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Achtes Kapitel

Am nächsten Sonnabend brachte Coupeau, der zum Mittagessen nicht nach Hause gekommen war, gegen zehn Uhr Lantier mit. Sie hatten bei Thomas am Montmartre zusammen Kalbsfüße gegessen.

»Du mußt nicht böse sein, Mutter!« sagte der Zinkarbeiter. »Wir waren ganz vernünftig, wie du siehst ... Wenn ich mit ihm zusammen bin, hat es keine Not. Der paßt schon auf, daß ich nicht über die Stränge schlage!«

Er erzählte nun, wie sie sich in der Rochechouartstraße getroffen hatten. Nach dem Essen hatte Coupeau vorgeschlagen, daß er in der »Schwarzen Kugel« etwas geben wollte, aber Lantier hatte es rund abgeschlagen; er sagte, wenn man mit einer hübschen, ehrbaren Frau verheiratet sei, so sei es unschicklich, sich in allen Kneipen und Tanzlokalen herumzutreiben. Gervaise hörte diese Geschichte mit leise lächelnder Miene an. Es fiel ihr gar nicht ein, böse zu sein, dazu fühlte sie sich viel zu unbehaglich. Seit dem Feste hatte sie sich wohl schon darauf gefaßt gemacht, ihren alten Liebhaber an einem oder dem anderen Tage wiederzusehen; aber heute zu so später Stunde, wo man eben im Begriff war, zu Bette zu gehen, hatte sie das plötzliche Eintreten der beiden Männer überrascht, und mit zitternden Händen befestigte sie wieder ihren Zopf, der ihr auf den Nacken gerutscht war.

»Du begreifst wohl,« fing Coupeau wieder an, »da er so zartfühlend war und in einer Schenke von mir nichts annehmen wollte, daß du uns jetzt einen Trunk vorsetzen mußt ... Ich dächte, das wärst du uns schuldig!«

Die Arbeiterinnen waren schon lange fortgegangen, Mama Coupeau und Nana hatten sich eben zu Bette gelegt. Gervaise, die schon einen Flügel der Ladentüre in der Hand hatte und schließen wollte, als sie kamen, ließ jetzt den Laden offen und brachte auf eine Ecke des großen Arbeitstisches Gläser und den Rest einer Flasche Kognak. Lantier setzte sich nicht und vermied es, mit ihr zu sprechen. Nur als sie ihm eingoß, rief er:

»Nur einen Tropfen, Madame, wenn ich bitten darf!«

Coupeau beobachtete sie und erklärte sich sehr unumwunden. Sie würden doch hier nicht etwa die Blöden spielen! Was vorbei ist, ist vorbei, nicht wahr? Wenn man nach neun oder zehn Jahren immer noch Haß gegeneinander hegen wolle, so werde man schließlich dahin kommen, mit niemandem zu verkehren. Nein, nein, er sei ein Mensch, der jedermann wohlwolle! Und dann wisse er auch, mit wem er es zu tun habe, mit einer braven Frau und mit einem Ehrenmanne, kurz: mit zwei Freunden! Er sei ruhig, denn er kenne ihre Ehrenhaftigkeit.

»Oh, sicherlich ... sicherlich ...« meinte Gervaise mit gesenkten Augenlidern, ohne recht zu wissen, was sie sagte.

»Ich betrachte sie jetzt wie meine Schwester, nicht anders«, meinte Lantier seinerseits.

»Gebt euch in Gottes Namen die Hände!« rief Coupeau. »Wir kümmern uns den Teufel was um die Kuponabschneider! Wenn man Grütze im Schädel hat, seht ihr wohl, ist man mehr wert als alle Millionäre. Ich für meine Person stelle die Freundschaft am höchsten, weil die Freundschaft eben die Freundschaft ist und nichts darüber geht.«

Er gab sich heftige Faustschläge auf den Magen und war so aufgeregt, daß sie ihn beruhigen mußten. So tranken sie nun alle drei, stillschweigend miteinander anstoßend, ihren Schnaps. Jetzt konnte Gervaise Lantier nach Gefallen betrachten, denn an dem Abend ihres Festes war ihr alles wie im Nebel erschienen. Er war dicker geworden, fett und rund, die Arme und Beine schienen wegen seiner kleinen Gestalt sehr schwer zu sein. Aber in seinem Gesicht hatten sich trotz der Aufgedunsenheit infolge seines nichtstuerischen Lebens noch hübsche Züge erhalten, und da er seinen kleinen Schnurrbart noch immer sehr sorgfältig pflegte, erschien er nicht älter, als er war, gerade fünfunddreißig Jahre. An diesem Tage trug er ein graues Beinkleid und einen blauen Überzieher wie ein Herr, seine Kopfbedeckung war ein runder Hut; er hatte selbst eine Uhr mit silberner Kette, an der ein Ring hing, wahrscheinlich ein Andenken.

»Ich muß jetzt fort, ich habe verteufelt weit nach Hause!«

Er war schon auf der Straße, als Coupeau ihn zurückrief und ihm das Versprechen abnahm, nicht mehr bei ihnen vorüberzugehen, ohne ein wenig mit heranzukommen. Währenddessen kam Gervaise, die plötzlich verschwunden war, zurück und stieß Etienne vor sich her, der in Hemdärmeln war und ein sehr verschlafenes Gesicht hatte. Das Kind rieb sich lächelnd die Augen. Doch als es Lantier bemerkte, blieb es verlegen und zitternd stehen, indem es unruhig fragende Blicke auf Gervaise und Coupeau richtete.

»Kennst du denn den Herrn gar nicht?« fragte dieser.

Das Kind senkte zuerst den Kopf, ohne zu verstehen. Dann nickte es, daß es den Herrn erkenne.

»Nu denn, stelle dich nicht so dumm an, geh und umarme ihn!«

Lantier saß ruhig und würdig da und erwartete ihn. Als Etienne sich endlich entschloß, näherzukommen, beugte er sich zu ihm nieder, hielt ihm beide Backen hin und gab dem Knaben selbst einen Kuß mitten auf die Stirn. Jetzt wagte dieser, seinen Vater zu betrachten. Aber plötzlich fing er heftig zu schluchzen an und lief wie ein Toller davon. Coupeau überhäufte ihn mit Scheltworten und sagte, daß er ein wahrer Wilder sei.

»Das ist die Gemütsbewegung!« sagte Gervaise, die selbst ganz blaß und erschüttert war.

»Er ist gewöhnlich sehr sanft und artig«, meinte Coupeau. »Ich habe ihn famos erzogen, Ihr werdet es noch sehen ... Seht, schon des Kleinen wegen konnte man doch nicht immer böse miteinander spielen, nicht wahr? Schon seinetwegen mußten wir das wieder schön Wetter machen, denn ich ließe mir lieber den Kopf abschneiden, als daß ich einen Vater verhindern sollte, sein Kind zu sehen!«

Danach sprach er davon, daß man recht gut die Flasche Kognak austrinken könne. Alle drei stießen aufs neue an. Lantier erstaunte über nichts, seine Ruhe war unerschütterlich. Ehe er fortging, wollte er, um dem Zinkarbeiter seine Artigkeit heimzuzahlen, durchaus ihm helfen, den Laden zuzuschließen. Als er hierauf der Reinlichkeit wegen in die Hände geschlagen hatte, wünschte er dem Ehepaare eine gute Nacht.

»Schlaft wohl! Ich will versuchen, ob ich den Omnibus noch abfassen kann ... Ich verspreche euch, bald wiederzukommen!«

Seit diesem Abend zeigte sich Lantier recht oft in der Goldtropfengasse. Er kam immer zu Zeiten, wo der Zinkarbeiter zu Hause war, fragte schon an der Tür nach seinem Befinden und tat so, als ob er überhaupt nur seinetwegen komme. Wenn er so mit dem Rücken nach dem Ladenfenster dasaß, immer im Paletot, rasiert und sorgfältig gekämmt, und dort höflich plauderte, konnte man ihn für einen Menschen halten, der eine gute Erziehung genossen hat. Mit der Zeit erfuhren die Coupeaus von ihm etwas Genaueres über sein Leben. Während der letzten acht Jahre hatte er eine kurze Zeit eine Hutfabrik geleitet. Wenn man ihn fragte, warum er sich denn zurückgezogen habe, so sprach er von der Schuftigkeit eines Gesellschafters, der ein böser Bruder, ein Schurke, das ganze Unternehmen mit Weibern durchgebracht habe. Aber sein früherer Titel eines Chefs umschwebte unsichtbar seine Person und gab ihm etwas Vornehmes, das er nicht mehr abtun konnte. Er sagte alle Augenblicke, daß er im Begriff stehe, ein ganz ausgezeichnetes Geschäft zum Abschluß zu bringen. Die ersten Hutfirmen seien im Begriff, ihm Fabriken einzurichten und ihm mit größtem Vertrauen ihre Interessen in die Hände zu legen. Inzwischen tat er nicht das Geringste, er ging mit den Händen in der Tasche in der Sonne spazieren wie ein Spießbürger. Wenn er hin und wieder einmal klagte, und man es wagte, ihm Fabriken nachzuweisen, wo Arbeiter verlangt wurden, hatte er dafür nur ein mitleidiges Lächeln; er habe keine Lust, Hungers zu sterben und sich für die anderen zu Tode zu arbeiten. Und doch lebte dieser Schlingel, wie Coupeau sagte, nicht von der Luft. Das war ein Feiner, er wußte sich durchzuhelfen! Er mußte irgendein Geschäft betreiben, denn sein Äußeres zeigte, daß es ihm gut ging; es gehörte doch Geld dazu, um immer weiße Wäsche und Krawatten wie die Söhne reicher Leute zu tragen. In Wirklichkeit verhielt sich Lantier, der über alle anderen sehr gesprächig war, sehr schweigsam über seine Person, oder er log auch in Dingen, die ihn betrafen. Er wollte nicht einmal sagen, wo er wohnte. Er wohne bei einem Freunde, weit, am Ende der Welt, bis er eine schöne Stellung gefunden habe; er verbiete es den Leuten, zu ihm zu kommen, weil er doch niemals zu Hause sei.

»Man kann ja zehn Anstellungen für eine bekommen«, setzte er oft auseinander. »Nur lohnt es nicht, in eine von diesen Butiken einzutreten, weil man doch nicht länger als vierundzwanzig Stunden da bleiben würde ... So komme ich eines schönen Montags zu Champion nach Montrouge. Am Abend ärgerte mich Champion mit der Politik; wir hatten nicht dieselben Ansichten. Nun! am Mittwoch früh gehe ich davon, denn wir leben doch heute nicht mehr in den Zeiten der Sklaverei, und ich will mich doch nicht für sieben Franken täglich verkaufen.«

Es waren damals die ersten Tage des Monats November. Lantier brachte sehr galant Veilchenbuketts mit, die er an Gervaise und die Arbeiterinnen verteilte. Nach und nach wurden seine Besuche häufiger, schließlich kam er fast täglich. Er schien das Haus, ja das ganze Quartier erobern zu wollen und begann damit, Clemence und Madame Putois zu bezaubern, denen er, ohne auf den Altersunterschied Rücksicht zu nehmen, die ausgesuchteste Artigkeit erwies. Nach einem Monat wurde er von den beiden Arbeiterinnen angebetet. Die Boches, denen er sehr schmeichelte, weil er sie in ihrer Loge besuchte, konnten nicht genug Rühmens von seiner Höflichkeit machen. Als die Lorilleux' erst erfahren hatten, wer der Herr gewesen sei, der da am Tage des Festes zum Nachtisch gekommen war, schien sie Feuer und Flamme gegen Gervaise, die es wagte, auf solche Art ihren alten Liebhaber in ihr Haus einzuführen. Als Lantier eines Tages zu ihnen hinaufging und sich ihnen damit vorstellte, daß er eine Kette für eine ihm bekannte Dame bestellte, waren sie so entzückt von seiner Unterhaltung, daß sie ihn baten, Platz zu nehmen, und über eine Stunde dort behielten; ja sie fragten sich sogar, wie es nur denkbar sei, daß ein so vornehmer Herr mit der Humpelliese zusammen hätte leben können. So war es schließlich dahin gekommen, daß jedermann die Besuche des Hutmachers bei den Coupeaus ganz natürlich fand; auf diese Weise hatte er es verstanden, sich bei der ganzen Goldtropfengasse in Gunst zu setzen. Nur Goujet blieb finster. Wenn er da war und der andere kam, so nahm er sogleich die Tür in die Hand, damit er nicht nötig habe, die Bekanntschaft dieses Herrn zu machen.

Trotz der allgemeinen Zärtlichkeit für Lantier lebte Gervaise in den ersten Wochen in einer großen Erregung. Sie empfand auf der Herzgrube dieses Brennen, das sie zum erstenmal bei den vertraulichen Mitteilungen von Virginie gespürt hatte. Ihre Hauptfurcht bestand darin, daß sie ihm gegenüber machtlos sei, wenn er sie eines Abends allein antreffe und sich einfallen lasse, sie zu küssen. Sie dachte zuviel an ihn, er hatte ihr zuviel Kummer bereitet. Aber sie beruhigte sich mit der Zeit, da sie ihn so vernünftig fand; er blickte ihr nicht gerade in die Augen und berührte sie nie auch nur mit einer Fingerspitze. Virginie, die sie ganz zu durchschauen schien, machte ihr über ihre bösen Gedanken Vorwürfe. Weshalb zittere sie denn? Könne man denn einen rücksichtsvolleren Menschen finden? Sicher habe sie von ihm nichts zu fürchten. Die große Brünette ruhte eines Tages nicht eher, als bis sie beide in eine Ecke hineingebracht hatte und eine Unterhaltung über die Gefühle in den Gang kam. Lantier erklärte mit gewichtiger Stimme und in gewählten Ausdrücken, daß sein Herz tot sei, daß er sich aber nichtsdestoweniger nur dem Glück seines Sohnes widmen wolle. Er sprach nie von Claude, der immer noch im Süden war. Er küßte Etienne jeden Abend auf die Stirn, wußte aber nicht, was er mit ihm sprechen sollte, wenn das Kind dort blieb, und vergaß es schnell, um Clemence Artigkeiten zu sagen. Gervaise, die nun ganz beruhigt war, fühlte die Vergangenheit in sich ersterben. Die Gegenwart von Lantier verwischte ihre Erinnerungen an Plassans und an das Hotel »Zum guten Herzen«. Da sie ihn täglich sah, so träumte sie nicht mehr von ihm. Es stellte sich bei ihr sogar ein gewisser Abscheu vor ihren früheren Beziehungen ein. Das war jetzt gründlich aus. Wenn er es wagen sollte, so etwas von ihr zu verlangen, würde sie ihm mit ein paar Ohrfeigen antworten, oder besser noch, sie würde es ihrem Mann sagen. Oft gedachte sie dabei immer wieder ohne Reue, doch mit sanfter Innigkeit an die treue Freundschaft Goujets.

Eines Morgens erzählte Clemence, als sie nach dem Atelier kam, daß sie am Abend zuvor gegen elf Uhr Herrn Lantier mit einer Dame am Arm getroffen habe. Sie erzählte es in ihrer rohen Weise in der boshaften Absicht zu sehen, was wohl Gervaise dazu für ein Gesicht mache. Ja, ja, Herr Lantier sei die Liebfrauenstraße hinaufgegangen; die Frau sei blond gewesen, eine jener Boulevardnymphen, halb krepiert und kein Hemd unter dem Seidenkleide. Zum Spaß sei sie dem Paare gefolgt. Die Nymphe sei zuerst in einen Fleischladen gegangen und habe dort Krabben und Schinken gekauft. In der Rochefoucauldstraße habe Herr Lantier auf dem Bürgersteig gewartet, bis die Kleine ihm vom Fenster aus ein Zeichen gemacht habe, dann sei er hinaufgegangen. Clemence konnte noch soviel gemeine Erläuterungen hinzufügen, Gervaise plättete ruhig an ihrem weißen Kleide weiter. Hin und wieder lockte die Geschichte ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen. Die Provenzalen sind alle hinter den Weibern her, sie müssen um jeden Preis eine haben, und wenn sie sie selbst von einem Haufen Unrat auflesen sollten. Als am Abend der Hutmacher kam, belustigte sie sich sehr über Clemences Neckereien, die ihn fortwährend mit seiner Blonden aufzog. Übrigens schien es ihm zu schmeicheln, daß er gesehen worden war. Mein Gott! Es war eine alte Freundin von ihm, die er hin und wieder besuchte, wenn es sich gerade so machte. Es sei übrigens ein Mädchen, dem es gut gehe und das sich sehr geschmackvoll kleide; sie wohne bei Mahagonimöbeln. Dann nannte er ihre Liebhaber, einen Vicomte, einen Großhändler in Porzellan und den Sohn eines Notars. Er liebe Frauen, die Parfüms gebrauchen. Gerade hielt er Clemence sein Taschentuch unter die Nase, das ihm die Kleine gestern parfümiert hatte, als plötzlich Etienne hereinkam. Sogleich nahm er eine ernste Miene an, küßte den Knaben und sagte, daß solche Scherze ohne Folgen seien, denn sein Herz sei ja doch tot. Gervaise, die über ihre Arbeit gebeugt dasaß, nickte beistimmend mit dem Kopfe. Clemence allein erntete jetzt die Früchte ihrer Bosheit, denn sie hatte wohl gefühlt, wie sie Lantier, ohne sich etwas merken zu lassen, schon zwei- oder dreimal gekniffen hatte; jetzt starb sie vor Eifersucht und Neid, daß sie nicht ebenso nach Moschus stank, wie die Nymphe von den Boulevards.

Als der Frühling kam, sprach Lantier, der jetzt schon ganz und gar zur Familie gehörte, davon, in das Quartier zu ziehen, um seinen Freunden näher zu sein. Er suchte ein möbliertes Zimmer in einem sauberen Hause. Madame Boche und selbst Gervaise gaben sich alle erdenkliche Mühe, etwas zu finden. Sie durchsuchten alle benachbarten Straßen. Aber er war zu schwer zu befriedigen: er wünschte einen großen Hof, eine Wohnung zu ebener Erde, kurz alle nur denkbaren Annehmlichkeiten. Jeden Abend, wenn er jetzt bei den Coupeaus saß, schien er dort die Höhe der Zimmer zu messen, ihre Einteilung zu studieren, als ob er eine ähnliche Wohnung für sich wünsche. Mehr verlange er ja nicht, er werde sich gern an irgendeinem ruhigen, warmen Ort ein Loch machen und da unterkriechen. Er beendete jedesmal seine Untersuchung mit diesem Satz:

»Donnerwetter! Ihr sitzt hier wirklich ganz famos!«

Als er eines Abends dort gegessen hatte und wieder beim Nachtisch seinen ewigen Satz losließ, schrie Coupeau, der ihn jetzt duzte, plötzlich:

»Du mußt hier bleiben, mein alter Junge, wenn dein Herz dich herzieht ... Wir werden uns schon einrichten.«

Er setzte auseinander, daß das Zimmer für die schmutzige Wäsche, wenn man es rein mache, ein sehr hübsches Zimmer sei. Etienne könne auf Matratzen im Laden schlafen, dann sei alles gemacht.

»Nein, nein!« sagte Lantier. »Das kann ich nicht annehmen! Da würde ich euch lästig fallen! Ich weiß wohl, daß ihr mir das Anerbieten aus gutem Herzen macht, aber wir würden einer dem andern zu dicht auf der Pelle sitzen ... Und dann, ihr wißt wohl, jeder muß seine Freiheit haben. Ich müßte durch euer Zimmer gehen, und das wäre doch nicht immer passend!«

»Dieser Schlingel!« sagte der Zinkarbeiter, der beinahe vor Lachen erstickte und auf den Tisch schlug, um die Kehle wieder frei zu machen, »er denkt doch immer an Nichtsnutzigkeiten! ... Aber du Schlauberger! Da muß man eben etwas suchen! Nicht wahr? Da sind zwei Fenster in dem Zimmer. Nun gut, man bricht eins bis zum Fußboden durch und macht eine Tür daraus. Dann, mein Junge, hast du deinen Eingang vom Hof, verstehst du? Wir können ja sogar die Verbindungstür verstellen, wenn uns das besser paßt. Dann sieht und hört man nichts voneinander, du hast deine Wohnung für dich und wir unsere für uns!«

Es entstand ein Stillschweigen. Endlich murmelte Lantier:

»Ja gewiß! Auf diese Art läßt sich nichts dagegen sagen ... Aber nein; ich würde euch allzuviel auf dem Halse liegen.«

Er vermied es, Gervaise anzusehen. Aber er erwartete von ihr ein aufmunterndes Wort, um anzunehmen. Diese war durch den Gedanken ihres Mannes sehr unangenehm überrascht. Es war nicht der Gedanke, Lantier bei sich wohnen zu haben, der sie besonders verletzte oder beunruhigte, sie fragte sich nur, wo sie mit der schmutzigen Wäsche bleiben solle. Da betonte der Zinkarbeiter die Vorteile des Übereinkommens. Die Miete von fünfhundert Franken war immer ein wenig hoch gewesen. Nun gut! Der Kamerad werde ihnen für das möblierte Zimmer zwanzig Franken monatlich zahlen; das sei für ihn nicht zuviel und gebe doch zum Quartalstag eine schöne Hilfe. Er fügte hinzu, daß er es auf sich nehme, unter ihrem Bett einen großen Kasten anzubringen, der die schmutzige Wäsche des ganzen Quartiers aufnehmen könne. Gervaise zögerte noch immer und schien mit einem Blick Mama Coupeau zu befragen, deren Eroberung Lantier schon seit Monaten dadurch gemacht hatte, daß er ihr Schachteln mit Gummibonbons gegen ihren Husten mitbrachte.

»Ihr würdet uns sicher keine Unbequemlichkeiten machen!« sagte sie schließlich. »Man wird immer Mittel finden, sich einzurichten ...«

»Nein, nein! ich danke wirklich!« sagte der Hutmacher. »Ihr seid zu liebenswürdig, um Mißbrauch mit eurer Güte zu treiben!«

Da brach Coupeau los. Ob er sich denn noch länger nötigen lassen wolle? Wenn man ihm doch sage, daß man es aufrichtig meine! Er tue ihnen einen Gefallen, so liege die Sache! Dann heulte er mit wütender Stimme:

»Etienne! Etienne!«

Der Knabe war am Tische eingeschlafen und hob plötzlich den Kopf auf.

»Höre 'mal, sage du ihm, daß du es willst ... Ja, ja! Diesem Herrn da ... Sage es ihm recht deutlich: Ich will es!«

»Ich will es!« stotterte der Knabe, der so verschlafen war, daß er kaum den Mund aufmachen konnte.

Alle lachten. Aber Lantier nahm bald seine würdige Miene wieder an. Er schüttelte Coupeau über den Tisch die Hand und sagte:

»Ich nehme es an... Es ist aus Freundschaft geboten und genommen von beiden Seiten, nicht wahr? Ich nehme es des Kindes wegen an!«

Als am nächsten Morgen Herr Marescot gekommen war, um seine Stunde bei den Boches zu verbringen, sprach ihm Gervaise von der Sache. Er zeigte sich zuerst beunruhigt, lehnte ab und wurde böse, als ob man von ihm verlangt habe, daß er einen ganzen Flügel seines Hauses habe niederreißen sollen. Als er dann eine eingehende Besichtigung des Ortes vorgenommen und sich überzeugt hatte, daß die oberen Etagen noch genügend gestützt seien, gab er schließlich unter der Bedingung seine Einwilligung, daß ihm nicht die geringsten Kosten aus der Sache erwüchsen und ihm überdies die Coupeaus noch ein Schriftstück darüber ausfertigten, daß sie bei Ablauf ihres Kontraktes den jetzigen Zustand wieder herstellen würden. Noch am selben Abend brachte der Zinkarbeiter ein paar Kameraden mit, einen Maurer, einen Tischler und einen Anstreicher, lauter gute Kerle, die die Lumperei nach Feierabend aus guter Freundschaft machen wollten. Das Einsetzen der neuen Tür und die Instandsetzung des Zimmers kostete gegen hundert Franken, ungerechnet all die Liter, mit denen die Arbeit begossen wurde. Der Zinkarbeiter sagte seinen Kameraden, daß er ihnen alles später bezahlen werde, nämlich mit dem Mietsgelde seines neuen Hausgenossen. Alsdann handelte es sich darum, wie das Zimmer möbliert werden sollte. Gervaise ließ den Schrank von Mama Coupeau darin, dann stellte sie einen Tisch und zwei Stühle hinein, die sie ihrem eigenen Zimmer entnahm; sie mußte noch einen Waschtisch und ein Bett mit allem Zubehör kaufen, das war im ganzen eine Angelegenheit von hundertunddreißig Franken, die sie in monatlichen Raten von zehn Franken abzahlen sollte. So waren auf ungefähr zehn Monate die zwanzig Franken Lantiers schon im voraus verausgabt durch die Schulden, in die sie sich gestürzt hatten, später werde man einen schönen Nutzen haben!

In den ersten Tagen des Monats Juni fand der Umzug des Hutmachers statt. Die Alte, Mama Coupeau, hatte sich erboten, mit ihm zu gehen, um seinen Koffer zu holen, da er dann die dreißig Sous für die Droschke sparen werde. Aber Lantier blieb sehr bekniffen und sagte, sein Koffer sei zu schwer, als ob er noch bis zum letzten Augenblick seinen früheren Wohnort habe geheim halten wollen. Er kam am Nachmittag gegen drei Uhr an. Coupeau war nicht da. Als Gervaise von der Ladentür aus den Koffer auf der Droschke wiedererkannte, wurde sie ganz blaß. Das war ihr alter Koffer, mit dem sie die Reise von Plassans gemacht hatten, heute war er ganz verbraucht und zerbrochen und wurde nur notdürftig durch Stricke zusammengehalten, die darum geschnürt waren. So sah sie ihn wiederkommen, wie sie es so oft geträumt hatte; sie konnte sich einbilden, es sei dieselbe Droschke, in der damals die Dirne, die Adele, mit ihm davongefahren war und die ihn jetzt wieder zu ihr führte. Boche war Lantier beim Abladen behilflich. Die Wäscherin folgte ihnen schweigend und ein wenig betäubt. Als die Männer ihre Last mitten im Zimmer niedergesetzt hatten, sagte sie, um doch etwas zu sprechen:

»So haben wir das Geschäft in Ordnung.«

Als sie sah, daß Lantier, der damit beschäftigt war, die Stricke loszubinden, sich nicht einmal nach ihr umsah, fügte sie hinzu:

»Nicht wahr, Herr Boche, Ihr trinkt einen Schluck Wein.«

So ging sie und holte einen Liter und Gläser. Gerade jetzt ging Poisson in Uniform vorüber. Sie machte ihm ein Zeichen mit den Augen und lächelte dabei. Der Stadtsergeant hatte sogleich verstanden, um was es sich handelte. Wenn er im Dienst war und man ihm mit den Augen zuzwinkerte, so hieß es soviel, daß man ihm ein Glas Wein anbot. Oft ging er stundenlang vor dem Wäscheladen auf und ab und wartete auf das Zeichen. Dann ging er, um nicht gesehen zu werden, über den Hof und trank heimlich sein Glas aus.

»Ah! ah!« sagte Lantier, »Ihr seid es, Badinguet!« Anmerk. des Übersetzers: Badinguet war der Name des Maurers, in dessen Bluse Napoleon von Hamm entfloh, und wurde später als Spitzname Napoleon III. im Volke sehr gebräuchlich. Er nannte ihn aus Unsinn immer Badinguet, um ihn mit seiner treuen, kaiserlichen Gesinnung zu verhöhnen. Poisson nahm es mit seiner verschlossenen Miene immer ruhig hin, ohne daß man ergründen konnte, ob er sich innerlich darüber ärgere oder nicht. Diese beiden Männer, die in ihren politischen Ansichten so weit auseinandergingen, waren sonst recht gute Freunde geworden.

»Ihr wißt doch, daß der Kaiser in London Stadtsergeant gewesen ist«, sagte nun Boche seinerseits. »Ja, ja, ich gebe Euch mein Wort darauf, daß er die betrunkenen Weiber arretiert hat.«

Gervaise hatte nochmals die drei Gläser auf dem Tische gefüllt. Sie selbst wollte nicht trinken, denn sie fühlte ihr Herz schwer bedrückt. Dennoch blieb sie da und sah zu, wie Lantier die letzten Stricke abnahm, weil sie gerne wissen wollte, was wohl in dem Koffer war. Sie erinnerte sich noch in der einen Ecke der Menge Strümpfe, zweier schmutziger Hemden und eines alten Hutes. Ob diese Sachen wohl noch da lagen? Würde sie diese Lumpen aus vergangener Zeit hier wiederfinden? Ehe Lantier den Deckel zurückschlug, griff er nach seinem Glase und stieß damit an.

»Auf eure Gesundheit.«

»Gleichfalls«, antworteten Boche und Poisson.

Wiederum füllte die Wäscherin die Gläser. Die drei Männer wischten sich mit der Hand den Mund ab. Endlich öffnete der Hutmacher den Koffer. Er war mit einem wüsten Durcheinander von alten Zeitungen, Büchern, vertragenen Kleidern und mehreren Paketen schmutziger Wäsche angefüllt. Er zog nach und nach eine Schüssel, ein Paar Stiefel, eine Büste Ledru Rollins mit zerbrochener Nase, ein gesticktes Hemd und eine Arbeitshose heraus. Gervaise, die sich vorbeugte, bemerkte, wie von den Sachen ein Tabaksgeruch, gemischt mit dem Duft eines unsauberen Mannes, der nur das reinhält, was von ihm zu sehen ist, emporstieg. Nein, der alte Hut lag nicht mehr in der linken Ecke. Dafür lag dort ein Knäuel, das sie nicht kannte, vermutlich das Geschenk irgendeiner Frau. Sie beruhigte sich und konnte sich doch einer gewissen Traurigkeit nicht erwehren, wenn sie so mit den Augen allen Stücken folgte und sich bei jedem fragte, ob es noch aus ihrer Zeit oder aus der ihrer Nachfolgerinnen sei.

»Seht mal Badinguet! kennt Ihr das?« fragte Lantier.

Dabei hielt er ihm ein kleines Buch unter die Nase, das in Brüssel gedruckt war und die Aufschrift trug: Die Liebesabenteuer Napoleon III.; es war mit Kupferstichen geschmückt. Unter anderen Anekdoten erzählte man darin, wie der Kaiser einst der Tochter eines Kochs, einem dreizehnjährigen Mädchen, nachstellte; die Abbildung zeigte Napoleon, wie er mit nackten Beinen (er hatte nur das Großkreuz der Ehrenlegion anbehalten) eine Dirne verfolgte, die sich vor seiner Lüsternheit retten wollte.

»Ei, das ist gut!« schrie Boche, dessen innerste wollüstige Instinkte sehr gekitzelt wurden. »So was geht immer!«

Poisson war so verdutzt, daß er nicht ein Wort zur Verteidigung des Kaisers fand. Das war gedruckt, dagegen ließ sich nichts sagen. Da Lantier ihm fortwährend das Bild unter die Nase hielt, um ihn zu necken, schlug er die Arme untereinander, und es entfuhr ihm die Äußerung:

»Nun, was ist da weiter groß dabei, liegt das denn nicht in der menschlichen Natur?«

Durch diese Antwort war Lantier der Mund geschlossen. Er ordnete seine Bücher und Zeitungen auf dem Schrank; da er sehr betrübt darüber schien, daß er nicht ein kleines Bücherbrett hatte, das man über dem Tisch aufhängen könne, versprach ihm Gervaise, daß sie eins besorgen wolle. Er besaß die Geschichte der zehn Jahre von Louis Blanc, davon fehlte der erste Band, den er übrigens nie gehabt hatte, die Girondisten von Lamartine in den Zwei-Sous-Lieferungen, die Geheimnisse von Paris und den ewigen Juden von Eugene Sue, ungerechnet einen Haufen von philosophischen und humanistischen Büchern, die er bei den Alteisenkrämern aufgerafft hatte. Alle seine Zeitungen umfaßte er mit gerührten, wehmütigen Blicken. Er selbst hatte diese Sammlung seit Jahren zusammengebracht. Jedesmal, wenn er im Café eine Zeitung las und darin einen Artikel fand, der ihm besonders gelungen schien und mit seinen Ansichten übereinstimmte, kaufte er das Blatt und bewahrte es auf. Es hatte sich bei ihm ein ungeheures Paket Zeitungen angesammelt, die aus den verschiedensten Zeiten und verschiedenster Herkunft waren und ohne jede Ordnung durcheinander lagen. Als er dieses Paket aus dem Boden des Koffers genommen hatte, klopfte er wohlgefällig mit der Hand darauf und sagte zu den beiden anderen:

»Seht mal her! Was meint ihr wohl? Das gehört mir, kein Mensch kann sagen, daß er so etwas Hübsches besitzt ... Was da drin steckt, laßt ihr euch nicht träumen! Das will soviel heißen: wenn man die Hälfte dieser Gedanken ausführte, das würde auf einmal die Gesellschaft in Ordnung bringen. Ja, ja, dann könnte euer Kaiser und alle seine Banditen uns den Buckel lang rutschen...«

Er wurde durch den Stadtsergeanten unterbrochen, der seinen roten Schnurr- und Knebelbart drehte.

»Und die Armee, sagt mal, was macht Ihr denn damit?«

Da wurde Lantier wütend. Er schrie und schlug mit der Faust auf seine Zeitungen:

»Ich will die Unterdrückung des Militarismus, die Verbrüderung der Völker ... Ich will die Abschaffung der Vorrechte, der Titel, der Monopole ... Ich will Gleichheit der Gehälter, Teilung der Güter und die Verherrlichung des Proletariats ... Alle Freiheiten, versteht ihr wohl? alle!... Und die Scheidung!«

»Ja, ja, die Ehescheidung wegen der Moral!« sagte Boche.

Poisson hatte eine majestätische Miene angenommen. Er antwortete:

»Wenn ich nun aber von euren Freiheiten nichts wissen will? Ich bin ja frei.«

»Wenn Ihr nichts davon wissen wollt, wenn Ihr nichts davon wissen wollt...« stotterte Lantier, den die Leidenschaft fast erstickte. »Nein, Ihr seid nicht frei! ... ich schicke Euch nach Cayenne, ich, ja, nach Cayenne mit Eurem Kaiser und seiner ganzen Schweinebande!«

So gerieten sie fast jedesmal aneinander, wenn sie miteinander sprachen. Gervaise, die solche Auftritte nicht liebte, vermittelte gewöhnlich. Sie erwachte jetzt aus der Grübelei, in die sie der Anblick des Koffers versetzt hatte, aus dem die verblaßten Erinnerungen an ihre alte Liebe wieder emporgestiegen waren. Sie zeigte den Männern die Gläser.

»Richtig!« sagte Lantier schnell beruhigt, indem er nach seinem Glase griff. »Eure Gesundheit!«

»Die Eure!« antworteten Boche und Poisson, die mit ihm anstießen.

Indessen wiegte sich Boche hin und her und betrachtete den Sergeanten mit mißtrauischen Blicken von der Seite.

»Das bleibt doch alles unter uns, nicht wahr, Herr Poisson?« murmelte er endlich. »Man zeigt und sagt Euch hier Sachen...«

Aber Poisson ließ ihn gar nicht ausreden. Er legte die Hand aufs Herz, um damit anzudeuten, daß da alles ruhig bliebe. Er werde doch nicht seine Freunde ausspionieren! Als jetzt Coupeau ankam, leerte man noch ein zweites Liter. Der Sergeant ging dann über den Hof hinaus und begann auf der Straße wieder seinen steifen, strengen Marsch mit abgemessenen Schritten.

In der ersten Zeit stand bei der Wäscherin das ganze Haus auf dem Kopf. Lantier hatte zwar sein besonderes Zimmer, seinen eigenen Eingang, seinen Schlüssel, aber da man sich im letzten Augenblick entschlossen hatte, die Verbindungstür nicht zu verstellen, kam er doch meistenteils durch den Laden. Die schmutzige Wäsche störte Gervaise sehr, denn ihr Mann dachte nicht mehr an den großen Kasten, von dem er gesprochen hatte; sie sah sich gezwungen, die schmutzige Wäsche überall hinzustopfen, in alle Ecken, besonders unter ihr Bett, was in heißen Sommernächten keine große Annehmlichkeit war. Dann belästigte sie es auch sehr, daß sie jeden Abend Etiennes Bett mitten im Laden machen mußte; wenn die Arbeiterinnen länger zu tun hatten, schlief das Kind inzwischen auf einem Stuhl. Als Goujet ihr davon gesprochen hatte, Etienne nach Lille zu geben, wo sein früherer Lehrherr, ein Mechaniker, Lehrlinge verlangte, faßte sie diesen Gedanken auf, um so mehr, als der Knabe, der sich im Hause nicht glücklich fühlte und gern sein eigener Herr sein wollte, sie bat, ihre Einwilligung zu geben. Sie fürchtete nur, daß Lantier unumwunden ablehnen werde. Er war doch nur zu ihnen gezogen, um seinem Sohne näher zu sein; er konnte nicht wollen, daß er ihm gerade vierzehn Tage nach seiner Übersiedelung wieder fortgenommen werde. Als sie ihm dennoch mit Zittern von der Sache sprach, billigte er den Plan ganz und gar, er sagte, die jungen Arbeiter müßten etwas vom Lande zu sehen bekommen. Am Morgen, als Etienne abreiste, hielt er ihm einen Vortrag über seine Rechte, dann umarmte er ihn und deklamierte so fort:

»Bedenke stets, daß der Erzeuger kein Sklave ist, aber bedenke auch, daß jeder, der nichts erzeugt, ein Dieb ist, der auf Kosten derer lebt, die arbeiten.«

Bald regelte sich der Haushalt nach den veränderten Bedingungen; alles beruhigte sich, und jeder lebte sich in die neuen Gewohnheiten ein. Gervaise hatte sich an das liederliche Umherwerfen der schmutzigen Wäsche und an das Gehen und Kommen von Lantier gewöhnt. Dieser sprach fortwährend von seinen großen Geschäften. Hin und wieder ging er sorgfältig frisiert aus, immer trug er weiße Wäsche; ab und zu wurde er unsichtbar und kam selbst nachts nicht nach Hause; wenn er dann zurückkehrte, tat er sehr abgespannt, als ob ihm der Kopf brumme und er vierundzwanzig Stunden hintereinander die wichtigsten Dinge verhandelt habe. Die Wahrheit war, daß er sich herumtrieb. Da war keine Not, daß der Schwielen in die Hände bekam! Er stand gewöhnlich morgens gegen zehn Uhr auf, machte des Nachmittags einen Spaziergang, wenn das Wetter seinen Beifall hatte; an den Regentagen blieb er im Laden und las seine Zeitung. Das war sein Hauptquartier, er schwoll ordentlich auf vor Behagen da mitten unter den Unterröcken; dort setzte er sich bei dem üppigsten von den Frauenzimmern fest; er war entzückt von ihren Kraftausdrücken und veranlaßte sie damit herauszurücken, während er selbst nie seine gewählte Sprechweise verließ. Daß er es so sehr liebte, sich in der Nähe der Wäscherinnen aufzuhalten, erklärte sich daher, weil diese Mädchen alle ein entsetzlich loses Maulwerk haben. Wenn Clemence ihre saftige Weisheit vor ihm auskramte, so ließ er es sich sanft lächelnd gefallen und drehte sich vor Vergnügen seinen kleinen Schnurrbart. Diese Dünste des Ateliers, der Schweiß der Arbeiterinnen, die mit ihren nackten Armen unablässig die Eisen hin und her bewegten, diese ganze Ecke, die einem Alkoven glich, in dem sich die äußeren Hüllen fast aller Frauen des ganzen Quartiers befanden, das alles schien für ihn die Verwirklichung eines lange gehegten Traumwunsches zu sein; so hatte er sich das Los gedacht, in dessen Zurückgezogenheit er faulenzen und genießen konnte.

In der ersten Zeit hatte Lantier bei Franz an der Ecke der Fischerstraße gegessen; aber von den sieben Tagen der Woche aß er an dreien oder vieren bei den Coupeaus zu Mittag, so daß er ihnen endlich den Vorschlag machte, bei ihnen in Pension zu gehen, er werde dann fünfzehn Franken an jedem Sonnabend zahlen. Jetzt verließ er das Haus überhaupt nicht mehr und richtete sich ganz und gar ein. Man sah ihn vom Morgen bis zum Abend in Hemdsärmeln zwischen Laden und Hinterzimmer hin und her gehen; mit lauter Stimme ordnete er alles an, gab sogar den Kunden Bescheid, mit einem Wort, er beherrschte das ganze Haus. Da ihm der Wein von Franz nicht schmeckte, überredete er Gervaise, von nun an ihren Wein bei Vigouroux, dem Kohlenhändler, zu kaufen, wo er mit Boche zusammen die Frau kneipte, wenn er die Bestellungen machte. Dann fand er das Brot von Coudeloup nicht ordentlich durchgebacken; er schickte Augustine nach der Wiener Bäckerei in die Fischervorstadt zu Meyer. Er behielt auch Lehongre nicht bei, den Mehl- und Vorkosthändler; der einzige, von dem er nicht abging, war der Fleischer, der dicke Karl von der Polonceau-Straße, an dem er seiner politischen Meinungen halber festhielt. Nach Verlauf eines Monats wollte er die ganze Küche unter Öl setzen. Gervaise sagte, wenn sie ihn necken wollte, daß bei so einem Kerl von Provenzalen doch immer der Ölfleck wieder zum Vorschein komme. Er machte sich selbst eine Art Eierkuchen, die auf beiden Seiten gebacken wurden und so hart und knusprig wie Krausbrot waren, reine Schiffszwiebacke. Er beaufsichtigte Mama Coupeau und verlangte, daß die Beefsteaks sehr durchgebraten, ungefähr wie Schuhsohlen waren; überall tat er Knoblauch dazu und wurde böse, wenn man Beikräuter in den Salat warf; das sei schlechtes Zeug! schrie er, worin sehr leicht einmal etwas Giftiges vorkommen könnte. Sein Leibgericht war eine gewisse Suppe, wo man Nudeln in Wasser sehr dick einkochte, und wozu er dann beinahe eine halbe Flasche Öl goß. Nur er und Gervaise aßen davon, denn die anderen, die Pariser, hätten eines Tages, als sie auch davon gekostet hatten, beinahe Lunge und Leber ausgebrochen.

Nach und nach hatte es Lantier auch auf sich genommen, die Angelegenheiten in der Familie zu regeln. Da die Lorilleux' sich immer zu drücken versuchten, wenn sie ihrer Mutter die fünf Franken bezahlen sollten, so hatte er gesagt, daß man ihnen recht gut einen Prozeß an den Hals hängen könne. Was gingen ihn denn die Leute an? Die müßten zehn Franken monatlich geben. Er selbst ging mit so unternehmender und doch liebenswürdiger Miene nach oben, die zehn Franken zu holen, daß Lorilleux sie ihm nicht abzuschlagen wagte. Jetzt gab auch Madame Lerat zwei Fünffrankenstücke. Mama Coupeau hätte Lantier die Hände küssen mögen, der übrigens auch in den Streitigkeiten der alten Frau mit Gervaise den Schiedsrichter spielte. Wenn die Wäscherin zuweilen ungeduldig wurde und ihre Schwiegermutter schlecht behandelte, so daß diese sich auf ihr Bett setzte und weinte, ruhte er nicht eher, als bis sie einander umarmten, er fragte sie dann, ob sie vielleicht glaubten, daß die Leute es hübsch fänden, wie sie sich aufführten. Ebenso war es mit Nana: seiner Meinung nach wurde sie verteufelt schlecht erzogen. Darin hatte er nicht so unrecht, denn wenn der Vater drauflosschlug, so gab die Mutter der Dirne Recht, und wenn die Mutter sie einmal anfaßte, machte ihr Coupeau eine Szene. Nana war entzückt, ihre Eltern so uneins zu sehen, sie sah sich so schon im voraus für alles entschuldigt und beging tausend dumme Streiche. Sie hatte wieder eine neue Erfindung gemacht, sie ging jetzt nach der Hufschmiede hinüber und spielte dort; während des ganzen Tages schaukelte sie auf den Deichseln der Karren; dort versteckte sie sich mit einer Bande Straßenjungen auf dem düsteren Hofe, den das rote Schmiedefeuer beleuchtete; plötzlich erschien sie wieder, dann lief sie schreiend nach Hause, beschmutzt, mit aufgelösten Haaren, von der ganzen Bande verfolgt, als ob der Schwung eines Hammers das ganze Kinderkruppzeug in die Flucht geschlagen habe. Nur Lantier konnte sie schelten; und auch den wußte sie schön zu nehmen. Diese zehnjährige Krabbe spielte vor ihm die Dame, wiegte sich in den Hüften und warf ihm Seitenblicke zu mit Augen, aus denen alles andere als Kinderunschuld sprach. Er hatte es auf sich genommen, ihre Erziehung zu vollenden: er lehrte sie tanzen und provençalisch sprechen. Auf diese Art verging ein Jahr. Im Quartier glaubte man, daß Lantier von seinen Renten lebe, denn das war die einzige Möglichkeit, um sich das üppige Leben der Coupeaus zu erklären. Zwar verdiente Gervaise noch immer Geld; aber sie ernährte jetzt zwei Männer, die nicht arbeiteten, dafür konnte ihr Geschäft nicht ausreichen, besonders da es weniger gut wurde; die Kundschaft ging ab, und die Arbeiterinnen aßen und tranken vom Morgen bis zum Abend. In Wirklichkeit bezahlte Lantier nicht einen Pfennig, weder für Wohnung noch für Essen. Die ersten Monate hatte er bare Zahlungen gemacht; nachher begnügte er sich, von einer bedeutenden Summe zu sprechen, die er demnächst erheben müsse, und er werde dann auf einmal die ganze Rechnung glattmachen. Gervaise wagte auch nicht einen Centime von ihm zu fordern. Sie nahm das Brot, den Wein, das Fleisch, alles auf Borg. Ihre Rechnungen wurden immer größer, das summierte sich an drei Franken und vier Franken jeden Tag. Sie hatte dem Möbelhändler auch noch nicht einen Sou abbezahlt, ebensowenig hatten die drei Kameraden, der Maurer, der Tischler und der Anstreicher, irgend etwas bekommen. Überall fingen die Leute an unwirsch zu werden, in den Läden wurde sie nicht mehr höflich behandelt. Sie aber war wie trunken durch den Schrecken, den ihr ihre Schulden einflößten; sie suchte sich zu betäuben, sie wählte die teuersten Sachen aus; in ihrer Leckermäuligkeit ließ sie sich, da sie nichts mehr bezahlte, erst recht gehen; im Grunde ihres Herzens blieb sie ja noch rechtschaffen, vom Morgen bis zum Abend träumte sie davon, hunderte von Franken zu verdienen, wenn sie auch nicht recht wußte, auf welche Art, nur um Hände voll Fünffrankstücke an ihre Lieferanten zu verteilen. Schließlich verrannte sie sich ganz und gar, und je mehr sie herunterkam, desto mehr sprach sie davon, ihr Geschäft auszudehnen. Trotzdem war gegen Mitte des Sommers die große Clemence abgegangen, weil sie nicht mehr genug Arbeit hatte und schon seit Wochen auf ihren Lohn wartete. Mitten in diesem Verfall machten sich Coupeau und Lantier lustige Tage. Diese Schlingel saßen bis über die Ohren in der Fresserei, verpraßten den letzten Rest des Geschäftes und mästeten sich am Ruin des Unternehmens; sie stachelten noch einer den anderen an, um nur recht flott zu leben, und klopften sich lachend auf die Bäuche, um schneller zu verdauen.

Im Quartier zerbrach man sich die Köpfe darüber, ob Lantier und Gervaise wieder in alter Weise zusammen lebten. Die Meinungen über diesen Punkt waren geteilt. Wenn man die Lorilleux' hörte, so setzte die Humpelliese alles daran, um Lantier wieder in ihre Fesseln zu schlagen, aber er wollte nichts von ihr wissen, er fand sie zu verweppt; er hatte in der Stadt kleine Mädchen, die viel sauberer waren. Nach der Ansicht der Boches hatte im Gegenteil die Wäscherin schon in der ersten Nacht ihren alten Liebhaber wieder aufgesucht, sowie der Trottel, der Coupeau, angefangen hatte zu schnarchen. Wie dem auch sei, sehr anständig war weder das eine noch das andere; aber es gibt soviel schmutzige Verhältnisse im Leben, die noch schlimmer sind, daß die Leute diese Ehe zu dreien schließlich ganz natürlich fanden; die Leute betrugen sich sogar sehr nett, denn es gab nie Schlägereien und Gezanke, so daß der äußere Anstand immer gewahrt blieb. Wenn man die Nasen in andere Familien im Quartier gesteckt hätte, würde man noch mehr Gefahr gelaufen sein, sich zu beschmutzen. Bei den Coupeaus machte sich alles mit guter Manier. Alle drei lebten ihre Neigungen für gute Bissen, zankten sich, vertrugen sich, spielten Papa und Mama miteinander, ohne daß sie deshalb die Nachbarn im Schlafe störten. Im übrigen blieb das Quartier entzückt von Lantiers guten Manieren. Dieser schmeichlerische Schwätzer ließ alle Lästerzungen verstummen. Das ging soweit, daß, wenn die Krämerin leugnete, daß Gervaise und Lantier ein Verhältnis hätten, die Kaldaunenhändlerin meinte, daß es doch recht schade sei, denn dann wären die Coupeaus bei weitem nicht so interessant.

Gervaise lebte in dieser Beziehung ganz ruhig. Die Sachen kamen dahin, daß man sie in der Familie der Herzlosigkeit zieh. Man begriff nicht, wie sie dem Hutmacher noch immer zürnen könne. Madame Lerat, deren größtes Vergnügen es war, sich in Liebeshändel zu mischen, kam alle Abende und behandelte Lantier als unwiderstehlich, als einen Mann, in dessen Arme die vornehmsten Frauen sich mit Entzücken stürzen mußten. Madame Boche hätte nicht für sich gut gesagt, wenn sie zehn Jahre jünger gewesen wäre. Eine Art heimliche Verschwörung wuchs beständig und drängte Gervaise, als ob alle diese Weiber um sie herum nur darin ihre Befriedigung fänden, ihr einen Liebhaber zu verschaffen. Gervaise begriff es nicht, sie fand Lantier nicht so verführerisch. Er war ja sehr zu seinem Vorteil verändert: er trug jetzt immer einen Rock und hatte sich in den Cafés und in den politischen Versammlungen eine gewisse Bildung angeeignet. Nur sie, die ihn gut kannte, blickte durch die beiden Löcher seiner Augen in seine Seele und fand da eine Menge von Dingen, bei deren Anblick sie eine Gänsehaut überlief. Wenn er den anderen so gut gefiel, warum machten sie sich denn nicht an das Herrchen heran? Das gab sie eines Tages Virginie zu verstehen, die sich am allerleidenschaftlichsten zeigte. Da wollten Madame Lerat und Virginie sie eifersüchtig machen und erzählten ihr die Liebesgeschichte Lantiers und der großen Clemence. Ja, ja, sie hätte nichts davon gemerkt; aber jedesmal, wenn sie einen Weg zu machen hatte, nahm sie der Hutmacher in sein Zimmer. Auch jetzt traf man sie noch zusammen, und er mußte oft zu ihr gehen.

»Nun, was weiter?« sagte die Wäscherin mit ein wenig zitternder Stimme, »was geht mich das alles an?«

Sie blickte Virginie in die dunklen Augen, in denen so goldige Funken blitzten wie in den Katzenaugen. Die Frau hatte also doch einen heimlichen Haß auf sie, da sie sie eifersüchtig machen wollte? Die Näherin nahm schnell wieder ihre harmlose Miene an und antwortete:

»Das kann Euch ganz gleich sein, sicherlich ... Nur solltet Ihr ihm raten, das Mädchen laufen zu lassen, von dem er schließlich doch nur Unannehmlichkeiten haben wird.«

Das Schlimme war, daß Lantier, als er sich so von allen Seiten unterstützt sah, gegen Gervaise andere Manieren annahm. Wenn er ihr jetzt die Hand reichte, so hielt er ihre Finger einen Augenblick fest. Er beunruhigte sie mit seinen Blicken und sah ihr oft so unverwandt in die Augen, daß sie über das, was er wollte, nicht im Zweifel sein konnte. Wenn er hinter ihr durchging, drückte er seine Knie in ihre Röcke und pustete ihr in den Nacken, wie um sie zu berauschen. Dennoch wartete er noch, blieb noch bescheiden, ehe er sich erklärte. Als er aber eines Abends mit ihr allein war, stieß er sie, ohne ein Wort zu sprechen, vor sich her, drückte sie an die Wand hinten im Laden und wollte sie küssen. Zufälligerweise trat Goujet gerade in diesem Augenblick in den Laden. Da wehrte sie sich und machte sich los. Alle drei wechselten ein paar Worte, als ob nichts vorgefallen sei. Goujet, der ganz blaß geworden war, hatte den Kopf gesenkt, weil er zu stören glaubte, und meinte, sie sträube sich nur, weil sie nicht vor aller Augen geküßt sein wollte.

Am nächsten Tage stolperte Gervaise sehr unglücklich im Laden umher, sie war nicht imstande, auch nur ein Taschentuch zu plätten; sie mußte Goujet sehen und ihm auseinandersetzen, wie Lantier sie an die Wand gedrückt hatte. Seit Etienne in Lille war, wagte sie nicht mehr nach der Schmiede zu gehen, wo der Salzschnabel, genannt Saufaus-ohne-Durst, sie mit höhnischem Lachen empfing. Aber an diesem Nachmittag konnte sie der Sehnsucht nicht widerstehen; sie nahm einen leeren Korb und ging unter dem Vorwande, bei einer Kundin in der Weißtorstraße Unterröcke zu holen, weg. Als sie in der Mercadel-Straße vor der Tür der Bolzenfabrik war, ging sie langsam auf und nieder, weil sie auf eine zufällige Begegnung hoffte. Wie es schien, mußte Goujet sie erwartet haben, denn sie war noch keine fünf Minuten da, als er wie zufällig aus der Tür trat.

»Ei, sieh da, habt Ihr einen Gang?« sagte er mit schwachem Lächeln; »Ihr geht nach Hause ...«

Er sagte das, um überhaupt etwas zu sagen, denn Gervaise kehrte gerade der Fischerstraße den Rücken zu. Sie gingen nun den Montmartre hinauf, eines neben dem andern, ohne sich unterzufassen. Ihr gemeinsamer Gedanke war vielleicht, sich erst von der Fabrik zu entfernen, um nicht den Glauben zu erwecken, daß sie sich vor der Tür ein Stelldichein gegeben hätten. Mit gesenkten Köpfen schritten sie auf der holprigen Straße fort; um sie herum tobte der Lärm der Fabriken. Nach zweihundert Schritten bogen sie links ab; das machte sich ganz natürlich, als ob sie den Weg gekannt hätten, und begaben sich, immer noch schweigend, auf ein unbebautes Gebiet. Der Ort lag zwischen einer Dampfschneidemühle und einer Knopffabrik, es war ein Streifen Wiese, deren Grün durch gelbe Flecke vertrockneten Grases unterbrochen wurde; eine Ziege, die an einem Pflock festgemacht war, lief meckernd um ihn herum; ganz hinten beschien die volle Sonne einen rissigen, abgestorbenen Baum.

»Wahrlich!« murmelte Gervaise, »man könnte glauben, daß man auf dem Land wäre.«

Sie gingen bis zu dem abgestorbenen Baum und setzten sich dort nieder. Die Wäscherin stellte den Korb vor ihre Füße. Vor ihnen erhoben sich auf der Anhöhe des Montmartre viele Reihen hoher, grauer oder gelber Häuser zwischen dem spärlichen Laub der Bäume; und wenn sie den Kopf noch mehr hintenüberlegten, so sahen sie den weiten Himmel in glühender Klarheit sich über die Stadt spannen, auf dem nur von Norden her ein ganzer Flug kleiner, weißer Wölkchen hinwegzog. Aber die leuchtende Luft blendete sie, und so senkten sie ihre Blicke auf den flachen Horizont hernieder, wo in der fernen Ebene die kreidigen Vorstädte lagen; besonders sahen sie nach den Dampfwolken, welche der kleine Schornstein der Schneidemühle in kurzen Stößen von sich gab. Diese paffenden Seufzer schienen ihre bedrängte Brust zu erleichtern.

»Ja,« sagte Gervaise, die das Schweigen verlegen machte, »ich hatte einen Gang, ich war ausgegangen ...«

So lebhaft wie sie eine Auseinandersetzung herbeigesehnt hatte, jetzt wagte sie nicht zu sprechen. Sie schämte sich. Und sie fühlte wohl, daß sie hierhergekommen waren, um davon zu sprechen, ja sie sprachen davon, ohne daß sie ein Wort laut werden ließen. Die Geschichte vom Abend zuvor lag zwischen ihnen wie ein Bleigewicht, das ihre Bewegungen hemmte.

Da ergriff sie eine entsetzliche Traurigkeit, und sie erzählte mit Tränen in den Augen den Todeskampf der Madame Bijard, ihrer Waschmeisterin, die am Morgen nach schrecklichen Schmerzen gestorben war.

»Die Ursache war ein Fußtritt, den ihr Bijard gegeben hatte«, sagte sie mit sanfter, eintöniger Stimme. »Der Bauch war ihr aufgeschwollen. Zweifellos hatte er ihr eine schwere innere Verletzung beigebracht. Mein Gott! was hat sie in den drei Tagen gelitten ... Es gibt auf den Galeeren Schurken, die noch lange nicht so schlecht sind wie so einer. Aber die Gerichte hätten zu tun, wenn sie sich um alle Frauen kümmern sollten, die von ihren Männern zu Tode gepeinigt werden. Ein Fußtritt mehr oder weniger, nicht wahr? was kommt es darauf an! Um so mehr, als die arme Frau, die ihren Mann vor dem Schafott retten wollte, ausgesagt hat, daß sie auf eine Waschbank gefallen sei und sich dabei den Bauch verletzt habe ... Sie hat die ganze Nacht vor Schmerz geschrien, ehe es mit ihr zu Ende ging.

Der Schmied schwieg und riß eine Hand voll Gras nach der andern ab.

»Es sind noch keine vierzehn Tage her,« fuhr Gervaise fort, »da hat sie ihr jüngstes Kind, den kleinen Jules, entwöhnt. Das war noch ein Glück, so wird das Kind wenigstens nicht durch den plötzlichen Tod der Mutter zu leiden haben ... Aber wie dem auch sei, es bleibt der kleinen Dirne, der Lalie, die Sorge für zwei kleine Kinder. Sie ist noch nicht acht Jahre und doch schon ernst und vernünftig wie eine wirkliche Mutter. Bei alledem schlägt sie der Vater ... Oh ja! es gibt Wesen, die nur zum Leiden geboren sind!«

Goujet sah sie an und sagte plötzlich mit zitternden Lippen:

»Ihr habt mir gestern Kummer gemacht, viel Kummer ...«

Gervaise, die bleich geworden war, schlug ihre Hände zusammen. Aber er fuhr fort:

»Ich wußte, daß es so kommen mußte ... Nur hättet Ihr Euch mir anvertrauen müssen und mir sagen, woran ich mit Euch war, um mich nicht glauben zu lassen ...«

Er konnte seinen Satz nicht zu Ende bringen. Sie war aufgestanden, da sie begriffen hatte, daß er glaubte, sie lebe jetzt wieder mit Lantier, wie es ja auch das ganze Quartier versicherte. Mit ausgestreckten Armen rief sie:

»Nein, nein, ich schwöre Euch ... Er stieß mich, er wollte mich küssen, das ist wahr, aber sein Gesicht hat das meine nicht berührt, und es war das erstemal, daß er es versuchte ... Oh! glaubt mir doch, bei meinem Leben, bei dem meiner Kinder, bei allem, was es Heiliges gibt!«

Aber der Schmied schüttelte mit dem Kopfe. Er traute ihr nicht, weil die Frauen immer Nein! sagen. Nun wurde Gervaise sehr ernst und fing langsam zu sprechen an:

»Ihr kennt mich, Goujet, ich lüge nicht ... Nun denn! nein, es ist nicht so, mein Ehrenwort! ... Nie wird es geschehen, hört Ihr wohl? Niemals! An dem Tage, wo es geschähe, würde ich die Schlechteste unter den Verworfenen sein, und ich würde die Freundschaft eines ehrenwerten Mannes, wie Ihr seid, nicht mehr verdienen!«

Sie sah, während sie sprach, so schön aus, und ihre Augen strahlten so von Aufrichtigkeit, daß er ihre Hand ergriff und sie wieder niedersitzen ließ. Jetzt atmete er freier und lachte innerlich. Es war das erstemal, daß er so ihre Hand hielt und in der seinen drückte. Alle beide schwiegen. Am Himmel schwammen die weißen Wölkchen so langsam, wie ein Schwan durch das Wasser zieht. In der Ecke des Grundstückes hatte sich die Ziege nach ihnen herumgewandt und sah sie an, während sie in regelmäßigen Zwischenräumen ein sanftes Meckern laut werden ließ. Ohne ihre Hände loszulassen, verloren sie sich mit schwimmenden Augen in dem Anblick des Abhanges von Montmartre, wo ein Hochwald von Schornsteinen den Horizont überragte, in diesem kalkigen, traurigen Weichbild der Stadt, wo die grünen Büsche vor den Schenken sie bis zu Tränen rührten.

»Eure Mutter zürnt mir, ich weiß es!« fing Gervaise mit leiser Stimme wieder an. Sagt nur nicht nein ... Wir sind Euch zuviel Geld schuldig!«

Aber er zeigte sich beinahe schroff, um sie zum Schweigen zu bringen. Er schüttelte ihre Hand, als wolle er sie zerbrechen. Er wollte nicht, daß sie von Geld sprach. Dann zauderte er und stammelte endlich:

»Hört mich an, seit lange schon habe ich daran gedacht, Euch einen Vorschlag zu machen ... Ihr seid nicht glücklich. Meine Mutter versichert mir, daß Euer Leben eine böse Wendung nimmt ...«

Hier stockte er, als ob ihn seine Worte erstickten.

»Nun denn! Wir müssen zusammen fortgehen!«

Sie sah ihn an, denn sie verstand zuerst nicht recht; diese rauhe Erklärung einer Liebe, die bisher nie über seine Lippen gekommen war, überraschte sie.

»Wie das?« fragte sie.

»Ja! fuhr er mit gebeugtem Haupte fort, wir wollen fortgehen, irgendwo leben, in Belgien, wenn Ihr wollt ... Das ist beinahe mein Vaterland ... Wenn wir beide arbeiten, werden wir uns bald wohl fühlen!«

Da errötete sie heftig. Wenn er sie an sich gepreßt hätte, um sie zu küssen, würde sie sich nicht so geschämt haben. Das war doch ein wunderlicher Bursche, der ihr da eine Entführung vorschlug, wie es in Romanen oder in der vornehmen Gesellschaft vorkommt. Wie seltsam! Um sie herum sah sie die Arbeiter verheirateten Frauen den Hof machen, aber sie führten sie nicht einmal nach Saint-Denis; es geschah auf der Stelle und ohne Umschweife.

»Oh! Herr Goujet! Herr Goujet! ...« murmelte sie, ohne daß ihr anderes eingefallen wäre.

»Dann wären wir beide allein!« fing er wieder an. »Die anderen sind mir lästig, versteht Ihr wohl? Wenn ich für jemand Freundschaft hege, mag ich ihn nicht mit anderen sehen.«

Aber sie kam wieder zu sich und lehnte jetzt mit vernünftiger Miene ab.

»Das ist unmöglich, Herr Goujet. Das wäre sehr schlecht von mir ... Ich bin verheiratet, nicht wahr? Ich habe Kinder ... Ich weiß wohl, daß Ihr mich gern habt und daß ich Euch Kummer mache. Auch wir würden Reue fühlen und doch kein Vergnügen genießen. Auch ich habe Euch lieb, ja ich habe Euch so lieb, daß ich nicht dulden werde, daß Ihr eine solche Dummheit macht. Und es wäre eine Dummheit sicherlich ... Nein, seht Ihr wohl, dafür ist es besser, daß alles beim alten bleibt. Wir achten einander, unsere Gefühle stimmen überein. Das ist viel und hat mich schon mehr als einmal aufrecht erhalten. Wenn man in unserer Lage anständig und ehrenwert bleibt, wird es einem einst vergolten werden.

Er nickte mit dem Kopfe, wie er ihr so zuhörte. Er billigte, was sie wollte, dagegen ließ sich nichts sagen. Ganz plötzlich am hellen lichten Tage umarmte er sie und drückte sie an sich, als ob er sie zerquetschen wolle, dann gab er ihr einen so wilden Kuß auf den Nacken, daß ihre Haut beinahe zwischen seinen Zähnen blieb. Er ließ sie nun los, mehr verlangte er nicht, auch von ihrer Liebe sprach er nie wieder. Sie schüttelte sich, ohne böse zu werden, denn sie begriff wohl, daß sie beide diesen kleinen Genuß sauer genug verdient hatten.

Der Schmied, den seine Leidenschaft geschüttelt hatte wie der Sturmwind die Eiche, ging ein wenig abseits, weil er der Lust widerstehen wollte, sie aufs neue an sich zu drücken; er kniete nieder, und da er nicht wußte, womit er seine Hände beschäftigen sollte, pflückte er die Blüten des dort üppig wuchernden Löwenzahns und warf sie von weitem in Gervaises Korb. Nach und nach beruhigte und unterhielt ihn dieses Spiel. Mit seinen von der Arbeit mit dem Hammer hart und steif gewordenen Fingern pflückte er die Blumen aufs zarteste, warf eine nach der anderen, und seine treuen Augen mit dem Kinderausdruck lachten, wenn er den Korb nicht verfehlte. Die Wäscherin hatte ihren Rücken an den Stamm des abgestorbenen Baumes gelehnt. Sie war ruhig und heiter; um bei dem Lärm, den die Schneidemühle machte, besser gehört zu werden, sprach sie mit erhobener Stimme. Als sie miteinander die Baustelle verließen, sprachen sie von Etienne, der sich in Lille sehr gut gefiel, und sie trug ihren Korb ganz voll mit Blumen nach Hause.

Im Grunde genommen fühlte sich Gervaise Lantier gegenüber nicht ganz so sicher, wie sie sagte. Gewiß, sie war fest entschlossen, ihm nicht zu gestatten, daß er ihr auch nur eine Fingerspitze berühre; aber sie hatte vor seiner Berührung Furcht, sie fürchtete ihre alte Schlaffheit, ihr träumerisches Hindämmern und ihre Willfährigkeit, aller Welt zu Gefallen zu leben. Indes machte Lantier keinen neuen Versuch. Sie war öfter mit ihm allein, doch er hielt sich stets ruhig. Er schien sich jetzt mit der Kaldaunenhändlerin zu beschäftigen, die eine sehr wohl erhaltene Frau von fünfundvierzig Jahren war. Gervaise sprach zu Goujet von diesem Verhältnis, um ihn noch mehr zu beschwichtigen. Sie antwortete Virginie und Madame Lerat, wenn sie den Hutmacher in den Himmel hoben, daß er auf ihre Bewunderung recht gut verzichten könne, da er ja allen Frauen der ganzen Nachbarschaft den Kopf verdreht habe. Coupeau brüllte es im ganzen Quartier aus, daß Lantier ein wahrer Freund sei. Seinetwegen könne man über sie schwatzen, was man wolle, er wisse, was er wisse, den Teufel kümmere er sich um alles Geschwätz, weil er die Ehrenhaftigkeit auf seiner Seite habe. Wenn sie alle drei des Sonntags ausgingen, so nötigte er seine Frau, Lantiers Arm zu nehmen und vor ihm herzugehen, nur um den Leuten erst recht die Augen aufzureißen; er sah alle Welt an und wartete darauf, dem, der sich die geringste Anspielung erlaubt hätte, ein rohes Wort ins Gesicht zu schleudern. Es war ja wahr, er fand Lantier ein wenig stolz, er beschuldigte ihn, daß er sich dem Branntwein gegenüber wie ein Mädchen ziere, er verhöhnte ihn, weil er lesen konnte und wie ein Advokat sprach. Aber im großen ganzen war er doch ein famoser Junge. Man konnte lange suchen, ehe man noch einen zweiten fand, der so fest auf den Beinen stand. Und dann verstanden sie einander, sie waren einer für den anderen wie geschaffen. Die Freundschaft eines Mannes ist dauerhafter als die Liebe einer Frau.

Eines mußte man sagen: Coupeau und Lantier praßten und schlemmten miteinander, daß alles aus Rand und Band ging. Lantier borgte sich jetzt Geld von Gervaise, einmal zehn, einmal zwanzig Franken, sowie er Wind davon hatte, daß Geld im Hause war. Das war natürlich immer für seine großen Unternehmungen. An solchen Tagen seifte er Coupeau gründlich ein, er sprach dann von einem weiten Weg und nahm ihn mit. Bald saßen sie in dem Hinterkabinett einer benachbarten Restauration dicht beieinander und taten sich an Gerichten gütlich, die man im Haushalt nicht haben kann, dazu begossen sie diese noch mit gesiegeltem Wein. Den Zinkarbeiter hätten auch etwas weniger gewählte Speisen schon befriedigt, aber er mußte sich dem aristokratischen Geschmack des Hutmachers fügen, der auf der Karte immer ganz außergewöhnliche Gerichte und ganz unbekannte Soßen herauszufinden wußte. Man hatte keinen Begriff, wie schwer zu befriedigen dieser Mann war! Es scheint, als ob die Südländer alle so wären. So wollte er zum Beispiel nichts Erhitzendes; über jedes Gericht hielt er Abhandlungen vom gesundheitlichen Standpunkt aus, er schickte das Fleisch wieder hinaus, wenn es zu scharf gesalzen oder gepfeffert war. Noch schlimmer war es mit dem Zug, davor hatte er eine höllische Angst; wenn einmal eine Tür halb offen blieb, so brüllte er durch das ganze Restaurant. Dabei war er knauserig, denn er gab denn Kellner für eine Zeche von sieben bis acht Franken nie mehr als zwei Sous Trinkgeld. Trotzdem zitterte alles vor ihm; man kannte sie gut auf den äußeren Boulevards von Batignolles bis Belleville! Sie gingen nach der Großen Batignollesstraße, um dort Gekröse à la Caen zu essen, das man ihnen auf kleinen Wärmapparaten auftrug. Unterhalb des Montmartre fanden sie die besten Austern im ganzen Quartier in der Stadt Bar-le-Duc. Wenn sie einmal nach oben hin verschlagen wurden bis zur Fladenmühle, so ließen sie sich ein Kaninchen zubereiten. In der Märtyrerstraße hatte das Restaurant zum »Flieder« eine besondere Feinheit in Kalbsköpfen; während man ihnen in der Chaussee Clignancourt im Restaurant zum »Goldenen Löwen« und bei den »Zwei Kastanienbäumen« gesottene Nieren gab, daß sie sich die Finger danach leckten. Am oftesten wandten sie sich zur Linken nach Belleville zu, wo man für sie bei der »Burgundertraube«, bei der »Blauen Uhr« und im »Kapuziner« stets einen Tisch vorbehielt. Allen diesen Restaurants kennte man blindlings trauen, da konnte man alles fordern, ohne hineinzufallen. Diese Ausflüge machten sie heimlich und sprachen davon am nächsten Tage durch die Blume, während sie in Gervaises Kartoffeln herumstocherten. Das ging so weit, daß Lantier sogar eines Tages einmal in eine Gartenlaube der Fladenmühle ein Frauenzimmer mitgebracht hatte, mit dem ihn Coupeau nach dem Nachtisch allein ließ.

Selbstverständlich kann man nicht so schlemmen und dabei arbeiten. So hatte denn auch der Zinkarbeiter, der schon sowieso nicht schlecht bummelte, seitdem Lantier in die Familie gekommen war, auch nicht ein Werkzeug mehr angerührt. Und wenn er sich doch einmal wieder anwerben ließ, weil es ihn langweilte, so arbeitslos einherzuschlendern, so war der andere stets da, um ihn vom Bauplatz fortzulocken; er neckte ihn zu Tode, wenn er ihn dort an seinem Knotenstrick hängend fand; er sagte ihm, er sehe wie ein Schinken im Rauchfang aus, er solle nur runter kommen und einen Schoppen trinken. In der Regel ließ dann der Zinkarbeiter die Arbeit fahren und fing eine Saufreise an, die tage-, ja selbst wochenlang dauerte. Das waren famose Reisen, bei denen über alle Spelunken des ganzen Quartiers Generalinspektion gehalten wurde; dabei verschlief man den Morgenrausch am Mittag, und abends wurde wieder frisch aufgegossen; ein Satz Branntwein folgte dem andern bis spät in die Nacht hinein, bis dann beim Erlöschen des letzten Lichtes das letzte Glas getrunken wurde. Dieses Vieh, der Hutmacher, machte so etwas nie bis zu Ende mit. Er ließ den andern sich ansäuseln und verließ ihn dann, während er lächelnd und liebenswürdig zu Hause ankam. Er holte sich nur so einen leichten Schwips, den man ihm nicht anmerkte. Nur wenn man ihn ganz genau kannte, sah man es an seinen zusammengekniffenen Augen und seinem unternehmenderen Benehmen den Frauen gegenüber. Dagegen wurde der Zinkarbeiter geradezu ekelhaft, er konnte überhaupt nicht mehr trinken, ohne sich in einen abscheulichen Zustand zu versetzen. So stellte Coupeau in den ersten Tagen des Monats November eine Sauferei an, die für ihn, sowie auch für die anderen in Schmutz und Ekel endete. Er hatte eines Abends Arbeit gefunden. Lantier war dieses Mal ganz von schönen Empfindungen erfüllt; er schwärmte für die Arbeit und predigte, wie sie den Mann veredle. Er stand selbst am nächsten Morgen noch bei der Lampe auf, denn er wollte seinem Freunde in feierlicher Weise das Geleit zur Arbeit geben, um in ihm den Arbeiter zu ehren, der dieses Namens würdig sei. Als sie bis zur Kleinen Civette gekommen waren, wurde gerade geöffnet, und so traten sie ein und nahmen dort eine Pflaume, nur um so zusammen den festen Entschluß einer guten Aufführung zu besiegeln. Dem Schanktisch gegenüber saß Bibi-la-Grillade auf einer Bank und lehnte sich an die Wand; er rauchte seine Pfeife und sah sehr mürrisch aus.

»Sieh doch! da ist ja Bibi, der hier auf der Bärenhaut liegt«, sagte Coupeau. »Du hast wohl den Brand, mein alter Junge?«

»I bewahre«, antwortete der Kamerad, indem er seine Arme ausreckte. »Die Meister machen einem so viel Ärger ... Ich habe gestern meinen sitzen lassen ... Sie sind alle Schufte, Canaillen ...«

Bibi-la-Grillade gestattete, daß man ihm eine Pflaume spendierte. Er mußte da auf der Bank auf so etwas gewartet haben. Jetzt verteidigte Lantier die Meister; die hätten auch manchmal ihre Not; er könne ein Wort davon erzählen, denn er habe es durchgemacht, wie er noch im Geschäft war. Eine nette Schwefelbande, die Arbeiter! Immer auf der Bummelei, aus der Arbeit machen sie sich den Teufel was, mitten in einer Bestellung laufen sie einem davon und kommen wieder, wenn das Geld verjuxt ist. So hatte er einen kleinen Kerl, den Picard, der hatte die Verrücktheit, spazierenzufahren; sowie er seinen Lohn ausgezahlt bekam, nahm er gleich eine Droschke auf einen ganzen Tag. Das war doch am Ende für einen Arbeiter auch keine Sache! Dann fing er plötzlich an, auch die Meister anzugreifen. Er sei hell, er sage jedem die Wahrheit. Es sei bei alledem eine schmutzige Gesellschaft, die die anderen schamlos ausbeuteten, diese Leuteschinder. Er, du lieber Gott, er könne mit ruhigem Gewissen schlafen, denn er habe an seinen Leuten immer als ein Freund gehandelt, er habe keine Millionen zusammengescharrt wie die anderen.

»Wir wollen jetzt fort, mein Kleiner«, sagte er, zu Coupeau gewandt. »Wir müssen vernünftig sein, sonst kommen wir zu spät.«

Bibi-la-Grillade schlenderte mit ihnen. Draußen war es noch nicht recht Tag geworden, es dämmerte, und das schwache Licht spiegelte sich in den Pfützen auf dem Pflaster wieder; es hatte am Abend zuvor geregnet und war sehr milde. Die Gasflammen waren eben ausgelöscht; die Fischerstraße, in der die letzten Schatten der Nacht noch zwischen den Häusern schwebten, füllte sich mit den Arbeitern, die nach Paris heruntergingen. Coupeau mit seinem Arbeitssack auf der Schulter marschierte mit der prahlerischen Miene eines Bürgers, der zufällig einmal seine Nationalgardistenuniform angezogen hat. Er wandte sich um und fragte:

»Bibi, soll ich dich auch fest machen? Der Meister hat mir gesagt, ich könne einen Kameraden mitbringen.«

»Danke schön,« sagte Bibi-la-Grillade, »ich muß jetzt abführen ... Du mußt Mes-Bottes den Vorschlag machen, der suchte gestern eine Werkstätte ... Warte mal, Mes-Bottes ist sicher da drin.«

Sie waren gerade am Ende der Straße und bemerkten auch wirklich Mes-Bottes drin beim Vater Colombe. Trotz der frühen Morgenstunde war der Totschläger hell erleuchtet, die Fensterläden geöffnet und alles Gas angezündet. Lantier blieb in der Tür stehen und bat Coupeau, sich zu beeilen, denn sie hätten gerade noch zehn Minuten.

»Was, du gehst zu dem Spion, dem Bourguignon!« schrie Mes-Bottes, als der Zinkarbeiter mit ihm gesprochen hatte. »In die Bude soll mich keiner mehr reinbringen! Da will ich lieber bis zum nächsten Jahre Rauch schnappen ... Aber, alter Junge, da bleibst du keine drei Tage, ich sage es dir.«

»Ist es wirklich eine solche schmutzige Bude?« fragte Coupeau unruhig.

»Oh! das Schlimmste, das du dir denken kannst ... Man kann sich nicht rühren. Der Affe von Meister sitzt einem immer auf dem Nacken. Und dabei haben sie da eine Art, die Meisterin behandelt einen als Saufbold, im Laden darf man nicht ausspucken ... Ich habe sie gleich den ersten Abend versetzt, verstehst du.«

»Na, da bin ich wenigstens vorbereitet. Bei denen werde ich also keinen Scheffel Salz essen ... Ich will es heute mal versuchen, aber wenn ich mit dem Meister nicht durchkommen kann, dann nehme ich ihn und setze ihn seiner Meisterin auf den Schoß, aber weißt du, ordentlich, wie die Heringe müssen sie aufeinanderliegen!«

Der Zinkarbeiter schüttelte dem Kameraden die Hand, um ihm für die guten Winke zu danken, und wollte fortgehen, als Mes-Bottes böse wurde. Heiliges Donnerwetter! der Bourguignon würde sie doch nicht daran hindern, noch einen Schluck zusammen zu trinken! Sind denn Männer keine Männer mehr? Der Affe könne gut und gern fünf Minuten warten. Jetzt trat auch Lantier näher, um ein Glas anzunehmen; die vier Arbeiter standen vor dem Schanktisch. Mes-Bottes mit seinen zerrissenen Schuhen, seiner unmäßig beschmutzten Bluse und seiner flachen Mütze auf dem Schädel brüllte fortwährend und rollte seine Augen mit Herrscherblicken umher. Man hatte ihn zum Säuferkönig ausgerufen, weil er einen Salat mit lebendigen Maikäfern gegessen und in eine tote Katze gebissen hatte.

»Höre mal, du alter Giftmischer!« schrie er dem Vater Colombe zu, »gib mir von dem Gelben, von deiner Eselspisse Numero eins.«

Als der Vater Colombe, der bleich und ruhig in seiner gestrickten Wollenweste dastand, die vier Gläser gefüllt hatte, leerten die Herren sie auf einen Zug, um den Branntwein nicht verdunsten zu lassen.

»Das tut einem doch gut, wenn das so durchgeht«, murmelte Bibi-la-Grillade.

Nun erzählte das Vieh, der Mes-Bottes, eine drollige Schnurre. Am Freitag war er so besoffen, daß die Kameraden ihm die Pfeife mit Mörtel am Munde festgebackt hatten. Ein anderer wäre dran gestorben, aber er schlief auf dem Rücken ruhig weiter und brüstete sich nachher noch damit.

»Darf ich den Herren noch einmal einschänken?« fragte Vater Colombe mit fetter Stimme.

»Jawohl, verdoppelt uns das«, sagte Lantier. »Es ist meine Runde.«

Sie sprachen jetzt von den Weibern. Bibi-la-Grillade hatte letzten Sonntag seine Geliebte nach Montrouge zu einer Tante gebracht. Jetzt erkundigte sich Coupeau nach dem Ergehen des »indischen Koffers«; das war der Spitzname einer Wäscherin aus Chaillot, die im Lokal sehr bekannt war. Sie wollten eben wieder trinken, als Mes-Bottes sehr laut und heftig nach Goujet und Lorilleux rief, die gerade vorübergingen. Die beiden kamen bis zur Tür, weigerten sich aber einzutreten. Der Schmied fühlte kein Bedürfnis, etwas zu nehmen. Der bleiche Kettenmacher zitterte und hielt in der Tasche die goldenen Ketten fest, die er abtrug; er hustete und entschuldigte sich; er sagte, nach einem Schluck Branntwein müsse er sich auf die Seite legen.

»Das sind ein Paar Kaffern!« wetterte Mes-Bottes. »Die müssen im Verborgenen saufen.«

Als er die Nase in sein Glas gesteckt hatte, faßte er den Vater Colombe ab.

»Altes Giftfaß, du hast von einer andern Flasche gegeben ... Du weißt doch, daß du mit mir solche Scherze nicht machen darfst!«

Es war nun gänzlich Tag geworden, so daß im Totschläger doppelte Beleuchtung war; der Vater Colombe drehte das Gas aus. Da entschuldigte Coupeau seinen Schwager, er könne wirklich nicht trinken, und man dürfe ihm das am Ende doch nicht als Verbrechen anrechnen. Er billigte selbst Goujets Verhalten, denn schließlich sei es ein Glück, nie Durst zu haben. Als er wieder davon sprach, zur Arbeit zu gehen, gab ihm Lantier mit der überlegenen Miene des Lebemanns eine Lehre: man bezahle seinen Satz, ehe man sich aus dem Staube mache; man lasse seine Freunde nicht wie einen Lumpenkerl im Stich, selbst wenn man fort wolle, um seine Pflicht zu tun.

»Wird der uns denn noch lange mit seiner ewigen Arbeit langweilen?« schrie Mes-Bottes.

»Diesen Satz gibt also der Herr?« fragte der Vater Colombe Coupeau.

Dieser zahlte seinen Satz. Als aber die Reihe an Bibi-la-Grillade kam, sprach er leise zu dem Wirt, dieser schüttelte langsam den Kopf. Mes-Bottes verstand, daß Colombe nicht borgen wolle, und überschüttete den zugeschnürten Geizhals mit Schimpfworten. Was! ein Schuft von seiner Sorte nahm sich so etwas gegen einen Kameraden heraus! Alle Budiker pumpten! In solche Giftbude müsse man kommen, um so beschimpft zu werden! Der Wirt blieb ruhig und stützte seine großen Fäuste auf den Rand des Schanktisches, dann sagte er artig:

»Borgen Sie dem Herrn doch das Geld, es ist ja viel einfacher.«

»Nun, in Teufels Namen! ja, ich werde es ihm borgen!« heulte Mes-Bottes. »Hier, Bibi, wirf ihm sein Geld in den Rachen, diesem Verbrecher!«

Dann wandte er sich an Coupeau:

»Du siehst ja wie 'ne Amme aus. Laß deine Puppe los. Sie macht bucklig.«

Einen Augenblick zögerte Coupeau, dann nahm er ruhig, als ob er sich nach reiflichem Nachdenken dazu entschlossen habe, seinen Arbeitssack herunter, legte ihn auf die Erde und sagte:

»Es ist jetzt doch schon zu spät. Ich werde nach dem Frühstück zu Bourguignon gehen. Ich kann ja sagen, daß meine Alte Leibschmerzen bekommen hat ... Hört mal! Vater Colombe, ich lasse meine Werkzeuge hier unter dem Ladentisch und hole sie mittags ab.«

Lantier billigte mit einem Kopfnicken diese Abmachung. Man muß ja arbeiten, darüber ist kein Zweifel; wenn man aber mit Freunden zusammen ist, muß man zu allererst höflich sein. Die Lust an der Völlerei hatte sie zuerst gekitzelt und hernach betäubt, ihre Hände waren schwer geworden, und ihre Blicke irrten unsicher umher. Die Aussicht, daß sie nun fünf Bummelstunden vor sich hatten, erfüllte sie mit lärmender Lustigkeit, sie schlugen sich gegenseitig auf die Schultern und brüllten sich zärtliche Worte ins Gesicht. Coupeau, der sich besonders erleichtert und wie verjüngt fühlte, nannte die anderen »mein alter Ast!« Man gönnte sich nun noch einen allgemeinen Satz und ging dann in den »schnarchenden Floh«, ein übel beleumundetes Lokal, wo ein Billard war. Der Hutmacher zog zuerst ein Gesicht, weil das Lokal wirklich nicht sehr reinlich war: der Schnaps kostete dort einen Franken der Liter, ein Schoppen in zwei Gläsern zehn Sous; die Gäste des Lokals hatten so viel Schmutzereien auf dem Billard gemacht, daß die Bälle beinahe anklebten. Als die Partie einmal beschlossen war, fand Lantier, der ganz außerordentlich Billard spielte, seine Liebenswürdigkeit und gute Laune wieder, er machte schöne Stellungen beim Spiel und begleitete jede Karambolage mit einer interessanten Hüftbewegung.

Als die Frühstücksstunde herangekommen war, hatte Coupeau einen guten Gedanken. Er stampfte mit dem Fuß auf und schrie:

»Wir müssen hingehen und Salzschnabel abholen! Ich weiß, wo er arbeitet ... Wir nehmen ihn dann mit zur Mutter Luise und essen Hühnerpoten!«

Die Idee fand Beifall. Ja, der Salzschnabel, genannt Sauf-aus-ohne-Durst, der mußte die Hühnerpoten mitessen. So gingen sie ab. Die Straßen waren von gelblichem Licht erfüllt, dabei regnete es ein wenig; aber es war ihnen allen schon zu warm, als daß sie von dem leichten Guß auf ihre Köpfe etwas bemerkt hätten. Coupeau führte sie in die Mercadet-Straße zu der Bolzenfabrik. Da sie eine volle halbe Stunde vor der Mittagspause ankamen, so gab der Zinkarbeiter einem Straßenjungen zwei Sous, damit er hineingehe und dem Salzschnabel sage, seine Frau sei unwohl geworden, er müsse gleich nach Hause kommen. Der Schmied kam auch gleich, er wiegte sich in den Hüften und sah sehr unbesorgt aus, er ahnte schon irgendeine Sauferei im Hintergrunde.

»Ach, diese Brüllochsen!« sagte er, als er sie hinter einer Tür versteckt fand. »Ich habe es mir schon gedacht ... Nun? Was wollen wir denn essen?«

Als sie alle bei der Mutter Luise an den kleinen Knochen lutschten, schimpften sie wieder auf die Meister. Salzschnabel, genannt Sauf-aus-ohne-Durst, erzählte, daß in seiner Bude eine eilige Bestellung sei. Dann könne der Affe so höflich sein; wenn man dreist beim Aufruf nicht da sei, bleibe er doch liebenswürdig; er könne noch von Glück sagen, wenn man überhaupt wiederkomme. Vorläufig habe es noch keine Not, daß ein Meister je wagen solle, den Salzschnabel vor die Tür zu setzen, denn so leicht fände man solchen Burschen nicht wieder. Nach den Hühnerpoten aßen sie einen Eierkuchen. Jeder trank dazu einen Liter. Die Mutter Luise ließ ihren Wein aus der Auvergne kommen, der hatte eine Farbe wie Blut und war so dick, daß man ihn hätte mit dem Messer schneiden können. Das fing nun an ein bißchen toll zu werden, das Saufgelage kam immer besser in den Zug.

»Was hat denn dieser verdammte Affe sich um mich zu kümmern?« schrie Salzschnabel beim Nachtisch. Hat der doch jetzt gar eine Glocke an seiner vermaledeiten Bude angebracht! Eine Glocke ist gut für Sklaven ... Na! die soll heute nur immer klingeln! Das müßte schlimm kommen, wenn sie mich heute noch mal an den Amboß kriegen! Seit fünf Tagen schinde ich mich, ich kann es gern entbehren ... Wenn er mir einen Abzug macht, schicke ich ihn nach Chaillot!« Anmerk. des Übersetzers: Envoyer quelqu'un à Chaillot heißt soviel wie: »Macht, daß Ihr weiter kommt!« und ist ein sehr gebräuchliches Schimpfwort. Das Dorf Chaillot war früher von allerlei Gesindel bewohnt. Wenn man von einer Agnes von Chaillot sprach, so bezeichnete man damit eine gefallene Dirne niedrigster Art.

»Ich muß euch jetzt verlassen!« sagte Coupeau mit wichtiger Miene, »ich gehe arbeiten! Ja, ja, ich habe es meiner Frau zugeschworen ... Laßt es euch gut gehn, ich bleibe mit meinem Herzen bei den Kameraden, das wißt ihr ja!«

Die anderen machten ihn lächerlich. Er aber schien so entschlossen, daß sie ihn alle begleiteten, als er davon sprach, sein Handwerkszeug vom Vater Colombe zu holen. Er nahm dort seinen Sack von der Bank und legte ihn vor sich, während man noch einen letzten Tropfen trank. Um ein Uhr traktierte sich die Gesellschaft noch immer. Da brachte Coupeau mit gelangweilter Miene sein Handwerkszeug wieder unter den Ladentisch zurück; es war ihm jetzt lästig, er konnte nicht an den Schanktisch treten, ohne darüber zu stolpern. Es sei ja zu dumm, er werde am nächsten Tage zu Bourguignon gehen. Die vier anderen, die sich über die Lohnfrage stritten, waren gar nicht verwundert, als sie Coupeau aufforderte, einen kleinen Spaziergang auf den Boulevards zu machen, um sich die Füße zu vertreten. Der Regen hatte jetzt aufgehört. Der Spaziergang beschränkte sich darauf, daß sie auf einer Strecke von zweihundert Schritten hin und her gingen; sie schlenkerten mit den Armen und sprachen fast gar nicht mehr, die frische Luft benahm sie, und sie langweilten sich draußen. Langsam, ohne vorherige Verabredung, ja, ohne daß einer nötig gehabt hätte, dem andern mit dem Ellenbogen die Richtung zu bezeichnen, stiegen sie ganz von selbst die Fischerstraße wieder hinauf; dort gingen sie zu Franz hinein, um einen Schoppen Wein von der Flasche zu trinken. Das tat ihnen wirklich nötig, um wieder auf die Strümpfe zu kommen. Man wurde auf der Straße gar zu traurig; es war so schmutzig, daß man keinen Stadtsergeanten vor die Tür hätte jagen mögen. Lantier veranlaßte die Kameraden, in das Kabinett zu gehen: das war ein kleiner, enger Winkel, den ein einziger Tisch ausfüllte, und den eine Holzwand mit matten Scheiben von der allgemeinen Trinkstube trennte. Es war Lantiers besondere Vorliebe, in Kabinetten zu trinken, weil es vornehmer war. Waren die Kameraden da nicht gut aufgehoben? War man da nicht wie zu Hause? Man hätte, ohne sich zu genieren, ein kleines Schläfchen machen können. Er verlangte nach einer Zeitung, die er groß ausbreitete und mit gerunzelten Augenbrauen durchflog. Coupeau und Mes-Bottes hatten eine Partie Piquet angefangen. Zwei Liter und fünf Gläser standen auf dem Tisch.

»Na, was lügen die denn da in der Zeitung wieder zusammen?« fragte Bibi-la-Grillade den Hutmacher.

Er antwortete nicht sogleich. Dann fing er, ohne die Augen zu erheben, an:

»Ich lese hier von der Kammer. Das sind auch Republikaner für vier Sous das Stück, diese verdammten Bummler von der Linken! Glauben sie wirklich, daß das Volk sie gewählt hat, damit sie da ihre Zuckerwasserreden halten! ... Der glaubt an Gott und macht den Canaillen von Ministern Liebeserklärungen! Ich, wenn ich gewählt wäre, ich würde auf die Tribüne steigen und sagen: Sch...! Ja, ja; nicht mehr und nicht weniger, das ist meine Meinung!«

»Ihr wißt doch, daß Badinguet Anmerk. des Übersetzers: Badinguet ist der Spitzname für Napoleon III. neulich abend vor dem ganzen Hofe seine Frau geschlagen hat!« erzählte Sauf-aus-ohne-Durst. »Mein Ehrenwort darauf! Und um nichts und wieder nichts haben sie das Zanken gekriegt. Badinguet war angerissen!«

»Laß uns doch mit deiner faulen Politik ungeschoren!« schrie der Zinkarbeiter. »Lies lieber die Morde, das ist amüsanter!«

Dann wandte er sich seinem Spiel wieder zu und meldete eine Terz von der Neun und drei Damen:

»Ich habe eine Terz von oben runter und drei Täubchen ... Ja, die Krinolinen verlassen mich nicht!«

Alle leerten ihre Gläser. Lantier las jetzt ganz laut vor:

»Ein entsetzliches Verbrechen hat die Gemeinde Gaillon (Seine-Marne) in Schrecken versetzt. Ein Sohn hat seinen Vater mit einem Spaten erschlagen, um ihm dreißig Sous zu stehlen ...«

Alle stießen Rufe der Entrüstung aus. Das war einer, da wären sie alle gern hingegangen, um ihn einen Kopf kürzer machen zu sehen. Die Guillotine war noch nicht einmal Strafe genug, den hätte man in kleine Stücke reißen müssen! Ein Kindesmord empörte sie ebenso. Aber der Hutmacher spielte sich als den Moralischen auf, er entschuldigte die Frau und gab ihrem Verführer alle Schuld; denn wenn so ein Schuft von einem Kerl das Mädchen nicht unglücklich gemacht hätte, so hätte sie nie ein Kind umbringen können! Sehr bewundert wurden die Heldentaten eines Marquis de T......, der, um zwei Uhr morgens von einem Balle heimkehrend, sich auf dem Invaliden-Boulevard gegen drei Strolche verteidigte; dabei hatte er es nicht einmal der Mühe für wert gehalten, seine Handschuhe auszuziehen; der beiden ersten Lumpen hatte er sich entledigt, indem er ihnen mit seinem Kopf gegen den Bauch rannte, und den dritten dann an einem Ohr zur Wache geführt. Potz tausend! hatte der eine Faust! Wie schade, daß so einer gerade adlig sein muß!

»Hört jetzt einmal zu!« fuhr Lantier fort. »Ich komme jetzt zu den Neuigkeiten aus der hohen Gesellschaft! Die Gräfin von Bertigny verheiratet ihre älteste Tochter an den jungen Adjutanten Sr. Majestät, den Baron von Valancay. Bei den Brautgeschenken befanden sich für dreimalhunderttausend Franken Spitzen ...«

»Was geht uns denn das an?« schrie Bibi-la-Grillade. »Ich will nicht wissen, was ihre Hemden für eine Farbe haben ... Die Kleine kann soviel Spitzen haben wie sie will, deshalb muß sie doch den Mond durch dieselben Löcher sehen wie die anderen!«

Als Lantier Miene machte, seine Lektüre fortzusetzen, nahm ihm Sauf-aus-ohne-Durst die Zeitung ab und setzte sich darauf, dabei sagte er:

»Nun ist es genug! ... Nun will ich sie hier warm halten ... Das Papier ist zu weiter nichts zu gebrauchen!«

Mes-Bottes, der seine Karten angesehen hatte, schlug triumphierend mit der Faust auf den Tisch. Er machte dreiundneunzig.

»Bei mir ist Revolution!« schrie er. »Eine Quint-Major, die bis in die Puppen geht ... Das macht zwanzig, nicht wahr? Dann Terz-Major in Caro, dreiundzwanzig; drei Könige, sechsundzwanzig; drei Buben, neunundzwanzig; drei Asse, zweiundneunzig ... Nun spiele ich im ersten Jahre der Republik, das macht dreiundneunzig!«

»Du bist aufgeschrieben, mein alter Junge!« schrien die anderen Coupeau zu.

Damit bestellten sie zwei frische Liter. Die Gläser wurden schon nicht mehr geleert, und die Trunkenheit steigerte sich immer mehr. Gegen fünf Uhr wurde es so widerwärtig, daß Lantier sich ganz still hielt und daran dachte, sich davonzumachen; wenn sie erst so weit waren, daß sie heulten und den Wein auf die Erde gossen, paßte es ihm nicht mehr. Gerade jetzt war Coupeau aufgestanden, um das Zeichen des Kreuzes für die Säufer zu machen. Den Kopf taufte er Montparnasse, die rechte Schulter Menilmoutant, die linke Schulter Courtille, die Mitte des Bauches Bagnolet. Der Hutmacher benutzte das Schreien und den Tumult, der dieses Tun begleitete, um ganz still fortzugehen. Die Kameraden wurden seine Abwesenheit gar nicht einmal gewahr. Er war selbst schon ziemlich stark angerissen. Als er erst draußen war, richtete er sich auf und fand bald seine Sicherheit wieder; er kam ruhig in den Laden zurück und erzählte Gervaise, daß er Coupeau in der Gesellschaft seiner Freunde gelassen habe.

Danach verstrichen zwei Tage. Der Zinkarbeiter war nicht wieder zum Vorschein gekommen. Er trieb sich im Quartier umher, man wußte nicht recht wo. Dabei hatten ihn verschiedene Leute gesehen, einmal bei der Mutter » Baquet im Papillon«, oder bei dem » hustenden Männchen«. Nur versicherten die einen, er sei allein gewesen, während die anderen behaupteten, ihn in einer Gesellschaft von noch sieben oder acht solchen Hartsäufern, wie er selbst, getroffen zu haben. Gervaise zuckte mit gefaßter Miene die Achseln. Mein Gott! an so etwas mußte man sich gewöhnen! Sie lief ihrem Mann nicht nach: im Gegenteil, wenn sie ihn bei einem Weinwirt sah, machte sie einen Umweg, um ihn nicht wütend zu machen; sie wartete ruhig, bis er nach Hause kam und horchte in der Nacht hin und wieder auf, ob er nicht vor der Ladentür schnarche. Er schlief gewöhnlich auf einem Schutthaufen, einer Bank, auf einer Baustelle oder in einem Rinnstein. Wenn er am Morgen den Rausch des vorigen Abends noch nicht ganz verschlafen hatte, ging er wieder davon, schlug an die Fensterläden, versuchte sich durch neues Trinken zu betäuben und begann wieder seine rasende Jagd, immer von Schnapsgläsern, Schoppen und Litern umgeben; er verlor und fand seine Freunde auf diesen Reisen, von denen er voller Schrecken heimkehrte, weil er die Straße wanken sah. Die Nacht senkte sich hernieder, und der junge Tag stieg empor, ohne daß er einen andern Gedanken hätte fassen können, als immer wieder zu trinken und auf der Stelle seinen Rausch zu verschlafen. Wenn er nur schlief, dann war alles aus. Gervaise ging diesmal dennoch am zweiten Tage in den »Totschläger« des Vaters Colombe, um sich zu erkundigen; er war dort fünfmal wieder hingekommen, mehr konnte man ihr nicht sagen. Sie mußte sich damit begnügen, sein Handwerkszeug mitzunehmen, das unter der Bank liegengeblieben war.

Als Lantier am Abend sah, wie verstimmt die Wäscherin war, schlug er ihr vor, sie in ein Kaffeekonzert zu führen, damit sie sich ihre trüben Gedanken aus dem Kopfe schlage. Sie schlug es zuerst ab, sie sei nicht zum Lachen aufgelegt. Zu anderer Zeit hätte sie nicht nein gesagt, denn er machte ihr sein Anerbieten mit so ehrlicher Miene, daß sie sich keiner Verräterei von seiner Seite versah. Er schien voller Mitgefühl für ihr Unglück zu sein und zeigte sich wirklich ganz väterlich. Unwillkürlich mußte sie alle zehn Minuten nach der Ladentür laufen, ohne dabei ihr Eisen aus der Hand zu setzen; sie sah nach beiden Seiten die Straße hinauf und hinunter, ob ihr Mann nicht nach Hause komme. Es war ihr in die Beine gefahren, wie sie sagte, und peinigte sie so, daß sie nicht ruhig auf einem Fleck bleiben konnte. Es war so leicht möglich, daß Coupeau sich Schaden getan habe, er konnte unter einen Wagen geraten und mit zerbrochenen Beinen liegenbleiben. Sie sei dann eine schöne Last losgeworden, sie verwahrte sich förmlich dagegen, in ihrem Herzen auch noch einen Schimmer von Freundschaft für eine so ekelhafte Person zu hegen. Aber schließlich war es doch ärgerlich, sich immer zu fragen, wird er nun nach Hause kommen oder nicht? Als man das Gas anzündete und Lantier wieder von dem Kaffeekonzert zu sprechen anfing, nahm sie seine Einladung an. Wenn sie alles recht bedachte, war es zu dumm, sich ein Vergnügen zu versagen, wo ihr Mann schon seit drei Tagen das Leben eines Vagabunden führte. Da er nicht nach Hause kam, konnte sie ja auch ausgehen. Ihretwegen mochte die Bude zum Teufel gehen, wenn sie wollte; sie hätte selbst am liebsten Feuer an die Baracke gelegt, so sehr verbitterten ihr alle die Sorgen und Qualen das Leben.

Es wurde schnell zu Mittag gegessen. Als Gervaise gegen acht Uhr am Arm des Hutmachers ausging, bat sie Mama Coupeau und Nana, doch gleich zu Bette zu gehen. Der Laden wurde geschlossen. Sie ging durch die Tür, die zum Hofe führte, übergab Madame Boche den Schlüssel und bat, sie möge die Güte haben, ihr Schwein zu Bette zu legen, wenn es nach Hause kommen solle. Der Hutmacher wartete unter dem Torweg auf sie, er war sehr gut angezogen und pfiff ein Lied. Sie hatte ihr Seidenkleid angelegt. Sie gingen langsam die Straße entlang, eng aneinandergepreßt; der helle Schein aus den Läden beleuchtete sie hin und wieder, wie sie lächelnd und mit leiser Stimme sprechend dahingingen.

Das Kaffeekonzert auf dem Boulevard Rochechouart war ein kleines, altes Lokal, das man nach dem Hofe zu durch einen Bretteranbau erweitert hatte. Am Eingang erblickte man einen leuchtenden Bogen, der durch Glasglocken gebildet wurde. Lange Anzeigen hatte man auf Bretter geklebt und diese in der Nähe des Rinnsteins auf die Erde gestellt.

»Da sind wir«, sagte Lantier, »heute Abend ist das erste Auftreten des Fräuleins Amanda, einer Soubrette.«

Mitten in dieser Erklärung bemerkte er Bibi-la-Grillade, der auch die Zettel las. Bibi hatte von irgendeinem Schlage, den er abends zuvor bekommen hatte, ein Auge ganz braun und blau.

»Wo ist Coupeau?« fragte der Hutmacher, indem er um ihn herum suchte, »habt Ihr denn Coupeau verloren?«

»Oh! Das ist schon lange her, seit gestern«, antwortete der andere. »Beim Fortgehen von Mutter Baquet hat es eine Schlägerei gegeben. Ich liebe solche Sachen nicht ... Ihr kennt doch den Kellner der Mutter Baquet, mit dem hat es Streit gegeben wegen eines Liters, den er zweimal von uns bezahlt haben wollte ... Da bin ich denn fortgegangen und habe mich ein bißchen aufs Ohr gelegt.«

Er gähnte noch, obwohl er volle achtzehn Stunden geschlafen hatte. Er war übrigens vollständig ausgenüchtert, seine Miene war abgestumpft und seine alte Jacke voller Bettfedern, er mußte sich mit allen Kleidern niedergelegt haben.

»Sie haben keine Ahnung, wo mein Mann ist?« fragte die Wäscherin.

»Nein, keine Ahnung ... Es war fünf Uhr, als wir von der Mutter Baquet gingen. Wartet mal! ... Er ist vielleicht die Straße hinabgegangen. Ja, ich glaube sogar, daß ich ihn mit einem Kutscher habe in den » Schmetterling« gehen sehen ... Das ist doch zu dumm! Wahrhaftig, man verdiente totgeschlagen zu werden!«

Lantier und Gervaise unterhielten sich während des ganzen Abends sehr gut in dem Kaffeekonzert.

Als um elf Uhr geschlossen wurde, kamen sie tänzelnd zurück, ohne sich im geringsten zu beeilen. Es war ein wenig kalt geworden, die Leute gingen truppweise nach Hause; von den Mädchen wollten einige vor Lachen beinahe sterben, weil die Männer im Schatten der Bäume zu handgreifliche Scherze machten. Lantier sang zwischen den Zähnen eines der Lieder von Fräulein Amanda: Nur in der Nase bin ich kitzlig. Gervaise, die betäubt und beinahe wie trunken war, wiederholte den Kehrreim. Es war ihr sehr warm gewesen. Dann lag ihr das, was sie genossen hatte und der Rauch der vielen Pfeifen, vermischt mit den Dünsten der Gesellschaft, die dort zusammengepfercht war, schwer auf dem Magen. Die lebhafteste ihrer Empfindungen war der Eindruck, den Fräulein Amanda auf sie gemacht hatte. Sie hätte es nie gewagt, in solcher Nacktheit sich öffentlich zu zeigen. Wenn man gerecht war, mußte man zugeben, daß diese Dame eine Haut hatte, die wirklich reizend war. Sie hörte mit lüsterner Neugierde von Lantier noch näheres über die fragliche Dame; dieser gab seine Wissenschaft mit der Miene eines Lebemannes von sich, als ob er mit all diesen Dingen ganz besonders vertraut zu sein Gelegenheit gehabt habe.

»Alle schlafen schon«, sagte Gervaise, als sie dreimal an der Hausglocke gezogen hatte, ohne daß die Boches öffneten.

Als die Tür aufging, war der Hausflur dunkel, und als sie an die Scheibe der Pförtnerloge klopfte, um ihren Schlüssel zu fordern, rief ihr die verschlafene Pförtnersfrau eine Geschichte zu, von der sie vorerst kein Wort verstand. Endlich begriff sie, daß der Sergeant Poisson Coupeau in einem ganz tollen Zustande nach Hause geführt habe, und daß der Schlüssel in der Tür stecken müsse.

»Zum Teufel!« murmelte Lantier, als sie eingetreten waren, »was hat der denn hier gemacht? Das ist ja die reine Pest.«

Es roch in der Tat recht durchdringend. Gervaise, die nach Streichhölzern suchte, fühlte, daß sie im Nassen ging. Als sie endlich ein Licht anzündete, hatten sie ein hübsches Schauspiel vor Augen. Coupeau hatte sich übergeben; das ganze Zimmer war voll; das Bett war beschmutzt, ebenso der Teppich, auch an der Kommode war es hochgespritzt. Überdies war Coupeau vom Bett, auf das Poisson ihn wohl gelegt hatte, herabgefallen und schnarchte mitten in seinem Schmutze. Er lag darin ausgestreckt wie ein Schwein, seine eine Backe war beschmutzt und sein verpesteter Atem kam aus dem weit offenen Munde, mit seinen schon ergrauten Haaren wischte er in der Pfütze herum, die seinen Kopf umgab?

»Oh, das Schwein! das Schwein!« wiederholte Gervaise entrüstet und außer sich. »Er hat alles beschmutzt ... Das hätte nicht einmal ein Hund gemacht, ein krepierter Hund ist sauberer wie der.«

Keiner von ihnen wagte sich zu rühren, weil sie nicht wußten, wohin sie die Füße setzen sollten. Nie war der Zinkarbeiter so total betrunken nach Hause gekommen, und nie hatte er das Zimmer in einen solchen abscheulichen Zustand versetzt, wie diesmal. Dieser Anblick zerstörte für immer den letzten Rest von Empfindung, den seine Frau etwa noch für ihn hatte hegen können. Wenn er früher angesäuselt oder selbst angerissen nach Hause kam, zeigte er sich liebenswürdig und war nie ekelhaft. Der Gedanke, daß die Haut dieses rohen Kerls ihre Haut berühren könne, verursachte ihr schon Ekel, man hätte ebensogut von ihr verlangen können, sich neben einen Toten zu legen, der an einer ansteckenden Krankheit gestorben ist.

»Irgendwo muß ich doch schlafen«, murmelte sie. »Ich kann mich doch nicht auf die Straße hinlegen ... Dann möchte ich doch lieber über ihn hinwegsteigen.«

Sie versuchte über den Trunkenbold zu schreiten, mußte sich aber an der Kommode festhalten, um in dem Schmutz nicht auszugleiten. Coupeau versperrte vollkommen den Zugang zum Bett. Da nahm Lantier, der mit einem Lächeln merkte, daß sie diese Nacht doch nicht auf ihrem Kopfkissen schlafen werde, sie bei der Hand und sagte mit leiser, leidenschaftlicher Stimme:

»Gervaise ... höre, Gervaise ...«

Sie hatte genug gehört und machte sich los, in ihrer Bestürzung duzte auch sie ihn, wie früher.

»Nein, laß mich gehen ... Ich beschwöre dich, August, gehe in dein Zimmer ... Ich werde mich einrichten, ich will vom Fußende ins Bett steigen.«

»Gervaise, höre doch, sei nicht kindisch«, wiederholte er. »Es riecht zu schlecht, du kannst nicht bleiben ... Komm! Was fürchtest du denn? Er hört uns nicht, dafür stehe ich.«

Sie kämpfte noch, energisch schüttelte sie mit dem Kopf. In ihrer Verwirrung wollte sie zeigen, daß es ihr mit dem Dableiben Ernst war, und so begann sie sich zu entkleiden, ihr Seidenkleid warf sie über einen Stuhl und zog sich hastig bis auf Hemd und Unterrock aus, so daß sie ganz weiß, mit nacktem Hals und bloßen Armen dastand. Ihr Bett gehörte ihr, nicht wahr? sie wollte durchaus in ihrem Bett schlafen. Zweimal versuchte sie es noch, eine reine Stelle zu finden, wo sie durchschlüpfen könne. Aber Lantier gab nicht nach, er faßte sie um die Taille und sagte ihr Dinge, die ihr Blut wallen machten. Sie war da in einer schönen Lage mit einem ekelhaften Tier von Ehemann vor sich, der sie daran hinderte, sich ehrbar in ihr Bett zu legen, und einem verdammten Schuft von einem Mann im Rücken, der nur daran dachte, ihr Unglück auszunützen und sie wieder für sich zu gewinnen! Da der Hutmacher lauter zu sprechen anfing, bat sie ihn, stille zu sein. Sie horchte nach der Tür des Kabinetts hin, wo Nana und Mama Coupeau schliefen. Die Kleine und die Alte mußten in festem Schlaf liegen, denn man hörte ihr regelmäßiges Atmen.

»August, laß mich, du wirst sie noch aufwecken«, fing sie wieder mit gefalteten Händen an. »Sei doch vernünftig. Ein andermal ... Nicht hier vor meiner Tochter ...«

Jetzt sprach er nicht mehr, aber seine Miene blieb lächelnd; langsam küßte er sie aufs Ohr, wie er es früher tat, wenn er sie necken und betäuben wollte. Das machte sie wehrlos, sie fühlte ein gewaltiges Sausen, und ein Frösteln überlief sie von Kopf bis Fuß. Trotzdem machte sie noch einen Schritt. Doch sie mußte zurückweichen. Es war nicht möglich, der Ekel war so groß, der Geruch wurde so unerträglich, daß sie selbst in ihrem Bett sich hätte übergeben müssen. Coupeau lag wie tot da, seine Trunkenheit hatte ihn völlig benommen und nahezu leblos gemacht, er verschlief seinen Rausch mit totensteifen Gliedern und aufgesperrtem Maul. Die ganze Straße hätte hereinkommen können und seine Frau küssen, ohne daß sich auch nur ein Haar auf seinem Körper bewegt hätte.

»Um so schlimmer,« stotterte sie, »es ist seine Schuld, ich kann nicht anders ... Oh! mein Gott! oh! mein Gott! er wirft mich aus meinem Bett, ich habe kein Bett mehr ... Nein, ich kann nicht anders, es ist seine Schuld.«

Sie zitterte und verlor den Kopf. Während Lantier sie vor sich her seinem Zimmer zudrängte, zeigte sich Nanas Kopf hinter einer der Glasscheiben der Tür des Kabinetts. Die Kleine war aufgewacht und ganz leise aufgestanden, in ihrem Hemdchen kauerte sie da ganz blaß und verschlafen. Sie sah ihren Vater am Boden in der Schmutzlache liegen; sie preßte ihr Gesichtchen gegen die Scheibe und blieb, um zu warten, bis der Unterrock ihrer Mutter in dem Zimmer des andern Mannes da gegenüber verschwunden war. Sie war ganz ernst. In ihren großen Augen eines lasterhaften Kindes leuchtete es wie eine sinnliche Neugier auf.


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