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Zwölftes Kapitel.

Es mußte so ungefähr der Sonnabend nach dem Mietstermin sein, etwa der zwölfte oder dreizehnte Januar, Gervais wußte es nicht so genau. Sie verlor nach und nach den Verstand, weil es schon ein Jahrhundert her war, seit sie nichts Warmes mehr in den Leib bekommen hatte. Was war das für eine höllische Woche! Eine wahre Hungerkur; zwei Brote von vier Pfund hatten vom Dienstag bis zum Donnerstag vorgehalten, dann eine trockene Kruste, die sie am Abend gefunden, und seitdem nichts, keine Krume seit sechsunddreißig Stunden. Es war ein höllischer Tanz vor dem leeren Speiseschrank! Soviel wußte sie, sie fühlte in ihrem Rücken das Hundewetter, das draußen herrschte; es war kalt und düster, am Himmel lagerten schwere Wolken, die den Schnee, den sie in sich bargen, durchaus nicht niederfallen lassen wollten. Wenn man den Winter und den Hunger zusammen in den Eingeweiden hat, dann kann man sich den Leibgurt noch so fest schnallen, es hilft doch nichts.

Vielleicht brachte Coupeau am Abend Geld mit. Er sagte, daß er arbeitete. Es ist ja alles möglich, nicht wahr? Und Gervaise war trotz all ihrer bösen Erfahrungen schließlich dahin gekommen, auf dieses Geld zu rechnen. Nach allerlei Geschichten, die vorgekommen waren, bekam sie im ganzen Viertel auch nicht einen Lappen mehr zu waschen; selbst eine alte Dame, deren Aufwartung sie gemacht hatte, warf sie hinaus, weil sie sie beschuldigte, daß sie ihre Liköre austrank. Man wollte nirgends mehr etwas von ihr wissen, sie war wie gebrandmarkt. Das war ihr im Grunde ganz recht, denn sie war jetzt schon bis zu dem Punkte vertiert, daß sie es vorzog, lieber Hungers zu sterben, als ihre zehn Finger zu rühren. Wenn Coupeau seinen Lohn nach Hause brächte, würde man etwas Warmes essen. Da die Mittagstunde schon geschlagen hatte, blieb sie wartend auf ihrer Matratze liegen, weil man weniger friert und weniger Hunger hat, wenn man lange liegt.

Gervaise nannte es eine Matratze, aber in Wirklichkeit war es nur ein Haufen Stroh in einer Ecke. Nach und nach waren die Betten zu den Trödlern des Viertels gewandert. Zuerst hatte sie an Hungertagen die Matratzen aufgetrennt und Hände voll Wolle herausgenommen, die sie in ihre Schürze nahm und für zehn Sous das Pfund in der Wackerstraße verkaufte. Als die Matratzen leer waren, hatte sie sich eines Morgens dreißig Sous für den Überzug geben lassen und sich Kaffee dafür gekauft. Die Kopfkissen waren nachgefolgt und schließlich auch das Keilkissen. Es blieb noch das hölzerne Bettgestell, das sie wegen der Boches nicht unter den Arm nehmen konnte, die das ganze Haus in Aufruhr gebracht hätten, wenn sie so die einzige Sicherheit des Hauswirtes flöten gehen sahen. Aber als sie eines Abends erspäht hatte, daß die Boches beim Essen saßen, brachte sie mit Coupeaus Hilfe ganz ruhig, Stück für Stück, das Bett herunter, die Seitenwände, den Hinterteil und den Rahmen. Mit den zehn Franken, die sie dafür bekamen, machten sie sich drei lustige Tage. War denn nicht der Strohsack ebenso gut? Selbst die Leinentücher waren dahingegangen, wo schon das Bett stand; so kamen sie mit ihrer Lagerstätte zu Ende. Sie hatten sich für den Erlös des letzten nach vierundzwanzigstündigem Fasten an der Menge Brot, die sie herunterschlangen, den Magen verdorben. Man rührte das Stroh mit dem Besen etwas auf, dann war das Lager immer bereitet, und es war auch nicht viel schmutziger als etwas anderes.

Auf diesem Strohhaufen lag Gervaise mit ihren Kleidern zusammengekauert, die Hände hatte sie unter ihren zerfetzten Unterrock gesteckt, um sie wärmer zu erhalten. So zusammengekrümmt und mit weit offenen Augen gingen ihr an diesem Tage Gedanken durch den Kopf, die nicht allzu lustig waren. Nein, durchaus nicht lustig, man konnte so, ohne zu essen, nicht weiter leben! Sie fühlte den Hunger nicht mehr, nur war es ihr, als ob sie Blei im Magen habe, während ihr Kopf ganz wüst und leer zu sein schien. Wenn sie sich ihre vier leeren Wände anguckte, konnte sie das allerdings nicht auf lustige Gedanken bringen! Es war eine wahre Jammerbude, wo die Windspiele, die auf den Straßen warme Decken trugen, nicht einmal geduldet hätten, daß man ihre Photographie aufhänge. Ihre glanzlosen Augen betrachteten die nackten Wände. Seit lange schon war alles ins Leihhaus gewandert; da blieb die Kommode, der Tisch und ein Stuhl; die Marmorplatte und die Schubkästen der Kommode waren denselben Weg gegangen wie das Bettgestell. Ein Brand hätte auch nicht mehr aufräumen können; die kleinen Dinge waren auch hinweggeschmolzen, zu Anfang eine Uhr zu zwölf Franken bis zu den Familienphotographien, von denen eine Händlerin die Rahmen gekauft hatte. Es war eine sehr gefällige Frau, zu der sie eine Schüssel, ein Plätteisen und einen Kamm brachte, und die ihr dafür fünf Sous, drei Sous und zwei Sous, je nach den Gegenständen, hinzahlte, wofür sie sich ein Stück Brot mit nach oben nehmen konnte. Jetzt blieb nur noch eine alte, zerbrochene Lichtputzschere, für die die Händlerin auch nicht einen Sou bezahlen wollte. Wenn sie gewußt hätte, an wen sie den Schmutz verkaufen könnte, den Staub und den Dreck, da hätte sie schnell einen Handel angefangen, denn das Zimmer war in einem schönen Zustand. Sie sah nur die Spinngewebe in den Ecken; die sind vielleicht gut für Schnittwunden, aber es gibt nur noch keinen Händler, der sie kauft. So gab denn ihr zermarterter Kopf die Hoffnung auf, irgendeinen Handel zu machen, und sie kauerte sich noch mehr in ihrem Stroh zusammen und betrachtete durch das Fenster den Himmel mit seinen Schneewolken; es war ein trüber Tag, der ihr das Mark in den Knochen erstarren ließ.

Wie drang das alles auf sie ein! Was half es, das müde Hirn zu quälen und vom Schlechten ins Schlimmere zu sinken? Wenn sie wenigstens hätte schlafen können; aber der gänzliche Zusammenbruch ihrer Wirtschaft ging ihr zu sehr im Kopfe herum. Herr Marescot, der Wirt, war abends zuvor selbst gekommen, um zu sagen, daß er sie hinaussetzen müsse, wenn die beiden rückständigen Mietsraten nicht in acht Tagen bezahlt seien. Nun gut! er solle sie hinaussetzen, auf dem Pflaster würden sie nicht viel schlechter liegen. Sehe sich einer so einen Schweinigel an, der kommt hier mit seinem warmen Überzieher und seinen wollenen Handschuhen herauf und will ihr von Mietsraten sprechen, als ob sie irgendwo einen versteckten Schatz hätte! Den Teufel auch! Ehe sie sich so den Schlund zusammenschnürte, würde sie sich doch lieber erst etwas in den Leib schlagen! Nein, wahrhaftig! sie fand ihn zu erbärmlich, diesen Schuft; sie hatte ihn, nun, ihr wißt schon wo, und das noch dazu recht tief. Ebenso war es mit ihrem Schlummerkopf, dem Coupeau; der konnte gar nicht mehr anders nach Hause kommen, als daß er mit Schlägen über sie herfiel; den wünschte sie sich an denselben Ort wie den Wirt. Um diese Zeit mußte der bewußte Ort bei ihr recht hübsch groß sein, denn sie schickte die ganze Welt dahin, so überdrüssig war sie der Menschen und des Lebens. Sie wurde ein wahrer Fang für Faustschläge. Coupeau hatte einen kurzen Knüttel, den nannte er seinen Sonntagsfächer, damit fächelte er seiner Frau Trachten Schläge zu, die waren abscheulich; man mußte nur sehen, wie sie oft bluttriefend davonkam. Sie war auch nicht die Allerbeste, sie biß und kratzte. So prügelten sie sich in dem leeren Zimmer so lange, bis ihnen der Appetit nach Brot ganz vergangen war. Schließlich machte sie sich aus dem Hagel dieser Schläge ebensowenig wie aus allem anderen. Coupeau konnte wochenlang blaumachen, Saufreisen ausführen, die manchmal Monate andauerten, dann, durch den Trunk irrsinnig und wütend, nach Hause kommen und sie prügeln: sie hatte sich daran gewöhnt, sie fand ihn unausstehlich, weiter nichts. An solchen Tagen hatte sie ihn im Magen, ja sogar im Hintern hatte sie dieses Schwein von Mann! im Hintern die Lorilleux', die Boches und die Poissons! im Hintern das Viertel, das sie verachtete. Ganz Paris konnte dahin, und sie wies ihm da seinen Platz mit einer Handbewegung an, in der eine erhabene Gleichgültigkeit lag; denn sie fühlte sich gerächt und glücklich, daß sie es da unterbringen konnte.

Wenn man sich auch an alles gewöhnen kann, so kann man es sich leider doch nicht angewöhnen, gar nichts zu essen. Das war das einzige, was Gervaise beunruhigte; es war ihr gleichgültig, daß sie von den Elenden die Erbärmlichste war, daß sie so ganz auf dem Grunde des Rinnsteins lag und daß sie sah, wie die Leute sich ihre Ärmel abwischten, wenn sie sie zufällig im Vorbeigehen gestreift hatten; die schlechten Manieren der Leute waren ihr nicht weiter unbequem, aber der Hunger, der wühlte in ihren Eingeweiden. Sie hatte schon lange von den Leckerbissen Abschied genommen, sie war so weit herunter, daß sie alles verschlang, was sie fand. An ihren Feiertagen, wenn sie Geld hatte, kaufte sie bei den Schlächtern die Fleischabfälle für vier Sous das Pfund, die dort schon so lange auf den Tellern umhergelegen, daß sie schwarz zu werden anfingen. Das setzte sie mit einer Portion Kartoffeln bei und schmürgelte es im Ofen zurecht; oder sie zerhackte ein Ochsenherz, das war eine Mahlzeit, nach der sie sich noch lange die Finger leckte. Zu anderen Malen, wenn sie Wein hatte, brockte sie sich Brot hinein; das gab eine Suppe, von der sie einen Spitz bekam. Für zwei Sous italienischen Käse, einen Scheffel weiße Äpfel oder ein Viertel trockene Bohnen, die in ihrem eigenen Fett gekocht werden mußten, konnte sie sich nur sehr selten leisten. Sie war bis zum Harlekin, Anmerk. des Übersetzers: Harlekin nennt man in Paris die zusammengeworfenen Abfälle aus den Restaurationen, die in den niedrigsten Garküchen serviert werden. Das Wort kommt daher, daß dieses Gericht sich aus ebenso zufällig zusammengewürfelten Stücken zusammensetzt, wie der Anzug eines Harlekins. der in den niedrigsten Garküchen für einen Sou verkauft wurde, hinabgestiegen; da hatte sie für ihr Geld einen Haufen Gräten, mit denen die Abfälle verdorbenen Bratenfleisches gemischt waren. Sie sank noch tiefer, sie bettelte bei einem mitleidigen Schankwirt um die Überreste von den Tellern der Gäste; davon machte sie ein Gehacktes und ließ das möglichst lange auf dem Ofen irgendeines Nachbars schmoren. Sie kam dahin, daß sie an Hungertagen mit den Hunden zusammen vor den Türen der Häuser umherstrich, um unter den fortgeworfenen Küchenabfällen Genießbares zu suchen. Da kam es denn manchmal vor, daß sie reiche Mahlzeiten hielt; sie fand verfaulte Melonen, übergegangene Schellfische und Kotelette, deren Papiermanschetten sie sorgfältig vom Knochen zog, weil sie fürchtete, daß jemand, der sich über sie lustig machen wollte, dort etwas dazwischen gesteckt hätte. Ja, soweit war es mit ihr gekommen; die Empfindsamen rümpften darüber die Nase, wenn aber die Empfindsamen drei Tage lang nichts gegessen hätten, dann möchten wir einmal sehen, ob sie gegen ihren Magen böse würden, oder ob sie sich nicht, auf allen Vieren kriechend, ekelhaftes Zeug in den Mund stopfen würden gerade wie die Kameraden. Das ist das Verrecken der Armen, deren leere Eingeweide Hunger schreien; wie die Tiere, deren Kiefer klappern, müssen sie sich mit ekelerregenden Sachen vollstopfen in diesem großen, goldigen, glänzenden Paris! Sollte man wohl glauben, daß Gervaise sich an fetten Gänsen den Magen verdorben hatte! Jetzt konnte sie sich das Maul danach wischen. Als ihr eines Tages Coupeau für zwei Sous Brot gestohlen hatte, um es zu verkaufen und zu vertrinken, hätte sie ihn beinahe erwürgt, so wütend machten sie der Hunger und der Diebstahl.

Bei dem Hinausblicken auf den düsteren Himmel war sie denn doch schließlich eingeschlafen, aber der Schlaf war unruhig und peinlich. Sie träumte, daß dieser Himmel all seinen Schnee auf sie ausschüttete, so sehr fror sie im Schlaf. Plötzlich richtete sie sich auf, sie war durch eine Todesangst, die sie befiel, erwacht. Mein Gott! Sollte sie denn sterben? Klappernd und hohläugig sah sie, daß es noch immer Tag war; wollte denn die Nacht gar nicht kommen? Wie die Zeit langsam schleicht, wenn der Bauch leer ist! Auch ihr Magen war erwacht und peinigte sie. Sie fiel auf den Stuhl und steckte die Hände zwischen ihre Schenkel, um sie zu erwärmen, dabei überdachte sie schon das Mittagbrot, das sie besorgen wollte, wenn Coupeau nach Hause käme und Geld mitbrächte: sie würde dann ein Brot, einen Liter und ein Frikassee einkaufen. Die Kuckucksuhr des Vater Bazouge schlug drei. Es war also erst drei Uhr! Da überfiel sie die Furcht, daß ihre Kräfte nicht mehr ausreichen würden, um noch drei lange Stunden zu warten. Sie empfand ein Schütteln in ihrem ganzen Körper, und wie ein kleines Mädchen, das seinen großen Schmerz zu beschwichtigen trachtet, wiegte sie sich hin und her und preßte die Arme an den Magen, um ihn nicht mehr zu fühlen. Wahrlich! Es ist besser, zu gebären als zu hungern! Da sie keine Erleichterung fand, ergriff sie eine tolle Wut, sie sprang auf und lief im Zimmer umher, wobei sie ihren Hunger wie ein Kind einzuschläfern hoffte. Wohl eine Viertelstunde lang stieß sie sich so an den vier Wänden des leeren Zimmers, dann plötzlich stand sie still mit starren Augen. Es koste, was es wolle, was sie auch sagen mochten, sie würde ihnen die Füße küssen, wenn sie wollten, aber sie mußte hingehen und von den Lorilleux' zehn Sous borgen.

Während des Winters war in diesem verlausten Winkel des Hauses der Verkehr zwischen den Hungerleidern sehr lebhaft; es war ein fortwährendes Borgen von Zehn- und Zwanzigsousstücken und ein beständiger Austausch von Gefälligkeiten, die sich die Nachbarn untereinander erwiesen. Nur wäre ein jeder lieber gestorben, ehe er sich an die Lorilleux' wandte, weil man wußte, wie schwer die den Daumen bewegten. Gervaise bewies einen schönen Mut, als sie hinging und bei ihnen klopfte. Auf dem Flur erfaßte sie eine solche Furcht, daß sie wie die Leute, die bei einem Zahnarzt klingeln, nach dem Klopfen eine plötzliche Erleichterung verspürte.

»Herein!« rief die dünne Stimme des Kettenmachers.

Wie war es gut da drinnen! Das Schmiedefeuer flammte und erhellte die Werkstatt mit seiner weißen Flamme, während Madame Lorilleux ein Bund Golddraht zum Erhitzen in die Pfanne tat. Lorilleux schwitzte an seinem Arbeitstisch, so warm war ihm; er war damit beschäftigt, die Ringchen mit dem Lötrohr zusammenzulöten. Das roch so gut, weil eine Kohlsuppe auf dem Feuer schmorte und dabei die Luft mit so wohlriechenden Dämpfen erfüllte, daß sich in Gervaise alles herumdrehte und sie schier ohnmächtig wurde.

»Ach, Ihr seid es!« brummte Madame Lorilleux, ohne ihr auch nur zu sagen, daß sie sich setzen sollte. »Was wollt Ihr denn?«

Gervaise antwortete nicht. Sie stand gerade in dieser Woche nicht allzu schlecht mit den Lorilleux', aber die Bitte um die zehn Sous blieb ihr doch in der Kehle stecken, weil sie Boche bemerkte, der da breitspurig am Ofen saß und Klatschgeschichten erzählte. Dieses Vieh sah so aus, als ob er sich aus der ganzen Welt nichts mache. Er lachte so unflätig mit seinem zum O gerundeten Maul und seinen geschwollenen Backen, daß man fast seine Nase gar nicht sah, was sein Gesicht wie eine runde Fleischkugel erscheinen ließ.

»Was wollt Ihr denn?« fragte nun auch Lorilleux.

»Habt Ihr Coupeau nicht gesehen?« stotterte schließlich Gervaise. »Ich glaubte, er sei hier!«

Der Kettenmacher und der Portier hohnlachten. Nein, durchaus nicht, sie hatten Coupeau nicht gesehen! Sie gaben nicht genug kleine Schnäpse, um Coupeau so ohne weiteres bei sich zu sehen. Gervaise überwand sich und fing stotternd wieder an:

»Es ist nur, weil er mir versprochen hatte, nach Hause zu kommen ... Ja, er soll mir Geld bringen ... Da ich eben sehr notwendig etwas brauche ...«

Es herrschte eine peinliche Stille. Madame Lorilleux fachte mit roher Hand das Schmiedefeuer an. Lorilleux hatte seinen Kopf auf das Ende Kette niedergebeugt, das sich unter seinen Händen verlängerte, während Boche sein breites, unverschämtes Lächeln beibehielt, wobei das Loch seines Maules so rund wurde, daß man Lust bekam, den Finger hineinzustecken.

»Wenn ich nur zehn Sous hätte!« murmelte Gervaise mit leiser Stimme.

Es blieb ebenso still wie zuvor.

»Könntet Ihr mir nicht zehn Sous borgen? ... Ich würde sie Euch heute Abend noch wiedergeben!«

Madame Lorilleux drehte sich um und blickte sie gerade an. So eine Faulenzerin kommt hierher, um uns zehn Sous abzuborgen; wenn man ihr heute zehn gibt, sind es morgen zwanzig. Es ist ja gar kein Grund, daß es aufhören sollte. Nein, nein, daraus wird nichts. Am Dienstag, wenn recht schönes Wetter ist!

»Aber, meine Liebe!« rief sie, »Ihr wißt ja, daß wir kein Geld haben! Da, hier ist mein Taschenfutter, Ihr könnt nachsehen ... Wir würden es ja herzlich gerne tun!«

»Das Herz ist ja immer dabei!« brummte Lorilleux. »Aber wenn man nicht kann, dann kann man nicht!«

Gervaise, die sehr gedemütigt war, billigte diesen Satz mit einem Kopfnicken. Trotzdem ging sie noch nicht fort, das Gold stach ihr in die Augen, die an der Wand aufgehängten Bunde Golddraht, der goldene Faden, den die Frau mit aller Kraft ihrer kleinen Arme mit dem Zieheisen auszog, und der Haufen der goldenen Ringlein, die sich da unter den knotigen Fingern des Mannes zur Kette bildeten. Sie dachte daran, daß ein kleines Stückchen dieses häßlichen, schwarzen Metalls hingereicht hätte, um ihr eine reichliche Mahlzeit zu verschaffen. Wenn auch die Werkstatt an diesem Tage mit ihren alten Werkzeugen, ihrem Kohlenstaub und ihren Ölflecken ebenso schmutzig war wie sonst, ihr erschien sie im Glanz des Reichtums wie der Laden eines Geldwechslers. So wagte sie denn auch noch sanft zu wiederholen:

»Ich gebe sie Euch ja wieder! Ich gebe sie Euch ja wieder, ganz gewiß ... Zehn Sous, das kann Euch doch nichts ausmachen!«

Ihr war das Herz so beklommen, weil sie nicht eingestehen wollte, daß sie sich seit dem vorigen Abend den Bauch zusammenschnürte. Sie fühlte, daß ihre Beine sie nicht mehr lange trügen, und da sie in Tränen auszubrechen fürchtete, stammelte sie:

»Wie wäre es lieb und gut von Euch! ... Ihr könnt ja nicht wissen ... Ja, soweit ist es mit mir gekommen, mein Gott! Soweit! ...«

Nun kniffen die Lorilleux' die Lippen zusammen und tauschten schnell einen Blick aus. Die Humpelliese bettelte jetzt. Jetzt war der Sturz vollkommen. So etwas konnten sie nicht leiden; wenn sie das gewußt hätten, würden sie ihre Tür versperrt haben, denn mit Bettlern muß man immer sehr auf der Hut sein, die kommen unter Vorwänden in die Wohnungen und lassen beim Fortgehen wertvolle Gegenstände verschwinden, um so mehr, als es bei ihnen etwas zu stehlen gab; wo man auch die Hände hinsteckte, konnte man dreißig bis vierzig Franken haben, wenn man nur die Faust zumachte. Sie waren schon öfter mißtrauisch gewesen, wenn sie das schnurrige Gesicht von Gervaise beobachteten, mit dem sie sich vor dem Golde aufpflanzte. Diesmal wollten sie sie genau beobachten. Als sie noch ein wenig näher kam und mit dem Fuße auf die Binsendecke trat, rief ihr der Kettenmacher, ohne auf ihre Bitte zu antworten, rauh zu:

»Hört mal, paßt ein bißchen auf, sonst werdet Ihr noch Stückchen Gold an Euren Sohlen mitnehmen ... Wenn es wahr ist, was man sagt, dann habt Ihr Euch Fett darunter geschmiert, damit es anhackt!«

Gervaise wich langsam zurück. Sie hatte sich einen Augenblick auf ein Wandgestell gestützt, und da sie sah, daß Madame Lorilleux ihre Hände prüfend anblickte, öffnete sie beide und zeigte sie; dabei sagte sie mit weicher Stimme, ohne daß der Verdacht sie erzürnt hätte, wie eine tief gesunkene Frau, die alles hinnimmt:

»Ich habe nichts genommen, Ihr könnt nachsehen!''

Sie ging fort, weil der starke Geruch der Kohlsuppe und die gute Wärme des Raumes sie unwohl machten.

Sicherlich, die Lorilleux' hielten sie nicht zurück. Glückliche Reise! Das müßte mit dem Teufel zugehen, wenn sie der noch einmal aufmachten! Sie hatten sich an dem Gesicht satt gesehen, sie wollten bei sich nichts von dem Elend anderer hören, wenn das Elend verdient war. Sie überließen sich nun einem großen, selbstsüchtigen Freudenausbruch; wie kamen sie sich reich vor, wie warm war es bei ihnen, und wie erquickend war die Aussicht auf die gute Suppe! Auch Boche brüstete sich, und seine Backen schwollen so sehr auf, daß sein Lachen beinahe ekelhaft wurde. Sie alle waren jetzt gerächt für all den Stolz der Humpelliese, für den blauen Laden, für die Gastereien und all das übrige. Das war mehr als gelungen; das bewies, wohin die Liebe zur Naschhaftigkeit führt. Zum Teufel mit allen Schlemmern, allen Faulen und allen Liederlichen!

»Was es für hübsche Manieren hat, es kommt und bettelt um zehn Sous!« schrie Madame Lorilleux hinter Gervaises Rücken. Jawohl, ich werde sie dir an den Kopf werfen, ich werde ihr so schnell zehn Sous borgen, damit sie hingeht und sie versäuft!«

Gervaise schleppte sich über den Flur, sie ging beschwerlich, als ob eine Last ihre Schultern niederdrücke. Als sie an ihrer Zimmertür angekommen war, trat sie nicht ein, ihr Zimmer machte ihr Angst. Es war ebensogut zu gehen, dabei würde ihr wärmer sein, und sie würde geduldiger warten. Im Vorbeigehen steckte sie den Kopf in das Loch des Vater Bru unter der Treppe. Da war auch einer, der einen schönen Appetit haben mußte, denn seit drei Tagen genoß er nichts zum Frühstück, zu Mittag als die verpestete Luft seines Loches. Aber er war nicht da; das Loch war leer, und sie war auf ihn eifersüchtig in dem Gedanken, daß ihn vielleicht jemand eingeladen haben könnte. Als sie bei den Bijards angekommen war, hörte sie Schmerzenslaute; sie trat ein, denn der Schlüssel steckte immer im Schloß.

»Was ist denn hier los?« fragte sie.

Das Zimmer war sehr sauber. Man sah wohl, daß Lalie noch am Morgen gefegt und alles geordnet hatte. Wenn das Elend auch noch so sehr da hineinblies, Stück für Stück fortnahm und seinen zerstörenden Samen ausstreute, Lalie kam hinterher, verwischte alle Spuren und gab allen Dingen ein hübsches Aussehen. Wenn es auch nicht reich war, so sah man doch aus allem die gute Wirtin heraus. An diesem Tage hatten die beiden Kinder Henriette und Julius alte Bilder gefunden, die sie ruhig in einer Ecke ausschnitten. Aber Gervaise war ganz überrascht, Lalie in ihrem engen Gurtbettchen bis an das Kinn zugedeckt zu finden; sie sah sehr bleich aus. Sie bettlägerig! Da mußte sie sehr krank sein!

»Was ist dir denn?« fragte Gervaise beunruhigt.

Lalie klagte selbst nicht mehr. Sie erhob langsam ihre matten Augenlider und versuchte mit ihren Lippen, die ein Schauer zucken machte, zu lächeln:

»Mir ist nichts!« hauchte sie sehr leise. »Oh! Gewiß! Gar nichts!«

Dann fuhr sie mit geschlossenen Augen, mit Anstrengung fort:

»Ich war all diese Tage so müde, da mache ich denn die Faule und pflege mich im Bett, Ihr seht es ja!«

Aber ihr Kindergesicht, auf dem sich braune und blaue Flecke zeigten, nahm den Ausdruck so großen Schmerzes an, daß Gervaise ihre eigene Todesangst vergaß und mit gerungenen Händen neben ihr niederkniete. Seit einem Monat sah sie sie an den Wänden hinschleichen, wobei sie ein Husten peinigte, der so hohl und trocken klang, wie ein Schlag auf einen Sargdeckel. Jetzt konnte die Kleine selbst nicht mehr husten, es stieß ihr auf, und dabei flossen ihr blutige Streifen aus den Mundwinkeln.

»Ich kann nichts dafür, ich fühle mich nicht recht kräftig!« murmelte sie wie erleichtert. »Ich habe mich noch umhergeschleppt, ich habe noch ein wenig Ordnung gemacht ... Es ist doch ganz sauber, nicht wahr?... Ich wollte noch die Scheiben waschen, aber die Beine trugen mich nicht mehr. Es ist zu dumm! Nun, wenn man fertig ist, legt man sich nieder!«

Sie unterbrach sich, um zu sagen:

»Seht doch nach, ob meine Kinder sich nicht mit den Scheren schneiden!«

Dann schwieg sie zitternd, da sie einen schweren Tritt auf der Treppe hörte. Mit roher Hand stieß Vater Bijard die Tür auf. Er hatte seinen gewöhnlichen Rausch, in seinen Augen flammte die tolle Wut des Vitriols. Als er Lalie im Bett sah, schlug er sich hohnlachend auf die Hüften, dann nahm er die große Peitsche und brummte:

»Den Teufel auch! Das ist zu stark! Das wird was zu lachen geben! ... Die Kühchen legen sich am hellen Mittag auf das Stroh! ... Du machst dich wohl über alle Heiligen lustig, du verdammte Wetterhexe? ... Vorwärts! Auf! Raus aus dem Nest!

Schon ließ er die Peitsche über das Bett hinknallen. Aber das Kind sagte mit bittender Stimme:

»Nein, Papa, ich bitte dich, schlage nicht! Ich schwöre dir, daß du dir Kummer bereitest! ... Schlage nicht!«

»Willst du wohl springen?« heulte er stärker. »Oder ich werde dir die Seiten kitzeln! ... Willst du springen, verdammte Dirne?«

Da sagte sie sanft:

»Ich kann nicht, verstehst du? ... Ich werde sterben!«

Gervaise hatte sich auf Vater Bijard geworfen und ihm die Peitsche entrissen. Er blieb verdutzt vor dem Gurtbettchen stehen. Was pfeift sie da, diese Rotzliese? Stirbt man denn so jung, wenn man nicht einmal krank gewesen ist? Das ist ja eine Falle, um sich Zucker geben zu lassen! Ah! Er würde sich überzeugen, und wenn sie log!

»Du wirst es sehen, es ist die Wahrheit!« fuhr sie fort. »Solange ich konnte, habe ich dir keinen Kummer gemacht ... Sei jetzt gut in dieser Stunde und sage mir Lebewohl, Papa!«

Bijard zupfte sich an der Nase, er fürchtete noch immer, daß man ihn täuschen wolle. Es war wahr, sie sah sehr merkwürdig aus; ihr Gesicht war so lang und ernst wie bei einer erwachsenen Person. Der Hauch des Todes, der da durch das Zimmer wehte, machte ihn nüchtern. Er ließ seine Blicke umherschweifen, wie jemand, der aus einem langen Schlaf erwacht; er sah die Wirtschaft in Ordnung, die beiden Kinder, die an der Erde spielten und lachten, waren gewaschen. Da fiel er auf einen Stuhl und stammelte:

»Unsere kleine Mutter! Unsere kleine Mutter ...«

Das war alles, was er hervorbrachte, aber schon das kam Lalie sehr zärtlich vor, denn sie war bis jetzt nicht verwöhnt gewesen. Sie tröstete ihren Vater. Er war ihr besonders schmerzlich, daß sie jetzt so fortgehen mußte, ehe sie die Kinder ganz hatte erziehen können. Er würde sich doch jetzt darum kümmern, nicht wahr? Mit ihrer immer schwächer werdenden Stimme unterwies sie ihn, wie er sich dabei zu benehmen hätte, wie er sie sauber halten sollte.

Stumpfsinnig saß er vor ihr und blickte sie an, wobei sein Kopf, in dem stoßweise die Trunkenheit wieder aufstieg, hin und her rollte. Das regte so mancherlei in ihm auf, aber sein Mund öffnete sich nicht; er war zu hart gesotten, als daß er hätte weinen sollen.

»Nun höre noch weiter!« fing Lalie nach einem Stillschweigen wieder an. Wir sind dem Bäcker vier Franken und sieben Sous schuldig, das mußt du bezahlen ... Madame Caudron hat ein Plätteisen von uns, das laß dir wiedergeben ... Ich habe für heute nichts kochen können, aber es ist Brot da, und du kannst Kartoffeln aufsetzen ...«

Bis zu ihrem letzten Todesröcheln blieb dieses arme, herzige Wesen die kleine Mutter für all die Ihrigen. Da ging eine fort, die konnte man nicht ersetzen, nein, diese gewiß nicht! Sie starb daran, daß sie in ihrem Alter schon den Verstand einer wahren Mutter gehabt hatte und daß ihre kleine, schmale Brust eine so große, so allumfassende Mutterliebe nicht hatte in sich bergen können. So schwand sie dahin, dieser Schatz, und das war die Schuld ihrer Bestie von Vater; er, der die Mutter mit einem Fußtritt getötet, hatte er nicht auch die Tochter zerfleischt? Die beiden guten Engel seines Hauses hatte er in die Grube gestoßen; was blieb ihm anderes übrig, als wie ein Hund an einer Straßenecke zu verrecken!

Gervaise mußte an sich halten, um nicht in lautes Weinen auszubrechen. Sie streckte ihre Hände aus und wollte das Kind stützen, damit es leichter atmete: wie dabei der Lappen von Zudecke sich verschob, versuchte sie sie aufzurichten und das Bett zu ordnen. Dabei kam der arme, kleine Körper der Sterbenden zum Vorschein. Oh! Großer Gott! Wie entsetzlich! Wie bejammernswert! Da hätten Steine weinen können! Lalie war ganz nackt, der Überrest eines Nachtjäckchen hüllte ihre Schultern ein und sollte das Fehlen des Hemdchens verbergen; ja, ganz nackt, und diese Nacktheit war blutig und schmerzensreich wie bei einer Märtyrerin. Sie hatte kein Fleisch mehr, die Knochen durchlöcherten die Haut. Von den Seiten aus liefen bis zu den Schenkeln nieder lange, violette Striemen; das waren die ganz frischen Peitschenhiebe. Ein schwärzlicher Fleck zog sich um den linken Arm, als ob die Griffe eines Schraubstockes dieses zarte Glied, das nicht viel stärker als ein Streichholz war, erfaßt und zusammengepreßt hätten. Das rechte Bein wies eine kaum verharschte Wunde auf, die wohl von irgendeinem bösen Schlag herrührte und immer des Morgens beim Herumwirtschaften wieder aufgebrochen war; von Kopf bis Fuß war sie mit schwarzen Flecken bedeckt. Oh! Wie entsetzlich war der Anblick dieser hingemordeten Kindheit, dieses gebrechlichen Engels, der da unter den schweren Fäusten des rohen Mannes zerschmettert war, dieser Vergewaltigung eines so zarten Wesens, das ein so schweres Kreuz getragen hatte! Man verehrt in den Kirchen gegeißelte Heilige, deren Nacktheit nicht so rein ist wie diese. Gervaise war aufs neue niedergekniet; sie dachte nicht mehr daran, das Laken wieder emporzuziehen, so sehr erschütterte sie der Anblick dieses jammervollen Nichts auf dem Bette, und ihre Lippen versuchten Gebete zu stammeln.

»Madame Coupeau!« murmelte die Kleine, ich bitte Euch ...«

Mit ihren kleinen Armen suchte sie das Bettuch wieder über sich zu ziehen, so schamhaft war sie, und so sehr empfand sie, welche Schande ihr armer Körper für ihren Vater war. Bijard saß noch immer stumpfsinnig da und blickte auf diesen Leichnam, das Werk seiner Fäuste; noch immer wiegte er seinen Kopf mit der schweren, langsamen Bewegung eines gestörten Tieres hin und her.

Als Gervaise Lalie wieder bedeckt hatte, litt es sie nicht länger dort. Die Sterbende wurde immer schwächer, sie sprach nicht mehr, nur aus ihren Augen leuchtete noch der ergebene, nachdenkliche Blick, den sie auf die beiden Kinder richtete, die noch an ihren Bildern ausschnitten. Im Zimmer wurde es immer dunkler. Bijard ernüchterte sich langsam bei dem Anblick dieses Todeskampfes. Nein, nein, das Leben war gar zu jammervoll und abscheulich! Was für ein ekelhaftes Ding! Ein schmutziges Ding! So ging Gervaise fort, sie stieg die Treppe hinab, ohne es zu bemerken; sie war so von Ekel erfüllt, daß sie sich am liebsten unter die Räder eines Omnibus geworfen hätte, um ein Ende zu machen.

Während sie beim Vorwärtslaufen mit dem verdammten Schicksal haderte, fand sie sich plötzlich vor der Tür der Werkstatt, in welcher Coupeau angeblich arbeiten sollte. Ihre Beine hatten sie unwillkürlich dahin getragen, weil ihr Magen sein altes Hungerlied mit wenigstens achtzig Versen wieder angefangen hatte, die sie übrigens alle schon auswendig kannte. Wenn sie auf diese Art Coupeau beim Herauskommen abfaßte, würde sie auf sein Geld die Hand legen und Lebensmittel kaufen. Sie mußte noch eine kleine Stunde warten, aber darüber würde sie wohl auch noch hinwegkommen, da sie sich doch schon seit dem Abend zuvor am Daumen lutschte. Es war das in der Kohlenstraße an der Ecke der Chartresstraße, eine verdammte Straßenkreuzung, wo der Wind von allen vier Seiten her blies. Nein, wahrlich! es war da nicht warm, wenn man das Pflaster trat. Wenn sie noch einen Pelz angehabt hätte! Der Himmel hatte immer noch seine schwere Bleifarbe beibehalten; der Schnee, der da oben angehäuft hing, setzte dem Viertel eine förmliche Eiskappe auf. Es viel nichts herab, aber es war in der Luft eine große Stille, in der sich für Paris eine völlige Verkleidung vorbereitete. Paris sollte in ein ganz neues, weißes Ballkleid gehüllt werden. Gervaise erhob den Kopf und bat den lieben Gott, diesen Musselin noch nicht gar so bald loszulassen. Sie stampfte mit den Füßen auf, blickte nach dem Laden eines Krämers hinüber und kehrte wieder um, weil es doch unnütz ist, sich schon vorher durch den Anblick von Lebensmitteln noch mehr Hunger zu machen. Die Straßenkreuzung bot nicht allzuviel Abwechslung. Die wenigen Menschen gingen schnell vorüber; sie waren bis an die Nase eingehüllt; denn wenn man vor Kälte klappert, geht man nicht spazieren. Aber Gervaise bemerkte doch noch vier oder fünf Frauen, die ebenso wie sie an der Tür des Meisters Wache standen, damit sich der Lohn ihrer Männer nicht bei den Weinwirten verflüchtige. Da war eine lange Schindmähre mit einem Gendarmengesicht, die sich an die Wand drückte und jeden Augenblick bereit war, sich auf ihren Mann zu stürzen. Eine kleine, ganz schwarze Zarte ging mit demütiger Miene auf der anderen Seite der Straße auf und nieder. Eine andere hatte zwei Kinder mitgebracht, die sie an den Händen hielt und die rechts und links von ihr zitterten und weinten. Sie alle, Gervaise sowie ihre Wachkameradinnen, gingen auf und ab und betrachteten sich mit Seitenblicken, aber sie sprachen nicht miteinander. Eine angenehme Begegnung! Oh! Ja, jede hätte gern darauf verzichtet. Sie hätten nicht nötig, Bekanntschaft miteinander zu machen, um ihr Schicksal zu kennen. Sie wohnten alle bei derselben Firma, bei Elend & Co. Man fror noch mehr, wenn man sie so in diesem abscheulichen Januarwetter auf und nieder laufen sah.

Es kam immer noch keine Katze aus der Tür des Meisters. Endlich erschien ein Arbeiter, dann zwei, dann drei; aber diese waren ohne Zweifel gute Gesellen, die ihren Lohn getreulich nach Hause brachten, denn sie schüttelten die Köpfe, als sie die herumstreichenden Wesen sahen. Die große Schindmähre drückte sich noch dichter neben der Tür an die Wand, dann plötzlich fiel sie über einen kleinen Mann im Überrock her, der eben vorsichtig die Nase zur Tür heraussteckte. Es war bald geordnet! Sie durchsuchte seine Taschen und nahm das Geld an sich. Er war gefaßt, das Geld war weg, nicht einmal soviel ließ sie ihm, um noch einen Schluck zu trinken. Da ging der kleine Mann wütend und außer sich hinter seinem Gendarmen her und weinte helle Tränen wie ein Kind. Es kamen immer noch Arbeiter heraus. Als die dicke Mutter, die mit den beiden Bälgen sich der Tür genähert hatte, von einem großen, braunen Burschen mit abgefeimtem Gesicht bemerkt wurde, ging er schnell wieder zurück, um den Mann zu warnen; als dieser dann endlich herangeschlendert kam, hatte er zwei Rad verduften lassen,, zwei schöne, ganz neue Fünffrankenstücke, von denen er jedes in einen Schuh gesteckt hatte. Er nahm eine von den Göhren auf den Arm und erzählte seiner Frau, die ihn auszankte, ein paar Lügen vor. Manche waren sehr lustig, die sprangen mit einem großen Satz auf die Straße und konnten gar nicht schnell genug davonlaufen, um ihren vierzehntägigen Lohn mit den Freunden durchzubringen. Andere waren düster, sie preßten mürrisch den Lohn für drei oder vier Arbeitstage, die sie von den vierzehn nur gemacht hatten, in ihrer Hand zusammen und murmelten Säuferflüche vor sich hin. Das traurigste war der Schmerz der kleinen, ergebenen, zarten Frau in Schwarz: ihr Mann, ein hübscher Bursche, kniff ihr vor der Nase mit solcher Rohheit aus, daß er sie beinahe über den Haufen gerannt hätte; so ging sie denn allein wieder fort, sie schwankte an den Mauern hin und aus ihren Augen stürzten unaufhörlich die Tränen.

Endlich war der letzte Arbeiter verschwunden. Gervaise, die mitten auf der Straße stand, starrte noch immer nach der Tür. Es fing an sengerig zu riechen. Zwei verspätete Arbeiter kamen noch, aber von Coupeau war nichts zu sehen. Als sie die Arbeiter fragte, ob denn Coupeau nicht herauskäme, antworteten sie ihr scherzend, daß der Kamerad gerade mit dem Laternenanstecker durch die Hintertür gegangen sei, um die Hühner abzuhalten. Gervaise ging ein Licht auf: wieder also hatte Coupeau sie belogen, und sie konnte nun Rauch schnappen gehen! So schleppte sie sich denn langsam mit ihren geplatzten Schuhen die Kohlenstraße hinunter. Ihr Mittagessen schwebte immer undeutlicher vor ihr; sie sah es, wie es in dem gelben Nebel vor ihr schwamm, und da es ihr unerreichbar schien, überlief sie ein Schauder. Diesmal war es wirklich ganz aus. Nicht ein Pfifferling, kein Hoffnungsstrahl mehr, nichts als Nacht und Hunger! Es war eine hübsche Nacht zum Verrecken, die sich da auf sie herabsenkte.

Mit schweren, Schritten ging sie die Fischerstraße hinauf, als sie plötzlich Coupeaus Stimme hörte. Ja, er war in der Kleinen Civette, wo er sich von Mes-Bottes freihalten ließ. Dieser Flausenmacher, der Mes-Bottes, hatte gegen Ende des Sommers den Turkel gehabt, eine Dame wirklich zu heiraten, die zwar schon etwas verweppt war, aber immer noch sehr hübsche Überreste hatte. Sie war eine Dame aus der Märtyrerstraße, keine solche gewöhnliche Straßendirne. Man mußte ihn sehen, diesen glücklichen Sterblichen, wie er wie ein Bürger lebte, die Hände in die Taschen steckte und wohlgenährt aussah; man erkannte ihn kaum wieder, so fett war er. Die Kameraden erzählten, daß die Frau bei den Herren ihrer Bekanntschaft soviel Arbeit habe wie sie wolle. Solch eine Frau und ein Haus auf dem Lande, ist das nicht alles, was einem Menschen das Leben verschönern kann? So blickte denn auch Coupeau zu Mes-Bottes mit wahrer Bewunderung empor. Hatte denn dieser Bursche nicht sogar einen goldenen Ring am kleinen Finger?

Gervaise legte Coupeau die Hand auf die Schultern, als er aus der kleinen Civette herauskam.

»Du, sage mal, ich warte ... Ich habe Hunger, willst du denn gar nichts anfahren lassen?«

Da kam sie aber schön bei ihm an.

»Du hast Hunger? Beiße dir doch in die Faust! ... Und spare dir die andere für morgen auf!«

Er fand es himmelschreiend, daß sie da so vor den Leuten ein Drama aufführte. Was war denn da weiter! Er hatte nicht gearbeitet, und die Bäcker hatten doch Brot geknetet! Hielt sie ihn denn für so kindisch, daß sie ihn mit ihren Ammenmärchen vom Hunger ins Bockshorn zu jagen dächte?

»Dann willst du also, daß ich stehlen soll?« murmelte sie mit dumpfer Stimme.

Mes-Bottes streichelte mit versöhnlicher Miene sein Kinn.

»Nein, das ist verboten!« sagte er. »Aber wenn eine Frau sich ein bißchen zu drehen und zu wenden weiß ...«

Hier unterbrach ihn Coupeau, um ihm »Bravo!« zuzurufen. Das war das Wahre, eine Frau, die sich zu drehen und zu wenden weiß. Seine Frau sei immer eine alte Karete, ein Haufen Unglück gewesen. Es sei nur ihre Schuld, wenn sie jetzt auf der Streu verrecken müsse. Dann suchte er aufs neue nach Worten, um seine Bewunderung für Mes-Bottes auszudrücken. Sah denn das Vieh nicht aus wie ein Dandy? Ein wahrer Millionär! Weiße Wäsche und Schuhe, so fein wie eine Dame! Den Teufel auch! Das war keine Kleinigkeit! Das war einer, dessen Hausfrau das Lebensschiff ordentlich zu steuern verstand!

Darauf gingen die beiden Männer gegen den äußeren Boulevard zu. Gervaise folgte: ihnen. Nach einigem Schweigen fing sie hinter Coupeau wieder an:

»Du! Weißt du, ich habe Hunger ... Ich habe auf dich gerechnet. Du mußt mir irgend etwas zu beißen verschaffen!«

Er antwortete ihr nicht, und sie wiederholte mit dem gepreßten Ton der Todesangst:

»Das ist also alles, was du mir zahlst?«

»Aber in Teufels Namen! Wenn ich nun doch nichts habe!« heulte er, während er sich wütend nach ihr herumdrehte. »Willst du mich gehen lassen, oder ich stoße dich zur Seite!«

Er hob schon die Faust zum Schlage. Da wich sie zurück und schien einen Entschluß gefaßt zu haben.

»Geh, ich lasse dich, ich finde wohl noch einen Mann.«

Da fing der Zinkarbeiter an zu scherzen. Er tat, als ob er das für Spaß halte, und feuerte sie an, ohne daß es den Anschein hatte. Ei der Tausend! Das war ein glänzender Gedanke! Des Abends bei Licht konnte sie noch Eroberungen machen! Wenn sie einen Mann kaperte, könne er ihr das Restaurant zum Kapuziner empfehlen, da esse man in den kleinen Kabinetten ganz vortrefflich. Als sie nun wirklich bleich und wütend dem äußeren Boulevard zuging, rief er ihr noch nach:

»Höre! Du! Bringe mir was vom Nachtisch mit, ich esse gern Kuchen ... Du! Und wenn dein Herr gut angezogen ist, frage ihn doch nach einem abgelegten Rock, damit ich doch auch etwas davon habe!«

Gervaise lief vor diesen teuflischen Worten schnell davon. Bald fand sie sich allein in der Menge und ging langsamer. Sie war jetzt entschlossen. Da sie nur zwischen dem Diebstahl und dem anderen die Wahl hatte, so zog sie noch immer das andere vor, damit geschah wenigstens niemandem unrecht; dabei verfügte sie doch nur über etwas, was ihr gehörte. Es war ja ohne Zweifel nicht sehr reinlich, aber rein und unrein, gut und schlecht, das verwirrte sich in dieser Stunde in ihrem gemarterten Hirn zu einem unkenntlichen Knäuel; wenn man vor Hunger verreckt, macht man nicht so feine, philosophische Unterscheidungen. Sie war bis zur Chaussee Clignancourt hinauf gegangen. Noch immer und immer wollte es nicht Nacht werden, so nahm sie denn inzwischen die Miene einer Spaziergängerin an, die vor dem Essen noch eine Promenade in der frischen Luft macht.

Dieses Viertel verschönerte sich jetzt so sehr, daß Gervaise sich schämte; nach allen Seiten öffnete es sich ins Freie. Der Boulevard Magenta kam aus dem Herzen von Paris, und der Boulevard Ornano führte hinaus aufs Land; sie beide hatten die alte Zollgrenze durchbrochen. Es war ein schönes Stück Mauerwerk, was da hinweggeschleift war; die beiden weiten Alleen sahen mit dem noch neuen Putz ihrer Häuser ganz licht und hell aus, während die Vorstadt-Fischerstraße und die Fischerstraße mit ihren verstümmelten Enden sich wie ein Paar gewundene, düstere Därme in die Stadt vertieften. Schon seit lange hatte das Niederreißen der Stadtmauer die äußeren Boulevards mit ihren Seitenstraßen erweitert, die in der Mitte eine breite Fußgängerpromenade zeigten, die mit vier Reihen kleiner Platanenbäume eingefaßt war. Das war ein ungeheurer Kreuzungspunkt, von dem aus die Straßen sich in weite Fernen bis zum Horizont hinzogen, und in ihnen wogte die Menge auf und nieder, tauchte auf und verschwand in dem Durcheinander der Gebäude. Zwischen den hohen Neubauten standen noch viele armselige Häuschen; zwischen den mit Bildhauerarbeit verzierten Vorderseiten zeigten sich schwarze Lücken, aus denen das Elend hervorgähnte mit seinen baufälligen Baracken, in deren Fenstern Lumpen trockneten. Der Glanz der Neubauten erdrückte das Elend der Vorstadt, das noch vor seinem Verschwinden den Bauplatz für die neue Stadt besudelte, die man da so hastig aufzubauen im Begriffe war.

Verloren in dem Gedränge auf der weiten Promenade zwischen den Platanen fühlte sich Gervaise allein und verlassen. Diese verteufelten Alleen da unten machten ihr den Magen noch leerer. Sollte man es wohl glauben, daß von diesem ganzen Menschenstrom, in dem doch viel wohlhabende Leute dahinzogen, auch nicht einer ihre Lage ahnte und ihr ein Zehnsousstück in die Hand gleiten ließ! Ja, ja, es war zu groß, zu schön, ihr schwindelte und ihre Beine gingen ganz mechanisch immer weiter unter diesem unendlichen Himmelszelt, das sich über so ungemessene Räume spannte. Der Nebel hatte das schmutzige Gelb des Pariser Nebels, diese Farbe, die so unheimlich ist, daß man sterben möchte, so häßlich läßt sie die Straßen erscheinen. Um diese Stunde verloren sich bei dem unsicheren Licht die Fernen in schmutzigen, schweren Tönen. Gervaise, die schon matt und müde war, geriet gerade in den Strom der heimkehrenden Arbeiter. Gegen Abend umwimmelte die Herren in guten Kleidern und die Damen mit Hüten, die in den neuen Häusern wohnten, ein Gedränge von Männern und Frauen, deren. Gesichter noch den Stempel der verpesteten Luft der Werkstätten trugen. Vom Boulevard Magenta und der Vorstadt Fischerstraße kamen ganze Trupps, die vom Bergansteigen außer Atem waren. Bei dem schweren Rollen der Omnibusse, der Fiaker und der Rollwagen, die unbeladen im Galopp nach Hause fuhren, wuchs das Gewimmel der Blusen und Arbeitsjacken auf der Straße immer mehr. Die Dienstmänner kamen mit ihren Tragegurten auf der Schulter zurück. Zwei Arbeiter, die schnell vorwärts schritten, machten Seite an Seite große Sprünge, wobei sie laut sprachen und lebhafte Bewegungen machten, ohne einander anzusehen; andere gingen einsam, im Überzieher und Mütze, mit gesenktem Kopfe am Rande der Rinnsteine hin; wieder andere gingen zu fünf und sechs schweigend hintereinander her; sie hatten die Hände in den Taschen und ihre Blicke waren müde; einzelne hatten ihre ausgebrannten Pfeifen im Munde behalten. Maurer saßen auf Arbeitswagen, die sie zu vieren gemietet hatten und auf denen die Kalkkübel hin und her schwankten; zwischen ihren Geräten zeigten sich die blassen, mit Mörtel bespritzten Gesichter. Maler trugen ihre Farbentöpfe; ein Zinkarbeiter schleppte eine große Leiter, mit der er leicht jemandem ein Auge ausstoßen konnte, während ein verspäteter Brunnenmacher mit seinem Handwerkskasten auf dem Rücken auf einer Mundharmonika das Lied vom guten König Dagobert spielte. Es war eine traurige Weise, die wehmütig durch den eisigen Nebel klang. Die düstere Melodie begleitete das Stampfen der Menge wie das Geläute die Saumtiere, wenn sie sich müde und erschöpft auf ihrer Straße weiterschleppen. Wiederum war ein Tag zu Ende. Wahrlich, so ein Tag war lang, und es fing gleich wieder von neuem an. Kaum hatte man Zeit, den Leib zu füllen und im Schlafe die Speisen zu verdauen, da war es schon wieder Tag, und man mußte wieder die Last des Elends auf die Schultern nehmen. Und doch pfiffen die Burschen, tappten auf das Pflaster und zogen schnell ihre Straße, weil ihr Schnabel der Richtung nach dem Futter zugewendet war. So wanderte Gervaise mit dem Strom, gleichgültig gegen die Püffe der Vorübergehenden: man stieß sie rechts, man stieß sie links, und gab ihr so ihre Richtung; denn die Männer, die sich über Tag matt und müde gearbeitet haben und die ihr Hunger vorwärts treibt, nehmen sich nicht die Zeit, höflich und zuvorkommend zu sein.

Als Gervaise zufällig die Augen erhob, befand sie sich plötzlich vor dem früheren Hotel »Zum guten Herzen«. Das kleine Haus, in dem eine Zeitlang ein anrüchiges Kaffee gewesen war, das die Polizei hatte schließen müssen, stand jetzt ganz unbewohnt; seine geschlossenen Fensterläden waren mit Anschlagzetteln bedeckt, die Laterne war zerbrochen und der miserable Abputz zerbarst und löste sich im Regen auf. Sonst schien in der Umgebung alles beim alten geblieben zu sein. Der Papier- und der Tabakshändler waren noch immer da. Hinter diesen niederen Gebäuden erhoben die Hinterwände großer, neuer, fünfstöckiger Häuser ihre frisch beworfenen Flächen. Nur der Ballsaal »Zum Großen Balkon« war verschwunden; in dem Saale, dessen zehn erleuchtete Fenster früher so strahlten, hatte man eine Zuckerschneiderei eingerichtet, deren Maschinen man den ganzen Tag pfeifen hörte. Dort in der erbärmlichen Kammer des alten Hotel »Zum guten Herzen« hatte das verdammte Leben angefangen. Sie blieb stehen und blickte zu dem Fenster im ersten Stock auf, wo ein Sonnengitter zerbrochen herabhing; dabei gedachte sie ihrer Jugend und Lantiers, ihrer ersten Zwistigkeiten und der abscheulichen Art, wie er sie verlassen hatte. Was schadete das alles? Damals war sie jung gewesen, alles erschien ihr lustig im Lichte der Erinnerung. Nur zwanzig Jahre war es her, mein Gott! Und jetzt lag sie auf dem Pflaster! Beim Anblick des Hotels wurde ihr übel, und so stieg sie den Boulevard wieder nach der Seite des Montmartre hinauf.

Auf einem Sandhaufen, der zwischen den Bänken lag, spielten die Straßenbuben in der hereinbrechenden Dunkelheit. Noch immer wogte das Volk auf den Straßen; jetzt waren es zumeist die Arbeiterinnen, die vorüberzogen; sie liefen eiligen Schrittes, um die Zeit wieder einzuholen, die sie bei den Schaufenstern versäumt hatten; eine Große stand still und ließ ihre Hand in der eines Burschen, der sie bis zum dritten Hause vor ihre Wohnung begleitet hatte; andere versprachen sich beim Abschied ein Wiedersehen in dem »Großen Narrensaal«, oder in der »Schwarzen Kugel«. Unter den vielen Arbeiterinnen gab es auch welche, die für Konfektionsgeschäfte nähten und die man an den eingeschlagenen Kleidungsstücken erkannte, die sie auf dem Arm trugen. Ein Töpfergeselle, der an einem. Ziehgurt einen Wagen mit Schutt zog, wäre beinahe von einem Omnibus überfahren worden. Zwischen dem Menschenstrom, der sich jetzt doch nach und nach verlief, erblickte man Frauen ohne Kopfbedeckung, die eilig noch Lebensmittel für das Mittagessen einkauften, nachdem sie zu Hause das Feuer angezündet hatten; sie stießen in ihrer Hast die Fußgänger und liefen ohne Säumen zurück, wenn sie beim Bäcker und Fleischer ihren Bedarf eingekauft hatten. Man sah kleine, achtjährige Mädchen, die fortgeschickt waren, um einzuholen; sie gingen längs der Läden entlang und trugen an ihre Brust gepreßt Vierpfundbrote, die ebenso groß waren wie sie selbst; sie glichen schönen, blondhaarigen Puppen, die sich manchmal wohl fünf Minuten lang vor den Bildern der Schaufenster aufhielten und ihre Bäckchen nachdenklich gegen das große Brot lehnten. Nach und nach verlief sich der Menschenstrom, und die Gruppen lösten sich auf, die Arbeiter waren heimgekehrt, und bei dem flammenden Leuchten des Gaslichtes begann jenes Leben, das gleichsam die Rache der Faulheit gegen die Arbeit darstellt, das mit dem Sonnenuntergang erwacht, um erst mit Sonnenaufgang zu enden.

Auch für Gervaise war der Tag zu Ende. Sie war matter und abgehetzter als all diese Arbeiter, mit denen sie soeben Schulter an Schulter sich durch die Straßen geschoben hatte. Sie konnte sich da niederlegen und verrecken, denn die Arbeit wollte sie nicht mehr, und sie hatte sich in ihrem Leben genug geplagt, um sagen zu können: »Wer ist jetzt an der Reihe? Ich habe mein Teil geschafft!« Um diese Tagesstunde aßen in Paris alle. Ja, es war zu Ende, das Sonnenlicht war verschwunden und die lange, lange Nacht war da. Mein Gott! Wie gut wäre es, wenn man sich behaglich ausstrecken könnte, um nie wieder aufzustehen, wenn man denken könnte, jetzt habe ich mein Handwerkszeug beiseite gelegt für immer und werde jetzt eingehen in eine Ewigkeit ohne Arbeit! Wie gut mußte das sein, wenn man sich zwanzig Jahre gemüht und geschunden hatte! Trotz der Krämpfe, die Gervaises Magen peinigten, dachte sie unwillkürlich an die Festtage, an die guten Mahlzeiten und die heiteren Stunden ihres Lebens. Besonders an einen Fastnachtsdonnerstag dachte sie, wo es abscheulich kalt gewesen war und wo sie des Lebens Fröhlichkeit bis auf die Neige ausgekostet hatte. Sie war damals sehr hübsch gewesen, blond und frisch wie ein Pfirsich. Ihre Waschanstalt in der Neuen Straße hatte sie zur Königin der Wäscherinnen ernannt trotz ihres Hinkens. So war sie in festlichem Aufzuge auf einem mit Girlanden geschmückten Wagen inmitten der feinen Welt über die Boulevards gefahren, wo jedermann sie anguckte; ja, die Herren setzten ihre Augengläser auf, als gelte es einer wirklichen Königin. Am Abend gab es dann ein Festessen, daß die Tische krachten, und bis zum lichten Morgen hatte man das Tanzbein geschwungen. Königin, ja Königin! Mit Krone und Schärpe, volle vierundzwanzig Stunden lang, die Zeit, in der die Zeiger zweimal über das Zifferblatt dahingehen! Ihr schwerer Kopf senkte sich unter den Qualen des Hungers, als ob sie in dem Rinnstein die Stelle finden wolle, wo sie ihre frühere königliche Herrlichkeit verloren hatte.

Von neuem erhob sie den Blick. Sie befand sich jetzt den Schlachthäusern gegenüber, die abgerissen wurden; die stellenweise niedergelegte Vorderseite gestattete den Blick auf düstere Höfe, die noch feucht und stinkend waren von dem Blut, das dort vergossen wurde. Als sie den Boulevard wieder hinaufgegangen war, sah sie auch das Krankenhaus Lariboisière mit seiner großen, grauen Mauer, über der sich fächerförmig die mit regelmäßigen Fensterreihen versehenen düsteren Flügel des Gebäudes erhoben. Eine Tür in der Mauer war der Schrecken des Viertels: Das war die Totentür, deren feste, eichene Planken nicht den kleinsten Riß zeigten; das gab ihr den Ernst und das Schweigen eines Grabsteines. Dem Bereich dieser Tür mußte sie entfliehen, und so trieb sie die Verzweiflung weiter; sie ging bis zur Eisenbahnbrücke hinab. Die hohen Brustwehren von Eisenblech verhinderten sie hier in die Ferne zu sehen; sie erblickte nur den leuchtenden Horizont von Paris, eine Ecke des weiten Bahnhofes mit dem großen, vom Kohlenrauch geschwärzten Dach; sie hörte in dem großen, erhellten Räume das Pfeifen der Lokomotiven, die regelmäßigen Stöße der drehbaren Platten, auf denen die Wagen gewendet wurden, kurz all diesen Lärm einer ungeheuren, zum Teil verborgenen Geschäftigkeit. Bald kam ein Zug vorbei, er verließ Paris, und sein Schnauben und Stampfen wurde immer stärker und stärker; sie sah von dem Zuge nur eine weiße Dampfwolke, die einen Augenblick die Brustwehr streifte und sich dann verlor. Aber die Brücke hatte gezittert und sie selbst empfand die Erschütterung dieser Abfahrt unter vollem Dampf. Sie wandte sich um, als ob sie der unsichtbaren Lokomotive folgen wolle, deren Donnern und Rollen langsam erstarb. Nach dieser Seite hin mußte das offene Land liegen, sie sah dort hinten zwischen den hohen Häusern zur Rechten und Linken ein Loch, da zeigte sich der freie Himmel. Die Häuser standen hier vereinzelt, ohne Ordnung, ihre Vorderseiten zeigten riesige Anpreisungen in ungeheuren Buchstaben, aber die schönen Malereien waren vergilbt und geschwärzt von dem Ruß der unaufhörlich vorbeisausenden Lokomotiven. Wenn sie doch auch so hätte abreisen können; fortgehen, weit fort von diesen Häusern, in denen nur Leid und Elend nisteten. Vielleicht hätte sie noch einmal zu leben angefangen. Sie wandte sich wieder zurück und begann ganz stumpfsinnig die Zettel zu lesen, die an die Brustwehr geklebt waren. Da waren solche von jeder Farbe; ein kleiner, blauer Zettel – es war ein so hübsches Blau – versprach fünfzig Franken dem, der eine verlorene Hündin wiederbringe. Wie mußten die Leute das Tier liebhaben!

Langsam begann Gervaise aufs neue ihren Marsch. In dem düsteren, rauchigen Nebel, der herniederfiel, wurden die Gasflammen angezündet. Diese langen Straßen und Alleen, die nach und nach in die Finsternis getaucht waren, erschienen jetzt ganz strahlend wieder; sie sahen noch länger aus als bei Tage und durchschnitten die Nacht bis zu den düsteren Fernen des Horizontes. Es war, als ob ein Hauch auf der Erde hinwehe und all die tausende von Gassternchen in dem erweiterten Viertel entzünde, über die sich der ungeheure, mondlose Himmel spannte. Um diese Stunde strahlten auf den Boulevards von einem Ende bis zum anderen die zahlreichen Weinkneipen und Schnapsbuden mit ihren Lichtern lustig in den Abend hinein, und aus ihrem Innern ertönte das Lachen und Johlen der Trinker. Der Zahltag belebte die Bürgersteige mit einer Menge genußsüchtiger Menschen, die alle ihre Sauf reise machen wollten. Man roch es förmlich in der Luft, es war ein verdammtes Bummeln und Schlemmen; aber es war jetzt noch manierlich genug, es war nur der Anfang der Bekneiptheit, weiter nichts. Hinten in den Garküchen schlugen sich die Leute den Leib voll; in den ganz erleuchteten Räumen sah man durch die Fenster, wie alle mit vollem Munde aßen, dabei lachten sie und gaben sich kaum die Mühe des Kauens, so schlangen sie. Bei den Weinwirten setzten sich schon die Säufer fest und brüllten mit heftigen Bewegungen. Es war ein Höllenlärm von kreischenden und rauhen Stimmen, die sich in dem Gestampfe, auf den Fußwegen erhoben: »Du, sage mal, hast du schon gefuttert? ... Komm her, du Humpelfritze, ich gebe dir einen Schoppen ... Ei, sieh da! Bist du es, Pauline? Oh! Jawohl, das wäre noch schöner, heute ist es nichts mit uns beiden!« Die Türen klappten auf und zu und ließen jedesmal einen warmen Hauch aus dem Innern der Schenken, der nach Wein roch oder in dem ein paar Töne des Waldhorns erklangen. Vor dem »Totschläger« des Vater Colombe staute sich die Menge, die Kneipe war erleuchtet wie eine Kathedrale bei einer großen Messe; und beim Himmel! Man konnte wirklich glauben, es werde da drinnen etwas feierlich begangen, denn die Säufer sangen mit vollen Backen und dicken Bäuchen, so daß sie wie Küster am Chorpult aussahen. Sie feierten den heiligen Zahltag; das war ein liebenswürdiger Heiliger, der mußte oben im Paradiese Säckelmeister sein. Man mußte nur sehen, wie toll es schon anfing! Die kleinen Rentner, die ihre Frauen am Arm dort spazieren führten, meinten kopfschüttelnd, daß es doch in dieser Nacht in Paris verdammt viel betrunkene Kerle gebe. Die Nacht war sehr dunkel, tot und eisig lag sie über dem Häusermeer; nur die langen Linien der Boulevards streckten ihre Feuerstreifen nach den vier Richtungen der Windrose.

Wie fest gebannt stand Gervaise vor dem »Totschläger« und dachte nach. Wenn sie zwei Sous gehabt hätte, wäre sie hineingegangen und hätte sie vertrunken. Vielleicht, daß ihr ein Schluck Schnaps den Hunger gestillt hätte. Wie oft hatte sie schon getrunken! Und das Trinken schien ihr so gut zu sein! Von weitem sah sie zu, wie die Destilliermaschine arbeitete; dumpf empfand sie in ihrem Innern, daß all ihr Unglück von dorther komme; und sie gelobte sich, daß sie durch den Branntwein ihrem Leben ein Ende machen wolle, wenn sie einmal Geld habe, sich welchen zu kaufen. Als sie so dachte, schüttelte sie der Frost und sie sah, daß es schwarze Nacht war. Jetzt kam die gute Stunde heran. Jetzt war der Augenblick da, wo es galt, sich mutig zu zeigen und liebenswürdig zu machen, wenn sie nicht inmitten der allgemeinen Lustigkeit krepieren wollte. Und das um so mehr, als ihr das Zusehen, wie die anderen aßen, nicht gerade den Bauch füllte. Sie fing an, noch langsamer zu gehen und blickte um sich. Unter den Bäumen war der Schatten noch tiefer. Es gingen wenig Leute auf der Straße und diese wenigen hatten es eilig und gingen mit schnellen Schritten über den Boulevard. Auf diesem breiten, düsteren und verlassenen Fußweg, wohin die Freude und Heiterkeit aus den benachbarten Straßen nur in ersterbenden Tönen drang, standen wartende Frauen. Lange standen sie unbeweglich, geduldig und steif wie die kleinen, dürftigen Platanen, dann setzten sie sich langsam in Bewegung und gingen wohl zehn Schritte über den gefrorenen Boden hin, um dann von neuem stehen zu bleiben, als ob sie an das Pflaster gebannt seien. Da war eine mit einem unförmig massigen Körper und Armen und Beinen, die wie Insektenglieder dünn und gebrechlich schienen; ihre überquellenden Formen waren in einen Lumpen von ehemals schwarzer Seide gehüllt und ihren Kopfputz bildete ein gelbes Tuch. Eine andere, die groß und mager war, hatte sich eine weiße Schürze wie ein Dienstmädchen umgebunden. Noch andere waren alt, aber desto stärker geschminkt; und einzelne junge waren sehr schmutzig, ja so schmutzig, so ekelhaft, daß ein Lumpensammler sie nicht aufgehoben haben würde. Gervaise wußte nicht, wie sie sich benehmen sollte, sie suchte zu lernen und machte es wie die anderen. Eine Erregung kam über sie, wie sie sie wohl als Kind gehabt zu haben sich entsann. Das schnürte ihr die Kehle zusammen; sie fühlte nicht, daß sie sich schämte, denn alles, was sie tat, schien ihr ein böser Traum. Wohl eine Viertelstunde lang blieb sie ganz stille stehen; es kamen Männer vorüber, aber sie sahen sie nicht an. Da bewegte sie sich und wagte einen Mann, der pfeifend, mit den Händen in der Tasche, daherkam, anzusprechen; mit erstickter Stimme murmelte sie:

»Mein Herr, hören Sie doch ...«

Der Mann blickte sie von der Seite an und ging noch stärker pfeifend weiter.

Gervaise wurde kühner. Sie vergaß alles in dem wilden Ringen dieser verzweifelten Jagd; mit schmerzlich gekrümmtem Leibe suchte sie ihr Mittagbrot zu erhaschen, das noch immer unerreichbar vor ihr schwebte. So ging sie lange, sie wußte nicht mehr, welche Stunde es war, noch welchen Weg sie ging. Um sie herum bewegten sich jene schweigenden, schwarzen Gestalten unter den Bäumen mit so regelmäßigen Schritten auf und nieder, als ob es wilde Tiere im Käfig seien. Sie verließen das Dunkel mit der zögernden Langsamkeit einer Erscheinung; wenn sie unter der Helligkeit einer Laterne dahingingen: so wurde für einen Augenblick ihr weiß geschminktes Antlitz sichtbar, und aufs neue tauchten sie in die Tiefen des Schattens zurück, aus dem nur der weiße Rand ihres Unterrockes ein wenig hervorleuchtete; sie hatte den schaurigen Reiz der Dunkelheit wiedergewonnen. Manchmal glückte es ihnen, die Männer für einen Augenblick anzuhalten, sie sprachen dann aus Mutwillen mit ihnen und gingen lachend weiter. Andere folgten heimlich und verlegen einer Frau auf zehn Schritte Entfernung. Manchmal wurde die Stille durch lautere Gespräche unterbrochen, man stritt mit gedämpfter Stimme; das war oft ein wütendes Feilschen, das in die schweigende Nacht hineintönte. So weit Gervaise auch ging, überall sah sie diese eigentümlichen Schildwachen stehen, als ob die ganzen äußeren Boulevards mit Frauen bepflanzt seien von einem Ende bis zum anderen; weithin erstreckte sich diese Kette, ganz Paris war so bewacht. Ein Ekel erfaßte sie; wütend wechselte sie ihren Platz, sie ging jetzt von der Chaussée de Clignancourt nach der Kapellenstraße.

»Mein Herr, hören Sie doch ...«

Aber die Männer gingen vorüber. Sie ging von den Schlachthäusern fort, deren Abbruchmauern nach Blut stanken. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick auf das frühere Hotel »Zum guten Herzen«, es war geschlossen und öde. Am Krankenhause Lariboisière kam sie vorüber, unwillkürlich zählte sie längs der Vorderseite die hellen Fenster, die wie ebensoviele Nachtlampen leuchteten, und deren fast ersterbende Lichter einen bleichen, ruhigen Schein gaben. Sie überschritt die Eisenbahnbrücke, die unter der Gewalt der Züge erbebte, deren Lokomotiven die Luft mit dem verzweifelten Schrei ihrer Dampfpfeife zerrissen. Wie entsetzlich traurig ließ doch die Nacht all diese Dinge erscheinen! Dann ging sie ihren Weg wieder zurück; wieder erblickten ihre Augen dieselben Häuserreihen, die einander so ähnlich sahen an diesem Ende der Allee; wohl zehn, ja zwanzigmal durchlief sie dieses Stück Straße ohne Ruhe, ohne auf einer der Bänke auch nur eine Minute zu rasten. Nein, es begehrte sie niemand. Die Verachtung schien ihre Schande zu vergrößern. Noch einmal ging sie bis zum Krankenhause und kehrte noch einmal zu den Schlachthäusern zurück. Das war ihr letzter Spaziergang zwischen den blutigen Höfen, wo man schlachtete, und den bleichen Sälen, wo der Tod die Menschen erstarren ließ in den Leichentüchern, die das Gemeingut aller waren. Dort hatte sich ihr Leben abgespielt. »Mein Herr, hören Sie doch...«

Jetzt plötzlich bemerkte sie ihren Schatten auf der Erde. Wenn sie sich einer Gasflamme näherte, verdichtete sich der unbestimmte Schatten und nahm festere Formen an; der Schatten war ungeheuerlich, kurz, untersetzt und schreckenerregend, so rund war sie; das floß alles in eins zusammen, der Bauch, der Hals und die Hüften. Sie hinkte so stark mit ihrem lahmen Bein, daß ihr Schatten auf dem Boden bei jedem Schritte umkippte; sie war, so gesehen, ein wahres Stück Unglück. Wenn sie sich von der Flamme entfernte, so vergrößerte sich dieser Unglücksschatten, er wurde riesig und erfüllte die Boulevards mit seinen Verbeugungen, bei denen er sich an Bäumen und Häusern die Nase stieß. Mein Gott! Wie war sie komisch und fürchterlich! Nie hatte sie es so begriffen, wie tief sie gesunken war. Sie konnte nicht mehr aufhören, das Spiel zu beobachten; wenn eine Gasflamme kam, so folgte sie mit den Augen dem wilden Tanze ihres Schattens. Oh! Ja! Es war ein hübsches Weibsbild, das ihr zur Seite ging! Es sah lustig aus und mußte gleich die Männer anlocken. Sie ließ ihre Stimme sinken, jetzt wagte sie nur noch hinterrücks den Vorübergehenden ihre Worte zuzuflüstern:

»Mein Herr, hören Sie doch ...«

Es mußte mittlerweile sehr spät geworden sein. Die Lustigkeit nahm im Viertel immer mehr ab. Die Garküchen waren geschlossen und selbst bei den Weinwirten brannte das Gas mit roter Flamme; die Stimmen, die aus dem Innern heraustönten, lallten vor Trunkenheit. Aus Scherz und Lachen war jetzt Streit und Faustschlag geworden. Ein zerlumpter, großer Teufel heulte: »Warte, dir zerschlag' ich alle Knochen, du kannst sie immer numerieren!« Ein Mädchen war mit ihrem Liebhaber an der Tür eines Tanzlokales in Streit geraten, sie schimpfte ihn ›schmutziges Tier« und »krankes Schwein«, während der Liebhaber immer antwortete: »Und deine Schwester?« Anmerk. des Übersetzers: Dieses Et ta sœur war der Refrain eines zu Anfang der sechziger Jahre sehr beliebten Gassenhauers und hatte eine sehr vielfache, nicht gerade immer sehr reinliche Bedeutung. Die Trunkenheit in den Kneipen erzeugte eine Art von Bedürfnis, sich in Schlägen auszutoben; eine Wildheit überkam die Säufer und ließ bei denen, die hin und wieder vorbeikamen, die blassen Gesichter krampfhaft verzerrt erscheinen. Bald kam es zu einer Schlägerei; ein Trunkenbold fiel zu Boden und streckte alle Viere in die Luft, während sein Kamerad, der glaubte, daß er ihm den Garaus gemacht habe, so schnell ihn seine Beine tragen wollten, mit lautem Geklapper seiner schweren Schuhe davonlief. Ganze Banden zogen vorbei, die gemeine Lieder brüllten; dann wurde es wieder plötzlich ganz still, und man hörte nur hin und wieder das Rülpsen oder den schweren Fall eines Betrunkenen. So endete immer diese Nacht des Fünfzehnten im Monat. Seit sechs Stunden war der Wein in solchen Strömen geflossen, daß er stellenweise auch den Bürgersteig überschwemmte. Es waren hübsche Ergüsse, diese Fuchsschwänze, die da auf dem Pflaster sich ausbreiteten und welche die anständigen Leute, die spät heimgingen, überspringen mußten, wenn sie nicht hineintreten wollten. Wahrhaftig! Das Viertel war sauber! Ein Fremder, der es so vor dem Morgenausfegen gesehen hätte, mußte einen hübschen Begriff mit nach Hause nehmen. Aber um diese Stunde waren die Trunkenbolde unter sich und kümmerten sich den Teufel um die Meinung von Europa. Verdammt noch eins! Da flogen die Messer aus den Taschen und das kleine Fest endete mit Blutvergießen. Schnellen Schrittes gingen einzelne Frauen vorüber und Männer strichen hohläugig umher. Die Nacht schien sich förmlich zu verdunkeln, soviel Düsteres, Verderbenschwangeres und Abscheuliches barg sich unter ihrem Mantel.

Gervaise ging immer fort, schlotternd trabte sie die Straßen herauf und hinab mit dem einzigen Gedanken, unaufhörlich so zu gehen. Wenn eine plötzliche Müdigkeit sie überfiel, schlief sie im Gehen ein, wobei ihr hinkendes Bein sie wie eine Wiege in den Schlaf lullte; wenn sie dann plötzlich um sich blickte, merkte sie, daß sie wohl an hundert Schritte ohne Bewußtsein gemacht hatte wie eine Tote. Da sie so aufrecht im Gehen schlief, schwollen ihre Füße in ihren durchlöcherten Schuhen förmlich an. Sie wurde stumpf und ganz fühllos, so erschöpft und ausgepumpt war sie jetzt. Der letzte klare Gedanke, der sie noch beschäftigte, war, daß ihre Dirne von Tochter vielleicht gerade jetzt Austern esse. Danach verwirrte sich alles; sie behielt zwar die Augen noch offen, aber das Denken hätte ihr eine unüberwindliche Anstrengung gekostet. Die einzige Empfindung, die noch inmitten ihres Verfalls in ihr fortlebte, war die der Hundekälte: diese Kälte war so eisig, so schneidend, wie sie sie nie zuvor empfunden hatte. Sicherlich, so kalt konnten es selbst die Toten in der Erde nicht haben. Als sie mühsam den Kopf erhob, empfand sie auf ihrem Gesicht ein eisiges Prickeln. Das war der Schnee, der sich nun endlich doch entschlossen hatte, von dem dicken Himmel herniederzufallen; es war ein feiner Schnee, der in dichten Massen herabkam und den ein leichter Wind wirbelnd vor sich hertrieb. Seit drei Tagen wurde er erwartet, jetzt fiel er gerade im rechten Augenblick.

Dieser erste Windstoß hatte Gervaise erweckt, und sie ging schneller. Die Männer auf der Straße liefen und eilten, um nach Hause zu kommen; ihre Schultern waren weiß. Wie sie einen sah, der langsam unter den Bäumen daherkam, so näherte sie sich ihm und sagte noch einmal:

»Mein Herr, hören Sie doch ...«

Der Mann war stehen geblieben. Aber er schien doch nichts gehört zu haben. Er streckte seine Hand aus und murmelte mit schwacher Stimme:

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, bitte ...«

Beide blickten einander an. Oh! Mein Gott! Dahin war es gekommen! Der Vater Bru bettelte und Madame Coupeau war eine Straßendirne! Entsetzt standen sie einander gegenüber. Jetzt konnten sie sich die Hand reichen. Den ganzen Abend war der alte Arbeiter umhergestreift, ohne daß er gewagt hätte, jemanden anzusprechen; die erste Person, die er ansprach, starb Hungers ebenso wie er selber. Heiliger Gott! War das nicht ein Jammer? Fünfzig Jahre gearbeitet haben und betteln müssen! Eine der gesuchtesten Wäscherinnen in der Goldtropfengasse gewesen zu sein und im Rinnstein zu endigen! Noch immer sahen sie einander an. Dann gingen sie wortlos auseinander, jedes seines Weges in dem Schneetreiben, das sie vorwärts peitschte.

Es wurde ein förmlicher Sturm. Auf dieser Höhe, inmitten dieser weiten, offenen Räume, wirbelte der feine Schnee hernieder, als ob er aus allen vier Windrichtungen dahin zusammengeblasen würde. Man konnte nicht zehn Schritte weit sehen, alles war in diesen fliegenden Schneestaub gehüllt. Das Viertel war verschwunden, der Boulevard schien wie ausgestorben, als ob das Schneetreiben mit seinem weißen Leichentuch die Seufzer der letzten Trunkenbolde zugedeckt habe. Mühselig ging Gervaise noch immer weiter, der Schnee blendete sie, und sie verlor den Weg. Sie faßte nach den Bäumen, um sich zurecht zu finden. Je mehr sie vorwärts schritt, desto mehr schwand das Licht der Gasflammen in der bleichen Luft, als ob es erlöschende Fackeln gewesen seien. Aber als sie eine große Straßenkreuzung überschritt, fehlten plötzlich auch diese Lichter; der Wind erfaßte sie und hüllte sie in den weißen Wirbel von Flocken, ohne daß sie etwas unterscheiden konnte, was ihr als Wegweiser hätte dienen können. Unter ihr floh der Boden mit seiner unsicheren Schneedecke. Ein graues Gemäuer umschloß sie. Und wenn sie stillstand und zögernd den Kopf umwendete, so ahnte sie hinter diesem eisigen Schleier die ungeheure Weite der Alleen mit ihren unabsehbaren Laternenreihen, diese ganz öde, schwarze Unendlichkeit des schlafenden Paris.

Sie befand sich gerade an der Stelle, wo der äußere Boulevard mit dem Boulevard Magenta und dem Boulevard Ornano zusammenstößt, und träumte davon, sich dort auf die Erde niederzulegen, als sie das Geräusch von Schritten hörte. Sie lief darauf zu, aber der Schnee kam ihr in die Augen und die Schritte entfernten sich, ohne daß sie hätte unterscheiden können, ob sie sich nach rechts oder links hingewandt hätten. Endlich bemerkte sie die breiten Schultern eines Mannes wie einen dunkeln, tanzenden Fleck, der sich in den Nebel hinein verlor. Diesen da mußte sie haben, ihn würde sie nicht von hinnen lassen! Und sie lief stärker, erreichte ihn und ergriff seine Bluse.

»Mein Herr, mein Herr, hören Sie doch ...«

Der Mann wendete sich um; es war Goujet. Da hatte sie sich an das Löwenmaul gehängt, an ihn gerade jetzt! Aber womit hatte sie denn Gott so schwer gekränkt, daß er sie jetzt, wo es zu Ende ging, so entsetzlich peinigte? Das war der letzte Schlag, der sie treffen konnte, sich so dem Schmied vor die Füße zu werfen, von ihm auf der niedersten Stufe der Boulevarddirnen gesehen zu werden gleich einem bettelnden Gespenst. Und das ging unter einer Gasflamme vor sich! Sie erblickte ihren unförmigen Schatten, der so aussah, als ob er sich auf dem Schnee über sie lustig mache, wie eine echte Verzerrung. Man sollte meinen, es sei der Schatten eines betrunkenen Weibes! Mein Gott! Und dabei nicht eine Krume Brot, nicht einen Tropfen Wein im Körper zu haben, und für betrunken gehalten zu werden! Es war ja ihre Schuld, warum trank sie! Sicher glaubte Goujet, daß sie getrunken hatte und daß sie im Trunk ein tolles Gelage feiere.

Goujet sah indessen auf sie hernieder, während der Schnee sich in dichten Massen in seinem schönen, blonden Barte festsetzte. Als sie dann rückwärts weichend den Kopf senkte, hielt er sie zurück.

»Kommt mit mir!« sagte er.

Damit ging er voran. Sie folgte ihm. Beide schritten ohne Geräusch durch das schweigende Viertel, wobei sie sich dicht an den Mauern hielten. Die arme Madame Goujet war im Monat Oktober an einem heftigen Gelenkrheumatismus gestorben. Goujet bewohnte noch immer das kleine Haus in der Neuen Straße, wo es jetzt düster und einsam war. An diesem Tage hatte er sich verspätet, weil er bei einem verwundeten Kameraden gewacht hatte. Als er die Tür geöffnet und die Lampe angezündet hatte, wandte er sich zu Gervaise, die demütig auf der Schwelle stehen geblieben war. Er sagte sehr leise, als ob seine Mutter ihn noch habe hören können:

»Tretet näher!«

Das erste Zimmer, das der Madame Goujet, war liebevoll in demselben Zustande erhalten, wie sie es verlassen hatte. Nahe beim Fenster war auf einem Stuhl, zur Seite des Sessels, der Stickrahmen aufgestellt, der auf die alte Spitzenklöpplerin zu warten schien. Das Bett war gemacht und sie hätte sich dort niederlegen können, wenn sie den Kirchhof verlassen hätte, um einmal einen Abend mit ihrem Kinde zu verbringen. Das Zimmer bewahrte eine Art von Sammlung, und ein Hauch von Ehrenhaftigkeit und Güte schien es zu durchwehen.

»Tretet näher!« sagte der Schmied noch einmal.

Nun trat sie furchtsam mit der Miene einer Dirne, die zufällig an einen anständigen Ort gekommen ist, näher. Er war ganz bleich und zitterte, weil er so eine Frau zu seiner toten Mutter brachte. Beide durchschritten das Gemach mit leisen Schritten, als ob sie die Schande hätten vermeiden wollen, daß man sie höre. Als der Schmied dann Gervaise in sein Zimmer geschoben hatte, schloß er die Tür. Dort war er bei sich. Das war das enge Kabinett, das sie kannte, das mit seiner schmalen, eisernen Bettstelle und den weißen Musselinvorhängen wie das Zimmer einer Pensionärin aussah. Nur an den Wänden hatten sich die ausgeschnittenen Bilder noch vermehrt und waren bis zur Decke hinaufgestiegen. Gervaise wagte in dieser reinen Umgebung nicht einen Schritt vorwärts zu tun, sie zog sich möglichst weit von der Helligkeit der Lampe zurück. Da überkam den Schmied eine Raserei, er wollte sie ergreifen und zwischen seinen Armen zermalmen. Aber es ging vorüber und er murmelte:

»Oh! Mein Gott! ... Oh! Mein Gott! ...«

Der Ofen, dessen Feuer mit Koksstaub bedeckt war, brannte noch und ein Überrest von Ragout, das der Schmied warm gestellt hatte, weil er zeitiger heimzukehren gedachte, dampfte auf der Platte. Gervaise, welche die große Wärme aus ihrer Erstarrung aufweckte, hätte sich auf alle Viere gelegt, um von dem Ofen essen zu können. Das ging über ihre Kräfte, in ihrem Magen fühlte sie ein schneidendes Reißen, und mit einem Seufzer beugte sie sich nieder. Da verstand sie Goujet. Er setzte das Ragout auf den Tisch, schnitt ein Stück Brot ab und goß zu trinken ein.

»Danke! Danke!« sagte sie. »Oh! Wie gut seid Ihr! Danke!«

Sie stammelte, sie konnte die Worte nicht mehr aussprechen. Als sie die Gabel umfaßte, zitterte sie so stark, daß sie sie fallen ließ. Der Hunger, der sie peinigte, schüttelte sie, daß sie wie eine Greisin mit dem Kopfe wackelte. Sie mußte mit den Fingern zugreifen; bei der ersten Kartoffel, die sie sich in den Mund schob, brach sie schluchzend in Tränen aus, dicke Tropfen rollten an ihren Backen hernieder und netzten ihr Brot. Sie aß immerfort, heißhungrig schlang sie das Brot herunter, das ihre Tränen geweicht hatten; dabei atmete sie sehr stark, und beim Schlucken mußte sie ihr Kinn krampfhaft bewegen. Goujet nötigte sie zum Trinken, damit sie nicht erstickte, und das Glas klang dabei zitternd zwischen ihren Zähnen.

»Wollt Ihr noch Brot?« fragte er halblaut.

Sie weinte. Sie sagte »Nein«, sie sagte »Ja«, sie wußte es nicht. Oh! Allmächtiger Gott, wie ist es gut, und doch auch traurig, zu essen, wenn man verreckt!

Dabei stand er vor ihr und betrachtete sie. Jetzt sah er sie ordentlich bei dem hellen Licht, das unter der Lampenglocke auf sie niederfiel. Wie war sie gealtert und heruntergekommen! Die Hitze taute den Schnee in ihren Haaren und auf ihren Kleidern, so daß sie triefte. Ihr armer, wackelnder Kopf war mit ganz grauen Haaren bedeckt, die der Wind entfesselt hatte. Ihr Hals steckte jetzt zwischen den Schultern, sie war ganz untersetzt und so häßlich und dick, daß man hätte weinen mögen. Und er rief sich ihre Reize ins Gedächtnis zurück, und als sie noch ganz rosig war, mit ihren Eisen klapperte und das kleine Kinderfältchen hatte, das ihren Hals besser schmückte als das kostbarste Halsband. Zu jener Zeit war er hingegangen und hatte sie stundenlang ansehen, können und war zufrieden, wenn er sie nur sah. Später war sie zur Schmiede gekommen; was hatte er da für herrliche Freuden gekostet, und wenn er auf sein Eisen schlug und sie dem Tanze seines Hammers mit den Augen folgte! Wie oft hatte er nicht in sein Kopfkissen gebissen in der Nacht und gewünscht, sie so in seinem Zimmer zu haben wie heute. Oh! Er hätte sie zerquetscht, wenn er sie an sich gedrückt hätte, so heftiges Verlangen trug er nach ihr. Und heute gehörte sie ihm, er konnte sie nehmen. Sie aß am letzten Stückchen Brot und wischte damit ihre Tränen aus der Schüssel, die noch immer in ihr Essen fielen.

Dann stand Gervaise auf. Sie hatte aufgehört zu essen. Einen Augenblick blieb sie verlegen stehen, weil sie nicht wußte, was er von ihr wollte. Als sie in seinen Augen eine Flamme aufleuchten zu sehen vermeinte, faßte sie mit der Hand nach ihrer Taille und knöpfte den ersten Knopf auf. Aber Goujet war vor ihr auf die Knie gesunken, ergriff ihre Hände und sagte sanft:

»Ich liebe Euch, Madame Gervaise, oh! Ich liebe Euch noch trotz allem, was geschehen ist, das schwöre ich Euch!«

»Oh! Sprecht nicht so, Herr Goujet!« rief sie, denn es machte sie beinahe närrisch, daß sie ihn so zu ihren Füßen sah. »Nein, sagt es nicht, es ist zu schmerzlich für mich!«

Und als er es wiederholte, daß er in diesem Leben nicht zum zweitenmal lieben könne, wurde sie noch verzweifelter.

»Nein, nein, ich will es nicht, ich habe zuviel Schande auf mich gehäuft ... Um der Liebe Gottes willen! Steht jetzt auf! An mir ist es, vor Euch auf dem Boden zu liegen!«

Nun stand er zitternd auf und sagte mit stammelnder Stimme:

»Wollt Ihr mir erlauben, Euch zu küssen?«

Sie war so bestürzt und überrascht, daß sie nicht ein Wort der Erwiderung fand. Sie nickte mit dem Kopfe Gewährung. Mein Gott! Sie war sein, er konnte mit ihr tun wie ihm gut dünkte. Aber er rundete nur seinen Mund zu einem Kuß.

»Das ist genug zwischen uns beiden, Madame Gervaise!« murmelte er. »Das ist all unsere Freundschaft, nicht wahr?«

Er küßte sie auf die Stirn, auf eine ihrer ergrauten Haarlocken. Er hatte seit dem Tode seiner Mutter niemanden geküßt. Nur Gervaise, seine gute Freundin, blieb für ihn im Leben übrig. Als er sie nun mit soviel Achtung geküßt hatte, wandte er sich von ihr und warf sich quer über das Bett, weil das Schluchzen ihm die Kehle zu zersprengen drohte. Gervaise konnte nicht länger bleiben, es war zu traurig, zu abscheulich, sich unter solchen Verhältnissen wiederzufinden, wenn man einander lieb hatte. Sie rief ihm zu:

»Ich liebe Euch, Herr Goujet! Ja, auch ich liebe Euch ... Oh! Es ist ja nicht möglich, ich begreife es wohl ... Lebt wohl! Denn es würde uns beide töten!«

Laufend stürzte sie durch das Zimmer von Madame Goujet und war bald auf der Straße. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte sie in der Goldtropfengasse geschellt. Boche zog die Tür auf. Das Haus war ganz dunkel. Sie trat da ein wie eine Witwe in ihr Trauerjahr. Zu dieser Nachtstunde schien der ungeheure, gähnende, rissige Torweg ein offener Rachen zu sein. Wie war es nur möglich, daß früher der Besitz einer Ecke in dieser verdammten Kaserne zu ihren ehrgeizigen Wünschen gehört hatte! Waren denn damals ihre Ohren verstopft gewesen, daß sie zu jener Zeit diese entsetzliche Musik der Verzweiflung nicht gehört hatte, die hinter diesen Mauern fort und fort ertönte? Seit dem Tage, wo sie hierher ihren Fuß gesetzt, hatte es angefangen, bergab mit ihr zu gehen. Ja, das mußte Unglück bringen, wenn die einen so auf den anderen saßen in diesen großen Arbeiterhäusern; da wurde man angesteckt von der Cholera des Elends. An diesem Abend schien ihr alle Welt dem Verrecken nahe zu sein. Sie hörte, wie zur Rechten die Boches schnarchten und zur Linken Lantier und Virginie leise schnurrten wie Katzen, die nicht schlafen, die aber warm und mollig mit geschlossenen Augen dasitzen. Auf dem Hofe glaubte sie sich inmitten eines Begräbnisplatzes; der Schnee bildete auf dem Boden ein bleiches Viereck; die hohen Wände des Hauses stiegen grau und düster, ohne ein Licht empor, wie die Mauern einer Ruine. Sie hörte nichts, nicht einen Seufzer; die Bevölkerung eines ganzen Dorfes war da begraben, erstarrt vor Kälte und Hunger. Sie mußte den schwarzen Rinnstein überschreiten, aus der Färberei floß ein dampfender Wasserquell, der sich ein schmutziges Bett in dem weißen Schnee gebildet hatte. Die Farbe dieses Wassers stimmte mit ihren Gedanken überein. Da war auch schon Wasser mit schönen Farben geflossen, Himmelblau und zartes Rosa!

Als sie die sechs Stockwerke in die Höhe stieg, konnte sie ein böses Lachen nicht unterdrücken, das Lachen tat ihr weh. Sie dachte an ihr früheres Ideal: ruhig arbeiten, immer Brot essen, seine Kinder gut erziehen, nicht geschlagen werden, ein sauberes Loch für sich haben und in seinem eigenen Bette sterben. Nein, wahrhaftig, es war zu komisch, wie ihr das alles in Erfüllung gegangen war! Sie arbeitete nicht mehr, sie aß nicht mehr, sie schlief auf Schmutz, ihre Tochter betrieb ein Schandgewerbe, ihr Mann traktierte sie mit Schlägen, was blieb ihr da anderes übrig, als ihrem Leben auf dem Pflaster ein Ende zu machen, und das so bald wie möglich? Wenn sie nur den Mut hätte, sich jetzt, wenn sie in ihr Zimmer käme, aus dem Fenster zu stürzen! Sollte man nicht meinen, sie hätte vom Himmel dreißigtausend Franken Rente und Gott weiß was noch für Ehren verlangt? Ja, wahrlich! Wenn man in diesem Leben auch noch so bescheiden ist, es nützt einem doch nichts! Nicht einmal ein Stückchen Brot und ein warmes Nest haben, das ist das große, allgemeine Schicksal. Ihr häßliches Lachen rief noch einmal die Erinnerung an ihre schöne Hoffnung hervor, sich auf das Land zurückzuziehen, wenn sie zwanzig Jahre geplättet habe. Nun wohl, jetzt ging sie ja aufs Land. Sie wollte ihre Ecke grünen Rasens auf dem Friedhof haben.

Als sie in ihren Flur hineinging, war sie wie toll. In ihrem armen Kopfe wirbelte es. Eigentlich kam ihr großer Schmerz daher, daß sie dem Schmied für ewig Lebewohl gesagt hatte. Es war aus zwischen ihnen, sie würden sich niemals wiedersehen. Dazu kam dann noch all ihr anderes Unglück und verdrehte ihr vollends den Kopf. Im Vorbeigehen steckte sie den Kopf bei den Bijards zur Tür herein; sie sah Lalie tot daliegen; wie zufrieden war die, und wie schien es ihr wohl zu tun, daß sie nun so für immer ruhen konnte. Da aus der Türspalte des Vater Bazouge ein Lichtstrahl fiel, trat sie entschlossen bei ihm ein, weil sie plötzlich das dringende Verlangen beseelte, denselben Weg zu gehen wie die Kleine.

Der alte Spaßvogel, der Vater Bazouge, war in dieser Nacht ganz besonders lustig nach Hause gekommen. Er hatte sich so stark angesäuselt, daß er trotz der Kälte auf der Erde schnarchte, und das hinderte ihn ohne Zweifel nicht, recht vergnüglich zu träumen, denn sein Bauch schüttelte sich förmlich vor Lachen im Schlaf. Die Talgkerze war brennen geblieben und beleuchtete seinen Frack, seinen platten, schwarzen Hut, der in der Ecke lag, und seinen Mantel, den er wie ein Stück Zudecke über seine Knie gezogen hatte.

Als Gervaise ihn sah, fing sie so laut zu jammern an, daß er aufwachte.

»Den Teufel auch! Macht doch die Türe zu! Da kommt eine Kälte rein! ... Ach! Ihr seid es! ... Nun, was gibt's denn? Was wollt Ihr denn?«

Da begann Gervaise mit ausgestreckten Armen leidenschaftlich zu bitten, ohne das sie wußte, welche Worte sie hervorstotterte.

»Oh! Führt mich fort, ich habe genug, ich will fortgehen ... Ihr müßt mir nicht mehr böse sein. Ich weiß nicht, mein Gott! Man weiß es ja niemals, bis es soweit ist ... Ja, dann ist man zufrieden, eines Tages dahin zu kommen! ... Nehmt mich fort! Nehmt mich fort! und ich werde noch ›Danke schön!‹ dazu sagen.«

Ganz bleich ließ sie sich auf die Knie nieder, so heftig war das Verlangen, das sie erfüllte. Nie hatte sie sich so vor den Füßen eines Mannes gewälzt. Das versoffene Pausbackengesicht des Vater Bazouge mit seinem gekniffenen Munde und der lederfarbenen Haut, auf der der Staub der Begräbnisse lag, erschien ihr schön und leuchtend wie die Sonne. Der Alte, der noch halb im Schlafe war, glaubte an irgendeinen schlechten Spaß.

»Hört mal!« murmelte er, »Ihr müßt mich nicht zum besten haben!«

»Nehmt mich mit Euch!« wiederholte Gervaise ihre Bitte noch glühender. »Erinnert Ihr Euch noch des Abends, wo ich an die Bretterwand geklopft habe? Nachher habe ich gesagt, es sei nicht wahr, weil ich noch zu dumm war ... Gebt mir jetzt nur Eure Hände, ich habe keine Furcht mehr. Nehmt mich mit fort, daß ich zur Ruhe komme, Ihr könnt nachsehen, ich werde mich nicht rühren ... Oh! Ich habe nur diesen einen Wunsch, oh! Ich würde Euch so lieb haben!«

Bazouge, der immer sehr galant war, dachte, daß er doch eine Dame nicht vor den Kopf stoßen dürfe, die eine so heftige Neigung zu ihm gefaßt habe. Sie war zwar schon etwas in Verfall geraten, aber sie hatte immer noch schöne Reste, wenn sie sich ordentlich aufputzte.

»Ihr seid da ganz auf dem richtigen Wege!« sagte er mit überzeugtem Tone. »Ich habe noch heute drei eingepackt, die mir ein anständiges Trinkgeld gegeben hätten, wenn sie nur die Hand in die Tasche hätten stecken können ... Nur, mein kleines Mütterchen, es geht doch nicht so ohne weiteres!«

»Nehmt mich doch mit! Nehmt mich doch mit!« rief immer Gervaise, »ich will ja so gerne fortgehen! ...«

»Den Teufel auch! Da geht erst noch eine kleine Operation vorher ... Ihr wißt doch, Kuik!«

Er machte bei diesem Laut eine Anstrengung mit der Kehle, als ob er seine Zunge herunterschlucken wollte. Da er den Scherz recht gut fand, lachte er.

Gervaise war langsam aufgestanden. Also auch er konnte nichts für sie tun? Stumpfsinnig ging sie in ihr Zimmer und warf sich auf das Stroh. Jetzt tat es ihr leid, daß sie gegessen hatte. Oh! Nein, so ging es nicht, das Elend tötet nicht schnell genug.


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