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Zweites Kapitel.

Drei Wochen später, an einem schönen, sonnigen Tage, gegen elfeinhalb Uhr, aßen Gervaise und Coupeau, der Zinkarbeiter, im »Totschläger« des Vater Colombe eine Pflaume. Anmerk. des Übersetzers: In den Pariser Weinschänken ist es Sitte, Früchte, besonders Pflaumen, in Branntwein einzulegen. Coupeau, der auf dem Bürgersteig eine Zigarette rauchte, hatte sie gezwungen, dort einzutreten, als sie, vom Wäscheaustragen zurückkehrend, die Straße überschritt; ihr großer, viereckiger Wäschekorb stand neben ihr auf der Erde hinter dem kleinen Tisch von Zink.

Der »Totschläger« des Vater Colombe befand sich an der Ecke der Fischerstraße und des Boulevard Rochechouart. Auf dem Schilde stand in langen, blauen Buchstaben, die von einem Ende bis zum anderen reichten, das eine Wort: Destillation. An der Türe standen in zwei halben Fässern verstaubte Oleanderbäume. Der sehr große Schanktisch mit seinen Reihen von Gläsern, dem Spülbecken und seinen Maßen von Zinn befand sich links vom Eingang; der weite Saal war ringsumher mit hellgelb angestrichenen Tonnen geschmückt, die ganz spiegelblank gefirnist waren, und deren kupferne Bänder und Hähne leuchteten. Höher hinauf verdeckten Branntweinflaschen, Gefäße mit Früchten und allerlei Arten von Flaschen, die auf Holzgestellen aufgestellt waren, die Mauern, sie spiegelten sich in den Spiegeln hinter dem Schanktisch mit ihren lebhaften, apfelgrünen oder blassen, zarten Lacktönen. Die größte Sehenswürdigkeit der Schenke aber befand sich ganz am Ende hinter einem Verschlag von Eichenholz; in einem glasüberdeckten Hofe sahen dort die Gäste den Destillierapparat arbeiten, langhalsige Destillierkolben und Schlangenröhren, die bis in die Erde hineinreichten. Es war eine wahre Hexenküche, bei deren Anblick sich die trunkenen Arbeiter in Träumereien verloren.

Jetzt um die Frühstücksstunde blieb der »Totschläger« leer. Ein dicker Mann von vierzig Jahren, der Vater Colombe, in einer Ärmelweste bediente ein kleines, zehnjähriges Mädchen, das von ihm für vier Sous Schnaps in einer Tasse verlangte. Die durch die Tür hereinfallenden Sonnenstrahlen erwärmten den durch das Spucken der Raucher ewig feuchten Fußboden. Von dem Schanktisch, von all den Fässern, die im ganzen Saale standen, ging ein Likörgeruch, ein Duft von Alkohol aus, der die tanzenden Sonnenstäubchen zu verdicken und zu berauschen schien.

Coupeau drehte sich eine neue Zigarette. Er sah sehr sauber aus mit seiner Bluse und der kleinen Mütze von blauer Leinwand; lachend zeigte er seine weißen Zähne. Sein Unterkiefer sprang ein wenig vor, die Nase war leicht eingedrückt, er hatte schöne, kastanienbraune Augen und im Gesicht einen Ausdruck von Frohsinn, der mit großer Gutmütigkeit gepaart war. Sein dickes, leicht gekräuseltes Haar stand ganz aufrecht. Seine Haut zeigte die ganze Frische und Zartheit seiner sechsundzwanzig Jahre. Ihm gegenüber verzehrte Gervaise in einem schwarzen Umhängetuch mit bloßem Kopf den Rest ihrer Pflaume, die sie mit den Fingerspitzen am Stengel hielt. Sie waren nahe bei der Straße an dem ersten der vier Tische, die längs der Fässer vor dem Schanktisch aufgestellt waren.

Als der Zinkarbeiter seine Zigarette angesteckt hatte, legte er seine Ellenbogen auf den Tisch, beugte sein Gesicht vor und betrachtete einen Augenblick, ohne zu sprechen, die junge Frau, deren hübsches Blondinengesicht an diesem Tage die milchige Durchsichtigkeit feinen Porzellans hatte. Auf eine nur von ihnen allein gekannte und schon besprochene Angelegenheit anspielend, fragte er sie halblaut:

»Also nein? Ihr sagt nein?«

»Ganz gewiß, nein, Herr Coupeau,« antwortete ruhig lächelnd Gervaise. »Ihr wollt mir doch hoffentlich hier nicht davon reden. Ihr habt mir doch versprochen, vernünftig zu sein ... Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich Eurer Einladung hierher nicht gefolgt.«

Er sprach nicht, doch fuhr er fort, sie so ganz nahebei mit einer Art kecker Zärtlichkeit zu betrachten, die sich besonders leidenschaftlich für ihre Mundwinkel zeigte, diese kleinen Winkel von zartem, feuchtem Rosa, welche das lebhaftere Rot des inneren Mundes sehen ließen, wenn sie lächelte. Sie rückte trotzdem nicht zurück, sondern blieb ruhig und teilnehmend. Nach einigem Stillschweigen sagte sie noch:

»Ihr solltet wirklich nicht daran denken. Ich bin eine alte Frau und habe einen Jungen von acht Jahren ... Was sollten wir denn zusammen machen?«

»Ei der Tausend!« murmelte Coupeau und zwinkerte mit den Augen, »was die anderen machen!«

Sie machte eine verdrossene Bewegung.

»Oh! Ihr glaubt doch nicht, daß es immer vergnüglich ist? Man sieht, daß Ihr niemals mit jemandem zusammen gelebt habt ... Nein, Herr Coupeau, ich muß an ernste Dinge denken. Das lustige Bummelleben führt zu nichts, seht Ihr doch ein. Ich habe zu Hause zwei Mäulchen zu stopfen, die tapfer dreinhauen, laßt es nur gut sein. Wie denkt Ihr Euch, daß ich es anfangen soll, meine Kleinen großzuziehen, wenn ich mich auf die leichte Seite lege? ...

Und dann, hört, mein Unglück ist mir eine gute Lehre gewesen. Ihr wißt, die Männer von heutzutage – es ist nichts mehr für mich. Es wird lange dauern, ehe man mich wieder einmal darankriegt!«

Sie machte ihre Auseinandersetzung ohne Heftigkeit mit großer Ruhe und Klugheit, als behandle sie eine Frage der Arbeit, etwa die Gründe, die sie verhinderten, ein Spitzentuch in die Stärke zu tauchen. Man sah wohl, daß sie nach langem und reiflichem Überlegen zu diesen Ansichten gekommen war.

Coupeaus Stimmung verdüsterte sich, er wiederholte:

»Ihr tut mir weh, sehr weh ...«

»Das sehe ich,« fuhr sie fort, »und es betrübt mich Euretwegen, Herr Coupeau ... Es muß Euch aber nicht verletzen. Wenn ich daran dächte, ein lustiges Leben zu führen, mein Gott! so täte ich es lieber mit Euch als mit jedem anderen. Ihr seht gutmütig aus und seid hübsch. Wir würden uns zusammentun, nicht wahr? und gingen dann soweit, wie es eben geht. Ich spiele mich ja nicht als Prinzessin auf, ich sage nicht, daß es nicht hätte so kommen können ... Aber wozu soll es? Ich habe einmal keine Lust.

Seit vierzehn Tagen bin ich bei Madame Fauconnier. Die Kleinen gehen zur Schule. Ich arbeite und bin zufrieden ... Was meint Ihr? Das beste ist, die Sache so zu lassen, wie sie ist.«

Hierauf bückte sie sich, um ihren Korb zu nehmen.

»Ihr habt mich so lange plaudern lassen, man wird mich im Geschäft erwarten ... Laßt es nur gut sein, Ihr findet. eine andere, Herr Coupeau, hübscher als ich, und die nicht zwei Bälge mit sich herumzieht.«

Er sah nach der Uhr, die oben in den Spiegelrahmen eingelassen war, und veranlaßte sie wieder niederzusitzen:

»Wartet doch! Es ist erst elf Uhr fünfunddreißig Minuten ... Ich habe noch fünfundzwanzig Minuten Zeit ... Ihr fürchtet doch nicht, daß ich Dummheiten mache, der Tisch ist ja zwischen uns ... Also Ihr verabscheut mich so, daß Ihr nicht noch ein bißchen mit mir plaudern wollt?«

Sie setzte aufs neue ihren Korb nieder, um ihn nicht zu verletzen, und sie sprachen als gute Freunde. Sie hatte gegessen, ehe sie ging, ihre Wäsche auszutragen. Er hatte sich diesen Tag beeilt, seine Suppe und sein Rindfleisch herunterzuwürgen, um sie abzupassen. Während Gervaise freundlich antwortete, betrachtete sie durch die Scheiben zwischen den Gefäßen mit in Branntwein eingemachten Früchten das Leben auf der Straße, wo während der Frühstückstunde große Menschenmengen auf und ab wogten. Auf den beiden Fußwegen zwischen den engen Häuserreihen war ein Eilen von Schritten, ein Schlenkern von Armen, ein Ellenbogenstoßen ohne Ende. Die Nachzügler, welche die Arbeit noch zurückgehalten hatte, kamen mit großen Sprüngen über den Straßendamm mit der verdrießlichen Miene des Hungers; sie traten gegenüber bei einem Bäcker ein; wenn sie wieder zum Vorschein kamen, hatten sie ein Pfund Brot im Arm; sie gingen dann drei Türen weiter nach dem »Zweiköpfigen Kalbe«, wo sie eine Portion zu sechs Sous aßen. Neben, dem Bäcker saß eine Hökerin, welche Bratkartoffeln und mit Petersilie gekochte Seemuscheln verkaufte; eine unaufhörliche Reihe von Arbeiterinnen in langen Schürzen trug fortwährend Tüten mit Kartoffeln und Tassen mit Seemuscheln fort; andere, hübsche Mädchen mit bloßem Kopfe und zartem Gesicht, kauften Bündel Radieschen. Wenn Gervaise sich vorbeugte, sah sie noch einen Wurstladen, der gedrängt voll war. Kinder kamen dort heraus, die in ihren Händen in fettiges Papier gewickelte panierte Koteletten, eine kleine oder ein Stück ganz warmer Wurst hielten. Indes sah man schon mehrere Arbeiter, welche die Garküchen verlassen hatten, auf der Straße, auf der selbst bei schönem Wetter durch das Gestampfe der hin und her wogenden Menge ein schwarzer Schmutz lag; sie bummelten in Trupps umher und klopften behaglich auf ihre eben gefüllten Bäuche; ruhig und langsam bewegten sie sich inmitten der stoßenden Menge. Eine Gruppe hatte sich an der Tür des »Totschlägers« gebildet.

»Sage doch, Bibi-la-Grillade,« fragte eine heisere Stimme, »zahlst du einen Satz Vitriol?«

Fünf Arbeiter traten ein, sie blieben stehen.

»Ah! dieser Spitzbube, der Vater Colombe!« hob die Stimme wieder an. »Wir wollen vom Alten haben, keine Nußschalen, gebt ordentliche Gläser!«

Der Vater Colombe bediente sie mit ruhigem Gleichmut. Eine andere Gesellschaft von drei Arbeitern kam an. Nach und nach häuften sich die Blusen, an der Ecke des Trottoirs machten sie kurz halt, um sich schließlich zwischen den beiden verstaubten Oleanderbäumen in den Saal zu schieben.

»Ihr seid dumm! Ihr denkt nur an Schlechtes!« sagte Gervaise zu Coupeau. »Gewiß liebte ich ihn ... aber nachdem er mich so abscheulich verlassen hat ...«

Sie sprachen von Lantier. Gervaise hatte ihn nicht wiedergesehen; sie glaubte, er lebe mit Virginies Schwester auf dem Eiskeller bei dem Freunde, der die Hutfabrik errichten sollte. Übrigens dachte sie nicht daran, ihm nachzulaufen. Es habe ihr zwar zuerst einen großen Schmerz bereitet, so daß sie sich ins Wasser stürzen wollte, aber jetzt sei sie ruhig geworden, und alles sei so aufs beste. Vielleicht habe sie mit Lantier niemals die Kinder ordentlich erziehen können, so viel Geld verbrauchte er für sich. Wenn er komme, um Claude und Etienne zu umarmen, könne er kommen, sie werde ihn nicht zur Tür hinauswerfen. Aber lieber lasse sie sich in Stücke zerhacken, ehe sie zugebe, daß er sie auch nur mit einer Fingerspitze berühre. Alles sagte sie wie ein entschlossenes Frauenzimmer, das sich seinen Lebensplan vorgezeichnet hat. Coupeau indessen, der von seinem Wunsch, sie zu besitzen, nicht abließ, scherzte und verdrehte alles ins Unzüchtige, er stellte in bezug auf Lantier, mit seinen weißen Zähnen lustig lachend, die kecksten Fragen, ohne daß Gervaise daran dachte, sich verletzt zu fühlen.

»Ihr habt ihn geschlagen,« sagte er endlich. »Ihr seid nicht gut, Ihr verhaut jeden.«

Sie unterbrach ihn mit einem langen Lachen. Sie hatte freilich das lange Gestell, die Virginie, verhauen. An diesem Tage hätte sie mit kaltem Blute jemanden erdrosseln können. Sie lachte noch mehr, als Coupeau ihr erzählte, daß Virginie außer sich darüber, alles gezeigt zu haben, das Viertel verlassen habe. Ihr Gesicht bewahrte einen Ausdruck kindlicher Sanftmut, sie streckte ihre hübschen, rundlichen Hände vor und versicherte, daß sie nicht eine Fliege töten könne; Schläge seien ihr nur daher bekannt, weil sie in ihrem Leben schon hübsche Trachten bekommen habe. Hierdurch kam sie auf ihre in Plassans verlebte Jugend zu sprechen. Sie sei niemals hinter den Männern her gewesen; es langweile sie; als sie Lantier mit vierzehn Jahren genommen, habe sie es hübsch gefunden, daß er sich ihren Mann genannt und sie geglaubt habe, sie spielten zusammen Ehewirtschaft. Ihr einziger Fehler, versicherte sie, sei, zu gefühlvoll zu sein, alle Welt lieb zu haben und sich für Leute zu erwärmen, die ihr hernach tausend Ungelegenheiten machten. Wenn sie daher einen Mann liebe, denke sie dabei an keine Dummheiten, ihr Traum sei immer, zusammen zu leben und glücklich zu sein. Als Coupeau scherzte und von ihren beiden Kindern sprach, die sie doch gewiß nicht unter ihrem Kopfkissen ausgebrütet habe, gab sie ihm einen Klaps auf die Hand und fügte hinzu, sie sei wohl ebenso gemacht wie alle anderen Frauen; aber es sei unrecht zu glauben, daß die Frauen so sehr hinter solchen Dingen her seien; die Frauen dächten an ihre Wirtschaft, sie arbeiteten sich im Hause zuschanden und legten sich des Abends zu ermüdet nieder, um sogleich einzuschlafen. Sie gleiche übrigens ihrer Mutter, einer tüchtigen Arbeiterin, die sich aufgerieben habe, weil sie dem Vater Macquart mehr denn zwanzig Jahre als Lasttier gedient habe. Sie sei nur schmächtig, indes ihre Mutter habe Schultern gehabt, Türen einzurennen; aber das hindere nicht, daß sie ihr gleiche in der Sucht, sich an Leute anzuschließen. Wenn sie ein wenig hinke, so habe sie auch das von der braven Frau, die der Vater Macquart mit Schlägen traktiert habe. Wohl hundertmal habe ihr diese erzählt von den Nächten, in denen der Vater betrunken heimgekehrt sei und sich dann von einer so rohen Zärtlichkeit gezeigt habe, daß er ihr fast die Glieder zerbrochen; sicherlich verdanke sie einer dieser Nächte ihr Dasein und ihr hinkendes Bein.

»Oh! das ist ja fast gar nichts, das sieht man ja kaum!« sagte Coupeau, um sich angenehm zu machen.

Sie schüttelte den Kopf. Sie wisse wohl, daß man es sähe; mit vierzig Jahren werde sie zusammenbrechen. Dann sagte sie freundlich mit leichtem Lächeln:

»Es ist doch ein sonderbarer Geschmack von Euch, eine Lahme zu lieben!«

Er hatte noch immer die Ellenbogen auf dem Tische und näherte ihr sein Gesicht noch mehr; er sagte ihr Artigkeiten in gewagten Worten, um sie zu berauschen. Aber sie schüttelte immer mit dem Kopf, ohne in Versuchung zu kommen, obgleich ihr diese zärtliche Stimme wohl tat. Sie hörte zu, während ihre Blicke draußen umherschweiften, sie schien sich wieder für die stets wachsende Menge zu interessieren. Jetzt fegte man in den leeren Läden; die Hökerin nahm die letzte Pfanne mit Bratkartoffeln herein, während der Wursthändler seine in Unordnung geratenen Schüsseln auf seinem Ladentisch wieder einreihte. Aus allen Garküchen kamen Trupps von Arbeitern, bärtige Burschen stießen sich und teilten Klapse aus, wie Straßenjungen amüsierten sie sich über den Lärm, den ihre nägelbeschlagenen groben Schuhe machten, wenn sie auf dem Pflaster schlidderten; andere rauchten mit nachdenklicher Miene, die Hände tief in ihre Taschen geschoben, die müden Augen halb geschlossen. Das war eine Überflutung von Menschen auf dem Bürgersteig und dem Fahrweg, selbst den Rinnsteinen; wie eine träge Flut strömte es aus den geöffneten Türen und steckte zwischen den Wagen, ein langer Zug von blauen und schwarzen Blusen, oder von alten Überziehern, die ganz ausgeblaßt und farblos erschienen bei dem Quell blonden Lichts, der sich über die Straße ergoß. In der Ferne ertönten die Glocken der Fabriken; doch die Arbeiter beeilten sich nicht, sie steckten noch einmal ihre Pfeifen an, ehe sie sich entschlossen, mit gekrümmtem Rücken und sich von einer Weinschenke zur anderen abrufend, mit schleppenden Schritten den Weg zur Werkstatt zu nehmen. Gervaise belustigte sich damit, drei Arbeiter, einen größeren und zwei kleinere, zu beobachten, die sich alle zehn Schritte umdrehten; schließlich kamen sie die Straße herab und schritten gerade auf den »Totschläger« des Vater Colombe los.

»Ei, sieh da!« murmelte sie, »da kommen drei, die gewiß keine Lust zur Arbeit haben.«

»Sieh,« sagte Coupeau, »ich kenne den Großen, »das ist Mes-Bottes, ein Kamerad von mir.«

Der »Totschläger« hatte sich ganz gefüllt. Man sprach sehr laut, einzelne Stimmen übertönten das allgemeine heisere Gemurmel. Hin und wieder ließen Faustschläge auf den Ladentisch die Gläser klirren. Alle standen, die Hände über dem Bauch oder hinter dem Rücken ineinandergeschlagen. Die Trinker bildeten kleine Gruppen und standen gedrängt einer neben dem anderen; ganze Gesellschaften waren da neben den Fässern, die wohl eine Viertelstunde warten mußten, ehe sie beim Vater Colombe ihr Getränk bestellen konnten.

»Was! ist das nicht der Stutzer Cadet-Cassis?« schrie Mes-Bottes und versetzte Coupeau einen tüchtigen Schlag auf die Schulter. »Ein niedliches Herrchen, raucht Papier und trägt Wäsche! ... Das schwänzelt um seine Liebste und bezahlt ihr Süßigkeiten!«

»Hol dich der Teufel!« antwortete Coupeau wütend.

Aber der andere höhnte:

»Laß nur gut sein! Wir wissen schon Bescheid, mein Bester ... Flegel bleibt Flegel!«

Er wandte dem Paar den Rücken, nachdem er Gervaise unverschämt angeglotzt hatte. Diese lehnte sich erschrocken zurück. Der Rauch der Pfeifen, der starke Geruch all dieser Männer erfüllte die alkoholgeschwängerte Luft, nahm ihr den Atem und machte sie husten.

»Wie häßlich ist doch das Trinken!« sagte sie leise.

Sie erzählte, daß auch sie früher in Plassans mit ihrer Mutter Anisette getrunken hatte. Aber eines Tages sei ihr zum Sterben übel darnach geworden, und seitdem habe sie einen Ekel vor dem Trinken; sie könne keinen Likör mehr sehen.

»Sehen Sie,« fügte sie hinzu, indem sie auf ihr Glas zeigte, »ich habe meine Pflaume gegessen, aber ich werde die Soße zurücklassen, weil mir darnach übel würde.«

Coupeau seinerseits verstand auch nicht, wie man Branntwein gläserweise hinabstürzen könne. Hie und da eine Pflaume, das sei nicht schlimm. Aber Vitriol, Absinth und die anderen Schweinereien, damit solle ihm keiner kommen. Er lasse es ruhig über sich ergehen, wenn ihn die Kameraden höhnten, er bleibe hübsch an der Tür, wenn die Schreier in Schnapskneipen gingen. Der Papa Coupeau, der wie er Zinkarbeiter gewesen, habe sich an einem solchen Sauftage den Kopf auf dem Pflaster zerschmettert, denn er sei von der Dachrinne des Hauses Nr. 25 in der Coquenard-Straße abgestürzt; diese Erinnerung in ihrer Familie mache sie alle nüchtern. Wenn er durch die Coquenard-Straße gehe und die Stelle sehe, wolle er lieber Rinnsteinwasser trinken als umsonst ein Glas in einer Weinschenke.

Er schloß mit den Worten:

»Bei unserm Handwerk muß man fest auf seinen Füßen stehen.«

Gervaise hatte ihren Korb wieder ergriffen. Sie stand indessen noch nicht auf, sondern hielt ihn auf ihren Knien; mit verlorenen Blicken träumte sie, als ob die Worte des jungen Arbeiters die Erinnerung an verflossene Zeiten in ihr wachgerufen hätten. Langsam ohne merklichen Übergang sagte sie noch:

»Mein Gott, ich bin nicht ehrgeizig, ich verlange nicht viel ... Mein Ideal wäre es, ruhig zu arbeiten, immer Brot zu haben, ein reinliches Kämmerchen zum Schlafen, Ihr wißt wohl, ein Bett, einen Tisch und zwei Stühle, nicht mehr ... Ah! ich möchte auch meine Kinder erziehen und gute Menschen aus ihnen machen, wenn es möglich wäre ... Ich hätte noch ein Ideal und das ist, nicht geschlagen zu werden, wenn ich mich je wieder mit jemandem zusammentäte; nein, das könnte mir nicht passen, geschlagen zu werden.

Das ist alles, wie Ihr seht, alles ...«

Sie zögerte noch, ließ ihre Wünsche an sich vorübergehen und fand nichts mehr, was der Erwähnung wert gewesen wäre. Nach einigem Zaudern fügte sie noch hinzu:

»Schließlich könnte man noch wünschen, in seinem eigenen Bette zu sterben ... Wenn ich mein ganzes Leben lang mich matt und müde gearbeitet habe, möchte ich gern in meinem eigenen Bette sterben.«

Jetzt erhob sie sich. Coupeau, der ihre Wünsche durchaus billigte, war schon aufgestanden; er beunruhigte sich wegen der späten Stunde. Aber sie gingen noch nicht gleich fort; sie wollte gern noch dorthin gehen, wo hinter dem eichenen Schranke der große, rotkupferne Destillator auf dem kleinen glasüberdeckten Hofe arbeitete. Der Zinkarbeiter war ihr gefolgt und erklärte ihr, wie alles ineinandergriff, indem er mit dem Finger die verschiedenen Teile des Apparates bezeichnete; besonders zeigte er ihr die ungeheure Retorte, aus der ein dünner, durchsichtiger Strahl von Alkohol herniederfloß. Der Destillierapparat mit seinen seltsam geformten Aufsaugern, seinen mannigfach verschnörkelten Röhren hatte ein düsteres Aussehen. Nicht ein Wölkchen Dampf entwich, kaum daß man ein unterirdisches Geräusch hörte; es war, als ob hier am hellen Tage von einem düsteren, mächtigen und schweigsamen Gesellen ein Geschäft der Nacht verrichtet werde. Mittlerweile war auch Mes-Bottes mit seinen beiden Kameraden herangekommen; auf die Eichenholz-Schranke gelehnt, warteten sie, bis eine Ecke des Schanktisches freigeworden sei. Das Lachen dieses Mannes klang wie das Knarren einer schlecht geschmierten Winde, er schüttelte leise den Kopf, und seine schwimmenden Augen betrachteten den Apparat, der so manchen Rausch erzeugen konnte. Himmeldonnerwetter! Das war ein nettes Ding! In dem großen Kupferkessel war genug, um sich die Kehle acht Tage frisch zu halten. Er möchte wohl, daß man ihm das Ende der Röhre zwischen die Zähne löte, damit er fühle, wie ihm der warme Branntwein hineinfließe und ihn anfülle bis zum Überlaufen, immerfort, wie ein kleiner Bach. Verdammt noch eins! Das sei ihm nicht so unlieb, das sei doch einmal etwas anderes als die Fingerhüte, die dieser rotbärtige Vater Colombe immer einschenke! Die Kameraden lachten und sagten, dieses Vieh, der Mes-Bottes, habe ein schnurriges Maulwerk. Indes arbeitete der Apparat unaufhörlich weiter, dumpf, ohne Flamme, ohne ein lustiges Blitzen; im stumpfen Widerschein seiner kupfernen Behälter ließ er seinen Alkoholschweiß von sich fließen wie eine langsam, aber stetig rinnende Quelle, die den Saal erfüllen, sich über die äußeren Boulevards ausbreiten mußte, um schließlich das ganze ungeheure Loch Paris zu überschwemmen. Gervaise erfaßte ein Schauder, sie wich zurück, murmelte mit einem Versuch zu lächeln:

»Es ist dumm, aber diese Maschine macht mich schaudern ... Das Trinken verursacht mir einen Schüttelfrost.« Plötzlich kam sie auf den Gedanken zurück, den sie von vollendeter Glückseligkeit hegte und sagte:

»Nicht wahr? es ist doch besser, arbeiten, Brot essen, sein Nest für sich haben, seine Kinder erziehen und in seinem Bette sterben ...«

»Und nicht geschlagen werden!« fügte Coupeau lustig hinzu. »Aber ich würde Euch ja nicht schlagen, Madame Gervaise ... Ihr braucht keine Furcht zu haben, ich trinke niemals, dazu habe ich Euch viel zu lieb ... Nicht wahr? heut abend darf ich zu Euch kommen, da wollen wir uns die Füße wärmen!«

Er hatte die Stimme gesenkt und sprach ihr ins Ohr, während sie sich mit ihrem Korbe voran einen Weg durch all diese Männer bahnte. Aber sie schüttelte immer wieder verneinend den Kopf. Dennoch blickte sie lächelnd zu ihm zurück, sie schien glücklich in dem Gedanken, daß er nicht trinke. Sicherlich hätte sie ja gesagt, wenn sie sich nicht zugeschworen hätte, sich nicht wieder mit einem Manne zusammenzutun. Endlich erreichten sie die Tür und gingen hinaus. Hinter ihnen blieb der »Totschläger« voll; bis auf die Straße hinaus hörte man die heiseren Stimmen seiner Insassen und roch den Likörgeruch, der von ihnen ausging. Man hörte Mes-Bottes, wie er den Vater Colombe einen Schuft nannte, der ihm sein Glas nur zur Hälfte gefüllt habe. Er sei ein gutmütiger Kauz, auf dem alle herumtrampelten, aber der Affe solle ihn lausen, wenn er noch einmal in den Kasten zurückkehre; er hätte heute keine Lust zum Arbeiten. Er schlug seinen beiden Kameraden vor, mit ihm ins » Hustende Männchen« zu gehen, das sei eine Kneipe an der Zollgrenze Saint-Denis, wo man den Schnaps unverfälscht und unverwässert bekomme.

»Wie man aufatmet,« sagte Gervaise, als sie auf dem Bürgersteige war. »Leben Sie wohl und schönen Dank, Herr Coupeau!... Ich mache jetzt schnell, daß ich weiter komme.«

Sie wollte sich dem Boulevard zuwenden. Er aber hatte ihre Hand ergriffen, die er nicht fahren ließ, und sagte:

»Macht doch mit mir den kleinen Umweg durch die Goldtropfengasse, das wird Euch kaum aufhalten... Ich muß zu meiner Schwester gehen, ehe ich auf den Bauplatz zurückkehre... Begleitet mich!«

Sie ging auf seinen Vorschlag ein, und so stiegen sie langsam die Fischerstraße hinauf; sie gingen nebeneinander, ohne daß er ihr den Arm gereicht hätte. Er erzählte ihr von seiner Familie. Seine Mutter, die Mama Coupeau, sei eine frühere Strickerin, die aber jetzt ihrer immer schwächer werdenden Augen halber als Aufwartefrau arbeite; sie sei am Dritten des vergangenen Monats zweiundsechzig Jahre alt geworden. Er sei der Jüngste von seinen Geschwistern. Eine seiner Schwestern, Madame Lerat, eine Witwe von sechsunddreißig Jahren, sei Blumenmacherin und wohne in Batignolles in der Mönchstraße. Die andere Schwester, die jetzt dreißig Jahre alt sei, habe einen Kettenmacher geheiratet, den immer mürrischen Lorilleux. Dahin gehe er jetzt, in die Goldtropfengasse. Seine Schwester wohne in dem großen Hause linker Hand. Für gewöhnlich esse er des Abends bei den Lorilleuxs, das sei für sie alle drei eine Ersparnis. Heute gehe er dahin, um zu sagen, daß man ihn nicht erwarten solle, weil er von einem Freunde eingeladen sei.

Gervaise, die ihm zuhörte, schnitt ihm plötzlich das Wort ab, um ihn mit lächelnder Miene zu fragen:

»Ihr heißt also Cadet-Cassis, Anmerk. des Übersetzers: Cassis heißt die schwarze Johannisbeere. Herr Coupeau?«

»Oh!« antwortete er, »das ist ein Spitzname, den die Kameraden mir gegeben haben, weil ich gewöhnlich Johannisbeerschnaps nehme, wenn sie mich mit Gewalt zu einer Branntweinschenke führen... Es ist doch noch immer ebensogut, Cadet-Cassis als Mes-Bottes zu heißen, nicht wahr?«

»Oh! sicherlich, Cadet-Cassis ist nicht häßlich,« erklärte die junge Frau.

Sie fragte ihn nach seiner Arbeit.

Er sagte, daß er immer dort hinter der Stadtmauer an dem neuen Krankenhause arbeitete. An Arbeit fehlt es nicht, er würde sicherlich in diesem Jahre den Bauplatz nicht mehr verlassen. Es seien noch viele, viele Meter Dachrinnen zu machen.

»Ihr wißt doch,« sagte er, »daß ich das Hotel ›Zum guten Herzen‹ sehen kann, wenn ich da oben bin... Gestern waret Ihr am Fenster, ich habe mit den Armen Zeichen gemacht, aber Ihr habt mich nicht bemerkt.«

Mittlerweile waren sie schon beinahe hundert Schritte in der Goldtropfengasse hinaufgegangen, als er stillstand und in die Höhe sah.

»Hier ist das Haus!« sagte er. »Ich bin etwas weiter hinauf in Nummer zweiundzwanzig geboren... Es ist ein hübsches Stück Mauerwerk, dieses Haus. Drinnen ist es geräumig wie eine Kaserne.«

Gervaise erhob den Kopf und warf einen prüfenden Blick auf die Vorderseite.

Nach der Straße zu hatte das Haus fünf Stockwerke, deren jedes fünfzehn Fenster zeigte, die schwarzen Fensterläden mit ihren zerbrochenen Einsätzen gaben diesem ungeheuren Gemäuer das Aussehen einer Ruine. Unten befanden sich zu ebener Erde vier Läden: rechts vom Torweg der große Saal einer fetttriefenden Garküche; zur Linken ein Kohlenhändler, ein Krämer und ein Schirmladen.

Das Haus wirkte um so mächtiger, als es sich zwischen zwei kleinen Baulichkeiten befand, die in ihrer Armseligkeit wie darangeklebt aussahen; gleich einem viereckigen Block roh zusammengerührten Mörtels, der unter dem Einfluß des Regens fault und zerbröckelt, hob es sich gegen den lichten Himmel ab; dieser ungeheure Würfel überragte die Dächer der Nachbarhäuser mit seinen unverputzten Seitenwänden, deren schmutzige Farbe und trostlose Nacktheit an Gefängnismauern erinnerte; die für den Anbau von Nebenhäusern berechneten Verzahnungen glichen lückenhaften Kiefern, die ins Leere gähnten. Gervaise betrachtete besonders die Einfahrt; es war ein ungeheures rundes Tor, das bis zum zweiten Stockwerk ging und im Hause gleichsam eine tiefe Halle bildete, an deren anderem Ende man das von einem großen Hofe kommende bleiche Tageslicht sah. Inmitten dieser Halle, die wie die Straße gepflastert war, befand sich ein Rinnstein, in welchem rosafarbenes Wasser floß.

»Tretet doch näher!« sagte Coupeau, »es wird Euch niemand etwas tun!«

Gervaise wollte ihn auf der Straße erwarten. Indessen konnte sie doch der Lust nicht widerstehen, in den Torweg einzutreten und bis zum Pförtnerfenster zu gehen, das an der rechten Seite lag. Hier auf dem Flur blickte sie wieder um sich. Im Innern zeigte der Hof sechs Stockwerke, vier regelmäßige Mauern schlossen das weite Viereck ein. Es waren graue Mauern, auf denen ein gelbliches Moos wucherte; durch das Abtropfen des Regens vom Dache waren auf den ganz glatten Mauern lange Streifen entstanden, welche, da kein Vorsprung sie hinderte, vom Dach bis auf das Pflaster gingen; nur die Rinnen, die an jedem Stockwerk ein Knie machten, wo ein bleierner Ausgußkasten mit ihnen verbunden war, unterbrachen durch die Flecke, die ihr rostendes Metall auf den Mauern entstehen ließ, die Eintönigkeit des Aussehens. Die Fenster, denen hier die Läden fehlten, zeigten ihre nackten, bläulich-grünen Scheiben. In einzelnen, die geöffnet waren, lagen blaukarrierte Matratzen zum Lüften; vor anderen war auf gespannten Stricken Wäsche zum Trocknen aufgehängt, die ganze Musterkarte eines Haushalts, Männerhemden, Frauenjacken und Knabenhöschen; an einem Fenster im dritten Stock trocknete ein Kinderbett, das ganz beschmutzt war. Von oben bis unten schienen die zu engen Wohnungen zu platzen, und zu allen Ritzen guckten die Fetzen des Elendes hervor, das in ihnen herrschte. Unten war an jeder Seite des Hofes ein hoher, schmaler Eingang ohne Holzverkleidung, ein einfaches Loch in der nackten Mauer; durch jede dieser Öffnungen gelangte man auf eine Art Flur, auf dem sich eine Treppe mit eisernem Geländer befand, deren schmutzige Stufen sich nach oben wandten; man zählte vier solcher Treppenaufgänge, die durch die ersten Buchstaben des Alphabets auf der Mauer bezeichnet waren. Im Erdgeschoß waren große Werkstätten eingerichtet mit riesigen, staubgeschwärzten Fenstern: da brannte das Schmiedefeuer eines Schlossers; von weitem hörte man das Hobeln von Tischlern, während neben dem Pförtnerzimmerchen aus einer Färberei der Bach rosenfarbenen Wassers hervorquoll, der den Rinnstein unter dem Torbogen entlang floß. Dieser Hof, auf dem Pfützen farbigen Wassers mit Hobelspänen und Kohlenschlacken abwechselten, an dessen Seiten aus dem schadhaften Pflaster Gras emporwucherte, erschien in grellem Lichte gleichsam in zwei Teile geschnitten durch die Linie, die der Sonnenschein hervorbrachte. Auf der Schattenseite, um den Brunnen, dessen tropfender Mund die Umgebung stets feucht erhielt, pickten drei kleine Hühner auf dem Boden herum, sie suchten mit ihren scharrenden Füßen nach Regenwürmern. Gervaise ließ ihre Blicke langsam vom sechsten Stock bis zur Erde und wieder hinaufschweifen, überrascht von dieser ungeheuren Größe; sie fühlte sich gleichsam im Innern eines lebenden Wesens, im Herzen einer Stadt, dieses Haus beschäftigte ihre Phantasie so lebhaft, als ob sie eine Riesin vor sich habe.

»Zu wem wünscht Madame?« rief die aufmerksame Pförtnersfrau, die in der Tür ihrer Loge erschien.

Die junge Frau sagte, daß sie jemanden erwarte. Sie hatte sich der Straße wieder zugewandt, doch da Coupeau immer noch nicht kam, konnte sie der Lust nicht widerstehen zurückzukehren, um noch einmal das Haus zu betrachten. Es erschien ihr nicht häßlich. Trotz aller Fetzen, die aus den Fenstern hingen, sah sie auch freundliche Stellen: eine Levkoje blühte in einem Topf, aus einem Zeisigkäfig ertönte ein Gezwitscher, Rasierspiegel, die an den Fenstern hingen, warfen Sonnenblitze in die tiefen Schatten der Zimmer. Unten begleitete ein Tischler das regelmäßige Pfeifen seines Glatthobels mit Gesang, während in der Schlosserwerkstatt das Geräusch der gleichmäßig niederfallenden Hämmer ein lautes, helltönendes Klingen erzeugte.

An allen geöffneten Fensterflügeln, die einen Einblick in mancherlei Elend gestatteten, waren Kinder, die ihre schmutzigen, lachenden Köpfe zeigten; Frauen nähten, ruhig auf ihre Arbeit niedergebeugt. Es war der Wiederbeginn der Tätigkeit nach dem Frühstück; die Zimmer der Männer, die außen arbeiteten, waren leer; auf das Haus hatte sich jene große friedliche Ruhe gesenkt, die nur durch das gleichmäßige Geräusch der Handwerkstätigkeit und das Gesumme eines immer wiederkehrenden Kehrreims unterbrochen wird. Der Hof war ein wenig feucht. Wenn Gervaise dort hätte wohnen sollen, würde sie eine Wohnung nach der Sonnenseite zu gewünscht haben. Sie war fünf bis sechs Schritte vorwärts gegangen und atmete den fauligen Geruch der Wohnungen armer Leute ein, den Duft von altem Staub und ranzigem Schmutz; da aber die Schärfe des Wassers aus der Färberei diese Gerüche überdeckte, fand sie, daß es hier lange nicht so schlecht rieche als im Hotel »Zum guten Herzen«. Sie wählte schon ihr Fenster aus, es war ein Fenster in einem Winkel zur Linken, wo in einem kleinen Kasten Bohnen gepflanzt waren, deren zarte Schößlinge anfingen, sich an Fäden in die Höhe zu ranken.

»Ich habe Euch warten lassen, nicht wahr?« sagte Coupeau, den sie plötzlich neben sich hörte. »Das ist immer eine Geschichte, wenn ich einmal nicht bei ihnen esse, besonders heute, wo meine Schwester Kalbfleisch gekauft hat.«

Da sie vor Überraschung ein wenig zitterte, ließ auch er seine Blicke umherschweifen und fuhr fort:

»Ihr habt Euch das Haus angesehen. Es ist immer von oben bis unten vermietet. Ich glaube, es sind hier an dreihundert Mieter. Wenn ich Möbel gehabt hätte, so möchte ich wohl ein kleines Stübchen hier haben ... Man wäre hier gut aufgehoben, nicht wahr?«

»Ja, hier wäre man gut aufgehoben«, murmelte Gervaise. »In Plassans war unsere Straße nicht so dicht bewohnt ... Seht doch! Wie hübsch ist das Fenster im fünften Stock mit den Bohnen!«

Eigensinnig, wie er war, fragte er sie noch einmal, ob sie wolle. Sobald sie ein Bett hätten, könnten sie dort mieten. Sie wich ihm aus und ging schnell unter den Torweg, dort bat sie ihn, er möge doch seine Dummheiten nicht wieder anfangen. Eher werde wohl das Haus einstürzen, als sie unter derselben Bettdecke mit ihm schlafe. Als Coupeau sie vor dem Wäscheladen der Madame Fauconnier verließ, durfte er einen Augenblick ihre Hand in der seinigen halten, die sie ihm in aller Freundschaft überließ.

Einen ganzen Monat hindurch dauerten die guten Beziehungen zwischen der jungen Frau und dem Zinkarbeiter fort. Er fand sie sehr brav, wenn er sah, wie sie sich zu Tode arbeitete; sie pflegte die Kinder und hatte des Abends noch Zeit übrig, allerlei Lappen zurechtzunähen. Gemeiniglich seien die Frauen nicht sauber, schwärmten die Nächte durch und seien schwatzhaft; aber beim Himmel! So eine sei sie nicht, sie nehme das Leben zu sehr von der ernsten Seite! Dazu lachte sie und verteidigte sich bescheiden. Zu ihrem Unglück sei sie nicht immer so vernünftig gewesen. Sie spielte auf ihre ersten Niederkünfte seit ihrem vierzehnten Jahre an; sie erwähnte die Liter Anisette, die sie früher mit ihrer Mutter geleert hatte. Die Erfahrung habe sie ein wenig gebessert, das sei alles. Man habe unrecht, ihr große Charakterfestigkeit zuzutrauen; sie sei im Gegenteil sehr schwach, sie gehe dahin, wo man sie hinstoße, schon aus Furcht, irgend jemandem wehe zu tun. Ihr Traum sei, in guter Gesellschaft zu leben, denn schlechte Gesellschaft, sagte sie, sei wie ein Schlag über den Kopf; es breche einem den Schädel, bringe eine Frau herunter, daß auch nichts mehr an ihr sei. Kalter Schweiß überriesele sie, wenn sie an die Zukunft denke. Sie verglich sich mit einem Sou, den man in die Luft geworfen und der nun entweder mit Kopf oder Schrift nach oben herniederfallen könne je nach den Zufälligkeiten des Pflasters. Alles, was sie schon gesehen habe, besonders die schlechten Beispiele, die sie schon in ihrer Kindheit vor Augen gehabt habe, alles sei für sie eine gute Lehre gewesen. Aber Coupeau scherzte mit ihr über ihre düsteren Gedanken und versuchte es, sie um die Taille zu fassen; dann stieß sie ihn zurück und schlug ihm auf die Hände; er rief dann lachend, daß sie für eine schwache Frau nicht die angenehmsten Umgangsformen habe. Er sei ein Bruder Lustig und mache sich keine Sorgen um die Zukunft. Ein Tag bringe den anderen, ei der Tausend! Ein Nest und ein wenig Brot werde man schon immer haben. Das Stadtviertel erscheine ihm ganz annehmbar, abgerechnet die Hälfte der Trunkenbolde, von denen man die Rinnsteine säubern könne. Er war kein schlechter Kerl, sprach sogar manchmal recht verständig, war ein wenig stutzerhaft, sein Scheitel war immer sehr sorgfältig gezogen, er trug hübsche Halstücher und für den Sonntag lackierte Schuhe. Mit alledem verband er die Geschicklichkeit und Unverschämtheit eines Affen, die schwatzhafte Spaßhaftigkeit des Pariser Arbeiters, die sehr gut zu seinem noch jugendlichen Aussehen paßte.

Nach und nach erwiesen sie einander eine Menge Gefälligkeiten. Coupeau holte ihr Milch, besorgte ihre Gänge und trug ihre Wäschebündel; da er oft des Abends zuerst von der Arbeit kam, führte er die Kinder auf den äußeren Boulevards spazieren. Um ihm seine Freundlichkeiten zu erwidern, stieg Gervaise unter das Dach hinauf in die enge Kammer, wo er schlief, untersuchte dort seine Garderobe, setzte Knöpfe an seine Röcke und besserte seine Leinwandwesten aus. So entwickelte sich zwischen ihnen eine große Vertraulichkeit. Sie langweilte sich nicht einen Augenblick, wenn er da war, die Geschichten, die er ihr zutrug, dieser ewige Klatsch der Pariser Vorstädte, der für sie noch den Reiz der Neuzeit hatte, amüsierten sie sehr. Durch dieses fortwährende Zusammensein flammte er immer mehr auf. Er hatte angebissen und saß fest. Es war ihm schließlich unbequem. Er lachte zwar noch immer, aber innerlich war ihm nicht wohl dabei zumute, er fühlte sich so beklommen, daß ihm dieser Zustand unerträglich erschien. Was sie seine Dummheiten nannte, hörte nicht auf; wo er sie traf, rief er ihr entgegen: »Wann wird es sein?« Sie wußte, was er damit sagen wollte, und versprach ihm die Sache für die Zeit, wo Ostern und Pfingsten auf einen Tag fallen würden. Dann quälte er sie, er kam zu ihr mit seinen Morgenschuhen in der Hand, als ob er zu ihr ziehen wolle. Sie machte sich über ihn lustig und vermochte es über sich, während eines ganzen Tages nicht einmal zu erröten über die fortwährenden verliebten Anspielungen, die er stets in seine Unterhaltung flocht. Vorausgesetzt, daß er nicht handgreiflich werde, gestattete sie ihm alles. Nur einmal geriet sie in Zorn, als er ihr eines Tages mit Gewalt einen Kuß rauben wollte und ihr dabei eine kleine Haarlocke ausriß.

Gegen Ende des Monats Juni verlor Coupeau seine gute Laune. Er wurde ganz eigentümlich. Gervaise verbarrikadierte sich während der Nacht, weil gewisse Blicke sie beunruhigten. Nach einer kleinen Verstimmung, die von Sonntag bis Dienstag gedauert hatte, klopfte er plötzlich Dienstag abend gegen elf Uhr bei ihr an. Sie wollte ihm nicht öffnen, aber er bat mit so sanfter, zitternder Stimme, daß sie schließlich die Kommode zurückschob, die sie vor die Tür gestellt hatte. Als er eingetreten war, glaubte sie, daß er krank sei, so blaß war sein Aussehen, seine Augen waren gerötet und sein Gesicht verzerrt.

Er blieb vor ihr stehen und schüttelte stotternd mit dem Kopfe. Nein, nein, er sei nicht krank. Seit zwei Stunden weine er dort oben in seinem Zimmer, er weine wie ein Kind und beiße in sein Kopfkissen, damit die Nachbarn ihn nicht hörten. Drei Nächte habe er nun schon nicht mehr geschlafen. Das könne so nicht weiter fortgehen.

»Hören Sie, Madame Gervaise,« sagte er mit zugeschnürter Kehle, die von neuem ausbrechenden Tränen kaum zurückhaltend, »wir müssen ein Ende machen, nicht wahr? ... Wir werden uns heiraten. Ja, ich will und bin dazu entschlossen.«

Gervaise zeigte sich sehr überrascht, sie war sehr ernst.

»Herr Coupeau,« murmelte sie, »wie seid Ihr nur darauf gekommen? Ich habe es niemals von Euch verlangt, Ihr wißt es wohl ... Das kam mir nicht zu ... Nein, nein! Die Sache ist ernsthaft, überlegt sie Euch bitte!«

Er schüttelte immer noch mit dem Kopfe, seine Mienen zeigten eine unerschütterliche Entschlossenheit. Es sei alles wohl überlegt. Er sei herabgekommen, weil er endlich einmal eine Nacht schlafen müsse. Sie werde ihn doch nicht weinend wieder fortgehen lassen. Von dem Augenblick an, wo sie Ja gesagt habe, wolle er sie auch nicht länger quälen, sie könne sich dann ruhig wieder niederlegen. Er wolle nur hören, ob sie Ja sagte. Morgen könne man dann alles besprechen.

»Sicherlich werde ich nicht so ohne weiteres Ja sagen«, erwiderte Gervaise. »Ich will nicht, daß Ihr mir später einmal vorwerft, ich hätte Euch dazu getrieben, eine Dummheit zu machen ... Seht, mein lieber Coupeau, Ihr habt unrecht, so eigensinnig darauf zu bestehen. Ihr selbst wißt noch nicht recht, was Ihr für mich empfindet. Wenn Ihr mich acht Tage nicht zu sehen bekämet, wette ich, daß Ihr mich vergeßt. Wie oft verheiraten sich nicht die Männer für eine Nacht, die erste; aber dann folgen Nacht auf Nacht, Tag auf Tag, ein ganzes Leben hindurch bittere Enttäuschungen ... Setzt Euer dort nieder, laßt uns gleich über alles sprechen.«

Bis ein Uhr morgens saßen sie in dem rauchgeschwärzten Zimmer, bei dem blakigen Licht einer Talgkerze, die sie zu schnäuzen vergaßen, und besprachen ihre Heirat. Sie dämpften ihre Stimmen, um Claude und Etienne nicht zu wecken, die ruhig atmend auf demselben Kissen schliefen. Immer wieder sprach Gervaise von ihnen und zeigte sie Coupeau; es sei eine drollige Mitgift, die sie ihm dazubringe, sie könne ihm doch nicht eine solche Last, wie die beiden Bälge, aufbürden. Sie schäme sich vor ihm. Was werde man im Quartier dazu sagen? Man habe sie mit ihrem Liebhaber gekannt, man wisse ihre Geschichte; für was müßten die Leute sie halten, wenn sie sähen, wie sie sich nach kaum zwei Monaten heirateten? Für all diese guten Gründe hatte Coupeau nur ein Achselzucken. Er kümmerte sich den Teufel um das Quartier! Er stecke seine Nase nicht in anderer Leute Sachen, er habe zu viel Furcht, sich zu beschmutzen. Nun ja, sie habe Lantier vor ihm gehabt. Was sei dabei Schlimmes? Sie werde kein liederliches Leben führen und Männer in ihren Haushalt bringen, wie es so viele andere und Reichere täten. Was die Kinder anbetreffe, potz tausend! Die würden eben groß werden, man ziehe sie auf. Niemals werde er eine so brave und gute Frau finden, die so viel gute Eigenschaften besitze, wie sie. Übrigens sei das alles nichts, selbst wenn er sie von der Straße hätte auflesen müssen, wenn sie häßlich, liederlich und ekelhaft gewesen wäre, wenn eine Schar schmutziger Kinder an ihr gehangen, in seinen Augen würde es nichts gegolten haben, er wolle sie einmal.

»Ja, ich will Euch!« wiederholte er und schlug mit seiner Faust auf seine Knie wie mit einem Hammer. »Hört Ihr wohl, Ihr müßt die Meine werden ... Ich denke, dagegen läßt sich nichts sagen!«

Gervaise wurde nach und nach weicher. Eine Schwäche des Herzens und der Sinne bemächtigte sich ihrer gegenüber diesem gewaltsamen Willen, der sie begehrte. Sie wagte nur noch schüchtern einige Einwendungen zu machen, ihre Hände waren schlaff auf ihren Unterrock herabgesunken und ihr Gesicht ganz in Sanftmut getaucht. Von außen sandte durch das halboffene Fenster die schöne Juninacht einen warmen Luftzug herein, welcher das Licht zum Flackern brachte, dessen lange, rotglühende Schnuppe verkohlte. In dem großen Schweigen der schlafenden Vorstadt hörte man nur das Schluchzen eines Trunkenboldes, der auf dem Rücken mitten auf den Boulevards lag; während in weiter Ferne in irgendeinem Restaurant eine Violine eine gemeine Quadrille für eine verspätete Tanzgesellschaft spielte; es war ein leises, helles Klingen, bestimmt und zart, wie eine Melodie auf einer Mundharmonika. Als Coupeau sah, daß die junge Frau mit ihren Einwänden zu Ende war und schweigend vor sich hinlächelte, hatte er ihre Hände ergriffen, er zog sie an sich. Es war eine ihrer schwachen Stunden, gegen die sie selbst so mißtrauisch war; sie hatte ihren eigenen Willen aufgegeben und war zu bewegt, um irgend etwas abzuschlagen und irgend jemandem Pein zu bereiten. Aber der Zinkarbeiter verstand nicht, daß sie sich hingab, er begnügte sich damit, ihre Hände zu drücken, als ob er sie zerquetschen wolle, um sich ihrer ganz zu versichern. Beide seufzten bei dem leisen Schmerz, in dem ihre Zärtlichkeit eine kleine Befriedigung fand.

»Nicht wahr, Ihr sagt ja?« fragte er.

»Wie Ihr mich quält!« murmelte sie. »Ihr wollt es so? Nun denn, ja ... Mein Gott! Ihr macht vielleicht eine große Dummheit!«

Er hatte sich erhoben und ihre Taille umfaßt, ganz aufs Geratewohl drückte er ihr einen heftigen Kuß auf das Gesicht. Als diese Zärtlichkeit ein großes Geräusch machte, war er der erste, welcher sich deshalb beunruhigte, nach Claude und Etienne hinüberblickte, leise auftrat und seine Stimme dämpfte.

»Pst! Wir müssen vernünftig sein, um die Kinder nicht aufzuwecken ... Also auf morgen!«

So stieg er wieder nach seinem Zimmer hinauf. Gervaise blieb, am ganzen Leibe zitternd, wohl noch eine Stunde auf dem Rande ihres Bettes sitzen, ohne daran zu denken, sich zu entkleiden. Sie war gerührt, sie fand, daß Coupeau sehr ehrenhaft gehandelt habe, denn einen Augenblick hatte sie geglaubt, daß es zu Ende sei, daß er hier schlafen werde. Der Trunkenbold unter dem Fenster stieß heißere Klagetöne wie ein verlaufener Hund aus. In der Ferne hörte die Violine auf zu spielen, welche die Quadrille gespielt hatte.

An den folgenden Tagen wollte Coupeau Gervaise dazu veranlassen, mit ihm einen Abend zu seiner Schwester in der Goldtropfengasse hinaufzugehen. Aber die schüchterne junge Frau zeigte eine große Furcht vor diesem Besuche bei den Lorilleux'. Sie bemerkte wohl, daß der Zinkarbeiter eine unbestimmte Scheu vor dem Ehepaar hatte. Er hing nicht von dieser Schwester ab, die nicht einmal die Älteste war. Mutter Coupeau würde ihre Zustimmung aus vollem Herzen geben, denn sie legte ihrem Sohne nie Hindernisse in den Weg. Allein da man wußte, daß Lorilleux' bis zu zehn Franken den Tag verdienten, verdankten sie diesem Umstande ein gewisses Ansehen. Coupeau würde es nicht gewagt haben, sich zu verheiraten, wenn sie nicht vorher seine Frau bei sich aufgenommen hätten.

»Ich habe zu ihnen von Euch gesprochen, sie kennen unsere Pläne«, setzte er Gervaise auseinander. »Mein Gott, was seid Ihr für ein Kind! Kommt heute abend ... Ich habe Euch schon angekündigt. Ihr werdet meine Schwester ein wenig schroff finden, auch Lorilleux ist nicht immer der Liebenswürdigste. Eigentlich sind sie sehr ärgerlich, daß ich mich verheirate, da ich dann nicht mehr bei ihnen essen werde; das ist für sie eine Ersparnis weniger. Aber das tut nichts, sie werden Euch nicht den Stuhl vor die Tür setzen ... Ihr müßt es für mich tun, es ist durchaus notwendig.«

Diese Worte erschreckten Gervaise noch mehr. Eines Sonnabends gab sie dennoch nach. Coupeau kam um achteinhalb Uhr und holte sie ab. Sie hatte sich fein gemacht, trug ein schwarzes Kleid und einen Schal von Wollmusseline, auf welchen gelbe Palmen gedruckt waren; auf dem Kopfe hatte sie eine kleine Spitzenhaube. Seit den sechs Wochen, die sie arbeitete, hatte sie sich die sieben Franken für den Schal und die zwei Franken fünfzig Centimes für die Haube erspart, das Kleid war alt, aber gereinigt und zurecht gemacht.

»Sie erwarten Euch«, sagte ihr Coupeau, während sie durch die Fischerstraße gingen. »Sie fangen schon an, sich mit dem Gedanken auszusöhnen, mich verheiratet zu sehen. Heute abend haben sie sehr liebenswürdige Gesichter aufgesetzt ... Wenn Ihr noch keine goldenen Ketten habt machen sehen, wird es Euch Spaß machen, zuzugucken. Sie haben gerade eine dringende Bestellung für Montag.«

»Sie haben Gold bei sich?« fragte Gervaise.

»Das will ich meinen! Gold ist da an den Wänden, auf der Erde, überall!«

Inzwischen hatten sie den großen Torweg durchschritten und gingen über den Hof. Die Lorilleux' wohnten im sechsten Stock, Treppe B. Coupeau rief ihr lachend zu, das Geländer zu erfassen und nicht wieder loszulassen.

Sie sah mit zusammengekniffenen Wimpern nach oben und blickte in den hohen, hohlen Turm, in dem sich die Treppe hinaufwand; drei Gasflammen, die von zwei zu zwei Stockwerken angebracht waren, erleuchteten den Raum; die letzte der Flammen erschien gleich einem zitternden Stern am schwarzen Himmel, während die beiden anderen lange Streiflichter warfen, die von der endlosen Spirale der Treppenstufen seltsam unterbrochen wurden.

»Potz tausend!« sagte der Zinkarbeiter, als sie auf dem Flur des ersten Stockwerkes angekommen waren, »das riecht hier hübsch nach Zwiebelsuppe. Sicherlich wird hier Zwiebelsuppe gegessen.«

In der Tat war diese graue, schmutzige Treppe B, deren Stufen und Geländer von fettigem Schmutz starrten, mit starken Küchengerüchen erfüllt. Von jedem Flur gingen lange Gänge aus, die ein dumpfer Lärm erfüllte; es öffneten sich die gelben Türen, die um die Schlösser herum von dem Schmutz der Hände geschwärzt waren; in der Höhe der Fenster ging von den bleiernen Ausgußkästen eine übelriechende Feuchtigkeit aus, deren Gestank sich mit dem scharfen Duft der gekochten Zwiebel mischte. Vom Erdgeschoß bis ins sechste Stockwerk hinauf hörte man das Klappern von Geschirr, das Geräusch von dem Herumstochern in eisernen Öfen und dem Abkratzen von Bratpfannen, welche mit dem Löffel gereinigt wurden, ehe man sie abwusch. Im ersten Stockwerk bemerkte Gervaise durch eine halboffene Tür, auf der in großen Buchstaben das Wort »Musterzeichner« geschrieben stand, zwei Männer, die vor einem mit Wachstuch gedeckten, abgeräumten Tisch saßen, in wütender Unterhaltung, umwogt von dem Rauch ihrer Pfeifen. Das zweite und dritte Stockwerk waren ruhiger, hier drang durch die Ritze der Türen nur das Geräusch einer Wiege, die man schaukelte, das erstickte Weinen eines Kindes und die laute Stimme einer Frau, die wie das Murmelgeräusch fließenden Wassers an ihr Ohr schlug, ohne daß sie bestimmte Worte hätte unterscheiden können; auf den an die Türen gehefteten Karten las sie: » Madame Gaudron, Wollkämmerin,« und weiterhin: » Herr Madinier, Werkstätte für Pappschachteln.« Im vierten Stock prügelte man sich: man hörte ein Stampfen, das den Fußboden erzittern machte, das Umwerfen von Möbeln und einen schrecklichen Lärm von Schlägen und Flüchen, was alles die Nachbarn gegenüber nicht hinderte, bei offener Türe Karten zu spielen, um mehr Luft zu haben. Als sie den fünften Stock erreicht hatten, mußte Gervaise Atem schöpfen, sie war nicht daran gewöhnt, soviel zu steigen; die runden Mauern der Wendeltreppe, der Einblick in die vielen Wohnungen, an denen sie vorbeikam, machten sie schwindlig. Hier versperrte eine Familie den Durchgang; der Vater wusch Teller auf einem kleinen Ofen in der Nähe des Abgusses, während die Mutter, an das Geländer gelehnt, einen Säugling trockenlegte, ehe sie ihn wieder in die Wiege brachte.

Coupeau sprach der jungen Frau Mut ein; gleich würden sie oben sein. Als er endlich im sechsten Stock war, wandte er sich lächelnd zurück, um ihr zu helfen. Sie hatte den Kopf erhoben und spähte, wo der Ton einer singenden Stimme herkomme, die sie schon seit der ersten Stufe hörte und die hell und durchdringend die anderen Geräusche übertönte. Sie kam von einer kleinen alten Frau, die unter dem Dache Puppen zu dreizehn Sous anzog. Gervaise sah noch in dem Augenblick, wo ein großes Mädchen mit einem Eimer in ein Zimmer eintrat, ein ungemachtes Bett, in dem ein Mann in Hemdärmeln sich wartend herumsielte; seine Augen starrten nach oben; als die Tür geschlossen war, las man auf einer Visitenkarte, die geschrieben war: » Fräulein Clémence, Plätterin.« Als sie endlich mit müden Beinen und ohne Atem oben angekommen war, hatte sie die Neugierde, sich über das Geländer zu beugen. Jetzt war es die unterste Gasflamme, die wie ein Stern erschien auf dem Grunde dieses sechs Stockwerke tiefen Loches, aus dem die Gerüche und das drohende Brausen des ungeheuren Lebens in dem Hause zu ihr aufstiegen, wie ein heißer Atem, der ihr unruhiges Gesicht traf, das sie dort gleichsam wie über den Rand eines Abgrundes gebeugt hatte.

»Wir sind noch nicht da«, sagte Coupeau. »Es ist eine wahre Reise!«

Er war links in einen langen Gang hineingegangen. Zweimal wandte er sich, das eine Mal zur Linken, das zweitemal zur Rechten. Der Korridor verlängerte sich mehr und mehr, er teilte sich gabelförmig, verengte sich und wurde immer rissiger und abgenutzter, je tiefer man hineinkam. Eine einzige kleine Gasflamme erleuchtete ihn; und alle Türen, die eine neben der anderen in langer Reihe wie in einem Gefängnis oder einem Kloster einförmig angebracht waren, zeigten, da sie größtenteils weit offen standen, das Innere von Räumen, in denen das Elend und die Arbeit beieinanderwohnten, und die der heiße Juniabend mit einem rauchigen Dampf erfüllte. Zuletzt kamen sie an ein Ende des Ganges, das ganz finster war.

»Wir sind da!« sagte der Zinkarbeiter. »Nun aufgepaßt! Haltet Euch rechts an der Wand, es kommen drei Stufen.«

Gervaise ging ganz vorsichtig etwa zehn Schritte in der Dunkelheit vorwärts. Sie stolperte und zählte die drei Stufen. Ganz am Ende des Ganges hatte Coupeau eine Tür aufgestoßen, ohne anzuklopfen. Eine plötzliche Helligkeit verbreitete sich über die Schwelle. Sie traten ein. Es war ein unglaublich enger Raum, eine Art von Kammer, die eine Fortsetzung des Ganges zu bilden schien. Ein Vorhang von ausgeblaßtem Wollenzeug, der jetzt zurückgeschlagen war, teilte diese Kammer. Der erste Raum enthielt ein Bett, das unter der mansardenartig geneigten Decke im Winkel stand, einen Ofen, der vom Mittagessen her noch warm war, zwei Stühle, einen Tisch und einen Schrank, von dem man die obere Ausladung hatte abschneiden müssen, damit er zwischen Bett und Tür hineingeklemmt werden konnte. Im zweiten Raum hatte man die Werkstätte hergerichtet: hinten eine kleine Schmiede mit einem Blasebalg; zur Rechten ein an der Wand angebrachter Schraubstock unter einem offenen Schrank, in dem altes eisernes Gerümpel lag; zur Linken, nahe dem Fenster, stand ein kleiner Arbeitstisch, der ganz mit kleinen Zangen, Scheren und Sägen bedeckt war; alles starrte vor Schmutz.

»Wir sind es!« rief Coupeau, der bis zu dem Wollenvorhang geschritten war.

Man antwortete nicht sogleich. Gervaise war sehr erregt; der Gedanke, daß sie in einen Raum treten sollte, der voller Gold war, machte sie unruhig, sie hielt sich dicht hinter dem Arbeiter, stammelnd und wiederholt mit dem Kopfe grüßend. Die große Helligkeit, die von einer auf dem Arbeitstisch brennenden Lampe und von dem auf der Schmiede glimmenden Kohlenfeuer kam, vermehrte noch ihre Verlegenheit. Endlich sah sie Madame Lorilleux, eine kleine, rothaarige, ziemlich starke Frau, die aus Leibeskräften mit ihren kurzen Armen an einer starken Handhabe einen schwarzen Metalldraht zog, den sie durch die Löcher eines an dem Schraubstock befestigten Locheisens brachte. Vor dem Werktische arbeitete Lorilleux, ebenfalls ein kleiner Mann, der aber in den Schultern schwächer als seine Frau war. Mit der Lebhaftigkeit eines Affen bewegte er zwischen seinen knotigen Fingern so kleine Dinge, daß man außer seinen Zangen nichts davon sah. Der Mann hob zuerst den Kopf, einen Kopf mit spärlichen Haaren, von der gelblichen Blässe alten Wachses, länglich und von leidendem Aussehen.

»Ah! Ihr seid es, gut, gut!« murmelte er. »Wir haben es eilig, wie ihr wißt ... Kommt nicht in die Werkstätte, es würde uns aufhalten. Bleibt im Zimmer.«

Hierauf nahm er seine feine Arbeit wieder auf, indem er sein Gesicht aufs neue in den grünlichen Widerschein einer mit Wasser gefüllten Glaskugel tauchte, durch welche die Lampe auf seine Arbeit einen runden Fleck scharfen Lichtes warf.

»Nimm Stühle!« rief ihrerseits Madame Lorilleux. »Das ist die Dame, nicht wahr? Sehr gut, sehr gut!«

Sie hatte den Draht aufgerollt und brachte ihn zur Schmiede, dort fachte sie mit einem großen hölzernen Fächer das Kohlenfeuer an, legte den Draht darauf, um ihn zum Glühen zu bringen, ehe sie ihn durch die Löcher des Zieheisens steckte.

Coupeau rückte die Stühle heran und ließ Gervaise in der Nähe des Vorhangs niedersitzen. Das Kämmerchen war so eng, daß er sich nicht neben ihr niederlassen konnte. Er setzte sich etwas zurück und beugte sich nach vorn gegen ihren Nacken, um ihr die Arbeiten zu erklären. Die junge Frau, die über den Empfang der Lorilleux' ganz starr war und sich unter den auf sie gerichteten Seitenblicken unbehaglich fühlte, hatte ein förmliches Sausen vor den Ohren, das ihr das Hören erschwerte. Sie fand die Frau sehr alt für ihre dreißig Jahre; ihre Miene war herb, ihr Aussehen unsauber mit ihren aufgelösten Haaren, die ihr wie ein Kuhschwanz über die zerrissene Nachtjacke herabhingen. Der Gatte, der nur ein Jahr älter war, erschien ihr ein Greis mit seinen boshaft zusammengekniffenen schmalen Lippen; er war in Hemdärmeln, und seine nackten Füße staken in durchlöcherten Pantoffeln. Am meisten überraschte sie die Kleinheit der Werkstätte, der Schmutz an den Wänden, der schlechte rostige Zustand des Handwerkszeugs und all dieser schwarze Schmutz, der sich dort angesammelt hatte und den Raum wie den Laden eines Alteisentrödlers erscheinen ließ. Es war entsetzlich heiß. Dicke Schweißtropfen standen auf dem grünlich beleuchteten Gesichte Lorilleux', während Madame Lorilleux ihre Nachtjacke abgelegt hatte und mit nackten Armen und auf ihren hängenden Brüsten festgeklebtem Hemde weiter arbeitete.

»Wo ist denn das Gold?« fragte Gervaise halblaut.

Ihre unruhigen Blicke durchforschten alle Ecken und suchten unter dem Schmutz den Glanz, von dem sie geträumt hatte.

Coupeau hatte zu lachen angefangen.

»Gold?« sagte er; »hier seht doch, und dort, und hier zu Euren Füßen!«

Er hatte nacheinander auf den verdünnten Draht, den seine Schwester bearbeitete, auf ein anderes Paket Draht, das wie gewöhnlicher Eisendraht an der Wand, in der Nähe des Schraubstockes, aufgehängt war, gezeigt; hierauf kniete er zur Erde nieder und nahm dort von der Binsendecke, die den Fußboden der Werkstätte bedeckte, ein Abfallstückchen auf, ein Metallkrümchen, welches der Spitze einer verrosteten Nadel glich. Gervaise erschrak. Das sei doch nicht etwa Gold, dieses häßliche schwarze Metall, das wie Eisen aussehe? Er mußte auf das Abfallstückchen beißen und ihr den leuchtenden Einschnitt zeigen, den seine Zähne darauf hervorbrachten. Er fuhr mit seinen Erläuterungen fort: die Arbeitgeber lieferten das Gold als Draht, schon vermischt; die Arbeiter führten den Draht zuerst durch die Zieheisen, um ihm die Dicke zu geben, die sie gerade brauchten; sie wendeten dabei die Vorsicht an, den Draht fünf– bis sechsmal während dieser Arbeit zu erhitzen, damit er nicht abreiße. Es gehöre dazu eine gute Faust und viel Übung. Seine Schwester lasse ihren Mann nicht an die Drahtzieherei heran, weil er huste. Sie habe tüchtige Arme, er habe sie schon das Gold so fein wie Haar ausziehen sehen.

Indes überfiel Lorilleux ein so starker Hustenanfall, daß er sich auf seinem Schemel zusammenkrümmte. Mitten im Husten sprach er mit erstickter Stimme, immer ohne Gervaise anzusehen, als ob er nur für sich die Tatsache habe feststellen wollen:

»Ich, ich mache die Säule.« Anmerk. des Übersetzers: Eine Art der Gliederung bei goldenen Ketten.

Coupeau veranlaßte Gervaise, sich zu erheben. Sie solle sich nur dreist nähern, dann werde sie sehen. Der Kettenmacher stimmte mit einem Brummen ein. Er rollte den von seiner Frau vorbereiteten Draht um einen Zapfen, einen sehr dünnen, stählernen Rundstab. Hierauf durchschnitt er mit einem einzigen Scherenschnitt den aufgewickelten Draht, von dem jede Umdrehung jetzt ein Ringelchen bildete. Hierauf lötete er. Die Ringchen lagen auf einem dicken Stück Holzkohle. Er feuchtete sie mit einem Tropfen Borax an, den er aus dem Boden eines zerbrochenen Glases nahm, das neben ihm stand. Mit großer Schnelligkeit machte er sie an der Lampe unter der horizontalen Flamme des Lötröhrchens rotglühend. Wenn er gegen hundert solcher Gliedchen hatte, begann wieder seine feine Arbeit, indem er auf den Rand eines Pflockes gestützt, der durch die Reibung seiner Hände ganz blank geworden war, die Ringchen mit der Zange bog, länglich machte und dann eines an das andere fügte, indem er vermittelst einer Feile den oberen, schon befestigten Ring öffnete. Alles dies tat er mit unausgesetzter Regelmäßigkeit, die Ringchen folgten einander so schnell, daß die Kette sich unter Gervaises Augen nach und nach verlängerte, ohne daß sie recht wußte, wie es zuging.

»Das ist die Säule!« sagte Coupeau. »Man hat die Panzerkette, die Gabelkette, die Kinnkette und die Schnur. Lorilleux macht nur die Säule.«

Dieser lächelte befriedigt; während er fortfuhr seine Ringchen zu biegen, die unter seinen schwarzen Fingernägeln unsichtbar waren, rief er:

»Höre doch, Cadet-Cassis, ich habe heute morgen eine Rechnung aufgestellt. Ich habe mit zwölf Jahren angefangen, nicht wahr? Weißt du, was für ein Stück Kette ich bis zum heutigen Tage gemacht habe?«

Er hob sein blasses Gesicht und blinzelte mit seinen rotgeränderten Augen.

»Achttausend Meter! Hörst du? Zwei Meilen ... Was sagst du zu einem Stückchen Kette von zwei Meilen! Das langt, um die Hälse aller Frauenzimmer im ganzen Stadtviertel zu umwickeln ... Und du weißt, das Stück wird noch immer länger. Ich denke, ich werde es noch auf die Länge des Weges von Paris nach Versailles bringen.«

Gervaise war wieder zu ihrem Platz zurückgekehrt und hatte sich niedergesetzt. Sie war ernüchtert und fand alles sehr häßlich. Am meisten peinigte sie das Stillschweigen, das man in betreff ihrer Heirat beobachtete. Ohne diese für sie so wichtige Sache wäre sie sicherlich nicht gekommen. Die Lorilleux' fuhren fort, sie als neugierige Besucherin zu behandeln, die Coupeau mitgebracht habe. Als sich doch endlich eine Unterhaltung angebahnt hatte, drehte sie sich lediglich um die Mieter des Hauses. Madame Lorilleux fragte ihren Bruder, ob er nicht beim Heraufkommen gehört habe, wie sich im vierten Stock die Leute schlügen. Diese Bernards prügelten sich täglich; der Mann komme betrunken wie ein Schwein nach Hause, auch die Frau habe viel Schuld, sie schimpfe in ekelhaften Ausdrücken. Dann sprach man von dem Musterzeichner im ersten Stock; der große Lümmel, der Baudequin, sei ein Taugenichts, der mehr Schulden als Haare auf dem Kopfe habe; ewig rauche und gröle er mit den Kameraden. Die Pappschachtelkleisterei von Herrn Madinier liege in den letzten Zügen. Gestern abend habe der Meister wieder zwei Arbeiterinnen entlassen, es sei ein wahrer Segen, wenn er umkippe, denn er esse alles auf und lasse seine Kinder halb nackt herumlaufen. Madame Gaudron nütze noch immer lustig ihre Matratzen ab: sie sei schon wieder schwanger, was doch in ihrem Alter kaum noch anständig sei. Der Wirt habe Coquets im fünften Stock gekündigt; sie seien drei Mietsraten schuldig und hätten sich darauf gesetzt, ihren Kochofen auf dem Treppenflur anzuzünden, obgleich erst am vorigen Sonnabend Fräulein Remanjou, die Alte im sechsten Stock, beim Abliefern ihrer Puppen gerade zurechtgekommen sei, um den kleinen Linguerlot vor dem Verbrennen zu retten. Fräulein Clémence, die Plätterin, führe sich so auf, daß man es gar nicht aussprechen könne, sie sei rein toll auf die Mannsbilder, dabei habe sie ein vortreffliches Herz. Nein, es sei jammerschade, daß ein so hübsches Mädchen mit jedem Kerl gehe! Man werde sie wohl eines schönen Tages aus dem Rinnstein auflesen, das sei sicher.

»Da!« sagte Lorilleux zu seiner Frau, indem er ihr eine Kette gab, an der er seit dem Frühstück gearbeitet hatte, »da hast du wieder eine. Du kannst sie fertigmachen.«

Dann fügte er mit der Beharrlichkeit eines Menschen, der einen Scherz gern zu Tode hetzt, hinzu:

»Noch vier und einen halben Fuß. – Das bringt mich Versailles immer näher.«

Madame Lorilleux erhitzte die Kette und ließ sie dann durch ein Loch des Zieheisens gehen, um sie ganz gleichmäßig zu machen. Dann legte sie die Kette in eine kleine Kupferschüssel mit langem Stiel, die verdünntes Scheidewasser enthielt, und reinigte sie so am Feuer der Schmiede. Gervaise mußte, von Coupeau aufmerksam gemacht, auch dieser letzten Hantierung zusehen. Als die Kette gereinigt war, wurde sie matt rötlich. Sie war jetzt zum Abliefern fertig.

»Man liefert roh,« setzte der Zinkarbeiter auseinander, »die Poliererinnen reiben es dann mit Wollenlappen blank.«

Gervaise fühlte ihre Fassung zu Ende gehen. Die immer stärker werdende Hitze erstickte sie.

Man hielt die Tür immer geschlossen, weil der geringste Luftzug Lorilleux eine Erkältung zuzog. Da man immer noch nicht von ihrer Heirat sprach, wollte sie fortgehen, sie zupfte Coupeau leicht an der Weste. Dieser verstand den Wink. Auch er fing an, sich über dieses absichtliche Stillschweigen zu ärgern.

»Na, wir wollen nun fortgehen und euch arbeiten lassen.«

Er zögerte noch einen Augenblick in der Hoffnung, ein Wort oder irgendeine Anspielung zu hören. Endlich entschloß er sich, die Sache selbst aufs Tapet zu bringen.

»Sagt doch, Lorilleux, wir rechnen darauf, daß Ihr Trauzeuge meiner Frau sein werdet.«

Der Kettenmacher hob höhnisch lachend den Kopf auf und spielte den Überraschten, während seine Frau ihre Drähte losließ und sich mitten in der Werkstatt aufpflanzte.

»Es ist also ernsthaft?« murmelte er. Der verdammte Cadet-Cassis, man weiß nie, wie man mit dem Burschen daran ist!«

»Ah so! Madame ist die Person!« sagte ihrerseits die Frau und musterte Gervaise. »Mein Gott, wir haben euch keine Ratschläge zu geben ... Es ist ja immerhin ein schnurriger Gedanke, sich zu verheiraten. Mein Gott! Ihr seid ja miteinander einig! wenn die Sache nicht glückt, habt ihr nur euch selbst Vorwürfe zu machen, nicht wahr? Oft glückt ja so was nicht, im Gegenteil, sehr selten ...«

Die letzten Worte hatte sie immer langsamer gesprochen und dabei mit dem Kopfe geschüttelt; sie musterte Gervaise von oben bis unten, als ob sie sie habe mit ihren Blicken entkleiden und ihre Haut begucken können. Die Musterung schien besser auszufallen, als sie gedacht hatte.

»Mein Bruder ist sein eigener Herr«, fuhr sie mit etwas mehr gekniffenem Tone fort. »Ohne Zweifel hätte die Familie gewünscht ... Man macht ja immer so seine Pläne. Aber die Dinge nehmen ja gewöhnlich eine unerwartete Wendung ... Ich will vor allem Ruhe und Frieden haben. Und wenn er uns das niedrigste Weibsbild zugeführt hätte, ich hätte ihm immer gesagt, heirate sie, und laß uns zufrieden ... Er hatte es ja bei uns nicht schlecht, er ist rund und fett, man sieht ihm an, daß er nicht zu fasten brauchte. Immer fand er seine Suppe warm, pünktlich auf die Minute ... Sage doch, Lorilleux, findest du nicht, daß Madame der Therese ähnlich sieht, du weißt doch, der Frau von gegenüber, die an der Brustkrankheit gestorben ist?«

»Ja, ja, es ist eine Ähnlichkeit«, antwortete der Kettenmacher.

»Sie haben zwei Kinder, Madame. Ei der Tausend! da habe ich denn doch zu meinem Bruder gesagt: Ich verstehe nicht, wie du eine Frau heiraten kannst, die zwei Kinder hat ... Ihr müßt mir nicht übelnehmen, wenn ich sein Interesse wahrnehme, das ist ja natürlich ... Überdies scheint Ihr nicht die Allerkräftigste zu sein ... Nicht wahr, Lorilleux, Madame sieht ein bißchen schwächlich aus?«

»Ja, ja, sie sieht schwächlich aus.«

Sie sagten nichts von ihrem Bein. Aber Gervaise sah doch an ihren Seitenblicken und an ihren gekniffenen Lippen, daß sie stillschweigend darauf anspielten. Sie stand da vor ihnen, in ihrem kleinen Schal mit den gelben Palmen und antwortete einsilbig, als ob sie ihre Richter vor sich habe. Coupeau sah, daß ihr die Sache peinlich sei und rief:

»Was soll das alles ... Ob ihr es sagt oder nicht, das ist ganz gleich. Die Hochzeit findet Sonnabend, den neunundzwanzigsten Juli statt. Ich habe den Tag nach dem Kalender berechnet. Sind wir einig? Paßt es euch?«

»Jawohl! Jawohl! es paßt uns immer«, sagte seine Schwester. Du hattest ja gar nicht nötig, uns um Rat zu fragen ... Ich werde Lorilleux nicht daran hindern, Zeuge zu sein. Ich will Ruhe und Frieden haben.«

Gervaise, die mit gesenktem Kopfe dastand und nicht mehr wußte, was sie machen sollte, war mit einem ihrer Füße in eine lockere Stelle der Binsendecke geraten, mit der der Fußboden der Werkstätte bedeckt war. Aus Furcht, durch das Zurückziehen des Fußes irgend etwas in Unordnung gebracht zu haben, hatte sie sich gebückt, um mit der Hand die Binsendecke zu glätten. Lorilleux brachte schnell die Lampe zur Stelle. Er untersuchte ihre Hände mit Mißtrauen.

»Man muß sich in acht nehmen,« sagte er, »die kleinen Stückchen Gold setzen sich an den Schuhen fest, und ohne es zu wissen, schleppt man es fort.«

Es sei eine böse Geschichte. Die Arbeitgeber bewilligten auch nicht ein Milligramm Abfall. Er zeigte die Hasenpfote, mit der er die Goldstückchen von seinem Arbeitstisch zusammenfegte, und die Lederschürze auf seinen Knien, die dazu diente, sie aufzufangen. Zweimal wöchentlich fege man die Werkstatt aufs allersorgfältigste, man hebe allen Abfall auf und verbrenne ihn, wo man dann in der Asche monatlich für zwanzig bis dreißig Franken Gold fände.

Madame Lorilleux ließ Gervaises Schuhe nicht aus dem Auge.

»Ihr müßt deshalb nicht böse sein«, murmelte sie mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Madame kann ja ihre Sohlen nachsehen!«

Gervaise, die sehr rot geworden war, setzte sich wieder, hob ihre Füße hoch und ließ sehen, daß dort nichts war. Coupeau hatte die Tür aufgerissen und rief mit ärgerlicher Stimme: »Guten Abend!« Vom Gang aus rief er nach ihr. Da ging auch sie, indem sie ein paar höfliche Worte hervorstotterte: sie hoffe, daß man sich wiedersehen und verständigen werde.

Die Lorilleux' achteten schon nicht mehr auf sie, sie hatten sich in ihrem schwarzen Loch von Werkstatt schon wieder an die Arbeit gemacht, wo das Feuer der kleinen Schmiede leuchtete, wie das Glimmen einer letzten Kohle, die in der Hitze eines Ofens verglüht. Die Frau, der das Hemd von der einen Schulter herabgeglitten war und deren Haut im Widerschein des roten Lichtes glänzte, zog aufs neue ihre Drähte; bei jeder besonderen Kraftanstrengung, die sie machte, sah man das Spiel der Muskeln auf ihrem entblößten Nacken. Indes saß der Mann zusammengekauert vor dem grünlichen Lichte seiner mit Wasser gefüllten Glaskugeln und begann ein neues Stück Kette zu arbeiten; er bog den Ring mit der Zange, erweiterte ihn nach der einen Seite und fügte ihn in den oberen Ring ein, um ihn dann wieder mit Hilfe einer scharfen Schere zu öffnen. So fuhr er unaufhörlich mechanisch fort, ohne sich Zeit zu nehmen, den Schweiß von seinem Gesichte zu wischen.

Als Gervaise den Gang verließ, der auf den Treppenflur des sechsten Stockes führte, konnte sie nicht mehr an sich halten und stotterte unter Tränen die Worte hervor:

»Das verspricht nicht viel Glück!«

Coupeau schüttelte wütend den Kopf. Lorilleux solle ihm diesen Abend vergelten. Hat man jemals einen solchen Lumpenkerl gesehen? Zu glauben, daß man ihm drei Körner von seinem Goldstaub wegschleppen werde! Alle diese Geschichten, das sei reiner Geiz. Seine Schwester habe vielleicht geglaubt, daß er sich nie verheiraten werde, damit sie durch ihn täglich vier Sous an ihrem Mittagbrot ersparen könne. Übrigens werde es dennoch geschehen, und sie heirateten den neunundzwanzigsten Juli. Er schere sich den Teufel um sie!

Während Gervaise die Treppe hinabstieg, fühlte sie ihr Herz schwer und schwerer werden, eine törichte Furcht erfaßte sie, und mit ängstlichen Blicken durchforschten ihre Augen die Dunkelheiten der Treppenflure. Um diese Stunde war die Treppe still und verlassen, nur noch die verkleinerte Flamme des zweiten Stockes leuchtete in die finsteren Abgründe wie das Flimmern einer Nachtlampe.

Hinter den geschlossenen Türen herrschte tiefes Schweigen; es war die Stille des dumpfen, schweren Schlafes, dem sich die ermüdeten Arbeiter unmittelbar nach beendeter Mahlzeit hingaben. Nur aus dem Zimmer der Plätterin ertönte ein unterdrücktes Kichern, während sich ein feiner Lichtstrahl durch das Schlüsselloch des Fräulein Remanjou stahl, die mit dem leichten Geklapper ihrer Schere die Gazekleidchen für die Puppen zu dreizehn Sous anfertigte. Unten bei Madame Gaudron wollte ein Kindchen nicht aufhören zu weinen. Den bleiernen Ausgüssen auf den Fluren entstieg ein durchdringender Geruch inmitten dieser schwarzen, dumpfen Stille.

Auf dem Hofe, wo Coupeau mit lauter Stimme das Öffnen des Haustores verlangte, blickte Gervaise zurück und betrachtete noch einmal das Haus. Es schien gewachsen unter dem mondlosen Himmel. Die grauen Mauern, gleichsam gereinigt von ihren Moosbildungen und geglättet durch den Schatten, breiteten sich aus und strebten empor; sie erschienen noch nackter, noch platter, da man sie der Lumpen entkleidet hatte, die über Tags dort an der Sonne trockneten. Die geschlossenen Fenster schienen zu schlafen. Hier und da waren einige hell erleuchtet, sie waren wie die offenen Augen eines Riesen und gaben den Ecken, aus denen sie hervorblitzten, ein schielendes Aussehen. Über jedem Hausflur bildeten die sechs Treppenfenster mit ihrem matten Licht gewissermaßen einen Turm. Die Strahlen einer Lampe, die vom zweiten Stock aus der Pappschachtelfabrik herableuchteten, bildeten einen gelben Fleck auf dem Pflaster des Hofes und durchdrangen die Finsternis, in welche die Werkstätten zu ebener Erde getaucht waren. In der Tiefe dieser Dunkelheit, in der feuchten Ecke hörte man das Klatschen von Wassertropfen, die aus dem schlecht zugedrehten Brunnenhahn fielen. Da kam es über Gervaise, als ob das Haus erdrückend, eisig auf ihren Schultern laste. Es war immer noch ihre törichte Furcht, eine Kinderei, die sie später belachte.

»Paßt auf!« rief Coupeau.

Sie mußte, um hinauszugehen, über eine große Pfütze springen, die aus der Färberei geflossen war. An diesem Tage war das Wasser blau, ein tiefes Azurblau, gleich dem Himmel eines Sommertages, in dem der Widerschein der kleinen Lampe des Pförtners wie ein Stern leuchtete.


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