Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel.

Nana wuchs heran und wurde eine Dirne. Mit fünfzehn Jahren war sie aufgeschossen wie ein Kalb, sehr weiß von Fleisch, sehr fett und so üppig, daß man sagen konnte, sie sei ein Ball. Ja, ja, so war sie, fünfzehn Jahre, alle Zähne und kein Korsett. Ein richtiges Dirnengesicht, wie in Milch getaucht, eine sammetweiche Haut wie ein Pfirsich, eine lustige Nase, ein rosiger Schnabel und Guckaugen so hell, daß die Männer Lust bekamen, ihre Pfeifen daran anzuzünden. Ihr Haufen blonder Haare hatte die Farbe reifen Hafers und schien ihr Goldstaub auf die Schläfe zu werfen, dabei hatte das Haar rötliche Lichter, die sie manchmal mit einer Krone von Sonnenstrahlen umgeben erscheinen ließen. Sie war eine nette Pflanze! wie die Lorilleux' sagten, eine Rotzliese, der man noch hätte die Nase schnauben können, und deren breite Schultern so rund und voll waren und so viel Reife zeigten wie bei einer fertigen Frau. Jetzt steckte sich Nana keine Papierkugeln mehr in die Taille, sie hatte jetzt da ein Paar Kugeln bekommen, und zwar ein Paar ganz neue von weißem Atlas. Das war ihr gar nicht unbequem, sie hätte einen ordentlichen Arm voll davon haben mögen, sie träumte von der Überfülle einer Amme, so merkwürdig unüberlegt ist der Geschmack der Jugend. Was sie besonders lüstern erscheinen ließ, war eine häßliche Gewohnheit, die sie angenommen hatte: sie steckte ihre Zungenspitze stets zwischen ihren weißen Zähnen ein wenig hervor. Wahrscheinlich hatte sie sich im Spiegel so sehr hübsch gefunden. Jetzt steckte sie. den ganzen Tag, um recht hübsch auszusehen, die Zunge heraus.

»Verstecke doch die Lügnerin!« rief ihr ihre Mutter zu. Oft mußte sich Coupeau ins Mittel legen, mit den Fäusten aufschlagen und fluchen:

»Willst du wohl deinen roten Lappen einziehen?«

Nana zeigte sich sehr gefallsüchtig. Sie wusch sich zwar nicht immer die Füße, aber sie nahm stets so enge Schuhe, daß sie alle Qualen der Hölle durchkostete; fragte sie einer, was ihr sei, wenn sie ganz violett aussah, so sagte sie, sie habe Leibkneifen, um nur nicht ihre Eitelkeit einzugestehen. Wenn das Brot im Hause fehlte, hielt es sehr schwer, sich herauszuputzen. Dann vollführte sie wahre Wunder: sie brachte Bänder von der Arbeitsstätte mit, machte sich Toiletten zurecht, schmutzige Kleider besetzte sie mit Schleifen und Quasten. Der Sommer war die Jahreszeit ihrer Triumphe. Mit einem Samtkleidchen für sechs Franken erschien sie jeden Sonntag und entzückte das ganze Goldtropfenviertel mit ihrer blonden Schönheit. Ja, sie war bekannt von den äußeren Boulevards bis zu den Befestigungen, von der Chaussée Clignancourt bis zur Kapellenstraße. Man nannte sie »das kleine Hühnchen«, weil sie in Wahrheit eine so zarte, frische Farbe hatte wie ein junges Hühnchen.

Ein Kleid hatte sie, das stand ihr ganz besonders gut, das war ganz weiß, mit erbsengroßen rosa Punkten, sehr einfach und ohne die geringste Garnierung. Der etwas kurze Rock ließ ihre Füße frei, die weit offenen Hängeärmel zeigten ihre Arme bis zum Ellenbogen unbedeckt; der Halsausschnitt der Taille, den sie in einer dunkeln Ecke der Treppe herzförmig öffnete und mit Stecknadeln feststeckte, weil sie Papa Coupeaus Schläge fürchtete, legte ihren schneeigen Nacken und die goldigen Schatten ihres Halses bloß. Nichts schmückte sie weiter, nichts als ein rosa Band, das sie um ihre Haare schlang und dessen Enden ihren Nacken lustig umflatterten. Sie war darin so frisch wie ein Blumenstrauß. Der Duft der Jugend lag auf dieser Erscheinung, die noch ein Kind und dennoch schon eine Jungfrau war.

Zu dieser Zeit waren die Sonntage für sie die Zeit des Zusammentreffens mit der Menge, mit all den Männern, die sie im Vorbeigehen anglotzten. Während der ganzen Woche wartete sie sehnlichst auf den Sonntag, schon im voraus gekitzelt von dem Vergnügen, das sie genießen werde; in der Woche erstickte sie, der Sonntag erfüllte ihr Verlangen nach Luft und Freiheit. Schon früh am Morgen fing sie an sich anzukleiden, stundenlang blieb sie im Hemd vor dem kleinen Stückchen Spiegel, das über der Kommode aufgehängt war, und weil das ganze Haus sie da sehen konnte, fragte ihre Mutter sie oft, ob sie denn noch nicht lange genug als Nackedei herumspaziert sei. Aber sie machte sich ganz ruhig auf der Stirn kleine Löckchen mit Zuckerwasser, nähte die Knöpfe an ihren Stiefeln fest oder heftete etwas an ihrem Kleide. Bei alledem waren ihre Beine nackt, ihr Hemd glitt ihr von den Schultern, und ihre gelösten blonden Haare umwallten unordentlich ihren Kopf. Sie sei hübsch so! sagte Vater Coupeau, der sie neckte und hänselte, eine wahre büßende Magdalena! Sie habe sich können für zwei Sous als wilde Frau sehen lassen! Er rief ihr oft zu »Verstecke doch dein Fleisch, damit ich mein Brot essen kann!« Sie war bewunderungswürdig, so weiß und fein unter ihrem blonden Dach von Haaren, so rosig, wenn sie zürnte. Sie wagte ihrem Vater nicht zu antworten und zerbiß vor Wut ihren Faden zwischen den Zähnen, so daß dieser kurze Knacks wie ein Schauer ihre nackte Schönheit überlief.

Gleich nach dem Frühstück ging sie ab, sie stieg in den Hof hinunter. In sonntäglichem Frieden schlief das Haus; unten waren die Werkstätten geschlossen; von den Wohnungen gähnten die offenen Fenster hinaus ins Freie, hinter denen man die schon für den Abend gedeckten Tische sah, während die Bewohner draußen auf den Befestigungen sich Appetit für das Mittagsmahl holten. Eine Frau im dritten Stock benutzte den Tag, um ihr Zimmer zu scheuern, sie rückte ihr Bett und ihre Möbel und sang dabei stundenlang dasselbe sanfte, weinerliche Lied. Der Lärm des Werkeltagtreibens schwieg, der Hof war still und heimlich. Dann begannen Nana, Pauline und andere große Mädchen Fangball zu spielen; es waren sechs oder sieben, die zusammen aufgewachsen und jetzt die Königinnen des Hauses geworden waren. Sie teilten sich in die verliebten Blicke der Herren. Wenn ein Mann über den Hof ging, ertönte ihr silbernes Lachen, und mit dem Rauschen ihrer gestärkten Unterröcke flogen sie wie vom Winde getrieben umher. Über ihnen flammte die Luft des Feiertages weich und lind wie die Faulheit und erfüllt von dem Staube, den die Menge der Spaziergänger aufwirbelte.

Aber die Fangballpartien waren nur ein Vorwand, um sich fortzumachen. Plötzlich fiel das Haus in die große Stille zurück, sie hatten sich auf die Straße geschlichen, um auf die äußeren Boulevards zu gelangen. Nun faßten sich alle sechs unter und nahmen so die halbe Breite des Weges ein; sie waren alle hell gekleidet und hatten nur ein Band um ihre bloßen Köpfe gebunden. Ihre lebhaften Augen, die aus den Ecken der Wimpern verstohlene Seitenblicke umherwarfen, sahen alles; sie warfen beim Lachen die Köpfe nach hinten und zeigten so ihren Hals und die Fülle des Unterkinnes. Mit lautem Gelächter machte sich ihr Übermut Luft, wenn ein Buckliger vorüberkam, oder wenn eine alte Frau an der Ecke nach ihrem Hündchen pfiff; dann sprengte das Lachen ihre Reihen, die einen blieben zurück, während die anderen sie heftig hinter sich her zogen; dabei wiegten sie sich in den Hüften, bildeten ein Knäuel und stieben wieder auseinander, nur um das Aufsehen der Spaziergänger zu erregen und bei den lebhaften Bewegungen ihre schönen, schmiegsamen Figuren recht zur Geltung zu bringen, deren jugendliche Frische ihre Mieder krachen ließ. Die Straße gehörte ihnen, da waren sie aufgewachsen, dort hatten sie ihre ersten Kleidchen längs der Läden in die Höhe gerafft; noch jetzt nahmen sie ihre Röcke bis zum Knie auf, wenn sie ihre Strumpfbänder wieder festmachen wollten. Inmitten der Menge, die ruhig und bleich zwischen den dürftigen Bäumchen der Boulevards dahinwandelte, trieb diese lose Bande ihr Spiel; sie zogen von der Zollstation Rochechouart bis zur Zollstation Saint-Denis, sie stießen die Leute, trennten im Zickzack die Gruppen der Spaziergänger, wandten sich um und ließen unter lauten Lachen übermütige Worte fallen. Aus den flatternden Falten ihrer Kleider entschlüpfte die Unverschämtheit ihrer Jugend, in voller freier Luft, unter dem nackten Licht des Tages entfalteten sie da die lüsterne Keckheit junger Taugenichtse und waren dabei begehrenswert und frisch wie Jungfrauen, die mit noch feuchtem Nacken soeben dem Bade entstiegen sind.

Nana war mit ihrem rosigen Kleide, das in der Sonne leuchtete, immer die Mittelste. Sie reichte den Arm der Pauline, deren weißes, mit gelben Blumen gemustertes Kleid gleichfalls im Lichte strahlte. Da sie beide die Größten, Entwickeltesten und Frechsten waren, führten sie die Bande an und heimsten die bewundernden Blicke und schmeichelhaften Redensarten ein, die ihnen gespendet wurden. Die anderen, die noch jünger waren, marschierten an den Seiten und am Ende; sie blähten sich auf und gaben sich die größte Mühe, auch schon beachtet zu werden. Nana und Pauline hatten sehr tief angelegte Kriegspläne und sehr verwickelte gefallsüchtige Listen. Wenn sie liefen, daß ihnen der Atem ausging, so taten sie es, um ihre weißen Strümpfe sehen zu lassen und ihre Haarbänder im Winde flattern zu lassen. Wenn sie dann plötzlich anhielten und so taten, als ob sie Atem schöpfen müßten, konnte man sicher darauf rechnen, daß eine ihrer Bekanntschaften, irgendein Bursche aus dem Viertel, in der Nähe war; dann gingen sie langsam, flüsterten lächelnd miteinander und warfen heimlich verlangende und beobachtende Blicke auf ihn. Sie liefen hauptsächlich so, um dadurch zufällige Begegnungen auf der Promenade herbeizuführen. Große, sonntäglich geputzte Burschen in Ärmelwesten und mit runden Hüten hielten sie für Augenblicke an den Übergängen fest, scherzten mit ihnen und versuchten es, sie um die Taillen zu fassen. Junge, zwanzigjährige Arbeiter in grauen Blusen, die Hals und Brust fast unbedeckt ließen, plauderten langsam und mit gekreuzten Armen mit ihnen und bliesen dabei den Rauch ihrer kurzen Tonpfeifen nicht gerade sehr rücksichtsvoll von sich. Diese Dinge blieben ohne Folgen, die Burschen waren mit ihnen gemeinsam aufgewachsen. Aber sie fingen schon an, unter dieser Zahl zu wählen. Pauline traf immer mit einem der Söhne von Madame Gaudron zusammen. Es war ein siebzehn Jahre alter Tischler, der ihr Äpfel kaufte. Nana entdeckte schon von einem Ende der Straße bis zum andern Victor Fauconnier, den Sohn der Wäscherin, mit dem sie sich in dunklen Ecken küßte. Aber weiter ging es nicht, sie waren zu durchtrieben, um unbewußt eine Dummheit zu machen; nur mit Worten waren sie schon sehr weit.

Wenn dann die Sonne niederging, war es das größte Vergnügen dieser Backfische, sich hinzustellen, wo ein Taschenspieler seine Späße machte. Gaukler und Herkulesse kamen dann und breiteten in den Anlagen ihr mottenzerfressenes Stückchen Teppich aus. Dann sammelten sich die Gaffer, es bildete sich ein Kreis, und der Clown ließ in seinem verschossenen Trikot die Muskel spielen. Nana und Pauline blieben stundenlang im dichtesten Haufen der Zuschauer stehen; ihre schönen, frisch gewaschenen Kleider wurden zwischen Paletots und schmutzigen Blusen zerknittert; ihre nackten Arme, ihr bloßer Nacken und die gelösten Haare glühten unter dem verpesteten Atem ihrer Umgebung, von der ein mit Schweiß gemischter Branntweingeruch ausging. Dabei lachten sie und freuten sich, ohne den geringsten Ekel zu empfinden; ihr Aussehen wurde noch rosiger denn zuvor, als ob sie sich da in ihrem natürlichen Fahrwasser befunden hätten. Um sie herum wurden schlimme Sachen gesagt, ganz nackte Gemeinheiten oder die Betrachtungen vollkommen betrunkener Männer. Das war ihre Sprache, sie kannten alles, mit ruhigem, schamlosem Lächeln wandten sie sich um, ohne daß die zarte Blässe ihrer seidenen Haut der leisesten Schamröte gewichen wäre.

Das einzige Unangenehme, was ihnen begegnen konnte, war, wenn sie ihre Väter trafen, besonders wenn diese getrunken hatten. Darauf paßten sie auf und warnten eine die andere.

»Du, Nana!« rief plötzlich Pauline, »da kommt Vater Coupeau!«

»O weh! er ist nicht betrunken! Ih, ich werde ihm was husten!« sagte Nana ärgerlich. »Ich kneife aus, wißt ihr? Ich habe keine Lust, mir von ihm die Flöhe abschütteln zu lassen! Hat der wieder ein Gesicht aufgesetzt! Mein Gott! Als ob er sich den Hals brechen wollte!«

Wenn Coupeau so gerade auf sie loskam, daß sie nicht mehr weglaufen konnte, duckte sie sich nieder und murmelte:

»Versteckt mich doch, ihr anderen! ... Er sucht mich ja, er hat versprochen, mir die Röcke hochzuheben, wenn er mich wieder beim Umhertreiben abfaßt!«

Wenn dann der Trunkenbold an ihnen vorüber war, so richtete sie sich wieder auf, und alle lachten aus vollem Halse hinter ihm her. Er findet sie! Er findet sie nicht! Das war ein reines Versteckspiel. Eines schönen Tages aber, als Boche mitgekommen war, um Pauline zu holen und am Ohrläppchen nach Hause zu führen, hatte auch Coupeau Nana mit Fußtritten heimgeschickt.

Wenn die Dämmerung begann, machten sie noch einen letzten Rundgang und kamen mit einbrechender Nacht mit der müden Menge der Spaziergänger zurück. Der aufgewirbelte Staub verdickte die Luft und verfinsterte den Himmel. Die Goldtropfenstraße nahm sich wie ein Stück Provinz aus mit den schwatzenden Müttern, die in den Haustüren standen und deren Stimmen nur hin und wieder die lauschige Ruhe störten, die sich auf das Stadtviertel bei dem Fehlen des Wagenverkehrs herabgesenkt hatte. Einen Augenblick blieben sie noch im Hofe, griffen wieder zum Federballspiel, um glauben zu machen, daß sie sich gar nicht fortgerührt hätten; dann gingen sie nach oben und machten sich unterwegs eine Geschichte zurecht, die sie oft gar nicht vorzubringen brauchten, weil ihre Eltern eben damit beschäftigt waren, wegen einer zuviel oder zu wenig gesalzenen Suppe sich mit Ohrfeigen zu traktieren.

Nana war jetzt Arbeiterin, sie verdiente bei Titreville, dem Hause in der Kairostraße, wo sie ihre Lehrzeit zugebracht hatte, täglich vierzig Sous. Die Coupeaus wollten nicht, daß sie abging, damit sie unter der Obhut von Madame Lerat, die dort schon seit zehn Jahren Vorsteherin war, bleiben konnte. Des Morgens sah ihre Mutter nach der Uhr, wenn die Kleine fortging. Sie sah hübsch aus, trotz des alten, schwarzen Kleidchens, das zu kurz war und ihr die Schultern einzwängte. Madame Lerat hatte Auftrag, die Zeit ihrer Ankunft genau festzustellen und sie nachher Gervaise mitzuteilen. Man ließ ihr zwanzig Minuten Zeit, um von der Goldtropfenstraße bis zur Kairostraße zu kommen; das reichte aus, denn diese jungen Taugenichtse von Mädchen haben Beine wie die Hirsche. Manchmal kam sie zur rechten Zeit, war aber so rot und so außer Atem, daß sie gewiß von der Zollstation ab in zehn Minuten gelaufen war und vorher unterwegs umhergebummelt hatte. Meistenteils blieb sie mit sieben oder acht Minuten im Rückstande; dann war sie bis zum Abend so liebenswürdig zu ihrer Tante und warf ihr soviel bittende Blicke zu, bis sie sie schließlich rührte und am Petzen hinderte. Madame Lerat, die mit der Jugend fühlte, belog die Coupeaus, aber sie kanzelte Nana mit nie endenden Reden herunter, worin sie von ihrer Verantwortlichkeit und von den Gefahren sprach, denen ein junges Mädchen auf dem Pariser Pflaster ausgesetzt sei. Oh! Du gerechter Gott! Wurde sie selbst nicht verfolgt? Mit den zärtlichsten Blicken ihrer Augen, in denen stets allerlei lüsterne Zweideutigkeiten aufblitzten, betrachtete sie ihre Nichte, und der Gedanke, daß sie über die Unschuld dieser armen kleinen Katze zu wachen berufen sei, erfüllte sie mit einem wahren Feuereifer.

»Du weißt doch,« wiederholte sie ihr oft, »daß du mir alles sagen mußt. Ich bin zu gut zu dir; wenn dir ein Unglück passierte, bliebe mir nichts übrig, als mich in die Seine zu stürzen. Hörst du, mein liebes Kätzchen? Wenn dich Männer ansprechen, so mußt du es mir erzählen und mir alles wiederholen, alles, ohne ein Wort zu vergessen ... Nicht wahr? Man hat dir noch nichts gesagt; du schwörst es mir?«

Nana lachte dann so seltsam, daß es ihr förmlich den Mund zusammenzog. Nein, nein, die Männer sprachen sie nicht an, dazu ging sie zu schnell! Und dann, was sollten sie ihr denn auch sagen? Hatte sie denn etwas mit ihnen zu schaffen? Ihre Verspätungen erklärte sie mit einfältiger Miene: sie war vor einem Schaufenster stehengeblieben und hatte sich Bilder angesehen, oder hatte Pauline begleitet, die immer so drollige Geschichten wußte. Man konnte ihr ja nachgehen, wenn man es nicht glaubte; sie ging sogar nie von dem linken Bürgersteige weg und lief so schnell, alle anderen jungen Mädchen überholte sie wie ein Wagen. Eines Tages hatte sie Madame Lerat wirklich einmal abgefaßt, wie sie in der Kleinen Plattenstraße mit drei anderen leichtfertigen Blumenmacherinnen in die Höhe guckte und lachte, weil ein Mann sich da oben am Fenster rasierte; aber die Kleine war böse geworden, sie schwor, daß sie gerade zum Bäcker hineingehen wollte, um sich für einen Sou Brot zu kaufen.

»Oh! Ich wache über sie, fürchtet nichts!« sagte die große Witwe zu Coupeau. »Ich stehe für sie ein wie für mich selbst! Und wenn so ein schmutziger Schlingel sie auch nur berühren wollte, ich würfe mich dazwischen!«

Das Arbeitszimmer bei Titreville war ein geräumiger Zwischenstock mit einem großen Arbeitstisch, der auf Böcken stand und die ganze Mitte des Raumes einnahm. Längs der vier kahlen Wände, deren graue, ins Gelbliche verschossene Tapeten an den zerrissenen Stellen den Kalk der Mauer sehen ließen, waren Gestelle angebracht, wo alte Kartons, Pakete, Modelle und alter, vergessener Ausschuß unter einer Lage dicken Staubes schlummerten. An der Decke zeigten sich über den Gasflammen stark angerußte Stellen. Die beiden Fenster öffneten sich so weit, daß die Arbeiterinnen, ohne den Tisch zu verlassen, die Vorübergehenden auf der anderen Seite der Straße beobachten konnten.

Madame Lerat, die mit gutem Beispiel voranging, kam immer zuerst. Dann klappte die Tür wohl eine volle Viertelstunde lang, und die kleinen Blumenmacherinnen kamen truppweise, schwitzend und mit halb gelösten Haaren an. An einem Julimorgen kam Nana als die letzte, was übrigens durchaus in ihren Gewohnheiten lag.

»Ach Gott!« sagte sie, »es würde auch kein Unglück sein, wenn ich einen Wagen hätte!«

Ohne selbst ihren Hut abzunehmen, der ein so alter, abgetragener Deckel war, daß sie es schon müde war, ihn immer wieder aufzustülpen und den sie ihren Helm nannte, ging sie an das Fenster, beugte sich hinaus und blickte nach rechts und links die Straße hinunter.

»Was hast du denn da zu sehen?« fragte Madame Lerat mißtrauisch. »Hat dich etwa dein Vater begleitet?«

»Nein, warum nicht gar!« antwortete Nana ruhig. »Ich sehe nach gar nichts ... Ich sehe nur, daß es ganz furchtbar warm ist. Wahrhaftig! Man kann sich Schaden tun, wenn man heute so läuft!«

An dem Morgen herrschte wirklich eine erstickende Hitze. Die Arbeiterinnen hatten die Holzvorhänge heruntergelassen, zwischen deren Stäben hindurch sie auf die Straße hinabspähten. Endlich hatten sie sich doch zur Arbeit niedergesetzt, wo sie in zwei Reihen je eine Längsseite des großen Tisches einnahmen, während Madame Lerat allein an der einen Querseite saß. Es waren acht, von denen jede ihren Gummitopf, ihre kleine Zange, andere Werkzeuge und ihren Modellierknäuel vor sich liegen hatte. Auf dem Werktische lagen in wirrem Durcheinander große Haufen Eisendraht, Garnknäuel, Watte, grünes und kastanienbraunes Papier, grüne Blätter und Blütenblätter, die aus Seide, Atlas oder Sammet geschlagen waren. Mitten auf dem Tische hatte eine Blumenmacherin in den Hals einer großen Wasserflasche ein Zweisousbukett gesteckt, das schon am Abend vorher an ihrem Busen zu verwelken angefangen hatte.

»Ach! Wißt ihr denn nicht?« sagte Leonie, eine hübsche Brünette, während sie sich auf ihren Blätterknäuel niederbeugte und Rosenblätter davon abnahm. »Die arme Karoline ist mit dem Burschen, den sie neulich Abend kennengelernt hat, sehr unglücklich!«

Nana, die gerade im Begriff war, schmale, grüne Papierstreifen zu schneiden, rief:

»Das will ich meinen! Er ist ja ein Mensch, der ihr alle Tage wenigstens einmal untreu ist!«

Des ganzen Zimmers bemächtigte sich eine heimliche Lustigkeit, und Madame Lerat mußte ihre ganze Strenge zeigen, obgleich es nicht leicht war, sich immer durchzusetzen. Sie rümpfte die Nase und brummte:

»Das ist ja recht hübsch, mein Töchterchen, du gebrauchst ja recht nette Worte! Ich werde es deinem Vater sagen, da wollen wir einmal sehen, wie es ihm gefallen wird!«

Nanas Backen schwollen förmlich an, so stark war ihre Lachlust, die sie verbeißen mußte. Ihr Vater, der sagte noch ganz andere Sachen! Aber plötzlich flüsterte Leonie sehr leise und schnell:

»Huh! Paßt auf! Die Herrin!«

Wirklich trat auch Madame Titreville, eine lange, magere Frau, ein. Für gewöhnlich hielt sie sich unten im Laden auf. Sie war von den Arbeiterinnen sehr gefürchtet, weil sie niemals mit ihnen scherzte. Sie ging langsam um den Arbeitstisch herum, auf den sich jetzt alle Nacken schweigend und tätig niederbeugten. Sie las einer Arbeiterin den Text und ließ sie ein Tausendschönchen noch einmal anfangen. Dann ging sie ebenso steif wieder fort, wie sie gekommen war.

»Hoppsassa! Hoppsassa!« wiederholte Nana mehrere Male, während ein Seufzer der Erleichterung durch den Saal ging.

»Meine Damen! Meine Damen!« sagte Madame Lerat, die eine strenge Miene aufsetzen wollte, »Sie werden mich zu Maßregeln zwingen ...«

Die jungen Mädchen hörten gar nicht auf sie, sie fürchteten sie nicht. Sie war viel zu nachsichtig; das Zusammenleben mit diesen kleinen, jungen Dingern, die stets den Kopf voller Schelmenstreiche hatten, reizte sie viel zu sehr; sie nahm sie beiseite und forschte sie über ihre Liebhaber aus oder legte ihnen auf einer freien Ecke des Arbeitstisches die Karten. Ihre harte Haut und ihre ganze Gendarmenfigur zitterte nur so vor Freude, wenn das Kapitel der Liebesabenteuer aufs Tapet gebracht wurde. Nur die gemeinen Worte konnte sie nicht leiden; sobald die gemeinen Worte vermieden wurden, konnte man ihr alles sagen.

Wahrlich, Nanas Erziehung wurde in diesem Zimmer eine würdige Krone aufgesetzt. Sie hatte sicher viele natürliche Anlagen. Aber das gab ihr den Rest, daß sie täglich mit einer Menge von Mädchen zusammenkam, die durch Elend und Laster schon müde gehetzt waren. Sie waren da eine so dicht bei der anderen, das steckte an, gerade wie in einem Korbe Äpfel, wenn ein paar faule dabei sind. Gewiß hielt man vor den Augen der Welt den Anstand aufrecht, man vermied es, ein zu rohes Wesen zu zeigen und zu gemeine Ausdrücke zu gebrauchen. Es war Sitte, das Benehmen anständiger Fräulein äußerlich zur Schau zu tragen. Nur vom Mund zum Ohr und in den Ecken, da gingen die Unanständigkeiten lustig ihren Weg; sowie zwei beieinander waren, schütteten sie sich vor Lachen aus über die Schweinereien, die sie einander zuflüsterten. Und dann begleitete eine die andere des Abends; da wollten die vertraulichen Mitteilungen und die haarsträubenden Geschichten gar kein Ende nehmen, so daß die beiden Dirnen sich auf der Straße mitten in dem Stoßen der Vorübergehenden verspäteten. Für solche Mädchen, die wie Nana noch unschuldig waren, brachte schon die Luft des Zimmers das Verderben mit sich, es war der Duft der Tanzböden und der durchschwärmten Nächte, den die Arbeiterinnen in ihren schlecht aufgesteckten Haarknoten und ihren zerknitterten Unterröcken, in denen sie geschlafen zu haben schienen, mit dahinbrachten. Diese hindämmernde Faulheit nach durchschwärmter Nacht, die matten Augen mit den dunkeln Rändern, die Madame Lerat in ihrer anständigen Sprache die Faustschläge der Liebe nannte, dieses Rütteln und Strecken und die heiseren Stimmen, das alles wehte wie ein Hauch des Verderbens über den Arbeitstisch in die zarte Gebrechlichkeit der künstlichen Blumen hinein. Nana sog diesen Duft ein und berauschte sich daran, wenn sie ein Mädchen zur Nachbarin bekam, das die erste Schlacht der Liebe schon geschlagen hatte. Lange Zeit hatte sie sich neben die große Lisa gesetzt, von der das Gerücht ging, daß sie schwanger sei, und sie betrachtete ihre Nachbarin mit so aufmerksamen, so leuchtenden Blicken, als ob sie sie vor ihren Augen anschwellen und plötzlich auseinanderplatzen sehen könne. Etwas Neues zu lernen, hätte ja sehr schwer gehalten; dieser Nichtsnutz wußte alles; alles hatte sie auf dem Pflaster der Goldtropfenstraße gelernt. Nur daß sie im Arbeitszimmer sah, wie es gemacht wurde und die Lust in ihr erwachte, auch mitzutun.

»Man erstickt hier!« murmelte sie und näherte sich dabei einem Fenster, als ob sie den Vorhang noch mehr herunterlassen wolle.

Aber sie beugte sich hinaus und blickte wieder rechts und links die Straße hinab. Im selben Augenblick rief Leonie, die drüben auf der anderen Seite einen Mann beobachtete, der stehengeblieben war:

»Was macht denn der Alte da? Der spioniert ja da schon eine volle Viertelstunde umher!«

»Das ist wohl wieder so ein alter Kater?« sagte Madame Lerat. »Nana, willst du dich wohl hinsetzen! Ich habe dir doch verboten, am Fenster zu bleiben!«

Nana ergriff wieder die Veilchenstengel, die sie rollte, aber das ganze Zimmer beschäftigte sich mit dem Herrn. Er war sehr gut gekleidet, trug einen Überrock und schien in den fünfziger Jahren zu stehen; sein Gesicht war bleich, sehr ernst und sehr würdig mit einem grauen Bart, der vornehm verschnitten war. Eine ganze Stunde lang stand er schon vor dem Laden eines Kräuterhändlers und erhob von Zeit zu Zeit die Augen zu den herabgelassenen Vorhängen der Fenster des Zimmers. Die Blumenmacherinnen kicherten untereinander, die unterdrückten Töne ihres Lachens wurden von dem Geräusch der Straße übertönt, das durch die geöffneten Fenster hereindrang; sie beugten sich sehr geschäftig über ihre Arbeit, verließen aber doch mit keinem Auge den Herrn gegenüber.

»Seht doch!« bemerkte Leonie, »er hat ein Augenglas! Es ist ein feiner Mann ... Sicherlich wartet er auf Augustine!«

Aber Augustine, ein großes, blondes, sehr häßliches Mädchen, antwortete spitz, daß sie die Alten nicht leiden könne. Madame Lerat schüttelte mit dem Kopfe und murmelte mit ihrem gekniffenen Lächeln, das voller Anzüglichkeiten war:

»Ihr habt unrecht, meine Liebe, die Alten sind die Zärtlichsten!«

In diesem Augenblick flüsterte die Nachbarin Leonies, eine kleine, fette Person, dieser einige Worte ins Ohr, welche diese wie unsinnig lachen ließen; sie warf sich auf ihren Stuhl zurück und schüttelte sich förmlich, dabei sah sie wiederholt zu dem Herrn hinüber und lachte noch stärker. Sie stotterte endlich:

»Oh! Ja, so muß es sein! So muß es sein ... Ach, diese Sophie ist ein durchtriebener Racker!«

»Was hat sie gesagt! Was hat sie gesagt!« fragte das ganze Zimmer mit neugierigen Mienen.

Leonie trocknete sich die Tränen aus den Augen, ohne zu antworten. Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, fing sie wieder an, Blätter zu kleben, und erklärte:

»Das kann man nicht wiedersagen!«

Alle bestanden darauf, aber sie schüttelte den Kopf und lachte noch beständig in sich hinein. Da bat Augustine, ihre linke Nachbarin, sie, es ihr doch leise ins Ohr zu sagen, Leonie wollte es ihr gern sagen, aber sie mußte die Lippen dicht an ihr Ohr legen. Da wand sich auch Augustine vor Lachen und gab die Worte weiter an die Nachbarin, die so den Weg durch das ganze Zimmer machten und einen Sturm von Ausrufen und tolles Gelächter hervorriefen. Als sie alle das Geheimnis von Sophies Worten kannten, blickten sie einander an und lachten zusammen, obwohl sie ein wenig rot und verlegen dabei waren. Nur Madame Lerat wußte nichts, sie war sehr böse darüber.

»Das ist sehr unartig, was Sie da machen, meine Damen!« sagte sie. »Man sagt sich nichts in die Ohren, wenn man sich in Gesellschaft befindet ... Es ist gewiß etwas Unanständiges, nicht wahr? Das ist ja recht hübsch!«

Trotz ihrer brennenden Neugierde wagte sie doch nicht zu verlangen, daß man ihr die Unanständigkeit von Sophie mitteilte. Sie setzte ihre würdigste Miene auf und senkte den Kopf, dabei ging ihr aber von den Unterhaltungen der Arbeiterinnen kein Wort verloren. Wenn eine von ihnen irgend etwas sagte, und wenn es auch das Unschuldigste gewesen wäre, irgendeine Bemerkung über ihre Arbeit zum Beispiel, so hörten alle anderen gleich eine Zweideutigkeit heraus; sie legten den Worten einen anderen Sinn unter, gaben ihnen eine unanständige Bedeutung und suchten die außergewöhnlichsten Anspielungen in den einfachsten Sätzen, wie dieser: »Meine Zange ist gesprungen!« oder: »Wer hat denn in meinem kleinen Topf gerührt?« Alles bezogen sie auf den Herrn, der da immer noch unten auf dem Anstand aushielt, immer war der Herr das Ziel aller Anspielungen. Wie mußten dem die Ohren klingen! Sie sagten schließlich die dümmsten Sachen, weil sie durchaus geistreich sein wollten; aber nichtsdestoweniger fanden sie dieses Spiel so hübsch, daß sie davon sehr aufgeregt waren und mit leuchtenden Augen sich zu immer gewagteren Reden verstiegen. Madame Lerat brauchte nicht böse zu werden, es wurden keine häßlichen Ausdrücke gebraucht. Sie selbst erregte die größte Heiterkeit mit den Worten:

»Fräulein Lisa, mein Feuer ist erloschen, borgt mir doch Eures!«

»Ach! Madame Lerats Feuer ist erloschen!« schrie das ganze Zimmer.

Sie wollte eine Erklärung anfangen:

»Wenn Sie erst so alt sind wie ich, meine Fräulein ...«

Aber man hörte nicht auf sie, sondern sprach davon, den Herrn von drüben zu rufen, damit er Madame Lerats Feuer wieder entzünde.

Man mußte nur sehen, wie Nana sich bei diesen Lachsalven beteiligte. Kein zweideutiges Wort entging ihr, ja sie selbst gab oft die kräftigsten zum besten, die sie dann noch durch nachträgliche Bewegungen betonte. Sie schwamm im Laster wie ein Fisch im Wasser. Dabei drehte sie ihre Veilchenstengel sehr gut, wenn sie sich auch vor Lachen auf ihrem Stuhl wand. Sie war von verblüffender Geschicklichkeit, sie brauchte kaum soviel Zeit, wie eine Zigarette zu machen in Anspruch nimmt. Wenn sie die Bewegung machte und nach den grünen Papierstreifen griff, so war auch die Sache schon gemacht, so leicht rollte sich der Streifen um den Draht; dann noch ein Tropfen Gummi oben zum Kleben, und es war gemacht; es kam aus ihren Händen wie ein grüner Zweig, den man nur gleich so hätte an eine Damentoilette stecken mögen. Die Geschicklichkeit lag in ihren Fingern, die so schlank, zart und weich, so wollüstig geschwellt waren, daß sie fast ohne Knochen schienen. Nur das eine hatte sie von ihrem Beruf lernen können; man ließ sie alle Stengel machen, die bei der Arbeit vorkamen, so gut konnte sie es.

Endlich war der Herr da gegenüber weggegangen. Das Zimmer beruhigte sich wieder, und alle arbeiteten in der großen Hitze. Als die Mittagstunde schlug, gerieten die Mädchen in Bewegung. Nana, die sich schnell dem Fenster genähert hatte, rief ihnen zu, daß sie die Besorgungen machen wolle, wenn es ihnen recht sei. Da bestellte sich Leonie für zwei Sous Krabben, Augustine eine Tüte mit Bratkartoffeln, Lisa ein Bündel Radieschen und Sophie eine Wurst. Als sie aber hinunterging, holte Madame Lerat, die ihre Vorliebe für das Fenster an diesem Tage etwas sonderbar gefunden hatte, sie mit ihren langen Beinen ein und sagte:

»Warte mal ein bißchen, ich gehe mit dir, ich brauche auch etwas.«

Als sie auf die Allee hinunterkam, bemerkte sie den Herrn, der da wie eine Wachskerze aufgepflanzt war und seine Augen zu Nana hinüberspielen ließ. Die Kleine wurde sehr rot. Ihre Tante nahm sie mit einem Ruck beim Arm und ließ sie über das Pflaster traben, während der Kavalier seine Schritte den ihren anpaßte. Ah! Also der Kater kam Nanas wegen! Nun! Das war ja recht hübsch, so zu fünfzehn und einem halben Jahre die Männer an den Röcken nach sich zu schleppen! Da befragte ihre Tante sie sehr lebhaft. Oh! Mein Gott! Nana wußte von nichts. Sie konnte nicht mehr die Nase vor die Tür stecken, ohne ihn auf ihrem Wege zu finden; sie glaubte, er sei ein Kaufmann oder ein Knopffabrikant. Madame Lerat war sehr erregt. Sie sah sich um und musterte den Herrn mit verstohlenen Blicken.

»Man sieht ihm an, daß er Geld im Beutel hat«, murmelte sie. »Höre mal, mein kleines Kätzchen, du mußt mir alles sagen. Jetzt hast du nichts mehr zu fürchten.«

Sie liefen plaudernd von Laden zu Laden, vom Wursthändler zum Krämer und zu dem Mann mit den Bratkartoffeln. Ihre Einkäufe stapelten mit ihren fettigen Papierhüllen in ihren Händen wahre Berge auf. Dabei blieben sie liebenswürdig, zierten sich, ließen leises Gelächter erschallen und waren mit leuchtenden Blicken nicht sparsam. Selbst Madame Lerat tat zierlich und spielte das junge Mädchen wegen des Knopffabrikanten, der ihnen beständig auf den Fersen folgte.

»Er macht einen sehr vornehmen Eindruck!« erklärte sie beim Einbiegen in die Allee, wenn er nur ehrenhafte Absichten hat ...«

Als sie die Treppe hinaufgingen, schien sie sich plötzlich auf etwas zu besinnen.

»Ja, sage doch! Was war denn das, was die Damen sich vorhin ins Ohr sagten, du weißt doch! Die Unanständigkeit von Sophie.«

Nana machte keine Umstände. Nur daß sie Madame Lerat um den Nacken faßte und sie zwang, zwei Stufen wieder herunterzusteigen, weil man es wirklich selbst auf einer Treppe nicht laut wiederholen konnte. Dann sagte sie das Wort. Es war so schlimm, daß die Tante sich begnügte, mit dem Kopf zu nicken, die Augen aufzureißen und den Mund zusammenzukneifen. Endlich wußte sie es, jetzt kitzelte sie es nicht mehr.

Die Blumenmacherinnen frühstückten auf ihrem Schoß, um den Arbeitstisch nicht schmutzig zu machen. Sie aßen alle sehr eilig, weil das Essen sie langweilte und sie es vorzogen, die freie Stunde damit auszufüllen, daß sie die Leute auf der Straße angafften oder sich in den Ecken vertrauliche Mitteilungen machten. An diesem Tage wollten alle gern wissen, wo der Herr vom Morgen hingekommen sei; denn er war jetzt wirklich verschwunden. Madame Lerat und Nana warfen sich mit gepreßten Lippen verständnisinnige Blicke zu. Es war schon ein Uhr zehn Minuten, und die Arbeiterinnen machten noch immer keine Miene, wieder zu ihren Werkzeugen zu greifen, als Leonie mit den Lippen ein eigentümliches Geräusch hervorbrachte; das klang wie Prrrut! und war das Zeichen, womit die Malergehilfen sich das Erscheinen des Meisters anzeigen. Sogleich waren alle auf ihren Stühlen und hatten die Nasen auf der Arbeit. Madame Titreville trat ein und machte mit strenger Miene die Runde.

Von diesem Tage an erquickte sich Madame Lerat an dem ersten Liebesabenteuer ihrer Nichte. Sie ließ sie nicht mehr locker, begleitete sie von Morgen bis Abend und schützte ihre Verantwortlichkeit vor. Das war Nana zwar ein bißchen langweilig, aber es schmeichelte ihr doch, daß sie so wie ein Schatz bewacht wurde. Die Unterhaltungen, die sie auf den Straßen alle beide mit dem Knopffabrikanten hinter sich pflegten, regten sie sehr auf und machten ihr noch mehr Lust, den Sprung zu wagen. Oh! Ihre Tante verstand solche Gefühle; selbst der Knopffabrikant, dieser bejahrte Herr, der so anständig war, rührte sie sehr, denn schließlich sind die Gefühle bei reifen Personen deshalb viel inniger, weil sie viel tiefer Wurzel geschlagen haben. Aber sie wachte, nur über sie hinweg ging der Weg zu der Kleinen. Eines Abends näherte sie sich dem Herrn und sagte ihm gerade auf den Kopf zu, daß das, was er da tue, nicht recht sei. Er grüßte sie artig, ohne zu antworten, denn er war ein alter Lüstling, der an solche elterlichen Ermahnungen gewöhnt war. Sie konnte ihm wirklich nicht böse werden, denn er war gar zu höflich. Durch ihre Unterhaltungen, in denen sie praktische Ratschläge über die Liebe erteilte, allerlei Geschichten von Dirnen erzählte, denen es sehr leid tat, daß sie das alles durchgemacht hatten, machte sie Nana noch lüsterner, und wenn sie die Kleine verließ, so glühten ihr die Augen in ihrem weißen Gesichtchen.

Eines schönen Tages hatte der Knopffabrikant in der Vorstadt-Fischerstraße seinen Kopf zwischen die Nichte und die Tante gesteckt und Dinge gesagt, die wirklich unerhört waren. Das hatte Madame Lerat erschreckt, und jetzt meinte sie, daß sie selbst nicht mehr Schutz genug sei, und deshalb erzählte sie die ganze Geschichte ihrem Bruder. Da wurde die Sache anders angefaßt. Sie richtete bei den Coupeaus eine schöne Verwirrung an. Zuvörderst bedachte Coupeau Nana mit einer ordentlichen Tracht Prügel. Was mußte er da erfahren! Diese Krabbe ließ sich mit alten Kerlen ein! Das war ja hübsch! Sie solle sich nur einmal unterwegs bei solchen Sachen von ihm fassen lassen, da könne sie sicher sein, daß er ihr den Kopf zurechtsetzen werde, gar nicht wie es Mode sei! Habe man je so etwas gesehen? Eine solche Rotzliese wolle ihre Familie entehren! Er schüttelte sie und sagte, daß sie auf dem rechten Wege bleiben werde, denn er selbst werde in Zukunft über sie wachen. Sowie sie nach Hause kam, untersuchte er sie: er blickte ihr gerade in die Augen, um sich zu vergewissern, daß nichts passiert sei und daß ihre Stirn nicht die Spuren von kleinen Küssen trage, die solche alte Wollüstlinge da vorzugsweise zu rauben trachten. Er besah sie von allen Seiten und versuchte ihr den Fehltritt anzuriechen. Eines Abends machte er ihr eine heftige Szene, weil er auf ihrem Nacken einen dunkeln Fleck gefunden hatte. Die Dirne wagte zu sagen, daß es kein Lutschfleck sei, sondern ganz einfach ein blauer Fleck, den Leonie ihr da aus Spielerei gemacht hatte. Er werde sie lehren, sich blaue Flecke machen zu lassen, er werde sie schon daran hindern, sich so gehen zu lassen, und wenn er ihr die Pfoten zerbrechen solle. Wenn er bei guter Laune war, neckte und hänselte er sie. Wahrhaftig! sie sei ein schönes Stück für die Mannsbilder, so platt wie eine Scholle und mit Salzfässern an den Schultern, so groß, daß man die Faust hineinlegen könne. Nana, die für lauter abscheuliche Dinge geschlagen wurde, die sie nicht begangen hatte, hinabgezogen durch die rohen Beschuldigungen ihres Vaters, zeigte zu allem die scheinbare Unterwürfigkeit einer von den Treibern umstellten wilden Bestie.

»Lasse sie doch zufrieden!« sagte Gervaise oft, die viel vernünftiger war. »Du wirst ihr noch Lust zu allem machen, wenn du ihr fortwährend davon sprichst!«

Das blieb auch nicht aus, die Lust kam ihr, das heißt, es juckte ihr danach auf dem ganzen Körper, sich zu beeilen und hineinzugehen, wie der Vater Coupeau sagte. Er prägte ihr diese Gedanken zu fest ein, das anständigste Mädchen hätte Feuer fangen müssen. Selbst durch die Art, wie er sie herunterkanzelte, lehrte er sie Dinge, die sie bis dahin nicht gewußt hatte, was doch gewiß erstaunlich war. So nahm sie denn nach und nach recht sonderbare Manieren an. Eines Morgens bemerkte er, daß sie in einem Papier umherwühlte und sich etwas ins Gesicht schmierte. Es war Reispuder, womit sie, einer verderbten Geschmacksrichtung folgend, sich den zarten, leuchtenden Glanz ihrer Haut verdarb. Er wischte es ihr mit einem Stück Papier so heftig wieder ab, daß er ihr die Backen bis aufs Blut aufkratzte und schalt sie eine Müllersmagd. Ein andermal brachte sie rote Bänder mit, um ihre Mütze, diesen alten, schwarzen Deckel, der ihr soviel Kummer und Schande machte, neu zu garnieren. Er fragte sie wütend, woher diese Bänder kämen. Das habe sie wohl auf dem Rücken verdient? Oder habe sie die etwa gestibitzt, als gerade keiner im Laden war? Dirne oder Spitzbübin, vielleicht auch beides! Zu verschiedenen Malen sah er in ihren Händen hübsche Dinge, einen Karneolring, ein Paar Ärmel mit kleinen Spitzen und eines dieser Herzen mit zwei Kapseln, welche die Mädchen sich auf den Busen hängen. Coupeau wollte alles wegnehmen, aber sie verteidigte ihre Sachen mit wahrer Wut: es gehöre ihr, verschiedene Damen hätten es ihr gegeben, oder sie habe es bei der Arbeit eingetauscht. Zum Beispiel das Herz habe sie in der Aboukirstraße gefunden. Als ihr Vater trotzdem das Herz mit einem Fußtritt zermalmte, blieb sie ganz bleich und aufrecht stehen, obgleich eine innere Wut sie antrieb, sich auf ihn zu stürzen und ihm irgend etwas herunterzureißen. Seit zwei Jahren war es ihr Traum gewesen, ein solches Herz zu besitzen, und jetzt trat man es ihr unter die Füße! Nein, das fand sie zu stark, das mußte ein Ende nehmen!

Bei allem lag in Coupeaus Art, Nana mit dem kleinen Finger leiten zu wollen, mehr Quälerei als Anstand. Sehr oft hatte er unrecht, und seine Ungerechtigkeiten brachten die Kleine ganz von Sinnen. So kam sie schließlich dahin, die Arbeit zu schwänzen; wenn ihr Coupeau dafür eine Tracht Schläge verabfolgte, schüttelte sie es ab und sagte, daß sie nicht mehr zu Titreville zurückkehren wolle, weil man sie immer neben Augustine setzte, die sicherlich ihre Füße gegessen haben müsse, so stinke sie aus dem Maul. Nun brachte sie Coupeau selbst nach der Kairostraße und bat die Besitzerin, sie doch zur Strafe immer neben Augustine zu setzen. Während ganzer vierzehn Tage nahm er sich die Zeit, sie von der Fischer-Zollstation ab bis zur Tür des Arbeitszimmers zu begleiten, Er blieb dann wohl noch fünf Minuten auf der Straße, um auch gewiß zu sein, daß sie hineingegangen sei. Aber als er eines Morgens einen Kameraden getroffen hatte und mit diesem bei einem Weinwirt in der Dionysiusstraße eingetreten war, bemerkte er die Dirne zehn Minuten später, wie sie mit ihrem Korbe schlenkernd schnell die Straße hinaufging. Seit vierzehn Tagen hinterging sie ihn, sie stieg bis zum zweiten Stockwerk hinauf, anstatt bei Titreville einzutreten, und setzte sich dort auf die Treppe, bis sie glaubte, daß er fort sei. Als Coupeau die Schuld Madame Lerat in die Schuhe schieben wollte, erklärte ihm diese kurz und bündig, daß sie solchen Vorwurf nicht annehme: sie habe ihrer Nichte alles gegen die Männer gesagt, was sie ihr sagen müsse, ihr Fehler sei es nicht, wenn das Mädchen noch Geschmack an solchen Schweinehunden finde; sie wasche ihre Hände in Unschuld; sie versicherte, daß sie sich um nichts mehr bekümmern werde, denn sie wisse, was sie wisse, sie habe genug von dem Geklatsch in den Familien, und das besonders, wenn Leute so schlecht sind zu behaupten, daß sie Nana verderbt habe, daß sie ein gemeines Vergnügen daran finde, unter ihren Augen das Mädchen schlecht werden zu sehen. Übrigens erfuhr Coupeau von der Besitzerin, daß Nana durch eine andere Arbeiterin verführt worden sei, durch das Kamel, die kleine Leonie, welche die Blumenmacherei an den Nagel gehängt habe, um sich einem liederlichen Lebenswandel zu ergeben. Ohne Zweifel habe man das Kind, das nur von der Lust, sich auf den Straßen herumzutreiben, erfaßt war, noch ganz gut mit einer Krone von Orangenblüten auf dem Kopfe verheiraten können. Aber den Teufel auch! man müsse sich ein bißchen beeilen, wenn man sie dem Manne übergeben wolle, ohne daß schon etwas zerrissen sei, sauber und in gutem Zustand, mit einem Wort, so vollständig, wie eine junge Dame sein soll, die sich selber achtet.

In dem Hause der Goldtropfenstraße sprach man von Nanas Altem wie von einem Herrn, den alle Welt kennt. Er blieb so bescheiden, selbst ein wenig furchtsam, aber eigensinnig und geduldig; wie der Teufel folgte er ihr immer auf zehn Schritte Entfernung mit der Miene eines gehorsamen Dieners nach. Manchmal kam er bis in den Hof. Madame Gaudron traf ihn eines Abends auf dem Treppenflur im zweiten Stock, wie er mit gesenktem Kopf und furchtsam am Geländer hinging. Die Lorilleux' drohten, daß sie ausziehen würden, wenn ihr Schmutzlappen von Nichte immer soviel Männer an ihren Fersen in das Haus schleppte. Das wurde ja ekelhaft, die ganze Treppe war voll, man konnte nicht mehr nach unten gehen, ohne daß man auf allen Stufen welche stehen sah, die da herumschnüffelten und warteten; wahrhaftig, man mußte glauben, daß eine läufige Hündin in dieser Ecke des Hauses sei. Die Boches bedauerten das Schicksal des armen alten Herrn; ein so anständiger Mann mußte sich in eine solche Straßendirne verschießen. Er war wirklich ein Kaufmann, sie hatten seine Knopffabrik am Boulevard de la Vilette gesehen; er hätte eine Frau glücklich machen können, wenn er auf ein anständiges Mädchen verfallen wäre. Dank diesen durch die Boche gegebenen Einzelheiten bezeigten alle Leute im Viertel, die Lorilleux' nicht ausgenommen, für den Alten die größte Rücksichtnahme, wenn er Nanas Spuren folgend, mit hängender Unterlippe und bleichem, von dem verschnittenen grauen Bart eingerahmten Gesicht vorüberkam.

Während des ersten Monats machte Nana der Alte viel Spaß. Man mußte es sehen, wie er immer um sie herumschwänzelte. Wie ein wahrer Topfgucker berührte er von hinten auf der Straße ihr Kleid, ohne daß er was merken ließ. Und seine Beine! reine Stöcke, wahre Streichhölzchen. Auf seinem kahlen Schädel wuchs kein Flaum mehr, und die vier Haare, die da auf dem Nacken so glatt angebürstet waren, brachten sie immer in Versuchung, ihn nach der Adresse des Perückenmachers zu fragen, der ihm seinen Scheitel machte. Ach! was war das für ein alter Knickstiefel, der war gar nicht lustig anzusehen.

Als sie ihn immer und immer wieder auf ihren Wegen fand, kam er ihr mit der Zeit nicht mehr so sonderbar vor. Dennoch hatte sie eine unbestimmte Furcht vor ihm und würde geschrien haben, wenn er sich genähert hätte. Oft, wenn sie vor einem Juwelierladen stillstand, hörte sie ihn plötzlich hinter ihrem Rücken auf sie einreden. Es war richtig, was er sagte, sie hätte gern so ein Kreuz am Sammetbande um den Hals getragen oder sich die kleinen Korallenohrringe eingesteckt, die wie kleine Bluttropfen aussahen. Aber selbst wenn sie auf Schmucksachen verzichtet hätte, so konnte sie so in ihrem Lumpen nicht länger gehen, sie war es müde mit dem, was sie durch die Arbeit in der Kairostraße aufraffte, sich so notdürftig zurechtzuflicken; einen besonderen Widerwillen hatte sie gegen ihren alten Hut. Diese Kiepe, auf der die neuen Blumen, die sie bei Titreville geklemmt hatte, sich ausnahmen, als ob man einen Bettler mit Schellen und Klunkern behängt. Wenn sie so im Straßenschmutz dahintrabte, und die Wagen sie mit Kot bespritzten, wenn sie geblendet war von dem Glanz der Schaufenster, so wandelten sie Gelüste an, die sie peinigten, als ob sich ihr Magen schmerzhaft zusammenziehe; dann wollte sie gern gut gekleidet sein, in den Restaurants essen, ins Theater gehen und ein Zimmer mit schönen Möbeln für sich allein haben. Ganz bleich vor Verlangen blieb sie stehen und fühlte, wie von dem Pariser Pflaster eine Wärme an ihren Schenkeln emporstieg; dann erfaßte sie eine wilde Lust sich hineinzustürzen in all die Genüsse, denen sie die Menge im stoßenden Getriebe auf den Bürgersteigen nachjagen sah. In solchen Augenblicken fehlte denn auch nie ihr Alter und flüsterte ihr seine verlockenden Vorschläge in die Ohren. Wie gern würde sie eingeschlagen haben, wenn sie sich nicht vor ihm gefürchtet hätte, wenn in ihrem Innern sich nicht etwas geregt hätte, was sie taub machte und in ihrer Weigerung bestärkte; das Unbekannte in der Natur des Mannes machte sie wütend und ekelte sie an, trotz all ihrer Verderbtheit.

Als der Winter herankam, wurde das Leben bei den Coupeaus unmöglich. Jeden Abend bekam Nana ihre Tracht Prügel. Wenn es der Vater müde war, sie zu schlagen, fuchtelte sie die Mutter durch, um ihr beizubringen, daß sie sich ordentlich zu halten habe. Oft geriet die ganze kleine Familie in Krieg, wenn einer auf sie losschlug und der andere sie verteidigte, so daß sie schließlich sich alle drei mit den Scherben zerschlagenen Geschirrs auf dem Boden umherwälzten. Bei alledem war die Nahrung knapp, und man klapperte von Kälte. Wenn sich die Kleine irgend etwas hübsches kaufte, eine Schleife oder ein Paar Manschettenknöpfe, so nahmen es ihr die Eltern weg und verputzten es. Sie konnte nichts ihr eigen nennen als ihre Tracht Schläge, die sie jedesmal bekam, ehe sie sich auf den paar Lumpen, aus denen ihr Bett bestand, niederlegte, und wo sie sich zitternd unter ihrem dünnen, schwarzen Unterrock zusammenkauerte, der ihr als einziges Zudeck dienen mußte. Nein, dieses verdammte Leben konnte so nicht fort gehen, so wollte sie nicht vor die Hunde gehen. Schon seit lange rechnete ihr Vater nicht mehr mit; wenn ein Vater sich fortwährend so betrinkt, wie es ihr Vater tat, so ist er kein Vater, sondern ein schmutziges Tier, das man mit Vergnügen los sein möchte. Auch ihre Mutter verlor mehr und mehr in ihren Augen. Sie trank jetzt auch. Sie hatte Geschmack daran gefunden, ihren Mann beim Vater Colombe aufzusuchen und sich dort Schnäpse anbieten zu lassen; sie setzte sich da zu Tische, als ob es so sein müsse, ohne so entrüstete Gesichter zu schneiden, wie das erstemal; sie goß ihre Gläser auf einen Zug hinunter und lümmelte sich stundenlang mit aufgestützten Ellenbogen da herum, um endlich in einem Zustand fortzugehen, daß ihr die Augen aus dem Kopf zu fallen schienen. Wenn Nana beim Totschläger vorüberging und dort ganz hinten ihre Mutter erspähte, wie sie mit der Nase im Schnapsglase steckte und stumpfsinnig zwischen den brüllenden Männern saß, erfaßte sie eine unsinnige Wut, weil die Jugend, deren Sinn nach anderen leckeren Sachen steht, die Leidenschaft für den Trunk nicht begreifen kann. An solchen Abenden bot sich ihr ein schönes Bild dar, der betrunkene Vater und die benebelte Mutter, eine gottverlassene Bude, in der kein Brot war und die der Dunst des Branntweins vergiftet hatte. Da hätte selbst eine Heilige nicht aushalten können. Kein Wunder, wenn sie eines schönen Tages einmal ausriß; ihre Eltern konnten wohl an ihre Brust schlagen und das mea culpa beten, denn sie selbst hatten sie hinausgejagt.

An einem Sonnabend fand Nana beim Nachhausekommen ihren Vater und ihre Mutter in einem abscheulichen Zustand. Coupeau lag quer über das Bett gestreckt und schnarchte. Gervaise war auf einen Stuhl gesunken, ihr Kopf hing schlaff hernieder, und ihre Augen starrten mit irren Blicken ins Weite. Sie hatte vergessen, das Essen, einen Rest von Ragout, warm zu halten. Eine Talgkerze, die sie nicht schnauzte, beleuchtete das schmachvolle Elend der Behausung.

»Bist du da, kleiner Wurm?« stotterte Gervaise. »Warte nur! Dein Vater wird dich gut empfangen!«

Nana antwortete nicht, sie blieb ganz bleich stehen und betrachtete den kalten Ofen, den Tisch ohne Teller und das düstere Gemach, in dem der tierische Stumpfsinn der beiden Trunkenbolde sie mit bleichem Schrecken erfüllte. Sie nahm ihren Hut nicht ab, machte einen Rundgang im Zimmer und dann biß sie die Zähne zusammen, öffnete die Tür und ging fort.

»Du gehst wieder runter?« fragte ihre Mutter, ohne den Kopf nach ihr umwenden zu können.

»Ja, ich habe etwas vergessen. Ich komme wieder nach oben... Guten Abend.«

Sie kam nicht wieder. Als die Coupeaus am andern Morgen nüchtern waren, schlugen sie sich und warfen sich einander Nanas Flucht vor. Die war nun weit, wenn sie immer gelaufen war! Wie man zu den Kindern sagt, wenn sie Sperlinge fangen wollen; die Eltern konnten hingehen und ihr Salz auf den Hintern streuen, dann würden sie sie vielleicht wieder bekommen. Es war ein harter Schlag, der Gervaise noch mehr niederbeugte; denn sie fühlte trotz ihres tierischen Stumpfsinnes sehr wohl, daß der Sturz ihrer Kleinen, die jetzt vom Zufall umhergestoßen wurde, sie selbst noch tiefer herabzog; jetzt war sie allein, jetzt hatte sie selbst kein Kind mehr, das ihr einen Zügel angelegt hätte, jetzt würde sie sich ganz gehen lassen und immer tiefer sinken. Ja, dieses entartete Kind schleppte da an den schmutzigen Röcken den letzten Rest von Ehrenhaftigkeit davon, der ihr noch geblieben war. Während dreier Tage betrank sie sich; wütend, mit geballten Fäusten und geschwollenem Munde schimpfte sie in den gemeinsten Ausdrücken über ihre Dirne von Tochter. Als Coupeau sich auf allen äußeren Boulevards umhergetrieben und jedem Weibsbilde unter die Nase geguckt hatte, das vorüberkam, rauchte er von neuem ruhig seine Pfeife; nur wenn er sich zu Tische setzte, hob er manchmal mit dem Messer in der Faust wütend seine Arme empor und schrie, daß er entehrt sei; dann setzte er sich wieder hin und aß ruhig seine Suppe.

Im Hause, wo jeden Monat die Mädchen auf und davon gingen wie die Zeisige, denen man den Käfig offengelassen hat, war niemand über den Unfall der Coupeaus besonders erstaunt. Aber die Lorilleux' triumphierten. Sie hatten es ja vorhergesagt, daß die Kleine sich auf die leichte Seite legen werde! Das war ihnen ganz recht, alle Blumenmacherinnen nahmen ein schlechtes Ende. Auch die Boche und Poisson lästerten und machten dabei ein ungemeines Aufheben von ihrer Tugendhaftigkeit. Nur Lantier verteidigte Nana heimlich. Mein Gott! es ist ja wahr, erklärte er mit seiner scheinheiligen Miene, ein junges Mädchen, das auf und davon geht, verletzt ja alle Gesetze; aber, fügte er dann mit einem schnellen Aufblitzen seiner Augen hinzu, das Mädchen sei zu verdammt hübsch, um in ihrem Alter so im Elend zu verkommen.

»Wißt ihr noch nicht?« rief Madame Lorilleux in die Loge der Boche, wo die Klatschgesellschaft ihren Kaffee trank, »so wahr wie uns das Tageslicht bescheint, die Humpelliese hat ihre Tochter verkauft ... Ja, sie hat sie verkauft, ich habe Beweise dafür! ... Der Alte, den man morgens und abends auf den Treppen traf, ging damals schon hin und gab Abschlagszahlungen. Das sprang ja in die Augen. Und gestern noch hat sie jemand im Varieté-Theater gesehen, das Mädel und ihren Kater ... Mein Ehrenwort darauf! sie sind zusammen, seht ihr wohl!«

Man schlürfte den Kaffee aus und besprach die Neuigkeit. Wenn man alles bedachte, war es wohl möglich, es kamen noch schlimmere Dinge vor. Im Viertel waren schließlich die wohlwollendsten Leute der Meinung, daß Gervaise ihre Tochter verkauft habe.

Gervaise schleppte jetzt ihr Leben hin und kümmerte sich nicht um die Meinung der Welt. Wenn man sie auf der Straße Diebin geschimpft hätte, würde sie sich deshalb nicht einmal umgedreht haben. Seit einem Monat arbeitete sie nicht mehr bei Madame Fauconnier, die sie hatte hinauswerfen müssen, um Streitigkeiten zu vermeiden. In wenigen Wochen war sie bei acht Wäscherinnen eingetreten; sie arbeitete zwei oder drei Tage in jeder Werkstatt, dann bekam sie ihren Abschied, weil sie ihre Arbeit wahrhaft versaute; sorglos und unsauber, wie sie war, verlor sie so weit den Kopf, daß sie ihren Beruf vollständig verlernte. Als sie einsah, was für ein Schnudel sie geworden war, hatte sie das Plätten ganz aufgegeben, sie wusch jetzt im Tagelohn in der Waschanstalt der Neuen Straße; im Schlamm umherpantschen, sich mit dem Schmutz herumschlagen, hinabsteigen zu dem, was ihr Handwerk Rohes und wenig Schwieriges hatte, das ging allenfalls noch, aber es brachte sie wiederum eine Stufe herunter auf der abschüssigen Bahn des Verderbens. Die Arbeit im Waschhause verschönte die Menschen auch nicht gerade. Wie ein begossener Hund sah sie aus, wenn sie da herauskam, durchnäßt und mit blauroten Händen und Armen. Dabei wurde sie immer noch fetter, trotz all der unfreiwilligen Fasttage, und ihr Bein verkürzte sich so, daß sie kaum neben jemandem gehen konnte, ohne ihn umzuwerfen, so stark hinkte sie jetzt.

Es ist ja nur natürlich, daß, wenn man so herunterkommt, aller Stolz der Frau dahinschwindet. Gervaise hatte auf ihre früheren Ansprüche vollständig verzichtet; ihr Wunsch zu gefallen, ihr Bedürfnis für bessere Empfindungen, ihr Streben nach Achtung und Rücksichtnahme, war ihr abhanden gekommen. Man hätte ihr jetzt vorn und hinten Fußtritte versetzen können, sie fühlte es nicht mehr, dazu war sie zu stumpf und abgetrieben. So hatte auch Lantier sie vollständig aufgegeben; nicht einmal der Form halber faßte er sie um die Taille; sie schien es selbst nicht einmal zu bemerken, wie diese Liebschaft, die sich so lange hingezogen hatte, schließlich in stummer Erschlaffung ihr Ende fand. Für sie war es eine Last weniger. Selbst die Beziehungen Lantiers zu Virginie ließen sie vollkommen ruhig, so groß war ihre Gleichgültigkeit gegen all diese Dummheiten geworden, deretwegen sie früher so sehr in Wut geraten konnte. Sie würde ihnen das Licht gehalten haben, wenn sie es gewollt hätten. Es gab jetzt niemanden mehr, der die Sache nicht gewußt hätte, der Hutmacher und die Konfitürenhändlerin führten einen schönen Haushalt. Es war aber auch zu bequem für sie; der gute, gehörnte Poisson hatte alle zwei Tage einmal Nachtdienst, wo er dann auf der Straße vor Kälte klapperte, während seine Frau und der Nachbar sich in seinem Bette die Füße wärmten. Die übereilten sich gar nicht, sie hörten längs des Ladens auf dem Pflaster seine Fußtritte, wenn er die leere, dunkle Straße hinabging, ohne daß sie deshalb auch nur die Nasenspitze unter der Bettdecke hervorgesteckt hätten. Ein Schutzmann kennt nur seine Pflicht, nicht wahr? Und so blieben sie ganz ruhig bis Tagesanbruch und schädigten sein Eigentum, während dieser strenge Mann über das Eigentum der anderen wachte. Das ganze Viertel der Goldtropfengasse wollte sich über diesen guten Witz vor Lachen ausschütten. Man fand es zu komisch, daß einem würdigen Beamten solche Hörner aufgesetzt wurden. Übrigens hatte Lantier diesen Winkel erobert. Der Laden und die Ladensbesitzerin gehörten zusammen. Er hatte eine Wäscherin aufgefressen, jetzt knabberte er an der Konfitürenhändlerin. In Gedanken gab er ihr schon eine ganze Reihe von Nachfolgerinnen: Krämerinnen, Papeteriehändlerinnen, Modistinnen, er fühlte seine Kinnbacken kräftig genug, sie alle zu verschlingen.

Noch nie ist es vielleicht vorgekommen, daß sich ein Mann so wie dieser in Zucker wälzte. Lantier hatte die Karre sehr geschickt geschoben, als er damals Virginie zu einem Handel mit Konfitüren riet. Er war zu sehr Provenzale, um nicht für Süßigkeiten zu schwärmen, das heißt, er hätte ganz gut von Pastillen, von Gummibonbons, Zuckerwerk und Schokolade leben können. Ein Zuckerwerk liebte er besonders, er nannte es »überzuckerte Mandeln«; das ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen, so sehr kitzelte es seinen Gaumen. Seit einem Jahre lebte er nur noch von Bonbons. Er zog die Schubfächer auf und nahm Hände voll heraus, wenn Virginie ihn bat, den Laden zu versehen. Oft wenn fünf oder sechs Leute da waren, nahm er beim Plaudern den Deckel von einem der Pokale auf dem Ladentisch, versenkte die Hand hinein und fing an zu knabbern; der Pokal blieb offen und war bald leer. Darauf achtete niemand mehr, er sagte, es sei krankhaft. Dann hatte er eine immerwährende Erkältung erfunden, ein Leiden des Kehlkopfes, welche er beständig mit Süßigkeiten mildern mußte. Arbeiten tat er durchaus nicht, hatte aber die allergroßartigsten Geschäfte in Aussicht; er brütete über einer ganz famosen Erfindung, einem Regenschirmhut; das war ein Hut, der sich bei den ersten Tropfen eines Regengusses sofort in einen Schirm verwandelte; von dieser Erfindung versprach er Poisson die Hälfte des Nutzens und borgte sich inzwischen von ihm Zwanzigfrankenstücke für die Herstellung der Modelle. Mittlerweile löste sich der Laden auf seiner Zunge in Wohlgefallen auf, alle Waren passierten diesen Weg bis zu den Schokoladenzigarren und den Pfeifen von rotem Zucker. Wenn er vor Zuckerwerk förmlich platzte und ihn eine zärtliche Regung überkam, hielt er sich als letztes Naschwerk in irgendeiner Ecke an die Ladenbesitzerin, die ihn dann so überzuckert fand, daß seine Lippen wie Pralines schmeckten. Das war ein Mann, der hübsch zu küssen war! Er wurde wirklich wie von Honig. Die Boches sagten, daß es ihm genügte, seinen Finger in den Kaffee zu stippen, um ihn so süß wie Sirup zu machen.

Das unaufhaltsame Verderben von Gervaise betrübte Lantier, und er zeigte sich ganz väterlich zu ihr. Er gab ihr Ratschläge und schalt sie, daß sie die Arbeit nicht mehr liebe. Den Teufel auch! Eine Frau in ihren Jahren mußte sich doch noch ein bißchen tummeln! Er beschuldigte sie, von jeher naschhaft gewesen zu sein. Aber da man auch den Leuten behilflich sein muß, wenn sie es nicht verdienen, so war er darauf bedacht, kleine Arbeiten für sie zu finden. So hatte er Virginie bestimmt, einmal wöchentlich Gervaise kommen zu lassen, um von ihr den Laden und die Zimmer aufwaschen zu lassen. Das war ihr Element, Wasser, Lauge und Seife. Jedesmal verdiente sie damit dreißig Sous. Gervaise kam am Sonnabend früh mit einem Eimer und ihrer Bürste, ohne daß es ihr besonders peinlich zu sein schien, daß sie hier ein so schmutziges und niederes Geschäft, das Geschäft des Abwaschlappens, besorgen mußte, wo sie früher als schöne, blonde Ladenbesitzerin gethront hatte. Das war eine letzte Erniedrigung, die ihrem Stolz den Rest gab.

An einem Sonnabend hatte sie viel auszustehen. Es hatte drei Tage lang geregnet, und die Füße der Kunden schienen den Straßenschmutz des ganzen Viertels in den Laden gebracht zu haben. Virginie saß an der Kasse und spielte die Dame; sie war sorgfältig frisiert, trug einen kleinen Stehkragen und Spitzenärmel. Ihr zur Seite auf einer kleinen Bank, die mit rotem Plüsch überzogen war, räkelte sich Lantier, er schien sich da ganz zu Hause zu fühlen, als ob er hier Herr und Gebieter sei; nachlässig versenkte er eine seiner Hände in einen Pokal mit Pastillen, die er herunterlutschte, weil er gewohnheitsmäßig Zucker naschte.

»Hört mal, Madame Coupeau!« rief Virginie, die der Arbeit der Reinmachefrau mit gekniffenen Lippen folgte, »Ihr laßt ja allen Schmutz da in der Ecke! Bürstet das doch gefälligst noch mal über!«

Gervaise gehorchte. Sie ging noch einmal in die Ecke und fing aufs neue zu scheuern an. Wie kniete sie da inmitten des schmutzigen Wassers am Boden und bog sich zusammen mit schmerzenden Schultern und steifen, blauen Armen. Ihr alter, ganz durchnäßter Unterrock klebte ihr an den Schenkeln. Sie sah da auf dem Fußboden wie ein unbestimmtes Etwas aus, das nicht sehr reinlich war; ihre Haare waren wirr, und durch die Löcher ihrer Jacke sah man die Wülste ihres Körpers, eine Überfülle weichen Fleisches, das, da sie hin und her fuhr, rollte und sprang bei den heftigen Stößen ihres gemeinen Geschäftes; dabei schwitzte sie so stark, daß von ihrem schweißgebadeten Gesicht große Tropfen herniederfielen.

»Je mehr Schweißtropfen darauffallen, desto glänzender wird es!« sagte nachdenklich Lantier mit dem Munde voll Pastillen.

Virginie, die mit der Würde einer Fürstin sich zurückgelehnt hatte, folgte noch immer mit halbgeschlossenen Augen dem Aufwaschen und ließ ihre Betrachtungen laut werden.

»Noch ein bißchen rechte! Nun, paßt mir gut bei der Holzverkleidung auf. Ihr wißt doch, vorigen Sonnabend bin ich gar nicht zufrieden gewesen, da sind die Flecke geblieben!«

Alle beide, der Hutmacher und die Konfitürenhändlerin, machten es sich noch bequemer, wie auf einem Thron, während zu ihren Füßen Gervaise sich in dem schwarzen Schmutz abquälte. Das mochte Virginie gefallen, denn in ihren Katzenaugen leuchteten die gelben Funken auf, und sie sah Lantier mit einem halben Lächeln an. Jetzt endlich war sie gerächt für die Prügel im Waschhause, die ihr immer noch auf der Seele gebrannt hatten.

Aus dem Hinterzimmer kam das leichte Geräusch einer kleinen Säge, als Gervaise zu schrubben aufgehört hatte. Durch die Tür bemerkte man das Profil Poissons, das sich von dem bleichen Tageslicht des Hofes scharf abhob. Er hatte heute Urlaub und benutzte seine freien Stunden, um seiner Leidenschaft für die Herstellung der kleinen Kästen zu frönen. Er saß an einem Tische und schnitt mit großer Sorgfalt Arabesken in ein Holz, das von einer Zigarrenkiste herrührte.

»Hört mal, Badinguet!« rief Lantier, der nun wieder angefangen hatte, ihm aus Freundschaft diesen Spitznamen zu geben, »ich werde Euren Kasten behalten, weil ich einer jungen Dame damit ein Geschenk machen will!«

Virginie kniff ihn, aber der Hutmacher vergalt ihr galant, ohne daß er dabei zu lächeln aufhörte, Böses mit Gutem und machte die Maus längs ihrer Schenkel hinter dem Ladentisch; er zog seine Hand mit einer ganz natürlichen Bewegung zurück, als der Ehemann den Kopf hochhob und mit seinem roten Schnurr- und Knebelbart, der sich in seinem erdfahlen Gesicht emporsträubte, erschien.

»Ich habe es gerade für Euch gemacht, August«, sagte der Stadtsergeant. »Es sollte ein freundschaftliches Andenken sein.«

»Nun, zum Teufel! dann werde ich Euer kleines Ding behalten!« erwiderte Lantier lachend. »Wißt Ihr, ich werde es mir mit einem Bändchen um den Hals hängen.«

Und als ob dieser Gedanke plötzlich einen anderen geweckt hätte:

»Beiläufig!« rief er, »ich habe gestern Nana getroffen!«

Die Erregung, die bei dieser Nachricht Gervaise ergriff, ließ sie inmitten ihres Wasserschlammes sich aufrichten. Sie blieb schwitzend, mit der Bürste in der Hand, regungslos stehen.

»Ah!« murmelte sie nur.

»Ja, ich ging gerade die Märtyrerstraße hinab, als ich eine Kleine sah, die da am Arm eines Alten herumschwänzelte, und sagte mir: Ei, sieh da! die Beine solltest du doch kennen ... Ich ging schneller und stand der kleinen, verflixten Nana bald von Angesicht zu Angesicht gegenüber ... Laßt es nur gut sein, Ihr braucht die Kleine nicht zu beklagen; sie ist ganz glücklich, ein hübsches, wollenes Kleidchen auf dem Rücken, ein goldenes Kreuz um den Hals und bei alledem sieht sie verdammt hübsch aus!«

»Ah!« wiederholte Gervaise mit noch dumpferer Stimme.

Lantier, der die Pastillen alle aufgegessen hatte, nahm aus einem anderen Pokal etwas Orangenzucker.

»Und durchtrieben ist die Kleine!« fuhr er fort. »Denkt Euch, daß sie mir ein Zeichen machte, ihr zu folgen, und wie geschickt machte sie das. Dann hat sie den Alten irgendwo in einem Café versetzt ... Das war ja köstlich mit dem Alten! Der Alte versetzt! ... Dann kam sie und traf mich in einer Haustüre. Sie ist ein wahres Eichkätzchen! so niedlich sah sie aus und trug sie sich, und schmeicheln tat sie, wie ein kleines Hündchen! Ja, sie hat mich geküßt, sie hat wissen wollen, wie es allen ergeht ... Schließlich bin ich sehr zufrieden gewesen, daß ich sie getroffen habe.«

»Ah!« sagte zum drittenmal Gervaise.

Sie setzte sich wieder nieder, aber sie wartete immer noch. Hatte denn ihre Tochter gar kein Wort für sie? In der Stille hörte man wieder den Ton von Poissons Säge. Lantier, der sehr lustig war, lutschte mit einem kleinen Pfeifen zwischen den Lippen schnell ein Stück Orangenzucker auf.

»Nun, wenn ich, um sie zu sehen, nur über die Straße zu gehen hätte, ich rührte mich nicht«, fing Virginie an, die eben Lantier ganz wütend gekniffen hatte. »Ja, mir würde die Schamröte ins Gesicht steigen, wenn ich öffentlich von einem dieser Mädchen gegrüßt würde ... Ich sage es nicht, weil Ihr da seid, Madame Coupeau, aber Eure Tochter ist ein schönes Stückchen Schweinefleisch. Poisson greift alle Tage welche auf, die besser sind.«

Gervaise sagte nichts und rührte sich nicht, ihre Augen starrten ins Leere. Schließlich schüttelte sie langsam den Kopf, wie um auf die Gedanken zu antworten, die ihr durch den Schädel gingen, während der Hutmacher mit lüsterner Miene murmelte:

»An dem Schweinefleisch möchte sich mancher ganz gern ein bißchen den Magen verderben. Es ist zart wie junges Huhn ...«

Jetzt sah ihn die Konfitürenhändlerin mit einem so schrecklichen Blicke an, daß er kurz abbrach und für gut fand, sie durch eine Liebenswürdigkeit zu begütigen. Er spähte nach dem Schutzmann, und da er sah, daß dieser mit der Nase auf seine Arbeit gebeugt war, benutzte er den Moment, um Virginien den Orangenzucker in den Mund zu stecken. Da lächelte sie befriedigt, wandte sich dann aber zur Wäscherin, um an dieser ihren Unmut auszulassen.

»Beeilt Euch doch ein bißchen! Dabei kann die Arbeit nicht vorwärtskommen, wenn Ihr wie ein Prellstein dasteht. Vorwärts! rührt Euch, ich habe keine Lust, bis zum Abend im Schlamm umherzupatschen.«

Dann fügte sie leiser, boshaft hinzu:

»Kann ich etwa dafür, daß ihre Tochter eine liederliche Dirne ist!«

Wahrscheinlich hatte Gervaise das letzte nicht gehört. Sie hatte wieder zu schrubben angefangen; mit gebogenem Rückgrat lag sie da am Boden und machte ihre mechanischen Bewegungen wie ein Frosch. Mit ihren beiden Händen, die das Holz der Bürste umspannt hielten, schob sie eine schwarze Flut vor sich her, deren Aufspritzen sie bis in die Haare hinein mit Schmutz befleckte. Es brauchte nur noch gespült zu werden, wenn man das Schmutzwasser in den Rinnstein gefegt hatte.

Nach einigem Stillschweigen erhob Lantier, der sich langweilte, seine Stimme.

»Wißt Ihr, Badinguet?« rief er, »ich habe gestern in der Rivolistraße Euren Herrn und Meister gesehen. Er sieht höllisch verstört aus, dem gebe ich keine sechs Monate mehr... Den Teufel auch! bei dem Leben, das er führt!«

Er sprach vom Kaiser. Der Schutzmann antwortete mit trockenem Tone, ohne die Augen zu erheben:

»Wenn Ihr die Obrigkeit wäret, sähet Ihr auch nicht so fett aus.«

»Oh! mein Bester, wenn ich die Obrigkeit wäre,« antwortete der Hutmacher, indem er plötzlich sehr ernst tat, »gingen die Dinge ein bißchen besser, darauf könnt Ihr Euch verlassen... Seht Euch mal ein bißchen ihre auswärtige Politik an! da bricht einem ja in letzter Zeit der Angstschweiß aus. Wenn ich, der ich hier zu Euch rede, irgendeinen Zeitungsschreiber kennte, dem ich meine Gedanken einhauchen könnte...«

Er wurde lebhaft und zog, da er mit dem Orangenzucker zu Ende war, einen Kasten auf, aus dem er Eibischzucker nahm, den er dann beim Gestikulieren verputzte.

»Das ist sehr einfach... Vor allen Dingen würde ich Polen wiederherstellen und einen großen skandinavischen Staat gründen, der den nordischen Riesen im Schach hielte... Dann würde ich aus all den deutschen Königreichen eine Republik machen... Was England anbelangt, so ist es kaum zu fürchten, aber wenn es sich rührte, würde ich hunderttausend Mann nach Indien schicken... Nehmt hinzu, daß ich mit Kolbenstößen in den Rücken den Großtürken nach Mekka und den Papst nach Jerusalem zurückschicken würde... Nun, was meint Ihr? Europa wird bald in Ordnung sein. Seht mal! Badinguet! guckt mal ein bißchen her...«

Er unterbrach sich, um auf einen Griff fünf oder sechs Stückchen Eibischzucker aus dem Kasten zu nehmen.

»Das würde nicht länger dauern, als ich dies hier aufgegessen habe.«

Darauf warf er sich die Stücke eines nach dem andern in den Mund.

»Der Kaiser hat einen andern Plan«, sagte der Schutzmann nach zwei Minuten langer Überlegung.

»Laßt es nur gut sein!« erwiderte heftig der Hutmacher. »Den Plan kennt man! Europa macht sich den Teufel was aus uns... Alle Tage müssen die Bedientenseelen in den Tuilerien Euren Herrn unter dem Tisch vorholen, an dem er zwischen zwei Dirnen aus der vornehmen Welt gesessen hat.«

Jetzt war Poisson aufgestanden. Er kam näher und legte die Hand aufs Herz, wobei er sagte:

»August, Ihr tut mir weh. Sprecht über die Sache, ohne persönlich zu werden.«

Jetzt legte sich Virginie ins Mittel und bat, daß man doch Ruhe halten solle. Sie kümmere sich den Teufel um Europa. Wie könnten nur zwei Männer, die in allem andern so einig waren, sich ohne Aufhören über die Politik zanken? Einen Augenblick brummten sie noch unverständliche Worte. Dann ging der Schutzmann, um zu zeigen, daß er nicht mehr böse war, und brachte den Deckel des kleinen Kastens, den er soeben fertiggemacht hatte; man las darauf in erhabenen Buchstaben: An August als Andenken der Freundschaft. Lantier fühlte sich sehr geschmeichelt, beugte sich vor und lehnte sich so auf Virginie, daß er sie fast verdeckte. Der Ehemann sah es mit seinem Gesicht, das einer alten Mauer glich, mit an, und seine ausdruckslosen Augen zeigten keine Beunruhigung, aber die roten Haare seines Schnurrbartes bewegten sich ganz allein so merkwürdig, daß ein Mann, der seiner Sache weniger sicher war als Lantier, dabei hätte unruhig werden müssen.

Dieses Vieh, der Lantier, hatte diese unverschämte Ruhe, die den Frauen so sehr gefällt. Als Poisson den Rücken kehrte, kam ihm der tolle Gedanke, Madame Poisson einen Kuß auf das linke Auge zu geben. Gewöhnlich zeigte er sich von schlauer Vorsicht; aber wenn er sich über Politik gezankt hatte, so wagte er alles, weil er wenigstens den Frauen gegenüber recht behalten wollte. Diese ungestümen Zärtlichkeiten, die er dann hinter dem Rücken des Schutzmannes seiner Frau raubte, waren seine Rache am Kaiserreich, das aus ganz Frankreich ein Bordell machte. Diesmal hatte er die Anwesenheit von Gervaise vergessen. Sie hatte den Laden nachgewischt und getrocknet und stand jetzt aufrecht am Ladentisch, wo sie auf ihre dreißig Sous wartete. Der Kuß aufs Auge ließ sie sehr ruhig wie eine Sache, die sie nur natürlich fand, und die sie nichts anging. Virginie schien etwas ärgerlich zu sein. Sie warf Gervaise die dreißig Sous auf den Ladentisch, doch diese rührte sich nicht und schien immer noch auf etwas zu warten; sie war abgemattet von dem Aufwaschen, durchnäßt und häßlich wie ein Hund, den man aus einem Abfalloch gezogen hat.

»Also sie hat Euch nichts gesagt?« fragte sie endlich den Hutmacher.

»Wer denn?« rief er. »Ach so! Nana! ... Nein, nichts weiter. Die Kleine hat einen Mund, wie ein kleiner Erdbeertopf!«

Da ging Gervaise mit ihren dreißig Sous in der Hand ab. Aus ihren niedergetretenen Schuhen floß das Wasser wie aus einer Pumpe, es waren wahre Musikschuhe, die eine Arie knarrten, während sie auf dem Pflaster die feuchten Abdrücke ihrer breiten Sohlen hinterließen.

Im Viertel erzählten jetzt die anderen Trunkenbolde, daß sie trinke, um sich über den Fall ihrer Tochter zu trösten. Sie selbst nahm die Mienen einer Tragödin an, wenn sie am Schenktisch ihr Glas Fusel hinunterstürzte; sie warf es sich in den Rachen und wünschte, daß sie daran zugrunde gehen möge. An den Tagen, wo sie voll wie eine Radehacke nach Hause kam, stammelte sie, daß es vom Kummer komme. Aber die anständigen Leute zuckten die Achseln: Man kannte es; die Trunkenheit, die sie sich im »Totschläger« geholt hatte, ihren Kummer zu nennen! Als ob der Kummer dort auf Flaschen gezogen sei. Ohne Zweifel konnte sie in der ersten Zeit Nanas Flucht nicht verwinden. Der Rest von Ehrenhaftigkeit, der noch in ihr war, lehnte sich dagegen auf; und dann mag es gewöhnlich eine Mutter nicht leiden, wenn sie weiß, daß ihre Tochter jeden Augenblick von dem ersten besten geduzt wird. Aber sie war schon niedergebrochen; ihr Kopf war zu krank und ihr Herz zu bedrückt, als daß das Bewußtsein der Schande ihr lange hätte gegenwärtig bleiben sollen. Bei ihr kam es und ging wieder. Es verflossen sehr oft acht Tage, ohne daß sie einmal an Nana dachte; aber dann plötzlich erfaßte sie eine Zärtlichkeit oder eine Wut, je nachdem sie hungerte oder schlemmte, ein Bedürfnis, Nana irgendwo zu kneifen, zu küssen oder zu schlagen, wie es der Augenblick ihr gerade eingab. Schließlich war sie sich über den Begriff des Anständigen nicht mehr recht klar. Sie wußte nur, daß Nana ihr gehörte, nicht wahr? Nun! wenn man einen Besitz hat, so will man nicht, daß er unsichtbar wird.

Wenn dieser Gedankengang sich ihrer bemächtigte, durchforschte Gervaise die Straßen mit Argusaugen. Ah! wenn sie ihre Schmutzliese irgendwo getroffen hätte, wie würde sie sie nach Hause gebracht haben! Gerade um diese Zeit wurde der Durchbruch für den Boulevard Magenta und den Boulevard Ornano gemacht, wobei die alte Fischer-Zollstation verschwand und der äußere Boulevard durchbrochen wurde. Die ganze eine Seite der Fischerstraße wurde niedergelegt. Von der Goldtropfenstraße aus sah man jetzt auf einen ungeheuren, weiten, hellen Raum. Das gab Sonnenschein und frische Luft; an Stelle der Baulichkeiten, die früher nach dieser Seite die Aussicht gehindert hatten, erhob sich auf dem Boulevard Ornano ein stattliches Gebäude von sechs Etagen, mit einer schön gegliederten und von Bildhauerarbeit gezierten Vorderseite. Das war wie eine Kirche, wo die hellen Fenster mit ihren gestickten Vorhängen Luxus und Reichtum atmeten. Jeden Tag stritten sich Lantier und Poisson über dieses Haus; der Hutmacher schalt auf das Niederreißen von Paris, er klagte den Kaiser an, daß er überallhin Paläste baue, um die Arbeiter in die Provinz zurückzujagen; dagegen behauptete der Schutzmann, der dabei ganz blaß vor Zorn war, daß der Kaiser gerade nur an die Arbeiter denke, wenn er soviel niederreißen und aufbauen ließ, und daß sein einziger Zweck dabei sei, ihnen Arbeit zu geben. Auch Gervaise konnte sich mit den Verschönerungen nicht befreunden, die ihr ihre dunkle Vorstadtecke, an die sie nun einmal gewöhnt war, veränderten. Sie ärgerte, daß das Viertel sich gerade verschönerte, als sie selbst im Begriff war, zugrunde zu gehen. Wenn man über und über mit Schmutz bedeckt ist, hat man es nicht gern, wenn die volle Sonne darauf scheint. An Tagen, wo sie Nana suchte, schimpfte sie, wenn sie über Baumaterialien hinwegsteigen mußte, oder wenn die Bürgersteige neu gelegt wurden und sie längs der Bauzäune hinstolpern mußte. Das schöne Gebäude auf dem Boulevard Ornano erregte ihren ganzen Zorn; solche Gebäude waren für Früchtchen wie ihre Nana.

Indessen hatte sie mehrmals Nachrichten von der Kleinen gehabt. Es gibt ja immer soviel gute Seelen, die nichts lieber tun, als schlechte Nachrichten überbringen. Man hatte ihr erzählt, daß ihre Kleine den Alten eines schönen Tages habe sitzen lassen, was ein Streich von einer unerfahrenen Dirne war. Sie hatte es bei dem Alten sehr gut; er pflegte sie, betete sie an und ließ ihr selbst etwas Freiheit, wenn sie es geschickt anzufangen verstanden hätte. Aber Jugend hat keine Tugend, und so mußte sie mit irgendeinem Stutzer auf- und davongegangen sein, man wußte nicht genau wie oder wohin. Soviel war sicher, daß sie eines Nachmittags auf dem Bastilleplatz von ihrem Alten drei Sous für irgendein kleines Bedürfnis verlangt hatte und daß der Alte noch immer auf sie wartete. In guter Gesellschaft nennt man das »sich englisch empfehlen«. Andere schworen darauf, daß sie sie seitdem bemerkt hätten, wie sie im »Großen Narrensaal« in der Kapellenstraße ihr Tanzbein schwinge. Von da an setzte es sich Gervaise in den Kopf, die Tanzböden des Viertels zu besuchen. Sie trat jetzt in jedes Vergnügungslokal, an dem sie vorüberkam; Coupeau begleitete sie. Zuerst machten sie ganz einfach eine Rundreise und beguckten sich alle die kleinen Mädchen, die da ihr Wesen trieben; als sie aber eines Abends Geld hatten, setzten sie sich ordentlich fest und tranken eine Bowle Punsch, um sich zu erfrischen und zu warten, ob Nana nicht komme. Nach Verlauf eines Monats hatten sie Nana vergessen, jetzt gingen sie auf die Tanzböden, weil es ihnen Spaß machte, dem Tanzen zuzusehen. Stundenlang blieben sie da, mit den Ellenbogen aufgestützt, in dumpfem Brüten, während der Fußboden unter ihnen zitterte; wahrscheinlich folgten ihre erloschenen Augen mit Vergnügen den Bewegungen der Boulevarddirnen, die da in der roten Helligkeit des Saales ihre Reize zeigten.

An einem Novemberabend waren sie, um sich zu erwärmen, in den »Großen Narrensaal« eingetreten. Draußen wehte ein schneidender Wind, der den Fußgängern scharf um die Gesichter fuhr. Der Saal war gerappelt voll. Es war drinnen ein wahrer Höllenlärm; an allen Tischen saßen Menschen, alle Gänge standen voll, ja selbst in der Luft schienen welche zu schweben, die Leute waren wie gepökelt; wer gern Gekröse aß, der konnte sich da letzen. Als sie einen Rundgang gemacht hatten, um einen Tisch zu suchen, entschlossen sie sich endlich, stehenzubleiben und zu warten, bis irgendwo eine Gesellschaft aufstand. Coupeau wiegte sich auf seinen Füßen hin und her, seine Bluse war schmutzig, und die alte Mütze, die er trug, hatte keinen Schirm mehr und lag oben auf dem Schädel platt auf. Da er den Weg versperrte, stieß ein kleiner, magerer, junger Mensch mit dem Ellenbogen an ihn an, und er sah, wie dieser nachher sorgfältig seinen Ärmel abwischte.

»Hört mal!« schrie er wütend, wobei er die kurze Tonpfeife aus dem schwarzen Munde nahm, Ihr konntet wohl nicht um Entschuldigung bitten? ... Es scheint Euch ekelhaft zu sein, daß man eine Bluse trägt!

Der junge Mensch hatte sich umgewandt und maß den Zinkarbeiter mit den Augen, doch dieser fuhr fort:

»Du Schlingel scheinst nicht zu wissen, daß die Bluse die schönste Tracht ist, ja, das Kleid der Arbeit! ... Ich werde dich lehren, dir den Ärmel abwischen, wenn du willst, mit ein paar Knallschoten ... Hat man schon je so einen Fatzke gesehen? So einer will hier einen Arbeiter beleidigen!

Gervaise versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen. Er prahlte in seinen Lumpen, schlug auf seine Bluse und heulte:

»Da sitzt die Brust eines Mannes drin!«

Nun verlor sich der junge Mann in der Menge und murmelte:

»Was ist das für ein schmutziger Bummler!«

Coupeau wollte ihn einholen. Er würde sich doch von solchem Überrock nichts gefallen lassen, der war ja nicht einmal bezahlt, der da! Der war von irgendeinem Trödler gepumpt, um damit einem Mädchen die Augen zu verblenden, darauf sollte eine reinfallen und nachher genassauert werden. Wenn er ihn wiederfinde, dann müsse der Bursche sich auf die Knie legen und der Bluse seine Achtung bezeigen. Aber das Gedränge war so groß, man konnte nicht vorwärtskommen. Langsam nur wurde er und Gervaise den Gang entlanggeschoben, der den Raum umgab, in dem getanzt wurde; eine dreifache Reihe von Zuschauern drängte sich da herum, und ihre Gesichter belebten sich, wenn ein Tänzer besonders komische Bewegungen machte oder ein Mädchen die Beine so hoch hob, daß ihr zu zeigen nichts mehr übrigblieb; da sie beide klein waren, sahen sie höchstens die Haarknoten und die Hüte der Tanzenden. Das Orchester spielte auf seinen geborstenen Blasinstrumenten eine wütende Quadrille, die wie ein Sturmwind durch den Saal tobte, und unter deren Einfluß die Füße der Tänzer einen so dicken Staub aufwirbelten, daß die Gasflammen dabei nur mühsam brennen konnten. Es war eine Hitze zum Ersticken.

»Sieh doch!« sagte plötzlich Gervaise.

»Was denn?«

»Die Sammetkiepe da unten!«

Sie stellten sich auf die Zehen. Da war zur Linken ein alter, schwarzer Sammethut mit vertragenen Federn, die hin und her wippten, ein richtiger Leichenpferdekopfputz. Aber sie sahen immer nur diesen Hut, der einen wahren Hexentanz aufzuführen schien, so hob, senkte und drehte er sich um sich selbst. Manchmal verloren sie ihn in dem Wogen der anderen Köpfe und fanden ihn dann wieder, wie er über den anderen mit so drolliger Frechheit schwebte, daß die Leute um sie herum lachten, wenn sie nur diesen Hut tanzen sahen, ohne daß sie wußten, was darunter steckte.

»Nun! was soll es?« fragte Coupeau.

»Erkennst du denn nicht den Haarknoten? murmelte Gervaise gepreßt. Ich setze meinen Kopf zum Pfande, daß sie es ist!«

Der Zinkarbeiter stieß mit einer Armbewegung die Umstehenden beiseite. Zum Donnerwetter! Ja, das war Nana! Und in was für einem Aufzuge! Sie hatte nichts weiter an als ein vertragenes Seidenkleid, dessen Flecken man es ansah, daß damit die Tische aller Tanzkneipen aufgewischt waren und von dem die überall zerrissenen Spitzen in Fetzen herunterhingen. Dabei hatte sie weder Umhang noch Schal, und ihre Taille zeigte recht bedenklich ausgerissene Knopflöcher. Wenn man bedachte, daß dieses Mädchen einen Alten gehabt hatte, der mit väterlicher Sorgfalt sich ihrer annahm, so war sie recht hübsch heruntergekommen, weil sie irgendeinem jungen Bengel nachgelaufen war, der sie jetzt wahrscheinlich schlug! Trotzdem war sie frisch und appetitlich, zottlich wie eine Hündin, und ihr rosiger Mund lachte unter dem unförmig großen Hut.

»Paß mal auf! wie ich die werde tanzen lassen!« sagte Coupeau.

Nana war natürlich ahnungslos. Man mußte sehen, wie sie sich wand! Bald drehte sie sich nach links und bald nach rechts, sie machte Verbeugungen, bei denen sie sich ganz zusammenbog, und ihre Füße schleuderte sie in das Gesicht ihres Kavaliers, als ob sie sich auseinanderreißen wollte. Ein Kreis von Bewunderern umgab sie und klatschte ihr Beifall. Das feuerte sie an, so daß sie ihre Röcke zusammenraffte und bis über das Knie in die Höhe hob; so fieberhaft erfaßte sie das wilde Toben, daß sie sich wie ein Kreisel um sich selbst drehte und sich mit großen Seitensprüngen ganz auf dem Boden niederduckte und wieder emporschnellte; dann ging sie zu einer ganz bescheidenen Tanzweise über, wobei sie sich mit solcher Grazie in den Hüften wiegte und ihren Kopf hintenüberlegte, daß sie alle bezauberte. Man hätte sie in eine Ecke tragen und mit Liebkosungen ersticken mögen.

In diese Idylle platzte Coupeau hinein, störte den Kreis und wurde von allen Seiten mit Murren empfangen.

»Ich sage euch, es ist meine Tochter!« schrie er. »Laßt mich durch!«

Gerade jetzt bewegte sich Nana rückwärts und fegte das Parkett mit den Lumpen ihrer Schleppe, der sie hin und wieder kleine Stöße gab, damit es hübscher aussehe. Da bekam sie einen so meisterhaften Fußtritt gerade auf den guten Ort, daß sie emporschnellte und ganz blaß wurde, als sie ihren Vater und ihre Mutter erkannte. Man konnte nicht behaupten, daß sie heute viel Glück hatte.

»Raus!« brüllten die Tänzer.

Aber Coupeau, der in dem Kavalier seiner Tochter den magern jungen Mann im Überzieher wiedererkannt hatte, kümmerte sich nicht um die Leute.

»Ja, ja, wir sind es!« heulte er. »Nicht wahr? uns hast du hier nicht erwartet? ... Also hier trifft man dich, und noch dazu mit einem Gelbschnabel, der mich eben erst achtungswidrig behandelt hat!«

Gervaise stieß ihn mit zusammengepreßten Zähnen an und sagte:

»Sei doch still, soviel Redensarten sind gar nicht nötig!«

Sie stürzte vor und verabfolgte Nana zwei tüchtige Ohrfeigen, – die erste ließ den Federhut zu Boden fliegen, und die zweite hinterließ auf ihrer Backe, die so weiß wie ein Leinentuch war, einen roten Fleck. Nana war zu überrascht und nahm daher diese beiden Ohrfeigen ohne Tränen und ohne Widerstreben hin. Das Orchester spielte immer weiter, die Leute zürnten über die Unterbrechung des Tanzes und riefen noch heftiger:

»Hinaus! Hinaus!«

»Vorwärts!« sagte Gervaise. »Gehe voran und lasse dir nicht etwa einfallen durchzubrennen, sonst lasse ich dich einsperren!«

Der kleine, junge Mann hatte sich vorsichtig aus dem Staube gemacht. Da ging Nana, ganz betäubt von ihrem Mißgeschick, voran. Wenn sie Miene machte, sich zur Seite zu drücken, gab ihr ein wohlgezielter Hieb von hinten die Richtung zum Ausgang wieder. So verließen sie denn alle drei unter dem Johlen und Schreien der Menge den Saal, während das Orchester den Schlußsatz der Quadrille mit einem solchen Trompetengeschmetter ausführte, daß die Instrumente Kanonenkugeln zu speien schienen.

Jetzt fing das alte Leben wieder an. Nachdem Nana in ihrem Kämmerchen volle zwölf Stunden geschlafen hatte, zeigte sie sich während einer Woche sehr liebenswürdig. Sie hatte sich ein altes, bescheidenes Kleidchen wieder zurechtgenäht und trug ein Häubchen, dessen Bänder sie unter ihrem Haarknoten zusammenband. Von einer rechtschaffenen Regung erfaßt, erklärte sie sogar, daß sie zu Hause arbeiten wolle; man könne zu Hause verdienen, soviel man nur immer wolle und höre da nicht die Unanständigkeiten der Arbeitszimmer. Sie suchte auch Arbeit, richtete sich auf dem Tische mit ihren Werkzeugen ein und stand in den ersten Tagen um fünf Uhr auf, um ihre Veilchenstengel zu drehen. Als sie aber ein paar Gros davon abgeliefert hatte, wurden ihre Arme bei der Arbeit schlaff, und ihre Hände, die die Übung des Drehens verloren hatten, bekamen Krämpfe. Sie litt darunter, immerwährend eingesperrt zu sein, nachdem sie während ganzer sechs Monate so viel Bewegung in frischer Luft gemacht hatte. Der Kleistertopf fing an einzutrocknen, die Blumenblätter und das grüne Papier bekamen Fettflecke, so daß der Fabrikant dreimal selber kam und seine verlorenen Materialien forderte. Nana schleppte das Leben so weiter; von ihrem Vater steckte sie täglich mehrere Ohrfeigen ein, und mit ihrer Mutter zankte sie vom Morgen bis zum Abend, wobei sich die beiden Frauen lauter Abscheulichkeiten vorwarfen. Das konnte nicht lange so fortgehen; am zwölften Tage machte sich die Dirne davon und nahm als einziges Reisegepäck ihr bescheidenes Kleidchen und ihr kleines Häubchen mit. Die Lorilleux', die die Rückkehr und die Reue der Kleinen sehr unangenehm berührt hatte, hätten beinahe vor Freude alle viere in die Luft gestreckt. Zweite Vorstellung! Auskneifen Nummer zwei! Die Fräulein für das Magdalenenstift einsteigen! Nein, es war zu komisch! Diese hatte einen Schick, sich aus der Sache zu ziehen! Nun! wenn die Coupeaus sie jetzt zu Hause behalten wollten, mußten sie ihr ihre Kleider zusammennähen und sie in einen Käfig setzen!

Die Coupeaus taten vor den Leuten so, als ob sie froh seien, sie wieder los zu sein. Innerlich waren sie wütend. Aber die Wut tobt sich aus. Bald erfuhren sie, ohne selbst mit der Wimper zu zucken, daß sich Nana im Viertel herumtriebe. Gervaise beschuldigte sie, daß sie es tue, um sie zu entehren. Sie setzte sich über allen Klatsch hinweg; sie hätte jetzt ihr ungeratenes Kind auf der Straße treffen können, sie würde sich nicht die Hände beschmutzen und ihr eine Ohrfeige verabfolgen. Ja, es war jetzt ganz aus; wenn sie sie nackt und sterbend auf dem Pflaster gefunden hätte, wäre sie vorbeigegangen, ohne zu sagen, daß sie dieses Untier unter ihrem Herzen getragen habe. Nana war der Stern aller Bälle in der Umgegend. Man kannte sie von der »Weißen Königin« bis zum »Großen Narrensaal«; wenn sie in das »Elysee Montmartre« kam, stiegen die Leute auf Stühle, um sie tanzen zu sehen. Da sie im »Roten Schloß« zweimal hinausgeworfen war, strich sie nur in der Nähe herum und wartete auf Personen ihrer Bekanntschaft. Die »Schwarze Kugel« auf dem Boulevard und der »Großtürke« waren die vornehmsten Säle, wo sie nur hinging, wenn sie reine Wäsche hatte. Aber von allen Tanzböden des Quartiers bevorzugte sie den »Junggesellenball«, der auf einem feuchten Hofe lag, und den »Robertball« in der Uhrensackgasse; das waren zwei schmutzige, kleine Orte, die durch ein halbes Dutzend Laternen erleuchtet wurden; hier ging es gemütlich zu; jeder tat und ließ, was er wollte; ja es ging so weit, daß man es duldete, wenn die Tänzer ihre Damen in den Ecken abküßten. Mit Nana ging es aufwärts und abwärts wie mit einem Zauberschlage, bald trug sie die ausgesuchtesten Toiletten wie eine Modedame, bald fegte sie mit jammervollen Fahnen den Straßenschmutz. Sie führte ein schönes Leben!

Mehrmals glaubten die Coupeaus ihre Tochter an recht verrufenen Orten zu bemerken. Sie wandten dann den Rücken und schlugen eine andere Richtung ein, um sie nicht erkennen zu brauchen. Sie hatten jetzt keine Lust mehr, sich von der Gesellschaft eines ganzen Tanzsaales verhöhnen zu lassen, um solch ein sauberes Pflänzchen mit nach Hause zu nehmen. Als sie sich eines Abends gegen zehn Uhr schlafen legen wollten, schlug man an ihre Tür. Es war Nana, die ganz ruhig ankam und dort zu schlafen wünschte; und in welchem Zustand war sie, großer Gott! Auf dem Kopf hatte sie nichts, ihr Kleid bestand aus Lumpen, ihre Schuhe waren zerrissen, mit einem Wort eine Toilette, deretwegen allein schon die Polizei sie aufgreifen mußte. Sie bekam natürlich ihre Tracht Prügel; dann aber fiel sie heißhungrig über eine harte Brotkruste her und schlief vor Mattigkeit noch mit dem letzten Bissen im Munde ein. So ging das Leben immer weiter. Wenn die Kleine fühlte, daß sie sich erholt hatte, verschwand sie eines Morgens wieder. Aus den Augen, aus dem Sinn! Der Vogel war wieder ausgeflogen. Es vergingen oft Wochen, Monate, sie schien ganz verschwunden, dann plötzlich war sie wieder da, ohne zu sagen, wo sie herkam, manchmal schmutzig, daß man sie nicht mit der Zange hätte anfassen mögen, zerkratzt von oben bis unten, ein anderes Mal gut gekleidet, aber so schlaff, so entkräftet durch ihr Leben, daß sie sich kaum noch aufrecht erhielt. Die Eltern hatten sich daran gewöhnen müssen. Aus den Schlägen machte sie sich nichts. Wenn sie sie auch mit Füßen traten, benutzte sie doch ihre Wohnung wie eine Herberge, wo man wochenweise schläft. Sie wußte, daß sie ihr Bett mit einer Tracht Prügel bezahlte; wenn sie die Prügel weg hatte, so befühlte sie sich, um zu sehen, ob sie beim Austausch noch im Vorteil war. Übrigens wird man schließlich auch des Schlagens müde. So kamen auch die Coupeaus dahin, Nanas Kommen und Gehen ohne weiteres hinzunehmen. Ob sie kam oder wegblieb, es war dasselbe, wenn sie nur die Tür hinter sich zumachte, das genügte. Mein Gott! die Gewohnheit nutzt die Ehrenhaftigkeit gerade so gut ab, wie alle anderen Dinge.

Eine Sache gab es noch, die Gervaise in Zorn versetzte. Das war, wenn Nana in Schleppkleidern und Federhüten wieder erschien. Nein! Diesen Luxus konnte sie nicht so herunterschlucken. Nana mochte ein Leben führen, wie sie wollte, aber wenn sie zu ihrer Mutter kam, so sollte sie wenigstens gekleidet sein, wie es sich für eine Arbeiterin schickte. Die Schleppkleider empörten das Haus: Die Lorilleux' hohnlachten; Lantier, den so etwas ordentlich aufkratzte, umschnüffelte die Kleine, weil sie so gut roch; die Boches hatten Pauline verboten, mit dieser ekelhaften Person im Flitterstaat zu reden. Ebenso böse war Gervaise über den bleiernen Schlaf Nanas, wenn sie nach vielen wild durchtobten Wochen bis in den hellen Mittag hinein schlief; so abgetrieben lag sie mit ihrem aufgelösten Haarknoten, der noch voller Haarnadeln steckte, da, so blaß sah sie aus und so kurz war ihr Atem, daß sie einer Sterbenden glich. Vier- oder fünfmal schüttelte sie sie des Morgens und drohte, daß sie ihr einen Topf Wasser auf den Leib gießen werde. Es brachte sie zur Verzweiflung, daß dieses schöne, arbeitsscheue Mädchen, das halb nackt vor ihr lag, hier ihren Liebesrausch, der ihr Fleisch ordentlich schwellen ließ, ausschlief, ohne daß es möglich war, sie zu erwecken. Nana öffnete ein Auge, schloß es wieder, drehte sich herum und schlief weiter.

Als eines Tages Gervaise ihr mit harten Worten ihr Leben vorhielt und sie fragte, ob sie sich etwa schon mit Soldaten abgebe, um so über alle Gebühr erschöpft und abgemattet anzukommen, führte sie endlich ihre Drohung aus und fuhr ihr mit der nassen Hand über den Körper. Die Kleine wütete, hüllte sich in das Laken und schrie:

»Nun ist es aber genug, nicht wahr? Mama! Laß uns lieber nicht über Männer sprechen, es wird besser sein. Du hast immer getan, was du gewollt hast, und nun tue ich das, was ich will.«

»Was soll das heißen?« stotterte die Mutter.

»Nun, ich habe zu dir nie davon gesprochen, weil es mich nichts anging; aber du hast dir gewiß keinen Zwang angetan, ich habe dich oft genug im Hemde und auf Strümpfen herumspazieren sehen, wenn Papa schnarchte... Jetzt macht es dir keinen Spaß mehr, aber andere finden Gefallen daran. Lasse mich zufrieden, du hättest mir nicht solches Beispiel geben sollen!«

Gervaise blieb ganz blaß, mit zitternden Händen stehen und drehte sich schließlich herum, ohne daß sie wußte, was sie tat, während Nana, die platt auf dem Bauche lag, ihr Kopfkissen an sich zog und in die Bewußtlosigkeit ihres bleiernen Schlafes zurückfiel.

Coupeau brummte und kam selbst nicht mehr auf den Gedanken, sie zu schlagen. Er verlor völlig seinen Verstand. Man konnte ihm wirklich nicht einmal vorwerfen, daß er ein unmoralischer Vater sei, denn der Trunk verwischte bei ihm völlig die Erkenntnis des Guten und Bösen.

Sein Leben war jetzt geregelt. Während voller sechs Monate wurde er nicht nüchtern, dann brach er zusammen und wurde nach dem Annenkrankenhause gebracht; das war für ihn eine Landpartie. Die Lorilleux' sagten, daß Seine Durchlaucht der Herzog Kaldaunenbrand sich auf seine Güter begeben habe. Nach Verlauf von einigen Wochen kam er, geflickt und wiederhergestellt, aus dem Asyl und fing wieder an, sich zu zerstören, bis er eines Tages wieder auf der Seite lag und wieder zurechtgemacht werden mußte. Während dreier Jahre war er so siebenmal im Annenkrankenhause gewesen. Im Viertel erzählte man sich, daß ihm dort seine eigene Zelle aufgehoben werde. Das Schlimmste an der Geschichte war, daß sich dieser verdammte Säufer jedesmal immer mehr kaputt machte, so daß man von Fall zu Fall den Schlußakt wohl voraussehen konnte, wo mit einem letzten Krach das alte Faß auseinanderfallen mußte, von dem sich jetzt schon ein Reif nach dem andern ablöste.

Dabei verschönerte er sich durchaus nicht; er sah wie ein Verstorbener aus! Das Gift zerstörte ihn schrecklich. Sein Körper war so mit Alkohol durchtränkt, daß er zusammenschrumpfte wie die Leibesfrucht in den Gläsern bei den Ärzten. Wenn er sich ans Fenster setzte, so schien das Tageslicht beinahe durch ihn durch, so mager war er. Seine Backen waren faltig, und aus seinen Augen triefte genug Wasser, um eine Wiese damit zu berieseln; ihm blieb nur seine schöne, rote Nase, die sich wie eine einsame Blüte am verdorrten Stamme ausnahm. Wer da wußte, wie alt er war, runde vierzig Jahre, den schüttelte ein leiser Frost, wenn er gebeugt und wackelnd vorüberkam und so alt aussah wie die Straßen. Das Zittern seiner Hände wurde immer stärker, seine rechte Hand besonders tanzte so heftig, daß er oft sein Glas mit beiden Fäusten packen mußte, um es an den Mund zu bringen. Dieses verdammte Zittern! Das war das einzige, was ihn in seiner gänzlichen Versumpfung noch ärgerte! Oft hörte man ihn wilde Drohungen gegen seine Hände ausstoßen. Zu anderen Malen sah man ihn stundenlang seine tanzenden Hände beobachten, ohne daß er etwas sagte oder sich ärgerte, er schien es herausbringen zu wollen, durch welchen inneren Mechanismus dieses Spiel unterhalten wurde; eines Abends hatte Gervaise ihn so gefunden, wie ihm zwei dicke Tränen an seinen gefurchten Wangen herniederrannen.

Der letzte Sommer, in dem Nana den Rest ihrer Nächte bei den Eltern zubrachte, war für Coupeau besonders schlecht. Seine Stimme veränderte sich vollkommen, als ob ein neues Instrument in seine Kehle gesetzt worden wäre. Er wurde auf einem Ohre taub. Dann wurden ganz plötzlich seine Augen schwach, und er mußte sich am Treppengeländer halten, wenn er nicht fallen wollte. Was seine Gesundheit anbelangt, nun, die war auf Urlaub, wie man zu sagen pflegt. Er hatte abscheuliche Kopfschmerzen und Wallungen, daß er sechsunddreißig Kerzen flammen sah. Ganz plötzlich überfielen ihn stechende Schmerzen in den Armen und Beinen; er wurde dann blaß, mußte sich niedersetzen und blieb stundenlang auf einem Stuhl ohne Besinnung; einmal war ihm sogar für einen ganzen Tag ein Arm gelähmt geblieben. Mehrere Male hatte er sich schon fest ins Bett gelegt, da kauerte er sich zusammen und verkroch sich unter der Bettdecke, wobei er anhaltend stöhnte wie ein krankes Tier. Jetzt fingen die Beängstigungen vom Annenkrankenhause wieder an. Er wurde mißtrauisch, unruhig, und ein heftiges Fieber ergriff ihn; er wälzte sich in tollen Wutanfällen umher, zerriß seine Bluse und biß mit seinen krampfhaft zuckenden Kiefern in die Möbel; oder es befiel ihn eine große Traurigkeit, er jammerte dann wie ein Kind, schluchzte und beklagte sich, daß niemand ihn lieb habe. Als eines Abends Gervaise und Nana zusammen nach Hause kamen, fanden sie ihn nicht in seinem Bett. Statt seiner hatte er ein Kissen dort hingelegt. Sie fanden ihn selbst zwischen dem Bette und der Wand versteckt, wo er mit den Zähnen klapperte; er erzählte, daß bald Männer kämen, die ihn ermorden wollten. Die beiden Frauen mußten ihn wieder zu Bette bringen und beschwichtigen wie ein Kind.

Coupeau kannte nur ein Heilmittel: sich seinen Schoppen Branntwein in den Leib zu schlagen, das brachte ihn wieder auf die Beine. Jeden Morgen kurierte er so seinen Schleimhusten. Seit lange war schon sein Gedächtnis schwach geworden, sein Schädel war leer; denn sobald er nur ein bißchen kriechen konnte, spottete er über die Krankheit. Er war nie krank gewesen. Ja, er war auf dem Punkte angekommen, wo es zu Ende geht und man doch sagt, daß man sich ganz ausgezeichnet befindet. Übrigens verließ ihn schließlich auch die Erinnerung. Wenn Nana nach sechswöchiger Abwesenheit nach Hause kam, glaubte er, sie habe nur einen Gang im Viertel besorgt. Wenn er ihr am Arme eines Herrn begegnete, lachte er sie oft an, ohne sie zu erkennen. Mit einem Wort: er zählte nicht mehr mit; sie würde sich auf ihn gesetzt haben, wenn sie gerade keinen Stuhl gefunden hätte.

Als der erste Frost kam, machte sich Nana wiederum davon; sie war unter dem Vorwande hinuntergegangen, um zu sehen, ob es bei der Obsthändlerin keine gebackenen Birnen gebe. Sie fühlte den Winter kommen und hatte keine Lust, vor dem leeren Ofen mit den Zähnen zu klappern. Die Coupeaus schalten auf sie wegen des langen Ausbleibens, weil sie auf die Birnen warteten. Sie werde schon wiederkommen; dabei war sie im verflossenen Winter einmal drei Wochen fortgeblieben, um für zwei Sous Tabak zu holen. Indessen verfloß Monat auf Monat, die Kleine kam nicht wieder. Diesmal mußte sie einen famosen Fang gemacht haben. Als der Juni herankam, brachte auch die Sonne sie nicht wieder zurück. Jetzt war es ganz entschieden aus, sie mußte irgendwo ihr Weißbrot gefunden haben. An einem ihrer Fasttage verkauften sie das eiserne Bett des Kindes für runde sechs Franken, die sie in Saint-Ouen vertranken. So füllte ihnen das Bett den Leib.

Eines Morgens im Juli rief Virginie Gervaise, die gerade vorüberging, und bat sie, bei ihr etwas Geschirr abzuwaschen, weil Lantier am Abend zuvor zwei Freunde zu Tische gehabt hatte. Wie nun Gervaise das Geschirr abwusch, das übrigens recht hübsch fettig von dem Gastmahl des Hutmachers war, rief dieser, der im Laden noch mit der Verdauung beschäftigt war, plötzlich:

»Wißt Ihr was, Mutter? Neulich habe ich Nana gesehen.«

Virginie, die an der Kasse nachdenklich ihren immer leerer werdenden Pokalen und Schubkästen gegenübersaß, erhob wütend den Kopf. Sie hielt an sich, um sich nicht zu verraten; denn es fing schon an, bedenklich zu werden. Lantier sah Nana sehr oft. Sie hätte nicht die Hand ins Feuer legen mögen, er war der Mann dazu, das Schlechteste zu tun, wenn ein Unterrock ihm den Kopf verdrehte. Madame Lerat, die gerade jetzt mit Virginie sehr befreundet war, schnitt ihre geheimnisvolle Grimasse und fragte:

»Wie habt Ihr sie gesehen?«

»Ausgezeichnet«, antwortete der Hutmacher sehr geschmeichelt und drehte dabei lachend seinen Schnurrbart. »Sie saß in einer Droschke; und ich stolperte über das Pflaster ... Wahrhaftig, ich schwöre Euch! Eigentlich hätte man sich gar nicht zu entschuldigen, denn die Söhne aus guten Häusern, die sie ganz nahebei duzen, sind verdammt beneidenswerte Burschen!«

Seine Blicke waren lebhaft geworden, und er wandte sich an Gervaise, die hinten im Laden einen Teller abtrocknete. »Ja, sie fuhr in einer Droschke und war angezogen, mit einem Geschmack! ... Sie glich so sehr einer ganz vornehmen Dame, daß ich sie gar nicht erkannte; mit ihren weißen Beißern in ihrem frischen Gesichtchen sah sie wie eine Blume aus. Sie lächelte mir zu und grüßte mich mit dem Handschuh ... Sie hat, glaube ich, einen Grafen gefischt. Sie ist jetzt sehr obenauf! Die braucht sich um uns alle nicht zu bekümmern, sie hat Glück bis über die Ohren, die kleine Canaille! ... Und wie entzückend sah sie aus! Nein, Ihr könnt es Euch gar nicht denken, wie reizend!«

Gervaise wischte noch immer an ihrem Teller, obwohl er schon lange rein und blank war. Virginie dachte mit Sorge an zwei Wechsel, von denen sie noch nicht wußte, wie sie sie morgen bezahlen sollte, während Lantier, der so dick und fett war, daß er den Zucker ausschwitzte, von dem er sich nährte, mit seiner Begeisterung für die kleinen, hübsch gekleideten Freudenmädchen den Konfitürenladen erfüllte, den er schon zu dreiviertel aufgefressen hatte, und in dem es aus allen Ecken nach Bankerott roch. Ja, er hatte nur noch einige Pralinees aufzuknabbern und etwas Orangenzucker zu lutschen, um dem ganzen Handel der Poissons ein Ende zu machen. Plötzlich sah er auf dem Fußwege gegenüber den Schutzmann, der heute Dienst hatte und vorschriftsmäßig zugeknöpft, mit dem Degen an der Seite vorüberging. Das stimmte ihn noch heiterer, und er zwang Virginie, ihren Mann zu betrachten.

»Seht mal!« meinte er, Badinguet hat heute morgen ein famoses Gesicht aufgesetzt! ... Paßt auf! er hat seinen Degengurt so fest geschnallt; der muß sich irgendwo ein Glasauge haben einsetzen lassen, um seine Leute abzufassen.«

Als Gervaise nach oben kam, fand sie Coupeau auf dem Bette sitzen. Er war gerade wieder in der Erstarrung einer seiner Anfälle. Mit seinen erloschenen Augen stierte er zu Boden. Sie selbst setzte sich auf einen Stuhl, ihre Glieder waren ihr wie zerschlagen, und ihre Hände hingen an ihrem schmutzigen Unterrock schleif hernieder. Wohl eine Viertelstunde blieb sie ihm gegenüber sitzen, ohne zu sprechen.

»Ich habe Nachrichten bekommen«, murmelte sie endlich. »Deine Tochter ist gesehen worden ... Ja, deiner Tochter geht es sehr gut, sie hat dich nicht mehr nötig. Die ist glücklich, will ich meinen! ... Himmel und Welt! Was würde ich drum geben, an ihrer Stelle zu sein!«

Coupeau betrachtete noch immer den Fußboden. Dann hob er sein verwüstetes Gesicht empor und stammelte mit einem blödsinnigen Lächeln:

»Nun, mein Herzchen, ich halte dich nicht ... Du bist noch gar nicht so übel, wenn du dich ordentlich gewaschen hast. Du weißt ja, wie man sagt: es gibt keinen so alten Topf, daß sich nicht noch ein Deckel dazu fände ... Den Teufel auch! Wenn das unseren Kohl ein bißchen fetter machen könnte!«


 << zurück weiter >>