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Dreizehntes Kapitel

Rougon hörte acht Tage hindurch ein immer wachsendes Geschrei rings um sich her. Man würde ihm alles verziehen haben: seine Mißbräuche mit der Gewalt, den Heißhunger seiner Freunde, das Erwürgen des Landes; aber daß er die Gendarmen aussandte, damit sie selbst die Bettstätten der Nonnen durchsuchen: das war ein so ungeheuerliches Verbrechen, daß die Damen am Hofe einen Schauer heuchelten, wenn er vorüberkam. Der Bischof Rochart machte in allen Kreisen einen ungeheuren Lärm; man erzählte, er sei bis zur Kaiserin gegangen. Der Skandal schien übrigens durch eine Handvoll geschickter Leute genährt zu werden; es liefen Losungsworte um; dieselben Gerüchte erhoben sich auf allen Seiten gleichzeitig in seltener Übereinstimmung. Inmitten der wütenden Angriffe blieb Rougon anfangs ruhig und heiter. Er zuckte seine mächtigen Schultern und nannte das ganze Vorkommnis »eine Dummheit«. Ja, er scherzte sogar. Auf einer Abendunterhaltung bei dem Justizminister ließ er das Wort fallen: »Ich habe nicht einmal erzählt, daß in einem der Strohsäcke ein Pfaffe gefunden wurde.« Die Bemerkung wurde weiter erzählt, die Entrüstung über diese Gottlosigkeit erreichte den Gipfelpunkt und es folgte ein neuer Wutausbruch. Da geriet auch er allmählich in Zorn; die Geschichte wurde ärgerlich. Die Nonnen waren Diebinnen, da man silberne Schüsseln und Becher bei ihnen gefunden hatte. Er machte Miene, die Angelegenheit weiter zu verfolgen, er setzte sich noch mehr dafür ein und sprach davon, den ganzen Klerus von Faverolles vor die Gerichte zu stellen.

Eines Morgens ließen zu früher Stunde die Charbonnels sich bei ihm melden. Er war sehr erstaunt; er wußte nicht, daß sie in Paris seien. Als er sie erblickte, rief er ihnen zu, daß die Dinge sehr gut stünden. Er habe erst am Tage vorher dem Präfekten Weisungen zugesandt, daß er das Gericht auffordere, sich der Angelegenheit anzunehmen. Doch Herr Charbonnel schien bestürzt; und Frau Charbonnel ihrerseits rief aus:

»Nein, nein, das wollen wir nicht ... Sie sind zu weit gegangen, Herr Rougon. Sie haben uns schlecht verstanden.«

Beide ergingen sich in Lobeserhebungen über die Schwestern von der heiligen Familie. Es seien sehr fromme Frauen; sie – die Charbonnels – hätten vielleicht einen Augenblick Klage gegen sie führen können; aber niemals seien sie so tief gesunken, die Nonnen solch schmählicher Handlungen zu zeihen. Übrigens habe ganz Favorelles ihnen die Augen geöffnet, so sehr achte dort die ganze Gesellschaft die frommen Schwestern.

»Sie würden uns das größte Unrecht zufügen, Herr Rougon,« schloß Frau Charbonnel, »wenn Sie fortfahren, die Religion zu verfolgen. Wir sind gekommen, Sie zu bitten, sich ruhig zu verhalten ... Die Leute in Faverolles können doch nicht wissen ... Sie glaubten, daß wir Sie drängen und würden schließlich mit Steinen nach uns geworfen haben ... Wir haben dem Kloster ein schönes Geschenk gemacht, ein Kruzifix von Elfenbein, das am Fußende des Bettes unseres armen Vetters gehangen hat.«

»Kurz, Sie sind gewarnt«, sagte Herr Charbonnel. »Die Sache geht jetzt Sie allein an; wir haben nichts mehr damit zu tun.«

Rougon ließ sie reden. Sie schienen sehr verdrossen über ihn und schrien ihn schließlich an. Er fühlte, wie ihm die Kälte im Nacken aufstieg. Er betrachtete sie, von einer plötzlichen Mattigkeit ergriffen, als sei ihm abermals etwas von seiner Kraft genommen worden. Er stritt übrigens nicht und versprach ihnen, nicht mehr zu handeln. In der Tat ließ er die Angelegenheit fallen.

Seit einiger Zeit lastete übrigens noch ein anderer Skandal auf ihm, ein Skandal, mit dem sein Name mittelbar in Verbindung stand. Ein schreckliches Drama hatte sich in Goulonges ereignet. Du Poizat, der in seinem Eigensinn seinem Vater auf den Rücken steigen wollte, wie Gilquin sich ausdrückte, war eines Morgens wieder erschienen, um an der Türe des Geizigen zu pochen. Fünf Minuten später hörten die Nachbarn Gewehrschüsse und ein furchtbares Geschrei in dem Hause. Als man eindrang, fand man den Greis mit gespaltetem Schädel am Fuße der Treppe ausgestreckt; im Flur lagen zwei abgeschossene Flinten. Du Poizat erzählte schreckensbleich, daß sein Vater, als er ihn auf die Treppe zukommen sah, wie toll zu schreien angefangen habe: ›Diebe! Diebe‹ und zwei Schüsse aus unmittelbarer Nähe gegen ihn abgefeuert habe. Er zeigte sogar, daß sein Hut von einer Kugel durchlöchert sei. Dann – so erzählte er weiter – sei sein Vater rücklings hingefallen und habe sich an der Kante der untersten Treppenstufe den Schädel gespaltet. Dieser tragische Tod, dieses geheimnisvolle Drama, das sich ohne Zeugen abgespielt, rief im ganzen Kreise die peinlichsten Gerüchte hervor. Die Ärzte stellten wohl einen Schlagfluß fest. Die Feinde des Präfekten behaupteten aber nichtsdestoweniger, daß dieser den Alten gestoßen haben müsse. Die Zahl seiner Feinde nahm immer zu dank der schroffen Verwaltung, durch die er ganz Niort unter einer Schreckensherrschaft niederhielt. Bleich und aufrecht, in stummem Zorne die Zähne zusammenpressend und die mageren Kinderfäuste ballend, ließ Du Poizat diesen Sturm über sich ergehen; mit einem einzigen Blick seiner grauen Augen brachte er das Geschwätz der vor ihren Türen stehenden Leute zum Verstummen, wenn er vorüberkam. Aber es widerfuhr ihm noch ein anderes Unglück; er mußte Gilquin kassieren, der in einer häßlichen Militärbefreiungsgeschichte kompromittiert war. Für hundert Franken hatte Gilquin sich verpflichtet, Bauernsöhne vom Militärdienst zu befreien. Alles, was man tun konnte, war, daß man ihn vor dem Zuchtpolizeigericht rettete und ihn verleugnete. Bisher hatte Du Poizat sich auf Rougon gestützt, dessen Verantwortlichkeit er mit jeder neuen Katastrophe immer mehr belastete. Er mußte die nahe Ungnade des Ministers wittern, denn er kam nach Paris, ohne Rougon davon zu verständigen; auch er selbst fühlte sich in seiner Stellung sehr erschüttert, fühlte die Macht, die er untergraben hatte, wanken und spähte schon nach einem mächtigen Arm, an den er sich klammern könne. Er dachte daran, eine andere Präfektur zu verlangen, um der sicheren Entlassung zu entgehen. Nach dem Tode seines Vaters und den Gaunerstreichen des Gilquin war Niort für ihn unhaltbar geworden.

»Ich bin gestern Herrn Du Poizat im Stadtviertel St.-Honorius, zwei Schritte von hier, begegnet«, sagte eines Tages Clorinde boshaft dem Minister. »Sie sind nicht mehr gut zusammen? Er schien mir sehr aufgebracht gegen Sie.«

Rougon vermied es, ihr zu antworten. Allmählich und nachdem er ihm verschiedene Gunstbezeigungen hatte verweigern müssen, entstand eine große Kälte zwischen ihnen; sie beschränkten sich jetzt auf den bloßen öffentlichen Verkehr. Übrigens hatte eine allgemeine Fahnenflucht stattgefunden, selbst Frau Gorreur verließ ihn. An manchen Abenden hatte er wieder jenen Eindruck der Verlassenheit, unter dem er schon ehemals in der Marbeufstraße gelitten hatte, als die Freunde an ihm zu zweifeln begannen. Nach seinen stark beschäftigten Tagen inmitten der Menge, die seinen Salon belagerte, fand er sich abends allein, verloren, bekümmert. Ihm fehlten seine Vertrauten. Er fühlte ein brennendes Bedürfnis nach der unablässigen Bewunderung des Obersten und des Herrn Bouchard, nach dem heißen, aufregungsvollen Leben, mit dem sein kleiner Hof ihn umgab; ja, er sehnte sich sogar nach dem Stillschweigen des Herrn Béjuin. Da machte er wieder einmal den Versuch, seine Leute zurückzuführen; er ward liebenswürdig, schrieb Briefe, machte Besuche. Allein die Bande waren gelöst; es wollte ihm nicht mehr gelingen, sie alle um sich zu sehen; wenn er auf einer Seite Frieden machte, brach auf der andern Seite ein Zwist aus, und er blieb dennoch vereinsamt, sah immer weniger Freunde um sich. Endlich blieben alle weg. Es war der Todeskampf seiner Macht. Er, der Starke und Kluge war durch die lange Arbeit ihres gemeinsamen Glückes an diese Tröpfe gebunden; jeder nahm auf seinem Rückzuge ein Stück von ihm mit sich. In dieser Verringerung seiner Bedeutung wurden seine Kräfte gleichsam unnütz; seine groben Fäuste hieben ins Leere. An dem Tage, da sein Schatten in der Sonne allein war, da er sich nicht mehr mit den Mißbräuchen seines Kredites mästen konnte, schien es ihm, als sei sein Platz auf Erden kleiner geworden; und er träumte von einer neuen Menschwerdung, von einer Wiedererstehung als Donnergott, ohne Freunde zu seinen Füßen, durch den bloßen Klang seiner Stimme Gesetze diktierend.

Indessen hielt sich Rougon noch nicht für ernstlich erschüttert. Er mißachtete die Bisse, die ihn kaum an den Fersen trafen. Er war entschlossen, mächtig, verhaßt und einsam zu regieren. Überdies setzte er seine ganze Kraft auf den Kaiser. Seine Leichtgläubigkeit wurde seine einzige Schwäche. Jedesmal, wenn er Seine Majestät sah, fand er den Herrscher wohlwollend, sehr gütig, mit einem unbestimmten, undurchdringlichen Lächeln. Der Kaiser erneuerte ihm die Versicherungen seines Vertrauens und wiederholte ihm die oft erteilten Weisungen. Das genügte ihm. Der Herrscher konnte nicht daran denken, ihn zu opfern. Diese Sicherheit bestimmte ihn, einen großen Zug zu wagen. Um seine Feinde zum Schweigen zu bringen und seine Macht fest zu begründen, kam er auf den Gedanken, in sehr würdigen Ausdrücken um seine Entlassung zu bitten. Er sprach von den gegen ihn verbreiteten Anklagen, fügte hinzu, daß er nur den Wünschen des Kaisers gehorcht habe und die Notwendigkeit einer Gutheißung von höchster Stelle empfinde, ehe er sein Werk im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt fortsetze. Er gab sich überdies als Mann der starken Faust, der unbarmherzigen Vergeltung. Der Hof war in Fontainebleau. Das Entlassungsgesuch war abgesandt, und Rougon wartete mit der Kaltblütigkeit eines sieggewohnten Ringkämpfers. Der Schwamm sollte über die letzten Skandale, über das Drama von Coulonges, die Haussuchung bei den Nonnen von der heiligen Familie hinwegfahren. Fiel er hingegen, dann wollte er von seiner ganzen Höhe als gewaltiger Mann fallen.

An dem Tage, an dem das Schicksal des Ministers sich entscheiden sollte, fand in der Orangerie der Tuilerien ein Wohltätigkeitsbazar zum Besten einer unter dem Schutze der Kaiserin stehenden Wiegenanstalt statt. Alle vertrauten Gäste des Palastes, die ganze hohe amtliche Welt sollte daselbst bestimmt erscheinen, um ihre Huldigung darzubringen. Rougon beschloß, daselbst sein ruhiges Antlitz zu zeigen. Kühn wollte er den Leuten ins Gesicht sehen, die ihn mit schiefen Blicken bespähen würden; mit seiner ruhigen Verachtung wollte er durch das Geflüster der Menge schreiten. Gegen drei Uhr, ehe er aufbrach, gab er dem Vorstand des Personals einen letzten Auftrag, als ein Diener ihm meldete, daß ein Herr und eine Dame da seien, die sehr darauf drängten, ihn in seiner privaten Wohnung zu sprechen. Die Karte trug die Namen des Marquis und der Marquise d'Escorailles.

Die beiden Alten, die der Diener, durch ihre fast ärmliche Kleidung getäuscht, im Speisesaale gelassen hatte, erhoben sich förmlich. Rougon beeilte sich, sie in den Salon zu führen, gerührt von ihrem Erscheinen und zugleich von einer gewissen Unruhe erfüllt. Er äußerte sich sehr erstaunt über ihre plötzliche Reise nach Paris; er suchte sich sehr liebenswürdig zu zeigen; allein die Alten blieben steif, würdevoll, ernst.

»Mein Herr,« begann endlich der Marquis, »Sie werden uns den Schritt verzeihen, zu dem wir uns genötigt sehen. Es handelt sich um unsern Sohn Julius. Wir wünschen, daß er den Verwaltungsdienst verlasse; wir bitten Sie, ihn nicht länger an Ihrer Seite zu behalten.«

Als der Minister sie höchst überrascht anblickte, fuhr er fort:

Die jungen Leute sind leichtfertig. Wir haben Julius zweimal geschrieben und ihn unter Anführung unserer Gründe gebeten, daß er sich zurückziehe. Als er noch immer nicht gehorchen wollte, haben wir uns entschlossen zu kommen. Seit dreißig Jahren, mein Herr, machen wir jetzt zum zweiten Male die Reise nach Paris.«

Da widersprach er ihnen. Julius habe die schönste Zukunft vor sich, und sie würden seine Laufbahn zerstören. Während er sprach, machte die Marquise Zeichen der Ungeduld. Jetzt erklärte sie sich ihrerseits lebhafter.

»Mein Gott, Herr Rougon, es ist nicht unsere Sache, ein Urteil über Sie zu fällen. Aber es gibt in unserer Familie, gewisse Überlieferungen ... Bei einer abscheulichen Verfolgung gegen die Kirche darf Julius nicht mittun. In Plassans ist man jetzt schon erstaunt. Wir würden uns mit dem ganzen Adel der Gegend verfeinden.«

Er hatte begriffen und wollte seinerseits reden; doch mit einer gebieterischen Bewegung hieß sie ihn schweigen.

»Lassen Sie mich vollenden ... Unser Sohn hat sich gegen unsern Willen der gegenwärtigen Regierung angeschlossen. Sie wissen, wie groß unser Schmerz war, als wir ihn im Dienste einer unrechtmäßigen Herrschaft sehen mußten. Ich allein habe seinen Vater gehindert, ihn zu verfluchen. Seit jener Zeit ist unser Haus in Trauer, und wenn wir Freunde empfangen, wird der Name unseres Sohnes niemals ausgesprochen. Wir hatten geschworen, uns nicht mehr um ihn zu kümmern; allein es gibt gewisse Grenzen; es wird unerträglich, daß ein d'Escorailles sich unter die Feinde unserer heiligen Religion mengt ... Sie verstehen mich wohl, mein Herr?«

Rougon verneigte sich. Es fiel ihm nicht ein, die frommen Lügen der alten Dame zu belächeln. Er fand den Marquis und die Marquise so, wie er sie ehemals gekannt hatte zur Zeit, als er auf dem Pflaster von Plassans darbte: hochmütig, stolz, unverschämt. Hätten andere so mit ihm geredet, er würde sie gewiß zur Türe hinausgeworfen haben. Aber er war verlegen, gekränkt, gedemütigt. Seine in Armut verflossene Jugend sah er wieder auftauchen; er glaubte einen Augenblick, noch seine schlechten, schief getretenen Stiefel von ehemals an den Füßen zu haben. Er versprach, Julius zu einer Entscheidung zu bringen. Dann begnügte er sich hinzuzufügen, indem er auf die erwartete Antwort des Kaisers anspielte:

»Übrigens, Madame, wird Ihnen Ihr Sohn vielleicht schon heute abend wiedergegeben sein.«

Als er wieder allein war, fühlte sich Rougon von Furcht ergriffen. Diese Alten hatten seine Ruhe erschüttert. Er zögerte jetzt, bei dem Wohltätigkeitsbazar zu erscheinen, wo alle Augen seine Verlegenheit ihm von der Stirne ablesen würden. Aber er schämte sich dieser kindischen Furcht. Er brach auf, schritt durch sein Kabinett und fragte Merle, ob nichts für ihn gekommen sei.

»Nein, Exzellenz«, antwortete in gewichtigem Tone der Türsteher, der seit dem Morgen auf etwas zu lauern schien.

Die Orangerie in den Tuilerien, wo der Wohltätigkeitsbazar stattfinden sollte, war für diese Gelegenheit sehr prächtig geschmückt worden. Eine Tapete von rotem Samt mit Goldfransen verhüllte die Mauern, verwandelte die weite, kahle Galerie in einen hohen Prunksaal. An einem Ende war ein riesiger Vorhang – gleichfalls von rotem Samt – angebracht, der die Galerie quer durchzog und so einen Teil des Raumes zu einem Zimmer absonderte. Dieser Vorhang, von Spangen mit riesigen Goldtroddeln festgehalten, war weit geöffnet und gestattete so den Verkehr zwischen dem großen Saale, wo die Verkaufsstände aneinandergereiht waren, mit dem kleineren Räume, wo ein Büfett aufgeschlagen war. Der Fußboden war mit feinem Sande bestreut. In jedem Winkel standen grüne Pflanzen in großen Majolikakübeln. In der Mitte des Vierecks, das die Verkaufsstände bildeten, stand ein Rundpuff, einer niedrigen Sitzbank von rotem Samt mit stark gebogener Rückenlehne gleichend; aus der Mitte des Puffs stieg ein riesiger Strahl von Blumen auf, ein Rund von Stengeln, unter denen Rosen, Nelken, Eisenkraut gleich einem Regen leuchtender Tropfen niederfielen. Vor den weit offenen Glastüren standen auf der nach dem Flusse gelegenen Terrasse Türsteher in schwarzem Frack und prüften mit raschem Blick die Eintrittskarten der ankommenden Gäste.

Die Leiterinnen rechneten vor vier Uhr nicht auf viele Gäste. Im großen Saale hinter ihren Verkaufspulten stehend, harrten sie der Käufer. Auf den langen, mit rotem Tuche bedeckten Tischen lagen die Waren ausgebreitet; es waren mehrere Pulte mit Pariser und chinesischen Artikeln da, zwei Läden mit Kinderspielzeug, ein Blumenstand mit Rosen, endlich unter einem Zelte ein Glücksrad ganz wie auf den Jahrmärkten. Die Verkäuferinnen in dekolletierten Konzerttoiletten benahmen sich anmutsvoll wie richtige Geschäftsdamen, lächelten nach Art einer Modistin, die einen alten Hut loswerden will, mit einem einschmeichelnden Tonfall der Stimme, schwatzten, priesen ihre Artikel an, ohne etwas davon zu verstehen. Bei diesem Spiel von Ladenmamsellen wurden sie allmählich kühner, gekitzelt von den die ihren streifenden Händen der erstbesten Käufer. Eine Prinzessin hielt einen Spielzeugladen; gegenüber verkaufte eine Marquise Geldtäschchen zu neunundzwanzig Sous, die sie nicht unter zwanzig Franken abgab; sie waren Nebenbuhlerinnen, setzten ihre Schönheit für die größere Einnahme ein, suchten die Kunden zu ködern, riefen die Männer herbei, forderten unverschämte Preise; nachdem sie wütend gefeilscht hatten wie betrügerische Metzgerinnen, gaben sie ein Stück ihrer selbst obendrein, ihre Fingerspitzen, den Anblick ihres weit offenen Leibchens, um die großen Käufe zu entscheiden. Die Wohltätigkeit war der Vorwand. Allmählich füllte sich der Saal. Einzelne Herren blieben ruhig stehen, prüften die Waren, als ob diese mit zur Schaustellung gehörten. Vor gewissen Verkaufspulten drängten sich sehr elegante junge Leute, trieben ihre Spaße, gingen bis zu sehr gewagten Anspielungen auf ihre Einkäufe; während die Damen in ihrer unerschöpflichen Liebenswürdigkeit von dem einen zum andern gingen und überall mit derselben Miene des Entzückens den Inhalt ihres Ladens anboten. Vier Stunden hindurch sich in dieser Menge zu drängen, galt für einen Genuß. Ein Geräusch wie auf einer öffentlichen Versteigerung erhob sich, unterbrochen von einem hellen Gelächter inmitten des dumpfen Getrippels der Beine auf dem Sande. Die roten Vorhänge verschlangen das grelle Licht der hohen Fenster und brachten so eine rote, schwebende Helle hervor, die einen rosigen Schein über die nackten Busen breitete. Sechs andere Damen, eine Baronin, zwei Bankierstöchter, drei Frauen von hohen Beamten wandelten mit leichten Körbchen, die an ihrem Halse hingen, zwischen den Verkaufspulten umher und eilten jedem Neuankommenden entgegen, Zigarren und Feuer zum Kaufe anbietend.

Frau von Combelot hatte besonders vielen Erfolg. Sie war Blumenverkäuferin und saß sehr hoch in dem mit Rosen gefüllten Stande, einem geschnitzten und vergoldeten Häuschen, das einem großen Vogelbauer glich. Ganz in Rosa gekleidet, in ein Rosa, das dem ihrer Haut glich und über dem Ausschnitt des Leibchens eine Fortsetzung ihrer Blöße zu sein schien, bloß zwischen den beiden Brüsten das sämtlichen Verkäuferinnen gemeinsame Veilchensträußchen tragend, war sie auf den Einfall gekommen, ihre Sträußchen vor dem Publikum selbst zu binden wie eine wirkliche Blumenhändlerin: eine Rose, eine Knospe, drei Blätter, die sie zwischen ihren Fingern zusammenrollte, das Ende des Bindfadens zwischen den Zähnen haltend. Sie verkaufte die Sträußchen zu den Preisen von einem Louis bis zu zehn Louis, je nach dem Gesichte der Herren. Man riß sich um ihre Sträußchen; sie konnte die Bestellungen nicht befriedigen; in ihrer großen Geschäftigkeit stach sie sich zuweilen in die Finger, die sie dann lebhaft zum Munde führte, um das Blut auszusaugen.

In dem Zelte gegenüber hielt Frau Bouchard das Glücksrad. Sie trug eine köstliche blaue Toilette von bäuerlichem Schnitt, die Taille hoch, das Leibchen in Fichuform, fast eine Verkleidung, in der sie einer Lebkuchenverkäuferin ähnlich sah. Dazu affektierte sie ein reizendes Stammeln, eine unschuldige Miene, die überaus eigenartig war. Die Gewinste am Glücksrade waren in Klassen eingeteilt; es waren abscheuliche Bibelots im Werte von fünf bis zehn Sous, Sachen aus Saffian, Glas, Porzellan. Die Feder knirschte über die Messingfäden hin; die Drehscheibe entführte die Gewinste mit einem unaufhörlichen Geräusche zerbrochenen Geschirres. Wenn es an Spielern fehlte, sagte Frau Bouchard mit der sanften Stimme einer Unschuld, die eben erst aus ihrem Dorfe angelangt ist:

»Zwanzig Sous ein Zug, meine Herren! ... Versuchen Sie Ihr Glück! ...«

Im Büfettraum, dessen Fußboden ebenfalls mit Sand bestreut und dessen Winkel mit grünen Pflanzen geschmückt waren, hatte man runde Tischchen und Sessel von gebogenem Holze aufgestellt. Um die Sache pikanter zu machen, hatte man ein regelrechtes Kaffeehaus nachgeahmt. Im Hintergrund war ein riesiger Schanktisch aufgestellt; daselbst fächelten sich drei Damen in Erwartung der Herren, die sich da eine Erfrischung holen würden. Vor ihnen standen Likörflaschen, Teller mit Kuchen und Brötchen, Bonbons, Zigarren und Zigaretten. Alles glich dem fragwürdigen Markte eines öffentlichen Balles. Die Dame in der Mitte, eine brünette Gräfin mit lebhaften Manieren, erhob sich von Zeit zu Zeit, neigte sich vor, um ein Gläschen einzuschänken; sie kannte sich nicht mehr aus in dem Wirrsal von Flaschen und manövrierte mit ihren nackten Armen in einer Weise, daß sie Gefahr lief, alles zu zerbrechen. Im Büfettraum herrschte Clorinde. Sie bediente das Publikum an den Tischen. Es war Juno als Schankmädchen. Sie trug ein Kleid von gelbem Samt mit quergelegten Streifen von schwarzem Samt geputzt; es war von einer außerordentlichen, blendenden Wirkung; ein Stern, dessen Schleppe dem Schweif eines Kometen glich. Sehr tief ausgeschnitten, die Büste frei, so bewegte sie sich in königlicher Schönheit zwischen den Sesseln und reichte mit der Ruhe einer Göttin die Getränke auf Platten von Chinasilber herum. Sie streifte mit ihren nackten Armen die Schultern der Herren, neigte sich mit ihrem offenen Leibchen herab, um die Bestellungen entgegenzunehmen und antwortete allen, lächelnd, wohlgelaunt, ohne sich zu beeilen. Wenn die Erfrischungen verzehrt waren, empfing sie in ihrer schönen Hand die Bezahlung in Silber- und Kupfermünzen, die sie mit einer gewohnheitsmäßigen Bewegung in eine Gürteltasche warf.

Herr Kahn und Herr Béjuin hatten soeben Platz genommen. Der erstere machte sich den Spaß, auf den Tisch zu klopfen und zu rufen:

»Madame, zwei Bock!«

Sie kam herzu, brachte die zwei Bock und blieb stehen, um einen Augenblick auszuruhen, weil eben wenig Gäste da waren. Zerstreut trocknete sie mit ihrem Spitzentaschentuche ihre Finger vom Biere. Herr Kahn bemerkte die außerordentliche Helle ihrer Augen, das Siegesstrahlen, das ihr Antlitz verklärte. Er betrachtete sie mit lebhaft zwinkernden Augen und fragte:

»Wann sind Sie aus Fontainebleau zurückgekehrt?«

»Heute morgen«, erwiderte sie.

»Haben Sie den Kaiser gesehen? Was gibt es Neues?«

Sie schaute ihn lächelnd an und spitzte die Lippen in einer Weise, aus der er nicht klug werden konnte. Da bemerkte er ein Juwel, das er früher nie bei ihr gesehen hatte. An dem entblößten Halse, auf den entblößten Schultern trug sie ein wirkliches Hundehalsband von schwarzem Samt, mit Schnalle, Ring und Schelle, einer Schelle von Gold, in der eine feine Perle klimperte. Auf dem Halsbande waren in Diamantschrift zwei Namen, in seltsam gewundenen und verschlungenen Buchstaben zu lesen. Von dem Ringe fiel eine dicke Goldkette herab, die zwischen ihren Brüsten baumelte und deren Ende an einer Goldplatte befestigt war, die sie am rechten Arme trug und auf der die Worte zu lesen waren: »Ich gehöre meinem Herrn.«

»Ist das ein Geschenk?« flüsterte Herr Kahn und zeigte auf das Juwel.

Sie nickte bejahend, die Lippen noch immer zu einem feinen und sinnlichen Mäulchen gespitzt. Sie selbst habe diese Leibeigenschaft gewünscht, sagte sie. Sie trug dieselbe mit einer ruhigen Schamlosigkeit zur Schau, die sie über die Alltagssünden erhob; sie dünkte sich geehrt durch die Wahl des Herrschers und war beneidet von allen. Als sie sich mit diesem Halsbande zeigte, auf dem durchdringende Augen einen hohen Namen mit dem ihrigen verschlungen zu lesen vorgaben, begriffen alle Frauen, tauschten Blicke aus, als wollten sie sagen: »Das ist eine vollzogene Tatsache!« Seit einem Monat plauderte die vornehme Welt von diesem Abenteuer und erwartete die Entwicklung. Es war in der Tat so gekommen; sie selbst rief es aus, sie selbst trug es auf der Schulter geschrieben. Wenn man einer Geschichte Glauben schenken durfte, die von Ohr zu Ohr ging, so war ihr erstes Bett mit fünfzehn Jahren das Strohlager eines Kutschers in einem Stalle. Später habe sie andere Lager bestiegen, immer höher, die Lager von Bankiers, Beamten, Ministern, bei jeder ihrer Nächte im Glücke steigend. Dann von Schlafzimmer zu Schlafzimmer, von Stockwerk zu Stockwerk gelangend, hatte sie, um einen letzten Willen, einen letzten Stolz zu befriedigen, ihr schönes, kühles Haupt auf ein kaiserliches Pfühl gelegt.

»Madame, ein Glas Bock, wenn ich bitten darf«, bat ein dicker, dekorierter Herr, ein General, der sie lächelnd betrachtete.

Als sie den Bock gebracht hatte, riefen sie zwei Abgeordnete.

»Zwei Gläser Chartreuse, wenn's beliebt!«

Es kamen viele Leute, die Bestellungen kreuzten sich; man verlangte Grogs, Kümmel, Limonade, Kuchen, Zigarren. Die Männer sahen sie an, flüsterten miteinander, erheitert durch die umlaufende spaßige Geschichte. Wenn diese Kellnerin, die am Morgen desselben Tages aus den Armen eines Kaisers hervorgegangen, mit ausgestreckter Hand ihr Geld in Empfang nahm, schienen sie zu schnuppern, an ihrem Körper eine Spur dieser Fürstenliebe zu suchen. Ohne die geringste Verlegenheit wandte sie langsam den Kopf, um ihr Hundehalsband zu zeigen, dessen dicke Goldkette ein leises Gerassel verursachte. Es mußte eine besondere Würze darin liegen, die Dienerin aller zu sein, wenn man eine Nacht Königin gewesen, zum Spaße zwischen den mit Zitronenscheiben und Kuchenresten bedeckten Tischen eines Kaffeehauses herumzutrippeln mit statuenhaft schönen Füßen, die ein erhabener Schnurrbart mit leidenschaftlichen Küssen berührt hat.

»Das ist sehr ergötzlich«, sagte sie und stellte sich wieder vor Herrn Kahn hin. »Meiner Treu, sie halten mich für eine Dirne. Ich glaube gar, einer hat mich in den Arm gekniffen. Aber ich sagte nichts. Wozu auch? Es geschieht doch für die Armen.«

Herr Kahn bat sie mit einem Augenblinzeln, sich herniederzuneigen und fragte sehr leise:

»Was ist's mit Rougon?«

»Still! Sie werden es sogleich erfahren«, erwiderte sie., ebenfalls die Stimme dämpfend. »Ich habe ihm in meinem Namen eine Einladungskarte gesendet. Ich erwarte ihn.«

Als Herr Kahn den Kopf schüttelte, fügte sie lebhaft hinzu:

»Ja, ja, ich kenne ihn ... Übrigens weiß er nichts.«

Herr Kahn und Herr Béjuin spähten jetzt nach der Ankunft Rougons. Durch die breite Öffnung der Türvorhänge konnten sie den ganzen Saal übersehen. Von Minute zu Minute wuchs die Menge daselbst. Auf dem Rundpuff saßen Herren zurückgelehnt mit gekreuzten Armen und schlossen die Augen, als ob sie schlummerten, während ein unaufhörliches Gehen und Kommen von Besuchern sie umkreiste. Die Hitze stieg außerordentlich. Der Lärm wuchs in dem roten Dunste, der über den schwarzen Hüten schwebte. Von Zeit zu Zeit wurde inmitten des dumpfen Gemurmels das Kreischen des Glücksrades vernehmbar.

Jetzt kam Frau Correur an und machte mit langsamen Schritten die Runde um die Verkaufsstände. Sie war sehr dick, in ein seidenes Kleid mit weißen und malvenfarbenen Streifen gekleidet, unter der das Fett ihrer Schultern und ihrer Arme rötlich schimmernde Wülste bildete. Mit vorsichtiger Miene und bedächtigen Blicken wandelte sie einher wie eine Kunde, die einen vorteilhaften Kauf zu machen sucht. Sie pflegte zu sagen, daß man auf diesen Wohltätigkeitsbazaren vortreffliche Gelegenheitskäufe machen könne; die armen Leiterinnen verstünden ja nichts und wüßten nicht immer den Wert ihrer Waren. Sie kaufte übrigens niemals von Verkäuferinnen ihrer Bekanntschaft, weil diese ihre Bekannten nur »einsalzten«. Als sie die Runde durch den Saal gemacht hatte, wobei sie die Waren hin und her wandte, besah, beroch, wieder hinlegte, kehrte sie zu einem Verkaufsstande zurück, wo Lederwaren ausgelegt waren. Hier verbrachte sie gute zehn Minuten damit, mit verlegener Miene die ausgelegten Waren zu mustern. Endlich ergriff sie mit nachlässiger Gebärde eine Brieftasche von russischem Leder, auf die sie seit einer Viertelstunde die Augen geworfen hatte.

»Was ist der Preis?« fragte sie.

Die Verkäuferin, eine große, blonde junge Frau, die eben mit zwei Herren plauderte, wandte kaum den Kopf und sagte:

»Fünfzehn Franken.«

Die Brieftasche war mindestens zwanzig Franken wert. Die Damen, die untereinander darin wetteiferten, den Männern ungeheuerliche Summen abzunehmen, verkauften in einer Art freimaurerischer Kameradschaft den Frauen zum Eigenkostenpreise. Doch Frau Correur legte das Portefeuille mit erschreckter Miene auf das Pult hin und murmelte:

»Das ist zu teuer ... Ich will jemandem ein Geschenk machen und möchte zehn Franken daran wenden, nicht mehr ... Haben Sie nichts Hübsches für zehn Franken?«

Sie durchstöberte von neuem die Auslage. Nichts gefiel ihr. Mein Gott, wenn die Brieftasche nicht so teuer wäre! Sie ergriff sie von neuem, steckte ihre Nase in die Taschen. Die Verkäuferin verlor die Geduld und ließ sie ihr für vierzehn, dann für zwölf Franken. Nein, nein, auch das sei noch zu teuer, sagte Frau Correur. Sie erhielt sie endlich nach langem, hartnäckigem Feilschen für elf Franken. Die große junge Frau sagte:

»Ich verkaufe lieber an Herren ... Alle Frauen feilschen... Wenn die Herren nicht wären! ...

Frau Correur entfernte sich mit ihrem Kaufe und hatte die Freude, in einem Abteil der Brieftasche einen Zettel zu finden, der den Preis mit fünfundzwanzig Franken festsetzte. Sie ging noch eine Weile herum, dann ließ sie sich hinter dem Glücksrade an der Seite der Frau Bouchard nieder. Sie nannte sie »meine Liebste« und legte ihr zwei Löckchen auf der Stirne zurecht, die sich verschoben hatten.

»Schau, der Oberst ist auch da«, sagte Herr Kahn, der noch immer im Büfett an einem Tische saß und die Türen im Auge behielt.

Der Oberst kam, weil er nicht anders konnte. Er hoffte mit einem Louis loszukommen, und dabei blutete ihm schon das Herz. Schon bei der Türe umzingelten und bestürmten ihn mehrere Damen, indem sie wiederholt riefen:

»Mein Herr, kaufen Sie mir eine Zigarre ab! ... Mein Herr, kaufen Sie mir eine Schachtel Zündhölzchen ab! ...«

Er lächelte und entledigte sich ihrer in höflicher Weise. Dann orientierte er sich, und weil er seine Schuld so rasch wie möglich abtragen wollte, blieb er vor einem Verkaufsstande stehen, den eine bei Hofe sehr wohlgelittene Dame hielt, und fragte nach dem Preis einer Schachtel sehr mittelmäßiger Zigarren. »Fünfundsiebzig Franken!« lautete die Antwort. Er vermochte eine Gebärde des Schreckens nicht zu unterdrücken, warf die Schachtel hin und drückte sich, während die Dame ganz rot und beleidigt den Kopf abwandte, als habe er sich gegen ihre Person unschicklich betragen. Um allen unangenehmen Bemerkungen zu entgehen, näherte er sich dem Stande, wo Frau von Combelot noch immer ihre kleinen Sträußchen wand. Diese Sträußchen konnten doch nicht teuer sein, dachte er. In seiner Vorsicht wollte er kein Sträußchen, weil er vermutete, daß die Verkäuferin ihre Arbeit hoch anschlagen werde. Er wählte unter den Rosen eine kaum erschlossene kleine Knospe und fragte galant, sein Brieftäschchen ziehend:

»Was kostet die Blume, Madame?«

»Hundert Franken, mein Herr«, erwiderte die Dame, die sein Tun von der Seite beobachtet hatte.

Er stammelte etwas, seine Hände zitterten. Aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. Es waren Leute da, und man beobachtete ihn. Er zahlte und flüchtete in den Büfettraum. Er setzte sich an den Tisch des Herrn Kahn und brummte:

»Das ist ja ein Hinterhalt!«

»Haben Sie nicht Rougon im Saale gesehen?« fragte Herr Kahn.

Der Oberst antwortete nicht. Er warf aus der Ferne wütende Blicke auf die Verkäuferinnen. Als er Herrn d'Escorailles und Herrn La Rouquette vor einem Verkaufsstande in sehr heiterer Stimmung sah, murmelte er zwischen den Zähnen:

»Mein Gott, die jungen Leute unterhalten sich ... Die bringen ihr Geld immer herein.«

Herr d'Escorailles und Herr La Rouquette unterhielten sich in der Tat sehr gut. Die Damen rissen sich um sie. Seit ihrem Eintritt streckten sich alle Arme nach ihnen aus; rechts und links wurden ihre Namen gerufen.

»Herr d'Escorailles! vergessen Sie nicht, was Sie mir versprochen haben. Herr La Rouquette, Sie werden mir ein Pferdchen abkaufen. Nicht? Dann eine Puppe. Ja, eine Puppe müssen Sie haben!«

Sie reichten einander den Arm, um sich zu schützen, wie sie lachend sagten. Strahlend, entzückt schritten sie weiter unter dem Ansturm all dieser Frauenröcke, in der lauen Liebkosung dieser schönen Stimmen. Von Zeit zu Zeit verschwanden sie zwischen den entblößten Brüsten, gegen die sie sich mit halblauten Schreckensrufen zu verteidigen schienen. Vor jedem Verkaufsstande ließen sie eine solche liebenswürdige Vergewaltigung über sich ergehen. Dann spielten sie die Geizigen, heuchelten einen komisch wirkenden Schrecken. Eine Puppe im Werte von einem Sou für einen Louis zu verkaufen! ... Das ging über ihre Mittel. Drei Bleistifte für zwei Louis! Das hieß: ihnen das Brot vom Munde nehmen. Die Damen ließen ein girrendes Lachen vernehmen, das dem Gesang einer Flöte glich. Sie wurden noch gieriger, gleichsam berauscht durch diesen Goldregen, erhöhten die Preise um das Drei- und Vierfache, von einer wahren Leidenschaft des Stehlens fortgerissen. Sie ließen die Herren von Hand zu Hand wandern, zwinkerten dabei mit den Augen. Man hörte einzelne Damen flüstern: »Diese will ich fassen ... Sie werden sehen, man kann diese Herren salzen ...« Die beiden hörten diese Reden und antworteten darauf mit scherzhaften Grüßen. Hinter ihrem Rücken triumphierten die Damen und prahlten mit ihren Erfolgen. Die Pfiffigste, die am meisten Beneidete, war ein Fräulein von achtzehn Jahren, die eine Stange Siegelwachs für drei Louis verkauft hatte. Als aber am Ende des Saales eine Dame dem Herrn d'Escorailles eine Dose Seife in die Tasche stecken wollte, rief dieser aus:

»Ich habe keinen Sou mehr. Soll ich Ihnen etwa Wechsel unterschreiben?«

Er schüttelte sein Geldtäschchen, das sie durchsuchte. Dann betrachtete sie den jungen Mann; sie war auf dem Punkte, seine goldene Uhr zu verlangen.

Das war ein Spaß. Herr d'Escorailles nahm auf solche Wohltätigkeitsmärkte immer ein leeres Geldtäschchen mit.

»Ich habe genug«, sagte er und zog Herrn La Rouquette mit sich. »Ich schließe meine Taschen ... Wir müssen trachten, uns zu erholen.«

Als sie bei dem Glücksrade vorbeikamen, rief Frau Bouchard ihnen zu:

»Zwanzig Sous ein Zug, meine Herren!«

Sie traten näher und taten, als hätten sie nicht gehört.

»Was kostet ein Zug, Madame?«

»Zwanzig Sous, meine Herren.«

Sie lachten wieder. Frau Bouchard aber in ihrer blauen Toilette blieb ruhig, sah erstaunt auf die beiden Herren, als habe sie diese nicht erkannt. Da entwickelte sich eine furchtbare Spielpartie. Eine Viertelstunde hindurch kreischte unaufhörlich das Glücksrad. Sie spielten abwechselnd. Herr d'Escorailles gewann zwei Dutzend Eierbecher, drei kleine Spiegel, sieben Statuetten von gebrannter Erde, fünf Zigarettentäschchen; Herr La Rouquette eine Visitenkartenschale von Porzellan auf Füßen von vergoldetem Zink, Trinkgläser, einen Leuchter, eine Dose mit einem Spiegel. Frau Bouchard spitzte schließlich die Lippen und rief:

»Nein, nein, Sie haben zu viel Glück! Ich spiele nicht mehr ... Da tragen Sie Ihre Sachen weg!«

Sie hatte die Gewinste auf einem Tische nebenan in zwei Haufen zusammengestellt. Herr La Rouquette schien betroffen. Er bat sie, seine Gewinste gegen das Veilchenbukett umzutauschen, das sie in den Haaren trug. Allein sie weigerte sich.

»Nein, Sie haben das gewonnen, nehmen Sie es mit.«

»Madame hat recht«, sagte Herr d'Escorailles ernst. »Man schmollt nicht mit dem Glücke. Ich will des Teufels sein, wenn ich einen einzigen Eierbecher da lasse. Ich bin geizig geworden.«

Er breitete sein Taschentuch aus und machte fein säuberlich ein Paket. Das gab einen neuen Heiterkeitsausbruch. Die Verlegenheit des Herrn La Rouquette war ebenfalls sehr ergötzlich. Frau Correur, die, im Hintergrunde des Standes sitzend, bisher die lächelnde Würde einer mütterlichen Beschützerin bewahrt hatte, streckte jetzt ihr breites, rotes Gesicht hervor. Sie sei bereit, einen Tausch einzugehen, erklärte sie.

»Nein, ich will nichts«, beeilte sich der junge Abgeordnete zu sagen. »Nehmen Sie alles, ich schenke Ihnen alles.«

Doch sie gingen nicht fort, sondern blieben noch eine Weile. Mit halblauter Stimme sagten sie der Frau Bouchard Schmeicheleien von zweifelhaftem Geschmack. Wenn man sie ansehe, drehe sich einem der Kopf rascher als das Glücksrad. Was gewinne man bei ihrem hübschen Spiel? Es sei nicht so schön wie das »Täubchen fliegt-Spiel«. Und sie wollten ihr allerlei Dinge im »Täubchen fliegt-Spiel« zeigen. Madame Bouchard senkte die Augenwimpern und kicherte wie ein junges Mädchen. Sie wiegte die Hüften wie eine Bäuerin, mit der feine Herren ihren Ulk treiben; während Frau Correur von ihr entzückt war und mit Kennermiene ein um das andere Mal ausrief:

»Wie hübsch sie ist! Wie lieb sie ist!«

Doch Frau Bouchard schlug Herrn d'Escorailles auf die Hände, weil er das Glücksrad untersuchen wollte, indem er vorgab, daß sie betrüge. Wollen die Herren endlich Ruhe geben! Als sie endlich gegangen waren, begann sie wieder mit ihrer einladenden Stimme:

»Zwanzig Sous ein Zug, meine Herren!«

Herr Kahn, der bisher gestanden hatte, um über die Köpfe hinwegsehen zu können, setzte sich jetzt hastig und flüsterte:

»Rougon ist da! ... Wir wollen tun, als wüßten wir nichts; wie?«

Rougon durchschritt langsam den Saal. Er blieb bei dem Glücksrade der Frau Bouchard stehen und wagte einen Einsatz; dann kaufte er bei Frau von Combelot eine Rose, die er mit drei Louis bezahlte. Nachdem er in solcher Weise sein Opfer dargebracht hatte, machte er Miene, sich sogleich wieder zu entfernen. Er schob die Menge zur Seite und lenkte seine Schritte zu einer Tür. Doch als er einen Blick in den Büfettsaal geworfen, wandte er sich plötzlich nach dieser Seite mit erhobenem Haupte, ruhig und stolz. Herr d'Escorailles und Herr La Rouquette hatten sich zu Herrn Kahn, Herrn Béjuin, und dem Obersten gesetzt; auch Herr Bouchard war hinzugekommen. Alle diese Herren fuhren zusammen, als der Minister vorbeikam; so groß und stark erschien er ihnen mit seinen derben Gliedern. Er hatte sie von oben herab in vertraulicher Weise gegrüßt und setzte sich an einen benachbarten Tisch. Sein breites Gesicht beugte sich nicht, sondern wandte sich langsam rechts und links, wie um alle diese Blicke, die er auf sich gerichtet fühlte, ohne einen Schatten zu ertragen.

Clorinde hatte sich genähert, mit königlicher Würde ihre schwere gelbe Robe nach sich ziehend. Mit einer beabsichtigten Gewöhnlichkeit, in die ein Zug von Spott sich mengte, fragte sie:

»Was soll man Ihnen bringen?«

»Ach so!« sagte er heiter ... »Ich trinke niemals ... Was haben Sie denn?«

Da zählte sie ihm rasch alle Liköre auf: Fine Champagne, Rum, Curaçao, Kirschgeist, Chartreuse, Anis, Vespetro, Kümmel.

»Nein, nein; geben Sie mir ein Glas Zuckerwasser.«

Sie begab sich zum Schanktisch und brachte das Glas Zuckerwasser immer in ihrer göttlichen Majestät. Sie blieb vor Rougon stehen und sah ihm zu, wie er seinen Zucker im Wasser sich lösen ließ. Er lächelte noch immer und sagte die erstbesten gleichgültigen Redensarten.

»Sie befinden sich wohl? Seit einem Jahrhundert habe ich Sie nicht gesehen.«

»Ich war in Fontainebleau«, erwiderte sie einfach.

Er erhob die Augen und heftete einen tiefen, prüfenden Blick auf sie. Doch dann fragte sie ihn.

»Sind Sie zufrieden? Geht alles nach Wunsch?«

»Ja, vollkommen«, erwiderte er.

»Dann um so besser!«

Sie bewegte sich um ihn mit der Aufmerksamkeit eines Kaffeehauskellners. Sie beobachtete ihn mit ihren boshaft funkelnden Augen und schien jeden Augenblick auf dem Sprunge, ihren Sieg zu verraten. Endlich entschloß sie sich, ihn zu verlassen, als sie sich auf die Fußspitzen stellte, um in den großen Saal zu schauen. Dann berührte sie ihn an der Schulter und sagte mit leuchtendem Antlitz:

»Ich glaube, man sucht Sie.«

In der Tat kam Merle respektvoll zwischen den Tischen und Sesseln des Büfetts heran. Er verbeugte sich dreimal nacheinander und bat Seine Exzellenz, ihn zu entschuldigen. Man habe gleich nach dem Fortgang Seiner Exzellenz den seit dem Morgen erwarteten Brief gebracht. Weil er, Merle, keinen Befehl erhalten habe, glaubte er ...

»Es ist gut, geben Sie her«, unterbrach ihn Rougon.

Der Türsteher übergab ihm einen Brief in großem Umschlag und ging dann in den Saal, um den Markt zu besichtigen. Rougon hatte auf den ersten Blick die Schrift erkannt; es war ein eigenhändiger Brief des Kaisers, die Antwort auf sein Entlassungsgesuch. Kalter Schweiß trat ihm auf die Schläfen, aber er erbleichte nicht. Er schob ruhig den Brief in die innere Tasche seines Rockes, immerfort den Blicken der am Nachbartische sitzenden Herren Trotz bietend, zu denen Clorinde sich begeben hatte, um ihnen einige Worte zu sagen. Die ganze Gesellschaft spähte jetzt nach ihm, verlor keine einzige seiner Bewegungen, von einem Fieber der Neugier ergriffen.

Die junge Frau war wieder zu ihm getreten. Rougon trank endlich die Hälfte seines Zuckerwassers und suchte nach einer Schmeichelei.

»Sie sind heute sehr schön. Wenn die Königinnen Mägde würden ...«

Sie unterbrach sein Kompliment und sagte mit der ihr eigentümlichen Kühnheit:

»Wollen Sie den empfangenen Brief nicht lesen?«

Er tat, als habe er vergessen, und als erinnere er sich erst jetzt wieder.

»Ach ja, diesen Brief! ... Ich will ihn lesen, wenn es Ihnen Vergnügen macht.«

Mit Hilfe eines Taschenmessers schnitt er sorgfältig den Umschlag auf. Mit einem Blick hatte er die wenigen Zeilen überflogen. Der Kaiser nahm seine Entlassung an. Eine Minute behielt er das Papier vor seinem Antlitz, wie um es noch einmal zu lesen. Er fürchtete, seine Miene nicht beherrschen zu können. Eine furchtbare Empörung erhob sich in seinem Innern, eine Auflehnung seiner ganzen Kraft, die sich den Sturz nicht gefallen lassen wollte, schüttelte ihn wütend bis an die Knochen. Er mußte sein ganzes Wesen zügeln, um nicht aufzuschreien und mit seinen Faustschlägen den Tisch zu zertrümmern. Den Blick noch immer auf den Brief geheftet, sah er den Kaiser wieder, wie er ihn in Saint-Cloud gesehen, mit seiner sanften Rede, seinem beharrlichen Lächeln, ihn seines Vertrauens versichernd und ihm seine Weisungen erneuernd. Welch eine lange gehegte Absicht der Ungnade mußte hinter seinem undurchdringlichen Antlitze gereift sein, daß er ihn so plötzlich in einer Nacht fallen ließ, nachdem er ihn zwanzigmal an der Macht zurückgehalten!

Es gelang Rougon endlich, mit einer äußersten Anstrengung sich zu meistern. Er erhob sein Antlitz, in welchem kein Zug sich regte; mit einer gleichgültigen Bewegung steckte er den Brief wieder in die Tasche. Doch Clorinde hatte ihre beiden Hände auf den Tisch gestützt. In einer nachlässigen Bewegung neigte sie sich zu ihm und flüsterte, wobei ihre Mundwinkel zitterten:

»Ich wußte es. Ich war noch heute morgen dort ... Mein armer Freund!«

Sie beklagte ihn in einem so grausam-spöttischen Tone, daß er von neuem seine Augen in die ihrigen versenkte. Sie verstellte sich übrigens nicht mehr. Sie hatte jetzt die seit Monaten ersehnte Freude und genoß langsam Satz um Satz die Wollust, sich ihm als unerbittliche und gerächte Feindin zu zeigen.

»Ich habe Sie nicht verteidigen, können«, fuhr sie fort. »Es ist Ihnen gewiß unbekannt ...«

Sie vollendete den Satz nicht. Dann fragte sie mit spöttischer Miene:

»Raten Sie, wer an, Ihrer Statt Minister des Innern wird?«

Er machte eine Bewegung, als wolle er sagen, es sei ihm gleichgültig. Sie ermüdete ihn mit ihrem beharrlichen Blick und sagte schließlich:

»Mein Mann!«

Rougon, dem die Kehle ausgetrocknet war, trank noch einen Schluck Zuckerwasser. Alles hatte sie in dieses eine Wort gelegt: ihren Groll darüber, ehemals von ihm mißachtet worden zu sein; ihre so scharfsinnig vorbereitete Rache, ihre Freude, als Weib einen wegen seiner außerordentlichen Klugheit berühmten Mann geschlagen zu haben. Sie gönnte sich jetzt das Vergnügen, ihn zu martern, ihren Sieg zu mißbrauchen; sie legte den Finger an die wundesten Punkte. Du lieber Gott! ihr Gatte sei nicht gerade ein überlegen gescheiter Mann; sie gebe es zu, sie scherze sogar darüber. Sie wollte damit sagen, daß der Erstbeste genügt hätte, daß sie den Türsteher Merle zum Minister gemacht hätte, wenn es ihr so beliebt hätte. Ja, der Türsteher Merle, irgendein tölpelhafter Unbekannter, kurz, wer immer sei ein würdiger Nachfolger Rougons gewesen. Dies bewies die Allmacht des Weibes. Dann überließ sie sich vollständig dem Zuge ihres Herzens und gab sich als Beschützerin, als Ratgeberin.

»Sehen Sie, mein Lieber, ich sagte es Ihnen oft: Sie haben unrecht, die Frauen zu mißachten. Nein, die Frauen sind nicht so dumm, wie Sie glauben. Es brachte mich immer in Zorn, wenn ich hören mußte, wie Sie uns als Närrinnen, als lästige Möbel, als Fesseln, was weiß ich, als was noch behandelten ... Sehen Sie meinen Mann! War ich ihm eine Fessel? Ich wollte Ihnen das zeigen. An dem Tage, als wir über diesen Gegenstand sprachen, – Sie erinnern sich wohl – verhieß ich mir diesen Genuß. Sie haben gesehen, nicht wahr? Nun denn, keinen Groll! Sie sind ein kluger Mann, mein Lieber; aber merken Sie sich eines: eine Frau wird Sie immer herumkriegen, wenn sie sich die Mühe nimmt.«

Rougon war ein wenig bleich geworden und lächelte.

»Ja, Sie haben vielleicht recht«, sagte er langsam, sich dieser ganzen Geschichte erinnernd. »Ich hatte bloß meinen Verstand. Sie aber hatten ...«

»Ich hatte etwas anderes, gewiß!« vollendete sie mit einer Keckheit, die bis zur Größe hinanstieg, so sehr setzte sie sich über alle Schicklichkeit hinweg.

Er hatte kein Wort der Klage. Sie hatte ihm von seiner Macht genommen, um ihn zu besiegen; sie wandte heute die Lehren gegen ihn, die sie einst in den angenehmen Nachmittagsstunden, die sie in der Marbeufstraße zugebracht, von ihm aufgenommen hatte. Es war Undank, es war Verrat, dessen Bitterkeit er als erfahrener Mann ohne Murren hinunterschluckte. Bei dieser Lösung der Dinge beschäftigte ihn die einzige Sorge zu wissen, ob er sie endlich ganz kenne. Er erinnerte sich, wie er ehemals sich so ganz vergebens angestrengt hatte, das geheime Räderwerk dieser regellosen und doch so herrlichen Maschine zu erforschen. Die Dummheit der Männer sei entschieden sehr groß, gestand er sich.

Zweimal hatte sich Clorinde entfernt, um andere Gäste zu bedienen. Nachdem sie ihr Rachegelüst gesättigt hatte, nahm sie ihren stolzen Gang zwischen den Tischen wieder auf und schien sich nicht weiter um ihn zu kümmern. Er folgte ihr mit den Augen und sah, wie sie sich einem Herrn mit riesigem Barte näherte, einem Fremden, dessen Freigebigkeit damals ganz Paris in Aufruhr brachte. Der Fremde leerte eben ein Glas Malaga.

»Es kostet, Madame?« fragte er sich erhebend.

»Fünf Franken, mein Herr. Jede Erfrischung kostet fünf Franken.«

Er zahlte. Dann fragte er in demselben Tone und mit seinem fremdartigen Akzent:

»Und ein Kuß?«

»Hunderttausend Franken«, erwiderte sie, ohne zu zögern.

Er setzte sich wieder, schrieb einige Worte auf ein Blatt Papier, das er einem Büchlein entnommen hatte. Dann drückte er einen vollen Kuß auf Clorindens Wange, bezahlte dafür und ging gleichgültig davon. Alle Welt lächelte; man fand die Szene sehr hübsch.

»Man muß nur den Preis zu fordern wissen«, sagte Clorinde, als sie zu Rougon zurückkehrte.

Er sah in diesen Worten eine neue Anspielung. Ihm hatte sie ein »Niemals!« zugerufen. Dieser keusche Mann, der den Keulenschlag seiner Ungnade ertragen hatte, ohne zu zucken, litt furchtbar durch den Anblick des Halsbandes, das sie so schamlos trug. Sie neigte sich noch mehr herab, forderte ihn heraus, bewegte ihren Hals vor ihm. Die feine Perle klimperte in der goldenen Schelle; die Kette hing herab, gleichsam noch warm von der Hand des Gebieters; die Diamanten funkelten auf dem Samt, wo er leicht das allen bekannte Geheimnis lesen konnte. Niemals hatte er in einem solchen Grade diese uneingestandene Eifersucht gefühlt, diesen brennenden Schmerz hoffärtigen Neides, den er zuweilen angesichts des allmächtigen Kaisers empfunden. Er würde Clorinde lieber in den Armen jenes Kutschers gesehen haben, von dem die Leute sich im Flüstertone erzählten. Es reizte seine ehemaligen Begierden, sie außer seinem Bereiche zu wissen, ganz hoch, die Sklavin eines Mannes, der mit einem Worte alle Häupter beugte.

Ohne Zweifel erriet die junge Frau seine Qual. Sie fügte eine Grausamkeit hinzu, zeigte ihm mit einem Augenblinzeln, Frau von Combelot, die in ihrem Blumenstand Rosen verkaufte, und flüsterte mit ihrem boshaften Lachen:

»Die arme Frau von Combelot! Sie wartet noch immer!«

Rougon trank sein Glas Zuckerwasser aus. Er glaubte zu ersticken. Sein Brieftäschchen ziehend fragte er:

»Ich zahle?«

»Fünf Franken.«

Als sie das Geldstück in ihre Gürteltasche geworfen hatte, streckte sie ihm von neuem die Hand hin und sagte in scherzhaftem Tone:

»Für die Kellnerin geben Sie nichts?«

Er suchte in seiner Börse und fand zwei Sous, die er ihr in die Hand legte. Das war die einzige Rache, die er in seiner Roheit eines Emporkömmlings zu ersinnen wußte. Sie errötete trotz ihrer großen Dreistigkeit; aber sie fand sogleich ihren Götterstolz wieder. Sie entfernte sich grüßend mit den Worten:

»Danke, Exzellenz.«

Rougon, wagte nicht, sich sogleich zu erheben. Seine Beine waren schwach, er fürchtete zu wanken und wollte doch gehen, wie er gekommen war: stark und ruhig. Er fürchtete besonders, an seinen ehemaligen Freunden vorüberzugehen, die mit vorgestreckten Hälsen, gespitzten Ohren und gierigen Augen die Szene in allen ihren Einzelheiten verfolgt hatten. Er blickte noch einige Minuten mit erheuchelter Gleichgültigkeit umher. Inzwischen dachte er nach. Abermals war ein Akt seines politischen Lebens zu Ende. Er fiel, unterwühlt, verschlungen von seinen eigenen Freunden. Seine starken Schultern krachten unter den Verantwortlichkeiten, Dummheiten und Abscheulichkeiten, die er auf seine Rechnung genommen in der Prahlerei eines Starken, in dem Bedürfnis, ein gefürchtetes und großmütiges Oberhaupt zu sein. Seine Stiermuskeln machten seinen Sturz nur geräuschvoller, den Zusammenbruch seines Anhanges umfassender. Die Bedingungen der Macht, die Notwendigkeit, hinter sich Befriedigung heischende Begierden zu haben, sich durch den Mißbrauch des eigenen Kredites zu erhalten: sie hatten in verhängnisvoller Weise seinen Sturz zu einer Frage der Zeit gemacht. Er erinnerte sich jetzt der langsamen Wühlarbeit seiner Freunde, ihrer scharfen Zähne, die jeden Tag etwas von seiner Macht wegfraßen. Sie umgaben ihn, kletterten bis zu seinen Knien, dann bis zu seiner Brust und dann bis zu seinem Halse, um ihn schließlich zu erwürgen; sie hatten ihm alles genommen: seine Füße, um emporzusteigen, seine Hände, um zu stehlen, seine Kinnladen, um zu beißen und zu verschlingen; sie hausten in seinen Gliedern, zogen aus ihnen ihre Freude und ihre Gesundheit, vergönnten sich Schmausereien, ohne an den kommenden Tag zu denken. Heute endlich, nachdem sie ihn ausgeleert hatten und das Gerüste krachen hörten, nahmen sie Reißaus gleich den Ratten, denen ihr Instinkt den nahen Einsturz der Häuser ankündigt, deren Mauern sie unterwühlt haben. Die ganze Gesellschaft strahlte und blühte und war im Begriff, sich einen neuen Fettwanst anzumästen. Herr Kahn hatte seine von Niort nach Angers führende Eisenbahn an den Grafen von Marsy verkauft. Der Oberst sollte nächste Woche eine Stelle in den kaiserlichen Palästen bekommen. Herr Bouchard hatte die förmliche Zusage, daß sein Schützling, der interessante Georges Duchesne, bei Eintritt des Herrn Delestang ins Ministerium des Innern zweiter Abteilungsvorstand werde. Frau Correur erfreute sich einer schweren Krankheit der Frau Martineau, glaubte schon, ihr Haus in Coulonges zu bewohnen, ihre Renten als ehrsame Bürgerin zu verzehren, eine Wohltäterin der Gegend zu sein. Herr Béjuin war sicher, im Herbste den Besuch des Kaisers in seiner Glasfabrik zu erhalten. Herr d'Escorailles endlich, dem seine Eltern tüchtig den Text gelesen hatten, warf sich Clorinden zu Füßen und erhielt die Stelle eines Unterpräfekten dank der bloßen Bewunderung, mit der er ihr zusah, wie sie Likör einschenkte. Und angesichts der so reichlich gefütterten Gesellschaft fand sich Rougon kleiner denn je, hatte er das Gefühl, daß jene jetzt riesengroß seien, ihn mit ihrem Gewichte erdrückten; und er wagte es nicht, seinen Sessel zu verlassen, aus Furcht, sie lächeln zu sehen, wenn er strauchele.

Doch allmählich faßte er sich, sammelte seine Gedanken und erhob sich. Er schob das Tischchen zurück, um sich zu entfernen, als Delestang am Arme des Grafen von Marsy eintrat. In betreff des letzteren erzählte man sich eine sehr seltsame Geschichte. Wenn man gewissen Gerüchten Glauben schenken durfte, war er verflossene Woche im Schlosse von Fontainebleau mit Clorinde zusammengetroffen, bloß um die Begegnungen der jungen Frau mit Seiner Majestät zu erleichtern. Er hatte den Auftrag, die Kaiserin zu amüsieren. Dies schien übrigens pikant, nicht mehr; es war einer jener Dienste, die Männer unter sich einander stets erweisen. Allein Rougon ahnte dahinter eine Rache des Grafen, der sich zu seinem Sturze mit Clorinde verbündete und so gegen seinen Nachfolger im Ministerium dieselben Waffen anwandte, die dieser auch benützt hatte, um ihn einige Monate früher in Compiègne zu stürzen. Er tat es in geistvoller Weise mit einem Zug eleganter Unflätigkeit. Seit seiner Rückkehr von Fontainebleau wich Herr von Marsy nicht mehr von der Seite Delestangs.

Herr Kahn, Herr Béjuin, der Oberst, die ganze Gesellschaft warf sich dem neuen Minister in die Arme. Die Ernennung sollte erst am folgenden Tage im »Moniteur« erscheinen gleichzeitig mit der Entlassung Rougons; aber die Ernennungsurkunde war schon unterschrieben, man konnte sich dem Triumphe hingeben. Sie schüttelten ihm kräftig die Hände, es gab ein Kichern und ein Flüstern, einen Begeisterungssturm, den die Blicke des ganzen Saales kaum zurückhalten konnten. Es war eine langsame Besitzergreifung der Vertrauten, welche die Füße und die Hände küssen, ehe sie sich des ganzen Leibes bemächtigen. Schon gehörte er ihnen; der eine hielt ihn am rechten Arme, der andere am linken Arme; ein dritter hatte einen Knopf seines Rockes erfaßt, während ein vierter hinter seinem Rücken sich auf die Fußspitzen stellte und ihm leise in den Nacken redete. Er richtete mit herablassender Würde sein schönes Haupt in die Höhe; es war ein würdevolles, vornehmes, geistloses Gesicht, das Gesicht eines reisenden Herrschers, dem die Damen der Unterpräfektur Blumensträuße darreichen, wie man sie auf den amtlichen Abbildungen sieht. Der Gruppe gegenüber stand Rougon sehr bleich, grausam leidend durch diese Verherrlichung der Mittelmäßigkeit. Doch konnte er ein Lächeln nicht zurückhalten, denn er erinnerte sich.

»Ich habe immer prophezeit, Delestang werde es weit bringen«, sagte er mit spöttischer Miene zum Grafen von Marsy, der sich mit vorgestreckter Hand ihm näherte.

Der Graf antwortete ihm damit, daß er in liebenswürdigem Spott das Gesicht verzog. Seitdem er – nach den Clorinden erwiesenen Diensten – mit Delestang Freundschaft geschlossen, schien er sich sehr gut zu amüsieren. Er hielt einen Augenblick Rougon fest und zeigte sich von einer köstlichen Höflichkeit. Immerfort im Kampfe miteinander, Widersacher vermöge ihrer Temperamente, begrüßten sich diese zwei starken Männer jedesmal bei dem Ausgange eines Duells als Gegner von gleicher Geschicklichkeit und verhießen sich immer wieder Vergeltung. Rougon hatte Marsy verletzt, dafür verletzte Marsy jetzt Rougon; dies mußte so fortgehen, bis einer von beiden am Boden liegen bleibt. Vielleicht wünschten sie im Grunde einander gar nicht den Tod; es ergötzte sie der Kampf, ihre Nebenbuhlerschaft füllte ihr Leben aus. Überdies hatten sie gleichsam das Gefühl, als seien sie die beiden Gegengewichte, die für das Gleichgewicht im Kaiserreiche notwendig sind: die behaarte Faust, die zu Boden schlägt, und die fein behandschuhte Hand, die erdrosselt.

Inzwischen war Delestang die Beute einer grausamen Verwirrung. Er hatte Rougon bemerkt und wußte nicht, ob er ihm entgegengehen und die Hand reichen solle. Er warf einen verlegenen Blick auf Clorinde, die sich unbekümmert um alles andere ganz ihrem Dienste zu widmen schien und Brötchen und Kuchen nach allen Ecken und Enden des Büfettraumes trug. Auf einen Blick der jungen Frau glaubte er zu begreifen; er näherte sich endlich, ein wenig verwirrt und sich entschuldigend.

»Sie zürnen mir wohl nicht, mein Freund ... Ich habe abgelehnt, aber man nötigte mich. Es gibt Notwendigkeiten, nicht wahr?«

Rougon unterbrach ihn; der Kaiser habe in seiner Weisheit gehandelt, das Land werde sich in ausgezeichneten Händen befinden. Da wurde Delestang mutiger.

»Ich habe Sie verteidigt; wir alle haben Sie verteidigt. Aber, unter uns gesagt, Sie waren etwas zu weit gegangen. Man trägt Ihnen besonders nach, was Sie für die Charbonnels getan haben, diese Geschichte mit den armen Nonnen ...«

Herr von Marsy unterdrückte ein Lächeln. Rougon antwortete mit seiner Gemütlichkeit aus den frohen Tagen:

»Ach ja, die Haussuchung bei den Nonnen! ... Mein Gott, unter allen Dummheiten, die ich für meine Freunde begangen habe, ist dies vielleicht die einzige vernünftige und gerechte Sache während der fünf Monate meiner Macht.«

Er schickte sich an fortzugehen, als er Du Poizat eintreten sah, der sich sofort Delestangs bemächtigte. Der Präfekt tat, als bemerke er ihn nicht. Seit drei Tagen hielt er sich in Paris verborgen und wartete. Er schien eine Versetzung nach einer anderen Präfektur erlangt zu haben, denn er verlor sich in Danksagungen mit seinem Wolfslächeln, das die schlecht sitzenden, weißen Zähne zeigte. Als der neue Minister sich umwandte, lief ihm der Türsteher Merle, von Frau Correur geschoben, fast in die Arme. Der Türsteher schlug die Augen nieder wie ein großes, schüchternes Mädchen, während Frau Correur ihn warm empfahl.

»Man liebt ihn im Ministerium nicht,« murmelte sie, »weil sein Stillschweigen eine beständige Verwahrung gegen die Mißbräuche war. Er hat unter Herrn Rougon drollige Dinge gesehen!«

»Ja, ja, sehr drollige Dinge!« bestätigte Merle. »Ich kann darüber viel erzählen ... Man wird Herrn Rougon nicht bedauern. Ich werde doch nicht dafür bezahlt, ihn zu lieben; ich bin seinetwegen schier an die Luft gesetzt worden.«

Im großen Saale, den Rougon durchschritt, waren alle Verkaufsstände leer. Der Kaiserin zuliebe, die das Wohltätigkeitswerk unter ihren Schutz genommen, hatten die Käufer den Markt geplündert. Die Verkäuferinnen waren entzückt und sprachen davon, am Abend mit einem neuen Warenvorrat den Markt wieder zu eröffnen. Sie zählten ihr Geld auf den Tischen. Man hörte unter siegreichem Gelächter Ziffern rufen; die eine hatte dreitausend Franken zusammengebracht, die andere viertausendfünfhundert, eine dritte siebentausend, eine vierte gar zehntausend. Die letztere strahlte. Sie war eine Frau mit zehntausend Franken!«

Inzwischen war Frau von Combelot in Verzweiflung. Sie hatte ihre letzte Rose an den Mann gebracht, und die Käufer belagerten noch immer ihren Stand. Sie kam herab, um Frau Bouchard zu fragen, ob sie nichts zu verkaufen habe, gleichviel was. Allein auch das Glücksrad war leer; eine Dame trug eben den letzten Gewinst fort: ein kleines Waschbecken für eine Puppe. Sie suchten indes eifrig und fanden schließlich am Boden ein Paket Zahnstocher. Frau von Combelot nahm es mit einem Siegesgeschrei an sich. Frau Bouchard folgte ihr. Beide stiegen zum Stande hinan.

»Meine Herren!« rief erstere in kühner Stellung, mit einer Kreisbewegung ihrer nackten Arme die Männer um sich versammelnd. Hier ist alles, was uns übrig geblieben ist: ein Paket Zahnstocher. Fünfundzwanzig Zahnstocher ... Ich werde sie versteigern.«

Die Herren drängten sich lachend heran und erhoben ihre beschuhten Hände. Der Einfall der Frau von Combelot hatte einen wahnsinnigen Erfolg.

»Ein Zahnstocher!« rief sie. »Ausrufungspreis fünf Franken!«

»Zehn Franken!« sagte eine Stimme.

»Zwölf Franken!«

»Fünfzehn Franken!«

Doch als Herr d'Escorailles mit einem Sprunge fünfundzwanzig Franken bot, beeilte sich Frau Bouchard mit ihrer Flötenstimme zu sagen:

»Zugeschlagen mit fünfundzwanzig Franken!«

Die anderen Zahnstocher gingen noch höher. Herr La Rouquette bezahlte den seinigen mit dreiundvierzig Franken; der Ritter Rusconi, der eben ankam, ging bis zu zweiundsiebzig Franken; der letzte, ein sehr dünner Zahnstocher, den Frau von Combelot als gespalten ankündigte, weil sie das Publikum nicht täuschen wolle, wie sie sagte, wurde für hundertsiebzehn Franken einem alten Herrn zugeschlagen, der sehr belustigt war von der Munterkeit der jungen Frau, deren Leibchen bei jeder heftigen Bewegung der Versteigerung sich halb öffnete.

»Er ist gespalten, meine Herren, aber doch noch zu gebrauchen ... Wir sagen hundertacht! ... hundertzehn! ... hundertelf! ... hundertzwölf! ... hundertdreizehn! ... hundertvierzehn! ... Gibt niemand mehr?... Hundertsiebzehn! ... Niemand mehr? Zugeschlagen mit hundertsiebzehn.«

Von diesen Ziffern verfolgt, verließ Rougon den Saal. Auf der nach dem Fluß gehenden Terrasse verlangsamte er seine Schritte. Am Horizonte stieg ein Gewitter herauf. Die Seine wälzte schwer ihre öligen, schmutziggrünen Fluten zwischen den fahlen Uferdämmen dahin, auf denen dichte Staubwolken aufstiegen. Im Garten schüttelte ein sengender Windhauch die Bäume, deren Zweige schlaff, tot, ohne eine Regung der Blätter herniederhingen. Rougon ging zu den großen Kastanienbäumen hinab; dort herrschte fast völliges Dunkel, eine warme Feuchtigkeit troff hernieder wie von einem Kellergewölbe. Er betrat die große Allee, als er die Charbonnels behaglich auf einer Bank sitzen sah; sie waren herrlich herausgeputzt, völlig umgewandelt; der Gatte in hellem Beinkleid und knapp sitzendem Leibrocke; die Frau mit einem lilafarbenen Seidenkleide, einem leichten Mäntelchen und einem mit roten Blumen geschmückten Hute. Neben ihnen saß rittlings auf einem Ende der Bank ein, zerlumptes Wesen ohne Leibwäsche, mit einem alten, jämmerlichen Jagdrocke bekleidet, das sehr lebhaft gestikulierte und näher zu rücken suchte. Es war Gilquin, der sich mit heftigen Faustschlägen die Mütze auf dem Kopfe zurechtrückte.

»Ein Haufen Lumpe!« schrie er. »Theodor hat niemals jemanden auch nur um einen Sou schädigen wollen. Sie haben eine Militärbequartierungsgeschichte erfunden, um mich zu kompromittieren. Da habe ich sie sitzen lassen, Sie begreifen. Sie mögen zum Donner Gottes gehen! nicht? Sie fürchten mich. Sie kennen meine politischen Ansichten. Ich habe niemals zu Badinguets Anhang gehört ...«

Er neigte sich zu ihnen und fügte leise hinzu, wobei er zärtlich die Augen rollte:

»Ich bedaure nur eine Person ... Eine reizende Frau, eine Dame der besten Gesellschaft. Ja, ja, es war ein sehr angenehmes Verhältnis ... Sie war blond; sie hat mir von ihren Haaren gegeben.«

Dann hub er wieder mit dröhnender Stimme an ganz nahe bei Frau Charbonnel und schlug sie auf den Bauch:

»Mutter, wann wollen Sie mich nach Plassans mitnehmen, wie Sie versprachen, um Konserven zu essen, Äpfel und Kirschen? Sie haben jetzt Moos, wie?«

Doch den Charbonnels schien die Vertraulichkeit Gilquins sehr lästig zu sein. Die Frau erwiderte unwillig, ihr Kleid an sich ziehend:

»Wir bleiben einige Zeit in Paris ... Wir wollen jedes Jahr sechs Monate hier zubringen.«

»Ach Paris!« sagte der Gatte im Tone tiefer Bewunderung; es geht nichts über Paris!«

Da der Wind heftiger zu blasen begann und einige Kindsfrauen mit ihren Kleinen durch den Garten liefen, sagte er zu seiner Frau:

»Meine Liebe, wir werden gut tun heimzukehren, wenn wir nicht naß werden wollen. Glücklicherweise wohnen wir nicht weit von hier.«

Sie waren im Hotel »Königlicher Palast« in der Rivolistraße abgestiegen. Giiquin sah ihnen nach, wie sie sich entfernten, und brummte achselzuckend:

»Auch falsche Freunde! Lauter falsche Freunde!« ...

Plötzlich bemerkte er Rougon. Er erwartete ihn, sich auf den Beinen wiegend und seine Mütze zurechtrückend.

»Ich habe dich noch nicht besucht«, sagte er. »Aber du trägst es mir nicht nach, wie? Dieser Mantel träger Du Poizat muß dir schöne Berichte über mich gesandt haben. Lauter Lügen, mein Lieber! Ich werde es dir beweisen, sobald du willst ... Kurz: ich grolle dir nicht. Zum Beweise dessen gebe ich dir meine Adresse: Brunnenstraße 25 im Vororte La Chapelle, fünf Minuten vor der Stadt. Wenn du meiner wieder bedarfst, brauchst du mir nur einen Wink zukommen zu lassen.«

Schleppenden Schrittes ging er von dannen. Einen Augenblick schien er sich orientieren zu wollen. Dann schwang er drohend die Faust gegen die Tuilerien, die bleigrau unter dem schwarzen Himmel am Ende der Allee lagen, und schrie:

»Hoch die Republik!«

Rougon verließ den Garten und ging die Elyseefelder hinan. Er war von dem Verlangen ergriffen, augenblicklich sein kleines Haus in der Marbeufstraße wiederzusehen. Schon am folgenden Tage gedachte er aus dem Ministerium auszuziehen, um künftig wieder da zu leben. Er empfand eine Ermüdung des Kopfes, eine tiefe Ruhe, hinter der ein dumpfer Schmerz sich barg. Er dachte an unbestimmte große Dinge, die er eines Tages vollbringen werde, um seine Stärke zu beweisen. Von Zeit zu Zeit hob er den Kopf und blickte zum Himmel empor. Das Gewitter wollte noch immer nicht losbrechen. Rote Wolken schlössen den Gesichtskreis ab. In der menschenleeren Allee der Elyseefelder grollte der Donner wie das Getöse einer im Galopp dahinjagenden Artillerie; die Wipfel der Bäume erzitterten dabei. Die ersten Regentropfen fielen, als er an der Ecke der Marbeufstraße einbog.

Vor dem Tor des Hauses hielt ein Wagen. Rougon fand da seine Frau, welche die Zimmer besichtigte, die Fenster abmaß, einem Tapezierer Weisungen erteilte. Er war sehr überrascht. Sie erklärte ihm, daß sie soeben ihren Bruder, Herrn Beulin d'Orchère, gesprochen habe; von dem Sturze Rougons unterrichtet, sei der Richter gekommen, um seine Schwester zu kränken, ihr seine bevorstehende Ernennung zum Justizminister anzukündigen; kurz, er versuchte, Unfrieden zwischen dem Ehepaare zu stiften. Frau Rougon hatte sich begnügt, anspannen zu lassen, um ihre Übersiedelung vorzubereiten. Sie bewahrte das graue, stille Antlitz einer Frommgläubigen, die unwandelbare Ruhe einer guten Hausfrau. Mit leisen Schritten ging sie durch die Zimmer, ergriff wieder Besitz von diesem Hause, das sie mild und still gestaltet hatte wie ein Kloster. Ihre einzige Sorge war, als treue Hüterin das Vermögen zu verwalten, das ihrer Sorge anvertraut war. Rougon war gerührt beim Anblick dieser dürren Gestalt mit ihrem ängstlichen Ordnungssinn.

Inzwischen war das Gewitter mit unerhörter Heftigkeit losgebrochen. Der Donner grollte, das Wasser floß in Strömen. Rougon mußte fast drei Viertelstunden warten. Er wollte sich zu Fuße entfernen. Die Elyseefelder waren in ein Meer von gelbem, flüssigem Brei verwandelt; vom Triumphbogen bis zum Eintrachtsplatze schien das Bett eines plötzlich geleerten Stromes sich hinzudehnen. Die Allee war noch immer verödet; da und dort wagte sich ein Fußgänger durch die Straße, die Spitze der Pflastersteine suchend; und von den Bäumen, die in der stillen, frischen Luft dastanden, tropfte reichlich das Wasser hernieder. Das Gewitter hatte am Himmel einen ungeheuren Streif zerrissener, roter Wolken zurückgelassen; es war ein schmutziges, tiefhängendes Gewölk, durch das ein Rest von trübem Tageslicht herniederfiel, ein Zwielicht, wie es in einem Hohlwege herrscht.

Rougon vertiefte sich wieder in seinen verschwommenen Zukunftstraum. Zuweilen verirrte sich ein Regentropfen auf seine Hände. Er fühlte jetzt noch mehr jene gewisse Gebrochenheit seines ganzen Wesens, als sei er auf irgendein Hindernis gestoßen, das ihm den Weg versperre. Plötzlich vernahm er hinter sich ein lautes Getrappel, einen herannahenden, gleichmäßigen Galopp, der den Fußboden erzittern machte. Er wandte sich um.

Ein Zug näherte sich auf der zu einem Brei aufgelösten Straße im trübseligen Lichte des kupferroten Himmels; ein aus dem Gehölze zurückkehrender Zug, der mit dem Glänze seiner Uniformen die in Regen getauchten Tiefen der Elyseefelder durchstreifte. Voran und hintennach galoppierten Dragonerabteilungen. In der Mitte rollte ein geschlossener Landauer, von vier Pferden gezogen, während zu beiden Seiten des Wagens zwei Stallmeister in großer, goldgestickter Uniform gleichgültig den von den Rädern auf sie gespritzten Schmutz hinnahmen, der sie in einer dicken Lage von den Stulpenstiefeln bis zu ihrem Klapphute bedeckte. In dem Dunkel des geschlossenen Wagens tauchte ein Kind auf, der kaiserliche Prinz, der die zehn Finger seiner Händchen und sein rosiges Naschen an die Scheiben des Wagenfensters pressend hinaussah.

»Schau, diese Kröte!« sagte lächelnd ein Wegarbeiter, der einen Karren vor sich hinschob.

Rougon war nachdenklich stehen geblieben und folgte mit den Blicken dem Zuge, der sich rasch durch die aufspritzenden Pfützen entfernte, die mit ihrem Schmutze selbst die tiefer hängenden Blätter der Bäume beschmutzten.


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