haare, die jetzt schon so gemischt waren wie Pfeffer und Salz, schienen bei jedem Windstoß Funken zu sprühen. Sein Säufergesicht mit den Affenkiefern färbte sich und nahm nach und nach die Farbe blauen Weines an. Er blieb ein Bruder Lustig und stieß seine Frau, wenn sie sich einmal an ihn wandte und ihm von ihren Verlegenheiten sagte. Sind denn die Männer dazu da, um sich mit solchen ärgerlichen Sachen zu befassen? Seinetwegen konnte das Brot im Hause fehlen, ihm war es gleich. Er müsse morgens und abends sein Essen haben und werde sich doch keine Sorgen darüber machen, wo es herkomme! Wenn er wochenlang nicht gearbeitet hatte, wurde er noch anspruchsvoller als vorher. Übrigens klopfte er noch immer Lantier freundschaftlich auf die Schultern. Soviel stand fest, er wußte nichts von den Abwegen, die seine Frau ging, wenigstens Leute wie die Boches und Poissons schwuren die heiligsten Eide, daß er nichts ahne und daß es ein großes Unglück gebe, wenn er je von der Sache erfahre. Aber seine eigene Schwester, Madame Lerat, schüttelte den Kopf; sie kannte Ehemänner, denen so etwas gar nicht so sehr mißfiel. In einer Nacht war selbst Gervaise ganz versteinert vor Schreck geblieben, weil sie, aus dem Zimmer des Hutmachers kommend, in der Finsternis einen Schlag auf den Hintern zu fühlen glaubte; aber sie hatte sich nachher überlegt, daß sie sich auch an dem Bettpfosten gestoßen haben konnte. Die Lage der Dinge war doch wirklich zu schrecklich, als daß ihr Mann sich darüber habe amüsieren und mit ihr habe Unsinn treiben können.

Auch Lantier kam durchaus nicht herunter, er pflegte sich sehr, täglich maß er seine Bauchweite an seinem Hosengurt, weil er beständig in Sorge war, daß er die Schnalle ändern müsse; er fand, daß er so gerade richtig sei und war so eitel, daß er weder stärker noch magerer werden wollte. Infolgedessen war er sehr wählerisch mit dem Essen, weil er jede Schüssel darauf ansah, ob sie nicht seine Figur verändern werde. Seit er sich auch in die Wirtin mit dem Ehemann geteilt hatte, benahm er sich so, als ob ihm die Hälfte von allem rechtmäßig zustehe; er steckte die Fünffrankenstücke ein, die er umherliegen fand, mit Gervaise machte er, was er wollte, er zankte und schrie umher, so daß er da mehr zu Hause zu sein schien als der Zinkarbeiter. Das war eben eine Wirtschaft, die zwei Herren hatte. Der Gelegenheitsmann, der schlauer war als der andere, zog die Zudecke nach seiner Seite hin; er nahm das Beste, von der Frau, vom Tische und von allem übrigen. Er preßte die Coupeaus aus, das war klar, er genierte sich auch gar nicht mehr, es vor aller Welt sehen zu lassen. Nana blieb sein Liebling, weil er die hübschen, kleinen Mädchen gern hatte. Mit Etienne beschäftigte er sich immer weniger, nach seiner Meinung mußten sich die Jungens selbst durchbeißen. Wenn jemand nach Coupeau fragte, fand er sich immer ein; in Pantoffeln und Hemdsärmeln kam er aus dem hinteren Laden mit der Miene eines sehr beschäftigten Ehemannes hervor; er antwortete für Coupeau und sagte den Leuten, daß es ganz dasselbe sei.

Zwischen diesen beiden Herren führte Gervaise auch nicht immer ein allzu lustiges Leben. Über ihre Gesundheit konnte sie nicht klagen, Gott sei Dank! Auch sie wurde fett. Aber daß ihr zwei Männer immer auf dem Halse lagen, die sie pflegen und zufriedenstellen sollte, das ging manchmal über ihre Kräfte. Heiliger Himmel! Ein Mann kann einen schon zur Verzweiflung bringen! Das Schlimme war, daß sie, wenn es Streit gab, immer zusammenhielten; sie zankten sich niemals. Des Abends nach dem Essen hänselten sie einander, wenn sie mit aufgelegten Ellenbogen am Tische saßen; während des ganzen Tages rieben sie sich aneinander wie ein Paar Katzen, die ihrem Vergnügen nachgehen. An Tagen, wo sie wütend nach Hause kamen, fielen beide über sie her. Nur immer zu! Schlagt nur auf das Lasttier los, die hat einen breiten Buckel! Das erhöhte noch ihre Freundschaft, wenn sie so zusammen brüllen konnten; da durfte sie kein Wort zu ihrer Verteidigung sagen. Zu Anfang, wenn einer schrie, bat sie den andern durch Seitenblicke, ihr beizustehen und ein Wort für sie einzulegen. Aber es gelang selten. Sie war jetzt ganz kirre geworden und duckte sich mit ihren breiten Schultern, weil sie begriffen hatte, daß es ihnen Spaß mache, sie herumzustupsen, weil sie rund wie eine wahre Kugel geworden war. Coupeau mit seinem losen Maul gebrauchte abscheuliche Worte ihr gegenüber. Lantier dagegen war in seinen Schimpfworten sehr gewählt, er brauchte Ausdrücke, die sonst niemand sagte und die sie noch empfindlicher trafen. Glücklicherweise gewöhnt man sich ja an alles; die Schimpfworte und Ungerechtigkeiten der beiden Männer glitten schließlich von ihrer glatten Haut ab wie von einer Wachstuchdecke. Sie war sogar dahin gekommen, daß es ihr lieber war, wenn sie böse waren; machten sie die Liebenswürdigen, so waren sie ihr noch viel mehr zur Last, dann waren sie immer hinter ihr her und ließen sie keine Haube ruhig plätten. Dann verlangten sie von ihr kleine Gerichte, die sie salzen mußte oder milder machen, dann mußte sie ihnen zu Munde reden, sie pflegen, zu Bette legen und einen nach dem andern warm einwickeln. Wenn eine Woche herum war, fühlte sie kaum noch ihre Glieder, und ihr Kopf war wüst, sie wurde ganz stumpfsinnig, und ihre Augen bekamen einen Ausdruck, als ob sie ihrer Sinne nicht mehr mächtig sei. Das reibt eine Frau auf, ein solches Geschäft.

Ja, Coupeau und Lantier verbrauchten sie, das ist das rechte Wort; sie hatten sie an beiden Enden zugleich angesteckt, wie man vom Licht sagt. Soviel stand fest, der Zinkarbeiter hatte keine Bildung; aber der Hutmacher hatte zuviel oder vielmehr er hatte eine Bildung, wie schmutzige Leute ein reines Hemd anhaben, der Schmutz sitzt darunter. In einer Nacht träumte sie, daß sie am Rande eines Brunnenloches stehe; Coupeau stieß sie mit der Faust, während Lantier sie an den Schenkeln kitzelte, um sie noch schneller hineinstürzen zu lassen. So war ihr Leben. Sie war in einer guten Schule, da konnte es nicht überraschen, wenn sie vor die Hunde ging. Die Leute im Quartier waren nicht gerecht gegen sie, wenn sie ihr häßliches Betragen ihr zum Vorwurf machten, denn sie hatte ihr Unglück nicht verschuldet. Wenn sie manchmal darüber nachdachte, so überlief sie ein Schauder. Dann dachte sie, daß es doch auch noch viel schlimmer habe kommen können. Es war doch immer noch besser, zwei Männer zu haben, als seine beiden Arme zu verlieren. So fand sie ihre Lage natürlich, wie es so oft vorkommt; so trachtete sie danach, auch unter diesen Verhältnissen ein wenig Glück für sich zu genießen. Der beste Beweis dafür, wie abgestumpft ihre Empfindungen waren und wie sie nur noch den rohesten Genüssen zugänglich blieb, ist es, daß sie Coupeau nicht mehr verabscheute als Lantier. In dem Varieté hatte sie in einem Stück eine Dirne gesehen, die ihren Mann verabscheute und ihn wegen ihres Liebhabers vergiftete; darüber war sie böse geworden, weil sie einer ähnlichen Empfindung nicht fähig wäre. War es denn nicht viel vernünftiger, wenn alle drei in gutem Einvernehmen weiterlebten? Nein, nein, solche Dummheiten machen das Leben ungemütlich, das ja ohnehin schon nicht allzu lustig ist. Schließlich würde sie sich trotz aller Schulden, trotz des Elends, das sie bedrohte, ganz ruhig für sehr befriedigt erklärt haben, wenn der Zinkarbeiter und der Hutmacher sie weniger abgehetzt und weniger mit ihr herumgeschrien hätten.

Um die Herbstzeit ging leider die Wirtschaft noch mehr bergab. Lantier behauptete, daß er mager werde, und machte täglich ein längeres Gesicht. Er murrte über alles und nörgelte besonders beim Essen; die ewigen Kartoffelgerichte, das sei ein Schweinefraß, den er nicht runterbringen könne, ohne danach Kolik zu bekommen. Die geringfügigste Zänkerei endete jetzt mit Schlägen, wobei man sich die ganze Wirtschaft gegenseitig an den Kopf warf, und es war manchmal ein Teufelskram, ehe alles sich aussöhnte, ehe jeder sein Lager aufsuchte. Wenn die Musik zu Ende ist, schlagen sich die Esel, nicht wahr? Lantier witterte den Krach; er war außer sich darüber, als er merkte, daß die ganze Wirtschaft aufgegessen sei, und er den Tag herankommen sah, wo er seinen Hut in die Hand nehmen müsse, um sich wo anders ein warmes Nest und etwas Futter aufzusuchen. Er hatte sich hier so hübsch hineingewöhnt, konnte seinen kleinen Gewohnheiten nachgehen und wurde von jedermann verhätschelt; es war ein wahres Schlaraffenleben gewesen, dessen Süßigkeiten er nicht so leicht wiederfinden werde. Potz der Tausend! Man kann sich nicht bis obenheran vollfressen und dann immer noch gute Stücke auf dem Teller haben. Er war jetzt auf seinen Bauch besonders böse, denn jetzt war die ganze Wirtschaft in seinem Bauch. Aber er dachte keineswegs so; er war noch auf die anderen böse, die sich in dem kurzen Zeitraum von zwei Jahren von ihm hatten auffressen lassen. Wirklich, die Coupeaus waren unbegreiflich. Jetzt schrie er, daß Gervaise nicht gut zu wirtschaften verstehe. Heiliges Donnerwetter! Was sollte denn daraus werden? Gerade jetzt ließen einen die Freunde sitzen, wo man im Begriff war, ein glänzendes Geschäft abzuschließen: sechstausend Franken Gehalt in einer Fabrik, das war genug, um die ganze kleine Familie zum Wohlstand zu bringen.

Eines Abends im Dezember hatten sie nichts, um Mittagbrot zu essen. Es war auch nicht ein Heller mehr da. Lantier, der sehr trübe gestimmt war, ging schon bei guter Zeit aus und trieb sich auf den Straßen herum, um irgendwo eine Bude zu finden, wo der Küchengeruch die Gesichter fröhlich machte. Er blieb oft volle zwei Stunden bei dem Plättofen sitzen und hing seinen Gedanken nach. Plötzlich zeigte er eine große Freundschaft für die Poissons. Er neckte den Stadtsergeanten nicht mehr damit, daß er ihn Badinguet nannte; ja, er ging soweit, daß er zugab, der Kaiser sei vielleicht ein ganz braver Kerl. Besonders für Virginie schien ihn eine hohe Achtung zu erfüllen, er sagte, sie sei eine gescheite Frau, die es wohl verstehe, ihr Lebensschiff zu steuern. Es war zu ersichtlich, daß er ihnen schön tat. Man hätte auf den Gedanken kommen können, daß er bei ihnen in Pension treten wolle. Aber seine Falle hatte einen doppelten Boden und war viel verwickelter. Virginie hatte gegen ihn den Wunsch ausgesprochen, irgendeinen Laden aufzumachen; in dieser Absicht bestärkte er sie und erklärte es für ausgezeichnet. Jawohl, sie war für den Handel wie geschaffen: groß, zuvorkommend und tätig, wie sie war. Sie werde soviel Geld verdienen, wie sie wolle. Da das Geld, was sie von der Erbschaft einer Tante her schon lange bereit liegen hatte, nur darauf wartete, verwendet zu werden, habe sie gewiß recht, wenn sie ihre vier Kleider, die sie in jeder Saison zusammenstoppele, im Stich lasse, um sich dem Geschäftsleben zu widmen; dabei zählte er an den Fingern die Leute her, die im Begriffe seien, ein Vermögen zu erwerben: da war die Hökerin in der Ecke, eine kleine Porzellanhändlerin vom äußeren Boulevard; der Augenblick sei ungemein günstig, mit jeder Ausschußware habe man jetzt ein Geschäft machen können. Trotzdem zögerte Virginie noch; sie hätte gern einen Laden gehabt, aber sie wollte auch das Quartier nicht gern verlassen. Da führte sie Lantier in die Ecke und sprach dort oft zehn Minuten lang mit ihr leise. Er schien sie mit Gewalt von etwas überzeugen zu wollen, sie weigerte sich nicht, sondern es sah so aus, als ob sie ihm Vollmacht gebe, für sie zu handeln. Das war ein Geheimnis zwischen ihnen beiden, sie blinkten sich mit den Augen zu und wechselten schnelle Worte miteinander; daß sie gemeinsam einen Plan schmiedeten, verriet sich sogar in ihren Händedrücken. Von diesem Augenblick an belauerte Lantier die Coupeaus mit heimlichen Seitenblicken, während er sein trockenes Brot herunterwürgte; er war wieder sehr gesprächig geworden und betäubte sie mit einem fortwährenden Gejammer. Den ganzen Tag mußte Gervaise in diesem Elend herumwühlen, das er recht gefällig vor ihr ausmalte. Er sprach ja nicht seinetwegen, großer Gott! Er werde ja gerne mit den Freunden Hungers sterben. Aber die Klugheit erfordere doch, daß man sich genaue Rechenschaft über die Lage gebe. Man schulde wenigstens fünfhundert Franken im Quartier an den Bäcker, den Kohlenhändler, den Krämer und die anderen. Überdies sei man mit der Miete für zwei Quartale im Rückstande, das seien auch noch zweihundertundfünfzig Franken; der Wirt, Herr Marescot, habe davon gesprochen, sie aus dem Hause zu jagen, wenn sie nicht vor dem ersten Januar bezahlten. Dann habe man schon alles aufs Leihhaus getragen, so daß man nicht mehr für drei Franken hätte versetzen können, so gründlich sei alles ausgesäubert nur die Nägel blieben noch in den Wänden, mehr nicht, und davon habe man für drei Sous recht gut zwei Pfund bekommen können. Gervaise war von diesem Rechenexempel so verdutzt, daß ihr die Arme schlaff herniederfielen, sie wurde böse und schlug mit der Faust auf den Tisch, oder fing ganz dumm an zu heulen. Eines Abends schrie sie:

»Morgen gehe ich weg!... Ich will lieber den Schlüssel auf die Schwelle legen und auf dem Steinpflaster schlafen, als so hier noch weiterleben.«

»Es sei viel klüger,« sagte heimtückisch Lantier, »den Mietsvertrag abzutreten, wenn man jemanden finden könnte... Wenn ihr beide entschlossen wäret, den Laden aufzugeben ...«

Sie unterbrach ihn heftig:

»Aber sofort, gleich!... Das wäre ja eine wahre Erlösung!«

Jetzt war der Hutmacher der praktische Mann. Wenn man den Mietsvertrag abtreten wolle, so werde man von dem neuen Mieter die beiden rückständigen Quartalsraten bekommen. Dann wagte er es, von den Poissons zu sprechen; er erinnerte daran, daß ja Virginie einen Laden suchte, vielleicht gefalle ihr dieser. Er erinnere sich selbst, daß sie sich einen ebensolchen oft gewünscht habe. Als aber die Wäscherin den Namen Virginie hörte, war sie still geworden. Man werde sehen; man spreche so leicht davon, sein Heim aufzugeben, wenn man erregt sei, aber die Sache sei doch nicht so einfach und reiflich zu bedenken.

Vergeblich versuchte Lantier in den folgenden Tagen wieder das Gespräch darauf zu bringen. Gervaise antwortete, daß sie schon noch mehr herunter gewesen sei und sich doch wieder heraufgerappelt habe. Was sei denn gewonnen, wenn sie ihren Laden nicht mehr habe? Davon werde sie kein Brot bekommen. Im Gegenteil, sie werde ihre Arbeiterinnen wieder nehmen und sich eine neue Kundschaft schaffen. Sie sagte es nur, um damit die guten Gründe des Hutmachers abzuwehren, der ihr zeigte, wie sie am Boden lag, wie ihre Schulden sie erdrückten, wie es gar keine Hoffnung gab, wieder obenauf zu kommen. Aber er war ungeschickt genug, immer noch Virginies Namen hineinzumengen, so daß sie ganz wütend wurde. Nein, nein, niemals! Sie hatte immer an ihrem guten Herzen gezweifelt; wenn Virginie den Laden haben wolle, sei es nur deshalb, weil sie sie demütigen wolle. Der ersten besten Frau auf der Straße hätte sie den Laden gegeben, aber nicht dieser großen Scheinheiligen, die schon seit Jahren darauf warte, sie zugrunde gehen zu sehen. Jetzt sei ihr so manches klar. Sie begreife jetzt wohl, warum die gelben Funken aus den Augen dieser Katze sprühten. Ja, ja, Virginie habe ihr die Tracht Schläge von der Waschanstalt nie vergessen, sie habe ihre Rache aufgespart. Nun denn, sie werde klug daran tun, sie es nicht merken zu lassen, wenn sie nicht riskieren wolle, daß sie ihr zum zweitenmal das Fell versohle. Das werde nicht lange dauern, sie könne sich schon immer darauf gefaßt machen. Nach einem solchen Schwall böser Redensarten duckte Lantier Gervaise; er nannte sie einen Trotzkopf, ein tolles Weib, eine Madame Granale, die den Teufel im Leibe habe, ja, er ging sogar so weit, Coupeau zu beschuldigen, daß er ein Pantoffelheld sei, der nicht einmal soviel Macht über seine Frau habe, es durchzusetzen, daß diese vor einem Freunde die schuldige Achtung bewahre. Er begriff wohl, daß der Zorn alles verderbe, deshalb versicherte er, daß er sich nie mehr mit den Geschäften anderer befassen wolle, denn davon habe man nichts als Undank. In der Tat schien es, als ob er die Sache mit der Abtretung des Mietsvertrages nicht weiter berühren wolle und auf eine Gelegenheit warte, wo er von der Sache noch einmal sprechen und die Wäscherin bestimmen könne. Mit dem Januar war das schlechte Wetter gekommen, es war naß und kalt zugleich. Mama Coupeau, die schon den ganzen Dezember gehustet hatte, mußte sich nach dem Dreikönigstage fest zu Bette legen. Das war wie ihre Rente; jeden Winter wartete sie schon darauf. Aber diesen Winter, sagten alle, werde sie wohl nur mit den Füßen vorweg wieder aus ihrem Zimmer herauskommen. Und wirklich, sie hatte einen recht versteckten Husten, der so hohl und verdächtig klang; dabei war sie dick und fett, ihre Augen waren schon halb erloschen und ihr Gesicht auf einer Seite ganz zusammengezogen. Sicherlich hätten ihre Kinder ihr Ende nicht herbeigewünscht, aber sie schleppte sich schon so lange hin, sie machte so viel Ungelegenheiten, daß man ihren Tod wie eine Befreiung für alle ansah. Für sie selbst war es ja auch das beste, denn ihre Zeit war vorüber, nicht wahr? Und wenn man seine Zeit gelebt hat, so hat man sich nichts vorzuwerfen. Man gab ihr noch ihren Tee, um sie nicht ganz hilflos liegenzulassen. Alle Stunden ging einmal jemand hinein und sah nach, ob sie noch lebe. Sie sprach gar nicht mehr, weil sie so wenig Luft hatte, aber mit ihrem einen Auge, das noch gut, lebendig und klar geblieben war, sah sie jeden scharf an; es lag vieles im Blick dieses Auges: die Trauer um ihre jungen Jahre, die Trauer der tiefen Kränkung, wenn sie sah, wie die Ihren es gar nicht mehr erwarten konnten, sie endlich loszuwerden, der Zorn gegen die kleine, lasterhafte Dirne, die Nana, die sich jetzt nicht mehr genierte und des Nachts an der Glastür lauerte.

Eines Montag abends kam Coupeau stark angerissen nach Hause. Seit seine Mutter in Gefahr war, lebte er fortwährend in einer wehmütigen Stimmung. Als er fest eingeschlafen war und laut schnarchte, ging Gervaise von ihm und wachte einen Teil der Nacht bei Mama Coupeau. Nana war jetzt sehr artig, sie legte sich nahe bei der Alten nieder und sagte, daß, wenn sie höre, daß sie sterbe, sie schon alle schnell herbeirufen werde. In dieser Nacht, wo die Kleine fest schlief und auch die Kranke ruhig zu schlummern schien, ließ sich die Wäscherin schließlich von Lantier, der sie mit leiser Stimme rief, überreden, sich in seinem Bett etwas auszuruhen. Sie wollten ein Licht auf der Erde hinter der Schranktür brennen lassen. Gegen drei Uhr sprang Gervaise plötzlich zitternd vom Bett auf, weil eine unbestimmte Angst sie peinigte. Sie hatte einen kalten Schauer über den ganzen Körper gehen fühlen. Das Endchen Licht war heruntergebrannt, so mußte sie im Finstern ihre Unterröcke zusammenbinden; sie tat es, betäubt und in fieberhafter Hast. Erst in dem kleinen Kabinett konnte sie, nachdem sie sich an verschiedenen Möbeln gestoßen hatte, eine kleine Lampe anstecken. In das erdrückende Schweigen der Nacht tönten allein die tiefen Töne von Coupeaus Schnarchen hinein. Nana, die auf dem Rücken ausgestreckt lag, atmete leise zwischen ihren leicht geschwellten Lippen. Gervaise, die die Lampe, welche große Schatten vorüberhuschen ließ, herabgeschraubt hatte, beleuchtete das Gesicht von Mama Coupeau, die ganz weiß, mit weit geöffneten Augen und zur Seite gefallenem Kopf dalag. Mama war tot.

Ohne einen Schrei auszustoßen, leise und vorsichtig kam die Wäscherin wieder in das Zimmer Lantiers zurück. Er war wieder eingeschlafen. Sie beugte sich über ihn und murmelte:

»Höre! Du! Es ist aus mit ihr, sie ist tot!«

Ganz vom Schlaf übermannt, kaum erwacht, brummte er zuerst:

»Laß mich doch zufrieden! Lege dich doch nieder ... Wir können ja nichts dabei machen, wenn sie tot ist!« Dann stützte er sich auf einen Ellenbogen und fragte:

»Wie spät ist es denn?«

»Drei Uhr!«

»Erst drei Uhr, lege dich doch nieder ... Du wirst dich erkälten ... Wenn es Tag ist, werden wir ja sehen!«

Aber sie hörte nicht auf ihn, sondern zog sich vollständig an. Darauf machte er es sich wieder bequem, schlug die Bettdecke um sich und wandte sein Gesicht der Wand zu, wobei er etwas von verdammten eigensinnigen Weiberköpfen murmelte. Was war denn da für Eile, den Leuten mitzuteilen, daß es eine Tote im Hause gab? Mitten in der Nacht war so etwas gar nicht lustig, und er war außer sich darüber, seine Nachtruhe durch so düstere Dinge gestört zu sehen. Als sie alle ihre Sachen bis auf ihre Haarnadeln wieder in ihr Zimmer zurückgetragen hatte, setzte sie sich dort nieder, und obwohl sie vor Kälte zitterte, war sie doch zufrieden, daß man sie nicht mehr mit dem Hutmacher überraschen konnte. Eigentlich hatte sie Mama Coupeau recht lieb gehabt und empfand jetzt einen wahren Schmerz, während sie im ersten Augenblick nur Ärger ausgestanden hatte, daß Mama Coupeau ihre Sterbestunde so schlecht gewählt hatte. Sie weinte laut und heftig in der stillen Nacht, doch der Zinkarbeiter hörte nicht auf zu schnarchen. Er hörte nichts, sie hatte ihn gerufen und geschüttelt, dann hatte sie sich dafür entschieden, ihn schlafen zu lassen, weil sein Erwachen nur noch mehr Unruhe und Verlegenheiten gemacht haben würde. Als sie zu der Leiche zurückkehrte, fand sie Nana im Bette aufrechtsitzen und sich den Schlaf aus den Augen reiben. Sie begriff sogleich, was da vorgegangen war, und streckte mit der Neugierde einer nichtsnutzigen Dirne ihr Kinn vor, um ihre Großmutter besser sehen zu können. Sie sagte nichts, aber sie zitterte ein wenig; erstaunt sah sie sich diesem Tode gegenüber, der schon seit Tagen wie eine häßliche Sache, die für Kinder verboten war, herannahte; vor diesem weißen Totenantlitz, auf dem die Leidenschaften des Lebens ihre tiefen Furchen gezogen hatten, erweiterten sich ihre jungen Katzenaugen, und dieselbe Erschlaffung legte sich auf ihre Wirbelsäule, die sie stets an der Glastür festhielt und sie dort nach Dingen spähen ließ, die solch eine kleine Rotzliese nichts angingen.

»Mach', stehe auf!« sagte ihre Mutter mit leiser Stimme. »Ich will nicht, daß du hier bleibst!«

Nur widerwillig ließ sie sich vom Bett nehmen und ließ die Tote nicht aus den Augen. Gervaise war in großer Verlegenheit, da sie nicht wußte, wohin sie mit ihr solle, bis der Tag anbrach. Sie wollte sie schon anziehen, als Lantier in Rock und Pantoffeln zum Vorschein kam, er konnte nicht mehr schlafen und schämte sich ein wenig seines Benehmens. Jetzt konnte man alles einrichten.

»Lasse sie in meinem Bett sich niederlegen, da hat sie Platz genug!«

Nana richtete auf ihre Mutter und Lantier ihre großen, klaren Augen und nahm ihren dummen Ausdruck an, den Ausdruck vom Neujahrstage, wenn man ihr Schokoladenplätzchen schenkte. Man brauchte ihr nicht erst zuzureden, sie lief im Hemdchen hin, ihre nackten Füße berührten kaum den Boden, wie eine Blindschleiche glitt sie in das Bett, das noch ganz warm war, streckte sich aus und verkroch sich darin, so daß ihr leichter Körper kaum unter der Zudecke sich bemerkbar machte. Jedesmal, wenn ihre Mutter in das Zimmer kam, sah sie sie mit leuchtenden Augen daliegen; sie bewegte sich nicht, aber sie schlief auch nicht, sie war sehr rot und schien über ernste Dinge nachzudenken.

Unterdessen hatte Lantier Gervaise geholfen, Mama Coupeau anzukleiden; es war keine leichte Arbeit, denn die Tote war sehr schwer, man hätte nie geahnt, wie weiß und fett die alte Frau war. Sie hatten ihr Strümpfe, einen weißen Unterrock und eine weiße Nachtjacke angezogen und eine Haube aufgesetzt, ihre besten Wäschestücke. Coupeau schnarchte noch immer, er gab zwei Töne von sich, einen tiefen, der nach unten ging, und einen andern trockenen Ton, der aufstieg; es klang beinahe wie Kirchenmusik zu den heiligen Handlungen am Karfreitag. Als die Tote angezogen und sauber auf ihrem Bett aufgebahrt war, goß sich Lantier ein Glas Wein ein, um wieder auf den Damm zu kommen, denn ihm war ganz schlecht geworden. Gervaise kramte in der Kommode und suchte nach einem kleinen, kupfernen Kruzifix, das sie aus Plassans mitgebracht hatte; aber sie erinnerte sich dann, daß Mama Coupeau selbst es schon verkauft haben mußte. Sie hatten den Ofen angesteckt. Den Rest der Nacht brachten sie halb schlafend auf Stühlen zu, wobei sie das Liter austranken, das angegossen war; obwohl müde und abgestumpft, grollte eines dem andern, als ob es ihre Schuld sei, daß die Alte gerade jetzt gestorben war. Erst gegen sieben Uhr, als es noch nicht ganz Tag war, erwachte Coupeau. Als er das Unglück vernahm, blieb sein Auge trocken, weil er glaubte, daß sie sich einen Scherz mit ihm machten. Dann aber warf er sich zur Erde und lag vor der Toten; er weinte wie ein Kalb, und seine Tränen flossen so reichlich, daß er das Laken naß machte, als er sich daran die Backen abtrocknete. Auch Gervaise hatte wieder zu schluchzen angefangen, weil sie über den heftigen Schmerz ihres Mannes eine große Rührung empfand; ja, er war im Grunde seines Herzens besser, als sie bisher geglaubt hatte. Die Verzweiflung Coupeaus mischte sich mit einem sehr starken Kater. Er fuhr sich mit den Händen in die Haare, und sein Mund war geschwollen wie immer des Morgens nach seinen Saufgelagen; er war noch immer ein wenig im Rausch, trotzdem er sechs Stunden geschlafen hatte. Er jammerte mit geballten Fäusten: Heiliger Gott! Jetzt sei sie fort, seine arme Mutter, die er so geliebt habe! Wie ihn sein Kopf schmerze, das werde auch sein Ende sein! Wie Feuer brenne es ihm im Kopf und auf dem Herzen, als ob ihm alles herausgerissen sei! Nein, das Schicksal sei nicht gerecht, einen Mann so unablässig zu verfolgen!

»Aber so fasse doch Mut, alter Junge!« sagte Lantier, der ihn aufhob. Man muß sich ein bißchen zusammennehmen!«

Er goß ihm ein Glas Wein ein, aber Coupeau wies es zurück, er wollte nicht trinken.

»Wie ist mir denn? Habe ich denn Kupfer im Schädel? ... Das ist meine arme Mutter? Wenn ich sie sah, war's mir immer, als ob ich Kupfer schmeckte ... Mutter! Mein Gott! Mutter! Mutter! ...«

Und aufs neue weinte er wie ein Kind. Dann trank er doch das Glas Wein, um den Brand zu mildern, der in seiner Brust tobte. Lantier ging bald aus, er gab vor, daß er die Familie benachrichtigen und auf dem Standesamt die Anzeige machen wolle. Er mußte etwas frische Luft schöpfen. Er beeilte sich durchaus nicht, sondern genoß die Morgenluft beim Dampf einiger Zigaretten. Als er von Madame Lerat wegging, trat er sogar in eine Sahnenhandlung in Batignolles, um dort einen recht heißen Kaffee zu trinken. Da blieb er wohl eine gute Stunde in Gedanken versunken sitzen.

Gegen neun Uhr war die ganze Familie im Laden versammelt, wo man die Tür geschlossen gelassen hatte. Lorilleux weinte nicht; er hatte übrigens sehr eilige Arbeit und stieg fast sogleich die Treppen wieder hinauf, nachdem er sich mit einem für die Gelegenheit passenden Gesicht eine kurze Weile aufgehalten hatte. Madame Lorilleux und Madame Lerat hatten die Coupeaus umarmt und geküßt, sie trockneten ihre Augen, aus denen kleine Tränen herabrollten. Als die erstere einen schnellen Blick auf die Umgebung des Totenbettes geworfen hatte, sagte sie plötzlich mit sehr lauter Stimme, daß es allem Anstande zuwider sei, wenn man in der Nähe der Leiche eine angezündete Lampe lasse, es müßten Lichter sein. So schickte man Nana nach einem Paket Lichter, aber sie solle große holen. Nun ja! Wenn man bei der Humpelliese sterbe, habe sie ihre saubere Art, die Sache zurechtzumachen! So ein dummes Geschöpf, die sich nicht einmal einem Toten gegenüber zu benehmen wisse! Habe sie denn noch nie im Leben jemanden begraben? Madame Lerat mußte zu den Nachbarn herumgehen, um ein Kruzifix zu borgen; sie brachte schließlich eines, das zu groß war, ein Kreuz von schwarzem Holz, auf das ein Christus von Pappe genagelt war, der fast Mama Coupeaus ganze Brust bedeckte und sie mit seinem Gewicht zu erdrücken schien. Dann wollte man nach Weihwasser holen, aber niemand hatte etwas, so daß Nana wiederum gehen mußte; sie lief bis zur Kirche und füllte dort eine Flasche. Im Handumdrehen hatte der Raum ein anderes Aussehen: auf einem kleinen Tisch brannte eine Kerze, zu deren Seite ein mit Weihwasser gefülltes Glas stand, in das man einen Zweig Buchsbaum gesteckt hatte. Wenn jetzt Leute kamen, war es wenigstens sauber. Nun stellte man im Laden die Stühle in der Runde auf, um Besuche zu empfangen.

Lantier kam erst um elf Uhr wieder zurück. Er hatte bei dem Beerdigungsbüro Erkundigungen eingezogen.

»Der Sarg kostet zwölf Franken!« sagte er. »Wenn Ihr eine Messe haben wollt, macht es noch zehn Franken mehr. Dann ist noch der Leichenwagen, der je nach der Ausschmückung bezahlt wird ...«

»Das wird uns auch nichts nützen!« murmelte Madame Lorilleux, die überrascht und unruhig den Kopf erhob. »Davon wird Mutter auch nicht wieder aufstehen, nicht wahr? Man muß sich nach der Decke strecken!«

»Gewiß! So dachte ich auch!« meinte der Hutmacher. »Ich habe die Zahlen nur zu Eurer Wahl aufgeschrieben ... Sagt mir, was Ihr wünscht, ich werde nach dem Frühstück hingehen und bestellen.«

Sie sprachen bei dem schwachen Licht, das durch die Ritze der geschlossenen Fensterläden in den Raum fiel. Die Tür zum Kabinett blieb weit offen, und von dieser großen Öffnung aus legte sich die Stille des Todes auf alles. Auf dem Hofe hörte man die Kinder lachen, die kleinen Mädchen tanzten »Ringel, Ringel, Rosenkranz« in der bleichen Wintersonne. Plötzlich hörte man Nanas Stimme, die von den Boches, zu denen man sie geschickt hatte, fortgelaufen war. Sie kommandierte mit hellen Tönen, und die Hacken schlugen den Takt auf dem Pflaster, während der Gesang wie der Lärm schreiender Vögel ertönte:

Unser Esel,
Unser Esel,
Der hat Weh am Fuß.
Mutter läßt ihm Grütze machen
Und auch lila Schuh'!
Lila, lila, lila, la,
Und auch lila Schuh'!

Gervaise wartete, bis die Reihe an sie kam:

»Wir sind nicht reich, sicherlich, aber wir wollen uns doch mit Anstand benehmen ... Wenn Mama Coupeau uns auch nichts hinterlassen hat, ist es doch kein Grund, sie wie einen Hund in die Erde zu bringen. Nein, es soll eine Messe sein und ein hübscher Leichenwagen ...«

»Wer wird das bezahlen?« fragte heftig Madame Lorilleux. »Wir gewiß nicht, die wir erst vorige Woche wieder Geld verloren haben; und Ihr doch auch nicht, denn Ihr seid doch ratzekahl ... Ihr solltet doch schon wissen, wo es hinführt, wenn man den Leuten Sand in die Augen streut!«

Als man Coupeau fragte, stotterte er etwas Unverständliches und machte eine Bewegung, die ungefähr sagte, daß ihm die Sache durchaus gleichgültig sei; dann schlief er auf seinem Stuhl wieder ein. Madame Lerat erklärte, daß sie ihren Anteil bezahlen wolle. Sie war ganz Gervaises Ansicht, man müsse die Sache; anständig zu Ende bringen. Sie rechneten dann beide auf einem Stückchen Papier: das Ganze werde sich ungefähr auf neunzig Franken belaufen, da sie nach langen Auseinandersetzungen dahin übereinkamen, einen Leichenwagen zu nehmen, der mit einem bortengeschmückten Tuch behangen war.

»Wir sind drei«, schloß die Wäscherin die Besprechung. »Wir geben jeder dreißig Franken, das wird uns nicht umbringen.«

Da brach aber Madame Lorilleux ganz wütend los.

»Ich mache nicht mit, ich weigere mich! ... Nicht etwa wegen der dreißig Franken. Ich möchte gern hunderttausend geben, wenn ich sie hätte und damit Mama Coupeau wieder aufwecken könnte ... Aber ich kann die Hochmütigen nicht leiden. Ihr habt einen Laden, Ihr denkt, daß Ihr dem Quartier die Augen aufreißen müßt. Dazu werden wir anderen doch nichts beitragen. Wir wollen nicht für etwas gelten, was wir nicht sind... Ihr werdet schon alles einrichten. Meinetwegen laßt doch die Leichenpferde Federbüsche tragen, wenn es Euch Spaß macht.«

»Wir wollen ja von Euch nichts haben«, sagte schließlich Gervaise. »Und wenn ich mich verkaufen sollte, möchte ich mir doch keinen Vorwurf zu machen haben. Ich habe Mama Coupeau ohne Euch ernährt, ich werde sie auch ohne Euch begraben... Es ist nicht das erstemal, daß ich sie Euch nicht überlassen habe: ich nehme verlaufene Katzen bei mir auf, da werde ich auch Eure Mutter nicht im Dreck verkommen lassen.«

Da weinte Madame Lorilleux, und Lantier mußte sie halten, daß sie nicht fortging. Der Streit wurde so lärmend, daß Madame Lerat mehrere Male energisch Pst! Pst! rief und dann nach dem Kabinett ging und auf die Tote einen unruhigen, betrübten Blick warf, als ob sie fürchte, sie sei erwacht und habe gehört, weshalb man neben ihr gestritten. In diesem Augenblick fing der Gesang der Kinder auf dem Hofe wieder an; die fadendünne, aber durchdringende Stimme von Nana übertönte die anderen:

Unser Esel,
Der hat so Weh im Bauch,
Unser Esel,
Mutter läßt ihm Suppe machen
Und auch lila Schuh'!
Lila, lila, lila, la,
Und auch lila Schuh'!

»Mein Gott! Sind die Kinder gräßlich mit ihrer Singerei!« sagte Gervaise zu Lantier; sie war so erschüttert und nahe daran, vor Ungeduld und Traurigkeit wieder loszuschluchzen. »Laß sie still sein und bringe Nana zu den Pförtnersleuten zurück und wenn du ihr auch ein paar Fußtritte auf den Hintern geben mußt.«

Madame Lerat und Madame Lorilleux gingen frühstücken und versprachen wiederzukommen. Die Coupeaus setzten sich zu Tische und aßen kalten Aufschnitt, aber sie aßen ohne Appetit und wagten nicht mit Messer und Gabel Geräusch zu machen. Sie waren sehr abgespannt und stumpf, die arme Mama Coupeau lastete förmlich auf ihnen, sie schien alle Räume zu erfüllen. Ihr Leben war wie aus den Angeln gehoben. Zuerst gingen sie alle herum und fanden nicht, was sie suchten; sie waren mürrisch und fühlten sich unbehaglich wie nach einer durchschwärmten Nacht. Lantier ging sogleich wieder fort, um zu der Beerdigungsgesellschaft zurückzukehren, wohin er die dreißig Franken von Madame Lerat und sechzig Franken, die Gervaise sich in der Eile mit aufgelösten Haaren wie eine Tolle aussehend, von Goujet geborgt hatte, gleich mitnahm. Am Nachmittag kam Besuch, es waren die Nachbarn, die von ihrer Neugierde gequält, sich seufzend mit verweinten Augen einfanden; sie traten in das Kabinett und betrachteten die Tote, bekreuzigten und besprengten sich mit dem Buchsbaumzweig und dem Weihwasser; alsdann nahmen sie im Laden Platz, wo sie ununterbrochen von der lieben, guten, alten Frau sprachen; ohne Aufhören wiederholten sie stundenlang dieselben Sätze. Fräulein Remanjou hatte bemerkt, daß ihr rechtes Auge noch ein wenig offen stand; Madame Gaudron ließ es sich nicht nehmen, daß sie für ihr Alter noch eine wundervolle Farbe gehabt habe, und Madame Fauconnier konnte sich nicht darüber beruhigen, daß sie sie noch vor drei Tagen ganz munter hatte ihren Kaffee trinken sehen. Ja, wahrlich! Im Umsehen war man weg, da konnte sich jeder die Stiefel schmieren. Gegen Abend vermochten die Coupeaus es kaum noch zu ertragen; es war zu traurig für eine Familie, einen Leichnam solange im Hause zu behalten. Da hätte die Regierung wohl ein anderes Gesetz darüber machen sollen. Noch einen ganzen Abend, eine ganze Nacht und einen Vormittag, nein! Das nehme ja gar kein Ende. Wenn man nicht mehr weint, verwandelt sich der Schmerz in Ärger, und schließlich kommt man dazu, sich, unpassend zu benehmen. Mama Coupeau, die da so ruhig und stumm in ihrem kleinen Kämmerchen lag, verbreitete sich mehr und mehr über die ganze Wohnung; es legte sich bleischwer auf alles, so daß jeder zu ersticken meinte. So nahm die Familie unwillkürlich ihre gewöhnlichen Geschäfte wieder auf und verlor ihre Achtung vor dem unheimlichen Gast.

»Ihr werdet doch ein wenig mitessen«, sagte Gervaise zu Madame Lerat und Madame Lorilleux, als sie wiederkamen. »Wir sind zu traurig, um uns jetzt zu trennen.«

Auf dem Arbeitstisch wurde aufgedeckt. Beim Anblick der Teller dachte jeder an die festlichen Mahlzeiten, die man an dieser Stelle schon mitgemacht hatte. Lantier war zurückgekommen. Auch Lorilleux war wieder da. Ein Pastetenbäcker brachte eine Speise, denn Gervaise hatte keinen Kopf, um sich mit der Küche zu beschäftigen. Als man sich eben niedersetzte, kam Boche und meldete, daß Herr Marescot seine Aufwartung machen wolle. Der Wirt trat ein, er war sehr ernst und hatte seinen Orden auf den Überzieher geknöpft. Er grüßte schweigend und ging direkt in das Kabinett, wo er niederkniete. Er war sehr fromm und betete mit der ruhigen Andacht eines Pfarrers, schlug das Kreuz und besprengte sich mit Weihwasser. Die ganze Familie hatte den Tisch verlassen und stand sehr bewegt an der Tür des Kabinetts. Als Herr Marescot seine Andacht beendet hatte, kam er in den Laden und sagte zu Coupeau:

»Ich bin wegen der beiden rückständigen Mieten gekommen, seid Ihr zu zahlen bereit?«

»Nein, mein Herr, nicht so ganz«, stotterte Gervaise, die sich sehr ärgerte, daß so etwas vor den Lorilleux' verhandelt wurde. Sie begreifen wohl, bei dem Unglück, was uns getroffen hat.

»Gewiß, gewiß, aber jeder hat seine Sorgen«, fing der Wirt wieder an, wobei er seine riesengroßen Hände, die den früheren Arbeiter verrieten, ausstreckte. »Es tut mir sehr leid, aber ich kann nicht länger warten ... Wenn ich bis übermorgen früh nicht mein Geld habe, muß ich zur Exmission schreiten.«

Gervaise schlug die Hände ineinander und blickte ihn mit Tränen in den Augen bittend an. Doch er bedeutete ihr mit einem energischen Schütteln seines großen, knochigen Kopfes, daß ihr Bitten unnütz sei. Übrigens schnitt die Achtung vor der Toten jetzt jede Unterhandlung ab. Herr Marescot zog sich also höflich und leise zurück.

»Bitte tausendmal um Verzeihung, wenn ich gestört habe«, murmelte er noch. »Also übermorgen, vergessen Sie nicht.« – Da er beim Fortgehen an dem Kabinett vorbeikam, grüßte er noch ein letztes Mal die Leiche mit einer Kniebeugung durch die weit offene Tür.

Zuerst aßen alle schnell, damit es nicht so aussehe, als ob sie daran Vergnügen fänden; aber als sie beim Nachtisch angekommen waren, nahmen sie sich mehr Zeit, weil ein Bedürfnis nach Behaglichkeit sich bei ihnen einstellte. Gervaise oder eine der beiden Schwestern, stand hin und wieder auf, um einen Blick in das Kabinett zu werfen, ohne deshalb die Serviette aus der Hand zu legen: wenn sie zurückkamen, sahen die anderen sie einen Augenblick an, um sich zu vergewissern, daß nebenan alles in Ordnung war, und dann kauten sie ruhig weiter. Nach und nach genierten sich die Damen weniger, Mama Coupeau war schon vergessen. Es war ein Eimer voll Kaffee gekocht worden und noch dazu starker Kaffee, um die Gesellschaft die Nacht über munter zu erhalten. Gegen acht Uhr kamen die Poissons. Man lud auch sie ein, ein Glas Kaffee zu trinken. Jetzt musterte Lantier heimlich Gervaises Gesicht und glaubte die Gelegenheit gekommen, auf die er schon seit dem Morgen gewartet hatte. Als die Unterhaltung auf die Schändlichkeit der Wirte gebracht war, die, wenn man eine Leiche im Hause habe, kämen und Geld verlangten, sagte er plötzlich:

»Das ist ein Jesuit, der Schuft mit seiner scheinheiligen Miene! ... Aber ich würde ihn an Eurer Stelle mit seinem Laden sitzen lassen.«

Gervaise, die abgespannt, müde, weich und kraftlos war, antwortete, sich vergessend:

»Ja, gewiß, ich werde die Gerichtsdiener nicht abwarten: ... Ich habe die Geschichte bis hierher, bis hierher.«

Die Lorilleux', die sich schon im voraus freuten, daß die Humpelliese dann keinen Laden mehr habe, billigten den Gedanken außerordentlich. Es sei gar nicht zu sagen, was so ein Laden kostete. Wenn sie bei anderen auch nur drei Franken verdiene, habe sie wenigstens keine Unkosten und schwebe nicht in Gefahr, bedeutende Summen zu verlieren. Sie wiederholten auch Coupeau diese Beweisgründe und stießen ihn eindringlich an; er trank sehr viel und erhielt sich in beständiger Rührung, so daß er ganz allein über seinen Teller gebeugt weinte. Da die Wäscherin nachzugeben schien, blinkte Lantier den Poissons mit den Augen zu; darauf nahm die große Virginie die Unterhaltung auf und zeigte sich sehr liebenswürdig.

»Wißt Ihr, man könnte sich verständigen. Ich könnte in Euren Vertrag eintreten, ich würde dann Eure Sache mit dem Wirt ausgleichen ... So daß Euch das doch wenigstens keine Sorge machen könnte.«

»Nein, ich danke«, erklärte plötzlich Gervaise, die eine Art Schauder überlief. »Ich weiß, wo ich die Miete herbekomme, wenn ich will. Ich werde arbeiten, ich habe meine beiden Arme, Gott sei Dank! um mich aus aller Verlegenheit zu ziehen.«

»Man kann ja später darüber sprechen«, beeilte sich der Hutmacher dazwischenzuwerfen. »Heut schickt sich so etwas ja nicht ... Später, vielleicht morgen.«

In diesem Augenblick stieß Madame Lerat, die in das Kabinett gegangen war, einen leichten Schrei aus. Sie hatte sich gefürchtet, weil das Licht aus war, es war bis zu Ende herabgebrannt. Alle waren sehr geschäftig, ein anderes anzuzünden; sie schüttelten mit den Köpfen und meinten, daß es keine gute Vorbedeutung habe, wenn bei einer Leiche das Licht verlösche.

Die Wache begann. Coupeau hatte sich ausgestreckt, nicht etwa um zu schlafen, wie er sagte, sondern um nachzudenken; nach fünf Minuten schnarchte er. Als man Nana zu den Boches zum Schlafen schickte, weinte sie, weil sie schon den ganzen Tag über sich darauf gefreut hatte, wie warm sie in dem großen Bett ihres Freundes Lantier liegen werde. Bis Mitternacht blieben die Poissons da. Man hatte schließlich in einer Salatschüssel einen großen Punsch gemacht, weil der Kaffee den Damen zu sehr auf die Nerven wirkte. Die Unterhaltung wurde jetzt empfindsam. Virginie sprach vom Aufenthalt auf dem Lande: sie werde es gern sehen, wenn sie einst in einem kleinen Gehölz beerdigt werde und wenn man Feldblumen auf ihr Grab pflanze. Madame Lerat bewahrte schon jetzt im Schrank ihr Totenhemd auf und parfümierte es mit Lavendel; sie hielt darauf, einen guten Geruch vor der Nase zu haben, wenn sie einmal die Veilchen bei den Wurzeln anbeißen werde. Ohne allen Übergang erzählte der Stadtsergeant, daß er heute ein schönes, großes Mädchen verhaftet habe, die bei dem Wursthändler gestohlen hatte; als man sie entkleidete, fand sich, daß sie sich sechs Würste um den Körper herum aufgehängt hatte. Madame Lerat erklärte mit Abscheu, daß sie davon nicht essen würde; die Gesellschaft begleitete diese Äußerung mit leisem Lachen. Sie wurden ein bischen lustig, ohne den Anstand zu verletzen.

Als gerade der Rest des Punsches getrunken war, kam aus dem Kabinett ein sonderbares Geräusch, ein dumpfes Gegurgel. Alle erhoben die Köpfe und blickten dorthin.

»Es ist nichts!« sagte ruhig Lantier mit leiser Stimme. »Sie leert sich aus!«

Die Erklärung wurde ausreichend befunden und die Gesellschaft setzte wieder mit beruhigten Mienen die Gläser auf den Tisch.

Endlich gingen die Poissons. Lantier begleitete sie: er gehe zu einem Freunde, sagte er, um sein Bett den Damen zu überlassen, die sich dort jede eine Stunde niederlegen könnten, wenn die Reihe an sie komme. Lorilleux ging nach oben, um dort allein zu schlafen, und bemerkte, daß es ihm seit seiner Heirat noch nie passiert sei. So blieben Gervaise und die beiden Schwestern mit dem schlafenden Coupeau zurück; sie machten es sich um den Ofen herum bequem, auf dem sie sich den Kaffee heiß hielten. Da saßen sie eingewickelt und zusammengekauert, mit den Händen unter ihren Schürzen und den Nasen über dem Feuer. Madame Lorilleux jammerte: sie hatte kein schwarzes Kleid und wollte gern vermeiden, sich eins zu kaufen, denn sie waren jetzt sehr knapp, sehr knapp; sie fragte Gervaise, ob von Mama Coupeau nicht noch der schwarze Unterrock da sei, den sie zu ihrem Namenstage geschenkt bekommen habe. Gervaise mußte den Rock holen. Wenn man in den Gurt eine Falte legte, konnte es gehen. Aber Madame Lorilleux wollte auch die Wäsche, sprach vom Bett, vom Schrank und den beiden Stühlen; sie suchte überall mit den Augen umher, ob da nicht noch alter Krimskrams war, der geteilt werden mußte. Beinahe hätten sie sich gezankt. Aber Madame Lerat hielt den Frieden aufrecht, sie war nicht so ungerecht: die Coupeaus hatten die Last von der Mutter gehabt, deshalb hatten sie auch die paar Lumpen, die blieben, ehrlich verdient. So kauerten sich alle drei wieder um den Ofen herum, wo ihre Stimmen eintönig murmelten. Die Nacht kam ihnen sehr lang vor. Von Zeit zu Zeit rührten sie sich, um sich Kaffee einzuschenken und den Kopf durch die Tür des Kabinetts zu stecken, wo das Licht, das nicht geschnäuzt werden durfte, mit roter, trauriger Flamme brannte, die durch die lange, verkohlte Schnuppe noch vergrößert war. Gegen Morgen zitterten sie vor Unbehagen, obgleich der Ofen noch sehr heiß war. Eine Angst und Schlaffheit, die wohl daher kam, daß sie zuviel gesprochen hatten, überkam sie, ihre Zungen waren trocken, und die Augen schmerzten sie. Madame Lerat warf sich auf Lantiers Bett und schnarchte bald wie ein Mann, während die beiden anderen, denen die Köpfe auf die Knie niedergesunken waren, dort vor dem Feuer einschliefen. Als es anfing Tag zu werden, wachten sie plötzlich fröstelnd auf. Mama Coupeaus Kerze war schon wieder ausgegangen. Da nun in der Dunkelheit das merkwürdige dumpfe Geräusch wieder anfing, gab Madame Lorilleux die Erklärung mit lauter Stimme, um sich selbst zu beruhigen:

»Sie leert sich aus!« wiederholte sie und steckte eine andere Kerze an.

Die Beerdigung sollte um zehneinhalb Uhr sein. Es war ein hübscher Morgen, wenn man ihn mit der vergangenen Nacht und dem gestrigen Tage verglich. Gervaise, die keinen Sou hatte, würde gern hundert Franken hergegeben haben, wenn ihr jemand Mama Coupeau drei Stunden früher weggeholt hätte. Nein! und wenn man die Leute auch noch so lieb gehabt hat, wenn sie tot sind, lasten sie schwer auf einem! Ja, je lieber man sie hatte, desto schneller möchte man von ihnen befreit sein!

Glücklicherweise ist so ein Beerdigungsmorgen voller Abwechslung. Da sind allerhand Vorbereitungen zu treffen. Zuerst frühstückte man. Dann kam der Vater Bazouge, der Leichenbesorger vom sechsten Stock, der den Sarg brachte. Er wurde nie mehr nüchtern, der brave Mann. An diesem Tage war er um acht Uhr noch ganz lustig von einem Trunk, den er am Abend zuvor getan.

»Nicht wahr? ich bin hier recht?« sagte er.

Als er aber den Sarg absetzte, blieb er mit weit aufgerissenen Augen und offenem Munde stehen, als er Gervaise vor sich bemerkte.

»Oh! bitte um Verzeihung, ich habe mich geirrt!« stotterte er. »Man hatte mir gesagt, Ihr wäret es!«

Er hatte schon den Sarg wieder aufgegriffen, und die Wäscherin mußte ihm zurufen:

»Laßt ihn nur hier, es ist schon recht!«

»Potz Donnerwetter! Sagt mir doch ordentlich Bescheid!« fing er wieder an und schlug sich auf die Hüften. »Jetzt verstehe ich erst, es ist die Alte ...«

Gervaise war ganz blaß geworden. Der Vater Bazouge hatte den Sarg für sie gebracht. Er wollte sich galant bezeigen und versuchte sich zu entschuldigen:

»Nicht wahr? Man erzählte mir gestern, daß es da ein Geschäft im Erdgeschoß gebe. Da hatte ich denn geglaubt ... Ihr wißt ja, bei unserem Geschäft gehen solche Dinge zu einem Ohr rein, zum andern wieder raus ... Aber ich mache Ihnen mein Kompliment. Wie? Je später, desto besser, obgleich das Leben auch nicht immer lustig ist, oh! nein, durchaus nicht!«

Sie hörte ihm zu und wich zurück aus Furcht, daß er sie mit seinen großen, schmutzigen Händen ergreifen und in seinen Kasten legen könne. Schon einmal, am Abend ihres Hochzeitstages, hatte er ihr gesagt, daß er Frauen kenne, die noch »Danke schön!« sagen würden, wenn er komme und sie abhole. Nun denn! so weit war sie noch nicht, es lief ihr bei dem Gedanken kalt über den Rücken. Ihr Leben war verdorben, aber so bald wollte sie denn doch noch nicht davongehen; sie zog es vor, jahrelang Hunger zu leiden, als mit einemmal ins Gras zu beißen.

»Er ist angetrunken!« murmelte sie mit dem Ausdruck des Ekels und des Schreckens. »Die Verwaltung sollte doch wenigstens keine Trunkenbolde schicken, man bezahlt ja teuer genug!«

Da wurde der Leichenbesorger gemein und unverschämt.

»Laßt nur gut sein, mein kleines Mütterchen, ich komme schon noch wieder. Ich bin ja ganz zu Euren Diensten, versteht Ihr? Ihr braucht mir nur zu winken. Ich bin ja der Tröster der Damen... Spucke du nur nicht auf den Vater Bazouge; der hat schon ganz andere, wie du bist, in seinen Armen gehalten, die sich zurecht machen ließen, ohne sich zu beklagen und sehr zufrieden waren, daß sie im kühlen Schatten ruhig weiter ihr Schläfchen machen konnten!«

»Seid ruhig, Vater Bazouge!« sagte Lorilleux streng, der bei dem lauten Ton der Stimmen herbeigekommen war. »Das sind unschickliche Späße. Wenn man sich darüber beschwerte, würdet Ihr weggejagt... Vorwärts! Macht, daß Ihr hinauskommt, wenn Ihr den Anstand nicht bewahren könnt!«

Der Leichenbesorger ging weg, aber man hörte ihn noch lange auf der Straße stottern:

»Zu was auch noch Anstand!... Es gibt keinen Anstand!... Es gibt keinen Anstand!... Es gibt nur Ehrlichkeit!«

Endlich schlug es zehn Uhr. Der Leichenwagen verspätete sich. Es waren schon Leute im Laden, Freunde und Nachbarn: Herr Madinier, Mes-Bottes, Madame Gaudron und Fräulein Remonjou. Alle Augenblicke steckte ein Mann oder eine Frau den Kopf zwischen den Flügeln der Ladentür hindurch, um zu sehen, ob der Leichenwagen noch nicht da sei. Die Familie, die im Hinterzimmer vereinigt war, drückte allen die Hände. Es wurde manchmal ganz still, bis ein hastiges Geflüster entstand; es war ein ärgerliches, fieberhaftes Warten, wo plötzlich bei heftigem Gehen die Kleider rauschten, wenn sich Madame Lorilleux in Bewegung setzte, weil sie ihr Taschentuch vergessen hatte, oder Madame Lerat aufstand, um sich ein Gebetbuch zu borgen. Jeder sah beim Kommen in der Mitte des Kabinetts vor dem Bett den offenen Sarg, und jeder blieb unwillkürlich stehen und prüfte mit einem Seitenblick die Weite des Sarges, weil es ganz unmöglich schien, daß Mama Coupeau da hineingehen sollte. Alle hatten denselben Gedanken und sahen sich daraufhin an, doch niemand sprach davon. Plötzlich vernahm man ein Stoßen an der Ladentür, und Herr Madinier kündigte mit tiefer, feierlicher Stimme an, indem er dazu eine erklärende Armbewegung machte:

»Da sind sie!«

Es war noch nicht der Leichenwagen. Vier Leichenbesorger traten einer hinter dem andern ein; sie waren sehr eilig, ihre Gesichter gerötet, ihre Hände steif vor Frost und zerarbeitet, die schwarzen Kleider, in denen sie steckten, sahen schäbig, vergilbt und blankgescheuert durch das Reiben an den Särgen aus. Der Vater Bazouge war der erste; er war sehr betrunken, aber sehr anständig; sowie er im Dienst war, fand er immer seine Haltung wieder. Sie sprachen kein Wort; mit ein wenig gesenkten Köpfen schienen sie schon mit den Augen Mama Coupeaus Gewicht zu taxieren. Das dauerte nicht lange; die arme alte Frau wurde eingepackt in der Zeit, die einer braucht, um zu niesen. Der Kleinste, ein junger Mensch, der schielte, hatte die Weizenkleie in den Sarg getan und darin verteilt, als ob er Brot backen wolle. Ein anderer, ein großer Magerer, der ein spaßhaftes Aussehen hatte, legte das Laken darauf, und dann eins, zwei, hoppla! ergriffen alle vier den Körper, hoben ihn hoch, zwei an den Füßen, zwei am Kopf. Das ging im Handumdrehen! Die Leute, die lange Hälse machten und zusahen, konnten glauben, daß Mama Coupeau selbst in den Kasten gesprungen sei. Sie war hineingeschlüpft, als ob sie da zu Hause sei; wie paßte sie dahinein, ganz genau, so genau, daß man es hörte, wie sie das neue Holz der Wände berührte! Sie stieß auf allen Seiten an, wie ein Bild im Rahmen. Aber sie war hineingegangen, was die Umstehenden gar nicht begreifen konnten; sicherlich hatte sie schon seit dem vorigen Abend abgenommen. Nun hatten sich die Leichenbesorger wieder aufgerichtet und warteten; der Kleine, der schielte, nahm den Deckel, um die Familie einzuladen, den letzten Abschied zu nehmen. Mittlerweile nahm der Vater Bazouge die Nägel in den Mund und hielt den Hammer bereit. Jetzt warfen sich Coupeau, die beiden Schwestern, Gervaise und auch andere auf die Knie und küßten Mama Coupeau, die fortging, mit heißen Tränen, deren Naß dieses kalte, eisige Antlitz netzte. Vielfaches Schluchzen wurde laut. Dann wurde der Deckel aufgelegt, der Vater Bazouge setzte die Nägel ein, er tat es mit der Gewandtheit, die die tägliche Gewohnheit gibt, zwei Schläge für jeden Nagel. Da hörte niemand mehr das Weinen bei diesem Geräusch, das die Gesellschaft an Möbelausbessern erinnerte. Es war vorüber. Man sprach wieder.

»Wie ist es nur möglich, in einem solchen Augenblick soviel Gepratsch zu machen!« sagte Madame Lorilleux zu ihrem Mann, als sie den Leichenwagen vor der Tür bemerkte.

Der Leichenwagen brachte das ganze Quartier in Aufregung. Die Kaldaunenhändlerin rief die Ladenburschen des Kaufmanns, der kleine Uhrmacher war auf die Straße gekommen, die Nachbarn lehnten in den Fenstern. Sie alle sprachen von der Borte mit den weißen, baumwollenen Fransen. Die Coupeaus hätten auch besser daran getan, ihre Schulden zu bezahlen! Aber wie die Lorilleux' sagten: wenn man Stolz hat, so kommt es überall zum Vorschein, selbst bei solchem Anlaß.

»Es ist schändlich«, wiederholte in demselben Augenblick Gervaise, die von den Lorilleux' sprach. »Man soll sagen, daß diese Geizhälse nicht einmal einen Veilchenstrauß für ihre Mutter mitgebracht haben!«

Wirklich waren die Lorilleux' mit leeren Händen gekommen. Madame Lerat hatte einen Kranz von künstlichen Blumen gegeben. Man legte noch einen Immortellenkranz und ein von den Coupeaus gekauftes Bukett auf den Sarg. Die Leichenbesorger hatten recht fest anpacken müssen, um den Sarg hochzuheben und auf die Schultern zu laden. Es dauerte lange, ehe das Gefolge sich ordnete. Coupeau und Lorilleux, beide in schwarzen Röcken, mit den Hüten in der Hand, führten den Zug an; der erstere, dem zwei Gläser weißer Wein, die er am Morgen getrunken hatte, seine Rührung bewahrten, stützte sich auf den Arm seines Schwagers, weil seine Beine schlaff waren und es ihm nicht recht im Kopf zumute war. Dann kamen die Männer, Herr Madinier, sehr würdig ganz in Schwarz, Mes-Bottes, einen Paletot über seiner Bluse, Boches gelbes Beinkleid war unten schon ausgefranst, dann folgten Lantier, Gaudron, Bibi-la-Grillade, Poisson und andere. Hierauf kamen die Damen, in erster Linie Madame Lorilleux, die den eingenähten Unterrock der Toten schleppte, Madame Lerat, die unter einem schwarzen Tuch eine mit Fliederblüten bedruckte Taille verbarg, dann folgten Virginie, Madame Gaudron, Madame Fauconnier, und Fräulein Remanjou bildete den Schluß des Zuges. Als der Leichenwagen sich in Bewegung setzte und langsam die Straßen hinabrollte, inmitten der Leute, die stillstehend ihre Hüte lüfteten und sich bekreuzten, setzten sich die vier Leichenbesorger an die Spitze, zwei nahmen die Tote, und zwei gingen rechts und links. Gervaise war zurückgeblieben, um den Laden zu schließen. Sie gab Nana an Madame Boche und lief hinterher, um den Zug noch zu erreichen, während die Kleine, die die Pförtnersfrau festhielt, mit großem Interesse ihre Großmutter in einem so schönen Wagen am Ende der Straße verschwinden sah. Gerade als die Wäscherin außer Atem den Zug erreichte, trat Goujet von der andern Seite herzu; aber er wandte sich von ihr und grüßte sie nur mit einem Kopfnicken, er tat es so sanft, daß sie sich aufs neue sehr unglücklich fühlte und ihre Tränen wiederum zu fließen begannen. Sie beweinte jetzt nicht nur Mama Coupeau, sie weinte jetzt über etwas Abscheuliches, das sie nicht hätte aussprechen können, und das sie erstickte. Während des ganzen Weges hielt sie ihr Taschentuch an die Augen gepreßt. Madame Lorilleux, deren trockene Backen glühten, sah sie von der Seite an, als ob sie sie beschuldigen wolle, daß sie sich verstelle.

In der Kirche war die Feierlichkeit schnell beendigt. Nur die Messe verzögerte sich ein wenig, weil der Priester sehr alt war. Mes-Bottes und Bibi-la-Grillade hatten es vorgezogen, draußen zu bleiben, ihnen war der Klingelbeutel unbequem. Herr Madinier, der immer die Priester studierte, teilte Lantier seine Beobachtungen mit: wenn diese Faxenmacher da ihr Latein von sich gaben, so wußten sie selbst nicht einmal, was ihnen da aus dem Munde kam; die begruben ebenso, wie sie tauften oder verheirateten, ohne die geringste Empfindung in der Brust. Dann tadelte Herr Madinier diese Menge von Förmlichkeiten, die Kerzen, die traurigen Gesänge, daß man so etwas vor den Familien so breit trat. Wahrlich, so verlor man seine Angehörigen zweimal, zu Hause und in der Kirche. Alle Männer gaben ihm recht; denn es war noch ein sehr peinlicher Augenblick, wenn nach beendigter Messe die Gebete gesprochen werden mußten und die Leidtragenden an der Leiche vorüberzogen und Weihwässer darauf sprengten. Glücklicherweise war der Kirchhof nicht weit; es war der kleine Kirchhof von La Chapelle, ein Stückchen Garten, das von der Mercadet-Straße seinen Eingang hatte. Der Zug kam dort ohne Ordnung und mit den Füßen stampfend an, jeder sprach von seinen Geschäften. Der hartgefrorene Boden dröhnte, so daß man gern mit den Sohlen darauf trappte. Das offene Erdloch, neben das man den Sarg gesetzt hatte, war an den Rändern ganz gefroren und der ausgeworfene Boden war hell und steinig wie grober Mörtel; die Leidtragenden, die um den Erdhügel herumstanden, dachten nicht daran, wie sonderbar es sei, daß man sie in der Kälte da warten ließ, denn der Anblick des gähnenden Loches betäubte sie. Endlich kam ein Priester in einer Soutane aus dem kleinen Häuschen, er zitterte vor Kälte und man sah bei jedem »de profundis«, das er aussprach, seinen Hauch in der Luft. Beim letzten Kreuzeszeichen ging er davon; er hatte gewiß keine Lust, wieder von vorn anzufangen. Der Totengräber nahm seinen Spaten; da aber der Boden gefroren war, so lösten sich nur große, harte Stücke ab, die da beim Herunterfallen eine merkwürdige Musik machten; es war ein wahres Bombardement auf den Sarg, eine Reihe von Kanonenschlägen, so daß man glauben konnte, der Sargdeckel müsse bersten. Wenn man auch ein noch so großer Egoist ist, diese Musik fällt einem doch auf den Magen. Die Tränen fingen wieder an zu fließen. Als sie weggingen und schon draußen waren, hörten sie immer noch das dumpfe Rollen. Mes-Bottes, der sich in die Finger blies, machte ganz laut eine Bemerkung: Beim heiligen Donnerwetter! Nein! Der armen Mama Coupeau wird wohl nicht allzu warm sein!

»Meine Damen und Herren,« sagte der Zinkarbeiter zu den Freunden, die da noch mit der Familie geblieben waren, »wenn Sie uns erlauben wollten, Ihnen noch eine Kleinigkeit anzubieten ...«

Er war der erste, der bei einem Weinwirt in der Mercadetstraße eintrat, bei der Kirchhofsausspannung. Gervaise war auf der Straße geblieben und rief Goujet, der fortgehen wollte, nachdem er sie noch einmal mit einem Kopfnicken gegrüßt hatte. Warum wolle er nicht ein Glas Wein annehmen? Aber er hatte Eile, er mußte in die Werkstatt zurückkehren. Sie blickten einander einen Augenblick, ohne zu sprechen, an.

»Ich bitte Euch um Verzeihung wegen der sechzig Franken«, murmelte endlich die Wäscherin. »Ich war wie unsinnig, da dachte ich an Euch ...«

»Das ist ja nicht der Rede wert, daran denke ich ja gar nicht mehr«, unterbrach sie der Schmied. »Ihr wißt ja, ich bin stets zu Euren Diensten, wenn Euch ein Unglück geschieht ... Sagt aber nichts meiner Mutter, die hat ihre eigenen Gedanken über solche Dinge, und ich möchte ihr keinen Kummer bereiten.«

Sie blickte immer noch zu ihm auf; und wie sie ihn so gut und so traurig mit seinem schönen blonden Bart sah, war sie drauf und dran, seinen alten Vorschlag anzunehmen und mit ihm irgendwo hinzugehen und dort glücklich zu sein. Dann hatte sie einen andern schlechten Gedanken, sie wollte sich die beiden Mietsraten von ihm borgen, es koste, was es wolle. Sie zitterte, und hub mit schmeichelnder Stimme wieder an:

»Wir sind doch nicht mehr böse miteinander?«

Er schüttelte mit dem Kopf und antwortete:

»Nein, gewiß nicht, wir werden niemals böse miteinander sein ... Nur, Ihr wißt doch, zwischen uns ist alles aus.«

Darauf ging er mit großen Schritten davon und ließ Gervaise betäubt zurück, weil ihr seine letzten Worte wie die Töne einer Glocke vor den Ohren hallten. Als sie bei dem Weinwirt eintrat, hörte sie dumpf in ihrem Innern: »Alles ist aus, nun ja! Alles ist aus, nun ja! Was habe ich denn noch zu tun, wenn alles aus ist?« Sie setzte sich nieder, schlang einen Bissen Brot und Käse herunter und leerte ein Glas Wein, das sie vor sich stehen sah.

Der Raum lag zu ebener Erde, es war ein langer Saal mit niedriger Decke, den zwei große Tische beinahe ausfüllten. Einige Liter, Stücke Brot und breite Schnitten Briekäse auf drei Tellern waren der Reihe nach aufgestellt. Die Gesellschaft aß aus der Hand ohne Teller und ohne Servietten. Weiterhin nahe bei dem pustenden Ofen beendeten die vier Leichenbesorger ihr Frühstück.

»Mein Gott!« erklärte Herr Madinier, »jeder kommt an die Reihe. Die Alten machen den Jungen Platz ... Das wird Euch zu Hause ganz leer vorkommen, wenn Ihr zurückkommt.«

»Mein Bruder zieht aus«, sagte sehr lebhaft Madame Lorilleux. »Das ist ja der reine Ruin, der Laden.«

Man hatte Coupeau bearbeitet. Alle drängten ihn dazu, den Vertrag abzutreten. Selbst Madame Lerat, die in letzter Zeit sehr befreundet mit Lantier und Virginie war, weil der Gedanke, daß beide ineinander verliebt sein könnten, sie kitzelte, sprach von Konkurs und Gefängnis, wobei sie ein sehr erschrecktes Gesicht schnitt. Ganz plötzlich wurde der Zinkarbeiter böse; seine Traurigkeit, die er nun schon allzu reichlich begossen hatte, verwandelte sich in Wut.

»Höre mal,« schrie er und trat dicht an seine Frau heran, »ich will, daß du mir gehorchst! Dein harter Schädel tut immer nur, was er will. Aber diesmal werde ich meinen Willen durchsetzen, das sage ich dir.«

»Jawohl!« sagte Lantier, »als ob bei der mit Vernunftgründen etwas auszurichten wäre! Dazu gehörte ein Hammer, um der was in den Schädel einzupauken.«

Jetzt fielen beide über sie her. Bei alledem kauten sie rüstig weiter. Der Käse wurde ganz aufgezehrt, der Wein floß wie aus dem Brunnen. Gervaise wurde weich durch alles Zureden. Sie gab keine Antwort mehr, dabei stopfte sie sich immer den Mund voll und beeilte sich so, als ob sie den größten Hunger habe. Als sie nachließen, hob sie sanft den Kopf auf und sagte:

»Laßt es gut sein! Ich mache mir den Teufel was aus dem Laden! Ich will ihn nicht mehr haben ... Versteht Ihr wohl, laßt mich zufrieden! Alles ist aus!«

Jetzt wurde noch einmal Käse und Brot bestellt, und man besprach die Sache ernsthaft. Die Poissons traten in den Vertrag ein und erboten sich, die beiden rückständigen Mieten zu zahlen. Übrigens nahm Boche im Namen des Wirtes dieses Übereinkommen an. Er vermietete sogar auf der Stelle eine leere Wohnung im sechsten Stock auf dem Flur der Lorilleux an Coupeau. Lantier, mein Gott, wolle gern sein Zimmer behalten, wenn es die Poissons nicht geniere. Der Stadtsergeant verbeugte sich, es geniere ihn nicht im geringsten; unter Freunden verständige man sich ja immer, selbst wenn die Ansichten über Politik nicht übereinstimmen. Da kümmerte sich Lantier nicht weiter um die Abtretung des Vertrages, wie ein Mann, der sein kleines Geschäft ins reine gebracht hat, und den das übrige nichts mehr angeht; er machte sich eine ungeheure Käsestulle fertig, dann lehnte er sich zurück und aß mit bescheidener Miene, wobei er sich zu verbergen bemühte, wie ihm vor Freude das Blut in die Backen schoß; dabei winkte er heimlich bald Gervaise, bald Virginie mit den Augen zu.

»Heda! Vater Bazouge!« rief Coupeau, »kommt doch näher und trinkt einen Schluck. Wir sind nicht stolz, wir sind ja auch nur Arbeiter.«

Die vier Leichenbesorger, die schon fortgehen wollten, kamen zurück und stießen mit der Gesellschaft an. Man konnte ja niemandem einen Vorwurf daraus machen, aber die Dame von vorhin wog hübsch schwer und war wohl ein Glas Wein wert. Der Vater Bazouge sah Gervaise gerade an, ohne ein unpassendes Wort zu sprechen. Dennoch stand sie auf, ihr war es unbehaglich; sie verließ die Männer, welche fortfuhren, sich einen Rausch anzutrinken. Coupeau war so betrunken wie eine Wachtel und fing schon wieder zu schluchzen an; er sagte, es sei vor Kummer.

Als Gervaise am Abend allein zu Hause war, sank sie stumpf in einen Stuhl. Es kam ihr so vor, als ob die Räume ungeheuer groß und verlassen seien. Wahrlich, das hatte gut aufgeräumt. Aber sicherlich, sie hatte nicht nur Mama Coupeau da unten in der Grube des kleinen Gartens der Mercadetstraße gelassen. Es fehlte ihr zuviel, da mußte ein Stück von ihrem Leben geblieben sein: ihr Laden, ihr Stolz als Arbeitgeberin, – und wie viele Empfindungen noch hatte sie an diesem Tage mitbegraben. Ja, die Wände waren kahl, ihr Herz war es nicht minder; es war ein vollständiger Umzug, ein Heruntersinken in den Rinnstein. Für den Augenblick fühlte sie sich zu schlaff, sie würde sich später wieder aufraffen, wenn sie könnte.

Um zehn Uhr beim Ausziehen weinte Nana und trampelte mit den Füßen. Sie wollte durchaus in Mama Coupeaus Bett schlafen. Ihre Mutter versuchte es, sie graulich zu machen, aber die Kleine war schon zu frühreif, die Toten erregten bei ihr nur eine große Neugierde; so daß man ihr schließlich gestattete, sich auf Mama Coupeaus Lagerstätte auszustrecken. Diese Dirne liebte die großen Betten, sie streckte sich und warf sich darin herum. In dieser Nacht schlief sie ganz ausgezeichnet in der schönen Wärme und dem weichen Kitzel des Federunterbettes.


 << zurück weiter >>