Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.

Eines Morgens gegen elf Uhr kam Clorinde zu Rougons Wohnung in die Marbeufstraße. Sie kehrte vom Gehölze zurück; ein Diener hielt vor der Türe ihr Pferd. Sie durchschritt den Garten, wandte sich links und pflanzte sich vor einem großen offenen Fenster des Zimmers auf, in dem der große Mann arbeitete.

»Nicht wahr, ich habe Sie überrascht?« sagte sie plötzlich.

Rougon erhob lebhaft den Kopf und sah sie lachend, von der warmen Junisonne überströmt, vor sich stehen. Ihre Amazonentracht aus dunkelblauem Tuch, deren lange Schleppe sie über dem linken Arm trug, ließ sie noch größer erscheinen als sonst, ihr Westenleibchen mit kleinen runden Schößen und sehr eng anschließend, schmiegte sich wie eine lebendige Haut um Schultern, Hals und Hüften. Sie trug leinene Stulpen und Kragen, unter diesem eine schmale blaue Krawatte. Auf ihrem Kopfe saß sehr kühn ein Herrenhut, um den ein blauer Schleier von duftiger Gaze flatterte, von den Sonnenstrahlen wie mit einem Goldstaube bestreut.

»Wie! Sie sind es!« rief Rougon und eilte herbei. »Aber treten Sie doch ein!«

»Nicht doch!« wehrte sie ab, »ich will Sie nicht stören, sondern Ihnen nur ein Wort sagen. Meine Mutter erwartet mich zum Frühstück.«

Dies war der dritte Besuch, den sie so Rougon gegen alle Anstandsregeln abstattete. Nur bestand sie darauf, im Garten zu bleiben. Übrigens war sie auch die beiden ersten Male in Amazonentracht gekommen, die ihr die Freiheit eines Junggesellen gab, und deren langer Rock ihr ein ausreichender Schutz schien.

»Ich komme als Bettlerin«, fuhr sie fort ... »Wir haben eine Verlosung zum Besten armer Mädchen veranstaltet.«

»Gut, so kommen Sie doch herein«, wiederholte er. »Sie können es mir hier besser erklären.«

Sie hielt ihre kleine Reitpeitsche mit silbernem Griff noch in der Hand, klopfte ihr Kleid damit und versetzte lachend:

»Es ist weiter nichts zu erklären. Nehmen Sie mir nur die Lose ab; ich habe Sie deshalb drei Tage lang gesucht, ohne Ihrer habhaft werden zu können, und morgen ist die Ziehung.«

Sie zog ein kleines Taschenbuch hervor und fragte:

»Wieviel Lose wünschen Sie?«

»Nicht ein einziges, wenn Sie nicht hereinkommen!« rief er und fügte scherzend hinzu:

»Seit wann macht man Geschäfte durchs Fenster ab! Ich werde Ihnen doch das Geld nicht hinausreichen wie einer Armen!«

»Mir gleichviel, rücken Sie nur heraus!«

Aber er gab nicht nach. Sie sah ihn einen Augenblick an und fragte darauf:

»Wenn ich hineinkomme, werden Sie zehn Lose nehmen? Das Stück zu zehn Franken.«

Sie zögerte noch, warf einen schnellen Blick durch den Garten, sah aber nur einen Gärtner, der in einem Baumgange kniend, ein Korbbeet mit Geranien bepflanzte. Sie lächelte flüchtig und schritt die drei Stufen hinauf, die zur Tür des Arbeitszimmers führten. Rougon trat ihr schon daraus entgegen, reichte ihr die Hand und fragte, nachdem er sie mitten in das Gemach geleitet:

»Sie fürchten doch nicht, daß ich Sie fressen würde? Sie wissen wohl, daß ich der unterwürfigste Ihrer Sklaven bin ... Was fürchten Sie also?«

Sie klopfte noch immer ihr Kleid leicht mit dem Peitschenstiel und versetzte mit der stolzen Haltung einer Emanzipierten:

»Ich fürchte überhaupt nichts.«

Nachdem sie die Peitsche auf ein Sofa gelegt, blätterte sie von neuem in ihrem Taschenbüchlein und fragte:

»Sie nehmen zehn, nicht wahr?«

»Ich würde zwanzig nehmen, wenn Sie es wünschten«, erwiderte er. »Aber setzen Sie sich doch und lassen Sie uns ein wenig plaudern! ... Sie werden doch nicht sogleich wieder flüchten?«

»Also, ein Los für die Minute, gelt? ... Wenn ich eine Viertelstunde bliebe, wären es fünfzehn Lose; zwanzig Minuten machten zwanzig, und so weiter bis zum Abend; mir wäre es recht ... Sind Sie einverstanden?«

Sie lachten beide über diesen Vertrag. Clorinde ließ sich endlich auf einen Sessel nieder, der in der Nische des offen gebliebenen Fensters stand. Um sie nicht scheu zu machen, trat Rougon an seinen Schreibtisch zurück. So plauderten sie zunächst von dem Hause. Sie blickte aus dem Fenster, erklärte, der Garten sei etwas klein, aber reizend mit dem Rasenplatze in der Mitte und den Baumgruppen umher. Er entwarf ihr den Plan des Gebäudes; unten im Erdgeschoß befanden sich außer seinem Arbeitszimmer ein großer und ein kleiner Salon, sowie ein sehr schöner Speisesaal; im ersten wie im zweiten Stockwerk noch je sieben Zimmer. Alles das war, obgleich verhältnismäßig klein, für ihn doch viel zu geräumig. Als der Kaiser ihm das Haus geschenkt hatte, sollte er eine Witwe heiraten, die Seine Majestät selbst ihm ausgewählt hatte. Aber sie war gestorben, und so würde er Junggeselle bleiben.

»Warum?« fragte sie und schaute ihm gerade in die Augen.

»Bah!« versetzte er, »ich habe anderes zu tun. In meinem Alter braucht man keine Frau mehr.«

Sie aber zuckte die Achseln und sagte einfach:

»Verstellen Sie sich doch nicht so!«

Sie waren so weit gekommen, sehr freie Gespräche miteinander zu führen. Sie behauptete, er müsse ein sehr heißes Blut haben; er aber verwahrte sich dagegen und erzählte ihr von seiner Jugend, von den Nächten, die er in nackten Kammern verbracht, in die, wie er lachend sagte, nicht einmal die Wäscherinnen eintraten. Darauf fragte sie ihn mit einer Art kindlicher Neugier nach seinen Geliebten; er hatte gewiß einige gehabt, zum Beispiel eine, die ganz Paris kannte, und die sich in der Provinz niedergelassen, nachdem sie von ihm geschieden war, das konnte er nicht leugnen. Er aber erklärte achselzuckend, daß er sich um Unterröcke nicht kümmere. Wenn das Blut ihm zu Kopfe stieg – mein Gott, er war ein Mann wie andere! Er hätte eine Zwischenwand eingedrückt, um in ein Schlafzimmer zu gelangen; er hielt sich nicht bei den Kleinigkeiten an den Türen auf. War es vorüber, so wurde er wieder sehr ruhig.

»Nein, keine Frau!« wiederholte er, während seine Augen sich an Clorindes nachlässiger Haltung schon entflammten. »Das beansprucht zuviel Platz!«

Das Mädchen, in den Sessel hingegossen, lächelte seltsam. Ihr Gesicht hatte einen schmachtenden Ausdruck, ihr Puls ging schneller, und sie übertrieb ihre italienische singende Sprechweise noch, indem sie entgegnete:

»Lassen Sie nur gut sein, mein Lieber, Sie beten uns doch an. Was gilt die Wette, daß Sie in einem Jahre verheiratet sind?«

Sie war wirklich verführerisch, wie sie so siegesgewiß dreinschaute. Seit einiger Zeit bot sie sich Rougon ruhig an. Sie gab sich nicht die Mühe, die langsame Verführung, die feinen Schlingen, mit denen sie ihn vom Beginn der Belagerung umgeben hatte, zu verbergen; sie glaubte ihn jetzt hinlänglich erobert, um die Maske abwerfen zu können. Ein wahrer Zweikampf entbrannte zwischen ihnen. Wenn sie die Bedingungen auch noch nicht laut besprachen, drückten ihre Lippen, ihre Augen doch sehr rückhaltlose Geständnisse aus. Sahen sie einander an, konnten sie sich nicht enthalten zu lächeln; und so forderten sie einander heraus. Clorinde machte ihren Preis und ging gerade auf ihr Ziel los mit einer stolzen Kühnheit, immer nur das zu bewilligen, was sie bewilligen wollte. Rougon, trunken, aufgestachelt, setzte alle Bedenken beiseite und träumte davon, dies schöne Mädchen einfach zu seiner Liebsten zu machen und sie dann laufen zu lassen, um ihr so seine Überlegenheit zu beweisen. Beider Hochmut kämpfte noch erbitterter als ihre Sinne.

»Bei uns«, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, »ist die Liebe die Hauptsache. »Zwölfjährige Mädchen haben schon ihren Liebsten... Ich bin ein Junge geworden, weil ich gereist bin. Aber wenn Sie meine Mutter gekannt hätten, als sie noch jung war! Sie ging niemals aus, sie war so schön, daß man von weither kam, sie zu besuchen. Ein Graf ist deshalb ein halbes Jahr lang in Mailand geblieben, ohne auch nur das Ende ihrer Haarflechten zu sehen. Die Italienerinnen sind nicht wie die Französinnen, die schwatzen und umherlaufen; sie bleiben am Halse des Mannes, den sie erwählt haben... Ich aber bin viel gereist, ich weiß nicht, ob ich treu bleiben werde. Dennoch glaube ich, daß ich sehr liehen werde, o ja, sehr! so daß ich daran sterben könnte!«

Ihre Lider hatten sich allmählich gesenkt, ihr Gesicht glänzte in einem Ausdrucke wollüstigen Entzückens. Während sie sprach, hatte Rougon mit zitternden Händen seinen Schreibtisch verlassen, wie von einer höheren Macht angezogen. Als er sie jedoch erreicht hatte, öffnete sie die Augen weit, sah ihn groß an und sagte lächelnd, auf die Uhr weisend:

»Jetzt sind es zehn Lose!«

»Wie, zehn Lose?« stammelte er verwirrt.

Als er sich endlich besann, lachte sie, als wolle sie bersten. Sie gefiel sich darin, ihn so von Sinnen zu bringen, und wenn er die Arme öffnen wollte, entschlüpfte sie ihm mit einem Worte; es schien sie sehr zu ergötzen. Rougon sah sie, plötzlich erbleichend, wütend an, was ihre Heiterkeit nur noch erhöhte.

»Also, ich muß fort«, sagte sie. »Sie sind nicht artig genug mit den Frauen... Nein, im Ernst, Mama erwartet mich zum Frühstück.«

Er aber hatte seine väterliche Miene wieder angenommen. Nur in seinen grauen Augen, unter den schweren Lidern, loderte noch eine Flamme auf, wenn sie den Kopf umwandte, und er umfaßte dann ihre ganze Gestalt mit einem Blick wie ein Mensch, der zum Äußersten getrieben ist und ein Ende machen will. Vorläufig bemerkte er, sie könne ihm recht gut noch fünf Minuten schenken. Die Arbeit, die er vorhatte, war so langweilig: ein Bericht an den Senat über Bittschriften! Er erzählte ihr von der Kaiserin, für die sie eine wahre Verehrung hegte. Sie war seit acht Tagen in Biarritz. Da lehnte sich das Mädchen wieder in den Sessel zurück, und das Schwatzen nahm kein Ende. Sie kannte Biarritz, sie hatte dort einen Sommer verbracht, als der Badeort noch nicht in Mode gekommen war, Sie war verzweifelt, nicht dahin gehen zu können, während der Hof dort weilte. Dann berichtete sie über eine Sitzung der Akademie, wohin Herr von Plouguern sie tags zuvor geführt hatte. Es war ein Schriftsteller neu aufgenommen worden, über den sie unbarmherzig spottete, weil er kahlköpfig war. Sie hatte übrigens ein Grauen vor Büchern. Sobald sie etwas las, mußte sie sich mit Nervenanfällen zu Bett legen; sie verstand überhaupt gar nicht, was sie las. Als Rougon ihr sagte, der tags zuvor aufgenommene Schriftsteller sei ein Feind des Kaisers, und seine Antrittsrede habe von abscheulichen Anspielungen gewimmelt, war sie ganz verblüfft und erklärte:

»Er sah aber ganz gutmütig aus!«

Da wetterte Rougon auch seinerseits über die Bücher. Besonders entrüstete ihn ein eben erschienener Roman, ein Werk der verderbtesten Einbildungskraft, das sich einen Anschein von Wahrheit gab und den Leser durch die Ausschweifungen einer hysterischen Frau schleifte. Dieses Wort »hysterisch« schien ihm zu gefallen; denn er wiederholte es dreimal. Als aber Clorinde ihn bat, es ihr zu erklären, weigerte er sich, von einer großen Schamhaftigkeit ergriffen.

»Man kann alles sagen«, fuhr er fort; »nur gibt es eine gewisse Art, in der man alles sagen kann... So muß man in der Verwaltung oft die peinlichsten Dinge berühren. Ich habe zum Beispiel Berichte über gewisse Frauen gelesen – Sie verstehen mich, wie? – da waren sehr genaue Einzelheiten, in klarem und einfachem Stil angeführt, ohne die Schamhaftigkeit zu verletzen! Dagegen haben die heutigen Romanschriftsteller eine schlüpfrige Ausdrucksweise angenommen, eine Art, die Dinge zu schildern, die sie einem lebendig vor die Augen führt. Das heißen sie Kunst. Es ist Unanständigkeit, weiter nichts.«

Er sprach auch noch das Wort »Pornographie« und nannte sogar den Marquis de Sade, ohne ihn übrigens gelesen zu haben. Beständig redend, manövrierte er mit großer Geschicklichkeit, um hinter Clorindens Sessel zu gelangen, ohne daß sie es bemerkte. Sie murmelte, ins Leere blickend:

»Was die Romane betrifft, so habe ich nie einen einzigen aufgeschlagen. Zu dumm, alle diese Lügen ... Sie kennen nicht ›Leonora die Zigeunerin‹. Das Buch ist hübsch; ich habe es italienisch gelesen, als ich noch klein war. Es handelt von einem Mädchen, das schließlich einen großen Herrn heiratet. Im Anfang wird sie von Räubern entführt.«

Ein leises Knirschen hinter ihr ließ sie jedoch plötzlich den Kopf wenden, als sei sie aus dem Schlafe aufgeschreckt, und sie fragte:

»Was machen Sie da?«

»Ich lasse den Vorhang nieder«, versetzte er. »Die Sonne muß Sie belästigen.«

Wirklich fand sie sich von einem Sonnenstrahle getroffen, dessen tanzende Lichter ihr Kleid mit glänzendem Schimmer vergoldeten, und rief:

»Wollen Sie wohl den Vorhang lassen, wo er ist! Ich liebe die Sonne und befinde mich wie im Bade.«

Sehr beunruhigt, erhob sie sich halb und blickte hinaus, ob der Gärtner noch da sei. Als sie auf der andern Seite des Korbbeetes den Rücken seines blauen Kittels erblickte, nahm sie beruhigt und lächelnd wieder Platz. Rougon, welcher der Richtung ihres Blickes gefolgt war, zog den Vorhang herab, während sie ihn neckte. Er liebte also den Schatten wie die Eulen. Doch zeigte er sich nicht verdrossen, sondern trat in die Mitte des Zimmers mit den langsamen Bewegungen eines Bären, der einen heimtückischen Streich plant.

Als er am andern Ende des Zimmers an einem großen Sofa stand, über dem ein fast lebensgroßes Bild hing, rief er sie heran:

»Kommen Sie doch her. Sie haben mein letztes Bild noch nicht gesehen.«

Sie streckte sich noch behaglicher im Sessel aus und erwiderte, noch immer lächelnd:

»Ich sehe es von hier sehr gut. Übrigens haben Sie es mir schon früher gezeigt.«

Er ließ sich nicht entmutigen. Auch am andern Fenster hatte er den Vorhang niedergelassen und erfand noch zwei oder drei Vorwände, sie in diesen verschwiegenen Winkel zu. locken, wo es sehr gemütlich war, wie er sagte. Sie verachtete diese grobe Falle und antwortete nicht einmal, sondern begnügte sich, den Kopf zu schütteln. Als er sah, daß sie ihn durchschaute, pflanzte er sich mit ineinandergelegten Händen wieder gerade vor sie hin, gab die Verstellung auf und forderte sie geradezu heraus.

»Eben fällt mir ein, ich wollte Ihnen Monarque, mein neues Pferd, zeigen. Sie wissen, ich habe mein Pferd umgetauscht... Wollen Sie mir Ihre Meinung darüber sagen? Sie sind ja eine Pferdefreundin.«

Sie weigerte sich abermals. Er aber drang in sie: der Stall sei nur zwei Schritte entfernt, es werde höchstens fünf Minuten dauern. Als sie bei ihrer Weigerung beharrte, sagte er halblaut mit fast verächtlicher Gebärde:

»Ah, Sie haben keinen Mut!«

Das wirkte wie ein Peitschenhieb. Sie erhob sich ernst, etwas bleich und sagte einfach:

»Kommen Sie zu Monarque!«

Sie warf ihre Schleppe wieder über den linken Arm und blickte ihm gerade in die Augen. Ein Weilchen sahen sie sich so scharf an, daß einer in des andern Gedanken las. Es war ein schonungsloser Kampf, der angeboten und angenommen wurde. Sie stieg die Stufen hinab, er folgte, mechanisch seinen Hausrock zuknöpfend. Aber sie hatte in dem Baumgange keine drei Schritte getan, als sie stehenblieb und sagte:

»Warten Sie!«

Sie eilte zurück, und als sie wiederkam, hielt sie mit den Fingerspitzen ihre Reitpeitsche, die sie hinter einem Kissen des Sofas hatte liegen lassen. Rougon schielte nach der Peitsche, dann hob er langsam die Augen zu Clorinde. Jetzt lächelte sie und schritt von neuem voran.

Der Stall befand sich zur Rechten im Hintergrunde des Gartens. Als sie an dem Gärtner vorbeikamen, ordnete dieser seine Werkzeuge; er stand da und war im Begriffe fortzugehen. Rougon zog seine Uhr; es war fünf Minuten nach elf, der Stallknecht mußte jetzt beim Frühstück sein. Barhaupt folgte er im Sonnenbrande Clorinde, die rechts und links in das Gebüsch hieb, ohne ein Wort zu reden, selbst ohne zurückzublicken. Am Stalle ließ sie Rougon die Tür öffnen und trat vor ihm ein. Die Tür, die zu heftig zurückgestoßen worden, fiel mit lautem Geräusche ins Schloß; sie aber lächelte nur mit offener, stolzer und zuversichtlicher Miene.

Der Stall war klein, ganz gewöhnlich, mit vier Eichenständen. Obgleich die Fliesen erst am Morgen gescheuert und das Holzwerk, Krippen und Raufen, sehr sauber gehalten waren, stieg dennoch ein durchdringender Geruch auf, und es war warm in dem Räume wie im Badezimmer. Das Licht drang schräg durch zwei runde Luken herein und erhellte nur die Decke, nicht die Winkel am Boden. Clorinde, aus dem hellen Sonnenlichte hereintretend, konnte anfangs nichts unterscheiden, doch wartete sie und öffnete die Türe nicht wieder, um nicht furchtsam zu erscheinen. Nur zwei Stände waren besetzt. Die Pferde schnauften und drehten die Köpfe um.

»Dies ist es?« fragte sie, nachdem ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten. »Es sieht sehr gut aus.«

Sie klopfte das Tier auf die Kruppe, trat dann in den Stand und streichelte es an den Flanken, ohne die geringste Furcht zu bezeigen. Sie wünsche seinen Kopf zu sehen, sagte sie. Gleich darauf hörte Rougon, wie sie dem Tiere derbe Küsse auf die Nüstern drückte.

»Kommen Sie heraus!« bat er eifersüchtig. »Wenn das Pferd sich herumwirft, würde es Sie zerdrücken!«

Sie aber lachte nur, küßte das Tier noch stärker und flüsterte ihm allerhand Zärtlichkeiten zu; so daß es, von diesem unerwarteten Regen von Liebkosungen überrascht, stillhielt, während Schauer über sein seidenglänzendes Fell liefen. Endlich kam sie zurück. Sie sagte, sie liebe die Pferde über alles, und diese kennten sie sehr gut, denn sie täten ihr nie etwas zuleide, auch wenn sie sie necke. Sie wisse sie schon zu behandeln, es seien sehr kitzlige Tiere; dieses aber sehe sehr gutmütig aus. Sie hockte hinter ihm nieder,; hob mit beiden Händen einen Fuß auf, um den Beschlag zu untersuchen, und das Pferd ließ es sich ruhig gefallen.

Rougon stand da und verschlang sie mit den Blicken, wie sie da am Boden vor ihm hockte. Wenn sie inmitten des großen Haufens ihrer Röcke sich vorbeugte, schwellten ihre Hüften den Stoff. Er sagte nichts mehr, die Kehle war ihm wie zugeschnürt von der Scheu, die gewalttätigen Menschen eigen ist. Schließlich beugte er sich dennoch nieder, und sie fühlte eine Berührung unter den Achseln so leise, daß sie sich in ihrer Untersuchung der Pferdehufe nicht stören ließ. Rougon tastete mit verhaltenem Atem weiter nach vorn; sie aber zitterte nicht, als ob sie es erwartet habe. Sie ließ nur den Huf los und sagte, ohne sich umzuwenden:

»Was haben Sie denn? Was fällt Ihnen ein?«

Er wollte sie umfassen, sie aber schnippte ihn auf die Finger und fuhr fort:

»Bitte, keine Handgreiflichkeiten! Ich bin wie die Pferde kitzlig... Sie sind närrisch!«

Sie lachte, als ob sie ihn nicht verstehe. Als sein Atem ihr warm über den Nacken wehte, erhob sie sich mit der mächtigen Schnellkraft einer stählernen Sprungfeder, entwischte ihm und stellte sich den Ständen gegenüber an die Wand. Er folgte ihr mit ausgebreiteten Armen, um von ihr irgend etwas zu erhaschen; sie aber hielt ihre Schleppe mit der Linken wie einen Schild vor, in der erhobenen Rechten die Reitpeitsche. Seine Lippen zitterten, er sprach kein Wort; sie aber plauderte ganz gemütlich weiter.

»Sie werden mich nicht berühren«, sagte sie. »Ich habe fechten gelernt, als ich noch jung war. Es tut mir leid, es nicht weiter geübt zu haben. Nehmen Sie Ihre Finger in acht! Habe ich es Ihnen nicht gesagt?«

Sie schien zu spielen; sie schlug nicht derb zu, sondern streifte ihm nur die Haut, sooft er seine Hände vorstreckte.

Sie war so behende in der Abwehr, daß er nicht einmal ihr Gewand ergreifen konnte. Anfangs hatte er sie an den Schultern fassen wollen; zweimal von der Peitsche berührt, wollte er sie um die Mitte fassen; abermals getroffen, beugte er sich heimtückisch zu ihren Knien hinab, jedoch nicht schnell genug, um einem Regen von leichten Hieben zu entgehen, unter dem er sich wieder aufrichten mußte. Rechts und links hörte man das leichte Klatschen der Hiebe.

Rougon, mit Hieben bedeckt, daß ihm die Haut juckte, wich einen Augenblick zurück. Er war jetzt sehr rot, und Schweißtropfen begannen auf seinen Schläfen zu perlen. Der starke Stallgeruch benahm ihm die Sinne, die Dunkelheit und der warme Tierdunst ermutigten ihn, alles zu wagen. Er stürzte sich rücksichtslos wiederholt auf das Mädchen; sie aber tippte mit der Peitsche nicht mehr freundschaftlich, sondern hieb immer derber zu, ohne deshalb im Lachen und Schwatzen innezuhalten. Sie war schön, den Rock zwischen die Beine geklemmt, die Lenden geschmeidig, in dem enganschließenden Mieder, biegsam wie eine schwarzblaue Schlange. Wenn sie den Arm erhob, um zuzuschlagen, hatten die Linien ihrer zurückgebogenen Brust einen ganz besonderen Reiz.

»Nun, sind Sie es satt?« fragte sie lachend. »Sie werden zuerst aufhören, mein Lieber!«

Aber das waren ihre letzten Worte. Rougon, wie von Sinnen und purpurrot im Gesichte, stürzte sich auf sie, schnaubend wie ein wilder Stier. Sie selbst war glücklich, diesen Mann prügeln zu können, und in ihren Augen flammte ein Schimmer von Grausamkeit auf. Sie verstummte und trat stolz von der Mauer in die Mitte des Stalles. Sich um sich selbst drehend, hielt sie ihn sich mit verdoppelten Schlägen vom Leibe, bald die Beine, bald die Arme, bald den Leib, bald die Schultern treffend, während er wie ein Bär unter der Peitsche seines Bändigers sie umtanzte. Sie schlug von oben herab, wie emporgewachsen, mit stolzer Haltung und bleichen Wangen, um die Lippen ein nervöses Lächeln. Ohne daß sie es bemerkte, drängte er sie nach und nach in den Hintergrund des Stalles gegen eine Tür, die zur Futterkammer führte. Während sie ihre Peitsche verteidigte, deren er sich bemächtigen zu wollen schien, faßte er sie plötzlich, der Hiebe nicht achtend, um die Hüften und warf sie durch die Tür auf das Stroh mit solcher Gewalt, daß er selbst neben sie hinfiel. Sie stieß keinen Schrei aus, sondern gab ihm aus allen Kräften einen Schlag über das Gesicht, von einem Ohre zum andern.

»Dirne!« rief er und stieß noch andere gemeine Worte aus, fluchend, hustend, als wolle er ersticken. Sie duzend, warf er ihr vor, sie habe mit aller Welt geschlafen, mit dem Kutscher, dem Bankier, mit Pozzo, und fragte schließlich:

»Warum wollen Sie nicht mit mir?«

Sie würdigte ihn keiner Antwort. Sie hatte sich aufgerafft und stand unbeweglich mit bleichem Gesicht und der kühlen Ruhe einer Bildsäule.

»Warum wollen Sie nicht?« wiederholte er. »Sie haben mich doch Ihre nackten Arme antasten lassen... Sagen Sie nur, warum wollen Sie nicht?«

Sie blieb ernst, unempfindlich gegen seine Schmähungen, die Augen ins Weite gerichtet.

»Darum«, sagte sie endlich.

Nach einer Weile fügte sie, ihn anblickend, hinzu:

»Heiraten Sie mich! Nachher alles, was Sie wollen.«

Er lachte gezwungen, einfältig und beleidigend zugleich, indem er den Kopf schüttelte.

»Dann niemals!« rief sie. »Verstehen Sie? Niemals, niemals!«

Ohne ein Wort weiter zu sagen, kehrten sie in den Stall zurück. Die Pferde drehten wieder die Köpfe um und schnauften stärker, beunruhigt durch das Geräusch des Ringens, das sie hinter sich gehört hatten. Die Sonne hatte die beiden Luken erreicht: zwei grelle, gelbe Lichtstreifen fielen in das Dunkel herein, und wo sie das Pflaster trafen, begann es zu rauchen und einen verstärkten Geruch auszuströmen. Clorinde trat mit der ruhigsten Miene von der Welt, die Reitpeitsche unterm Arm, nochmals zu Monarque, küßte ihn zweimal auf die Nüstern und sagte: »Leb wohl, mein Dicker, du bist artig!«

Rougon, gebrochen, beschämt, war sehr ruhig. Der letzte Peitschenschlag hatte gleichsam sein Blut beruhigt. Mit noch zitternden Händen ordnete er seine Krawatte von neuem und tastete an seinem Rocke entlang, ob er ordentlich zugeknöpft sei. Dann entfernte er vom Kleide des Mädchens sorgfältig einige Strohhalme, die daran hängen geblieben waren, und in der Angst, mit ihr im Stalle betroffen zu werden, spitzte er die Ohren. Sie ließ ihn um ihr Kleid herumgehen ohne die geringste Furcht, als ob gar nichts Besonderes zwischen ihnen vorgefallen sei. Als sie ihn bat, die Türe zu öffnen, gehorchte er.

Darauf gingen sie ganz gemächlich durch den Garten. Rougon, der ein leichtes Brennen auf seiner Wange verspürte, drückte sein Taschentuch darauf. Als Clorinde die Schwelle des Arbeitszimmers betrat, galt ihr erster Blick der Uhr.

»Es sind zweiunddreißig Lose!« sagte sie lächelnd.

Da er sie überrascht ansah, fuhr sie laut lachend fort:

»Entlassen Sie mich schnell, der Zeiger rückt immer weiter vor. Sehen Sie, eben beginnt die dreiunddreißigste Minute ... Hier, ich lege die Lose auf ihren Schreibtisch.«

Er gab ihr sofort dreihundertzwanzig Franken. Nur seine Finger zitterten ein wenig, indem er die Goldstücke aufzählte: Das war die Strafe, die er über sich selbst verhängte. Sie trat entzückt über die Art, wie er eine solche Summe hergab, mit einer Gebärde zärtlicher Hingebung vor und bot ihm die Wange zum Kusse. Nachdem er sie väterlich geküßt, ging sie, ihm mit hinreißendem Lächeln zunickend, und sagte:

»Vielen Dank im Namen der armen Mädchen! Ich habe nur noch sieben Lose unterzubringen. Der Pate wird sie nehmen.«

Als Rougon allein, war, setzte er sich an seinen Schreibtisch, ohne recht zu wissen, was er tat. Er nahm die unterbrochene Arbeit wieder auf, schrieb einige Minuten und las dazwischen aufmerksam die vor ihm zerstreuten Schriftstücke. Dann stand er mit der Feder in der Hand da und blickte nachdenklich durch das offene Fenster in den Garten, ohne jedoch etwas zu sehen. Nur Clorindens schlanke Gestalt trat ihm wieder vor die Augen, wie sie vorhin da gestanden hatte; sie wiegte sich und streckte sich mit der wollüstigen Geschmeidigkeit einer bläulichen Schlange. Sie erhob sich, trat ein und stand mitten im Zimmer auf dem lebendigen Schweife ihrer Schleppe, sich in den Hüften wiegend, während ihre Arme sich langsam bis zu ihm heranringelten. Allmählich füllten ihre Gliedmaßen das ganze Gemach aus, lagen überall herum, auf dem Teppich, den Sesseln, an den Tapeten, stumm, leidenschaftlich. Ein herber Geruch ging von ihr aus.

Da warf Rougon heftig die Feder beiseite und verließ zornig den Tisch, die Hände ineinanderschlingend, daß die Finger knackten. Sollte er sich von ihr auch noch in der Arbeit stören lassen? Verlor er den Verstand, daß er am hellen Tag Dinge sah, die nicht vorhanden waren? Er, dessen Kopf so fest gebaut war? Er erinnerte sich aus seiner Jugend, als er noch Student war, eines Weibes, neben dem er ganze Nächte schrieb, ohne auch nur ihren Atem zu hören. Er zog den Vorhang hoch, öffnete auch das zweite Fenster, stieß heftig die Tür am andern Ende des Zimmers auf und ließ frische Luft hindurchstreichen, als ob er zu ersticken fürchte. Mit der unwilligen Handbewegung, womit er eine Stechfliege verscheucht haben würde, suchte er den Duft Clorindens mit dem Taschentuche zu vertreiben. Als er ihn nicht mehr roch, atmete er tief auf und trocknete sich das Gesicht mit dem Taschentuche, um die Hitze loszuwerden, die dieses große Mädchen in ihm erregt hatte.

Indessen kam er bei seiner Arbeit nicht vom Flecke und ging langsam im Zimmer auf und ab. Als er sich im Spiegel sah, gewahrte er einen roten Streif auf seiner linken Backe, trat näher und untersuchte ihn genau. Die Peitsche hatte nur eine leichte Hautabschürfung zurückgelassen, die er durch irgendeinen Zufall erklären konnte. Aber wenn auch die Haut nur noch eine dünne rote Linie aufwies, innen fühlte er wieder den Schlag brennen, der ihm das Gesicht zerfetzt hatte. Er eilte in das Ankleidezimmer hinter einen Vorhang und steckte den Kopf in ein Waschbecken; das tat ihm wohl. Er fürchtete, dieser Schlag möge seine Begierde nach Clorinde nur noch steigern. Er scheute sich, an sie zu denken, solange die kleine Verletzung auf der Wange nicht geheilt sei. Die Hitze, die er an dieser Stelle empfand, stieg ihm in die Glieder hinab.

»Nein, ich will nicht!« sagte er ganz laut und trat in das. Zimmer zurück. »Es wäre Blödsinn!«

Er setzte sich auf das Sofa und ballte die Fäuste. Ein Diener trat ein und erinnerte ihn daran, daß das Frühstück kalt werde; doch er blieb sitzen, um sich von dem Kampfe gegen sein eigen Fleisch zu erholen. Seine harten Züge schwollen vor innerer Erregung an; sein Stiernacken schien bersten zu wollen, seine Muskeln spannten sich, als ob er im Begriffe sei, ohne einen Schrei in seinem Innern ein Ungeheuer zu erwürgen, das ihn verschlingen wolle. Dieser Kampf währte zehn volle Minuten; er erinnerte sich nicht, jemals soviel Kraft verbraucht zu haben. Endlich erhob er sich, blaß und schweißtriefend.

Zwei Tage lang ließ er niemanden vor sich. Er hatte sich in eine bedeutende Arbeit versenkt und wachte eine ganze Nacht darüber. Sein Diener traf ihn dreimal, wie er auf das Ruhebett hingestreckt stumpf mit schreckenerregendem Gesichtsausdruck dalag. Am Abende des zweiten Tages kleidete er sich an, um sich zu Delestang zu begeben, der ihn zum Essen geladen hatte. Aber statt nach den Elyseischen Feldern zu gehen, ging er die Straße hinauf und trat in das Haus der Gräfin Balbi. Es war erst sechs Uhr.

»Das Fräulein ist nicht zu Hause«, erklärte die kleine Antonia, mit dem Lächeln einer schwarzen Ziege ihn auf der Treppe zurückhaltend.

Er sprach lauter, um gehört zu werden, und zögerte umzukehren, als Clorinde oben erschien, sich über das Geländer beugte und rief:

»Kommen Sie doch herauf! Ist das Mädchen einfältig! Sie versteht niemals, was man ihr befiehlt.«

Im ersten Stock ließ sie ihn in ein kleines Gelaß neben ihrer Kammer eintreten. Es diente ihr als Ankleidezimmer, die Tapeten zeigten ein zartblaues Gezweige; an der Wand stand ein großer Schreibtisch von matt gewordenem Mahagoniholz, davor ein Ledersessel, daneben ein Mappenschrank. Unter einer dicken Staubschicht lagen Papierschnitzel herum, so daß man bei einem schmutzigen Gerichtsvollzieher zu sein glaubte.

Während sie aus ihrer Kammer einen zweiten Stuhl holte, rief sie heraus:

»Ich habe Sie erwartet.«

Nachdem sie den Stuhl gebracht, erklärte sie, sie sei gerade beim Briefschreiben, und wies auf große Bogen gelblichen Papiers, die auf dem Schreibtische lagen und mit einer großen, runden Schrift bedeckt waren. Als Rougon sich setzte, bemerkte sie, daß er im Frack war, und fragte lachend:

»Sie kommen, um meine Hand anzuhalten?«

»Getroffen!« versetzte er und fuhr lächelnd fort:

»Aber nicht für mich, sondern für einen meiner Freunde.«

Sie sah ihn an ungewiß, ob er scherze oder nicht. Sie war ungekämmt, schmutzig, in einem roten, schlechtsitzenden Hausrocke, aber trotzdem schön, schön wie ein antiker Marmor im Laden einer Trödlerin. An einem ihrer Finger saugend, der einen Tintenfleck aufwies, starrte sie auf die leichte Narbe, die man noch auf Rougons linker Wange sah. Endlich wiederholte sie zerstreut:

»Ich war überzeugt, daß Sie kommen würden. Aber ich habe Sie früher erwartet.«

Lauter fuhr sie fort, als erinnere sie sich erst jetzt seiner Worte:

»Also, Sie kommen im Namen eines Freundes, ohne Zweifel Ihres liebsten Freundes?«

Sie ließ wieder ihr helles Lachen hören. Denn sie war überzeugt, daß Rougon sich selbst meinte. Sie fühlte ein lebhaftes Verlangen, die Narbe mit dem Finger zu berühren, um sich zu überzeugen, daß sie ihn gezeichnet, daß er also von jetzt an ihr gehöre. Aber Rougon ergriff ihre Hände und setzte sie sanft auf den Ledersessel.

»Lassen Sie uns miteinander reden, wollen Sie? Wir sind zwei gute Freunde; sind Sie es zufrieden? ... Ich habe seit vorgestern reiflich überlegt, die ganze Zeit an Sie gedacht... Ich stellte mir vor, wir wären Eheleute, seit einem Vierteljahre verheiratet. Wissen Sie, womit ich uns beide beschäftigt sah?«

Sie antwortete nicht, schien ein wenig verlegen trotz ihrer sonstigen Keckheit; er aber fuhr fort:

»Ich sah uns am Kamin. Sie hatten die Schaufel ergriffen, ich die Feuerzange, und so schlugen wir aufeinander los.«

Das schien ihr so drollig, daß sie sich vor Lachen wälzte. Er aber redete weiter:

»Nein, lachen Sie nicht, es ist mein voller Ernst. Es hat keinen Zweck, uns zusammenzuschmieden, um uns nachher gegenseitig totzuschlagen. Das aber würde das Ende sein, ich schwöre es Ihnen. Zunächst Streit, dann Scheidung ... Merken Sie es sich wohl: man soll nie zwei Menschen mit starkem Willen zu vereinigen suchen.«

»Also?« fragte sie, sehr ernst geworden.

»Also, denke ich, wir tun am besten, wenn wir uns die Hand reichen und füreinander nur warme Freundschaft bewahren.«

Sie schwieg und senkte ihre großen schwarzen Augen gerade in die seinigen. Eine schreckliche Falte furchte ihre Stirne einer beleidigten Göttin. Ihre Lippen bebten; es war ein stilles, verächtliches Stammeln.

»Erlauben Sie?« sagte sie.

Damit rückte sie den Sessel wieder vor den Tisch und begann ihre Briefe zu falten. Sie benützte nach Art der Verwaltungsbehörden große graue Briefumschläge, die sie versiegelte. Sie hatte eine Kerze angezündet und blickte in den flammenden Lack. Rougon wartete geduldig, bis sie fertig sei.

Endlich fragte sie, ohne von ihrer Beschäftigung aufzublicken:

»Deshalb sind Sie gekommen?«

Diesmal antwortete er nicht, er wollte ihr Gesicht sehen. Als sie sich endlich entschloß, ihren Sessel wieder herumzuwenden, lächelte er ihr zu und suchte ihren Augen zu begegnen; dann küßte er ihr die Hand, wie um sie zu entwaffnen; sie aber bewahrte ihre hochmütige Kälte.

»Ich habe Ihnen mitgeteilt,« sagte er, »daß ich für einen meiner Freunde Ihre Hand erbitte.«

Darauf redete er lange auf sie ein. Er liebe sie viel mehr, als sie glaube, er liebe sie besonders wegen ihrer Klugheit und Kraft. Es werde ihm schwer, ihr zu entsagen, aber er opfere seine Leidenschaft ihrer beider Glück. Er wolle sie mit einem reichen Manne verheiratet sehen, den sie nach Belieben werde lenken können; sie werde Herrin sein und ihre Persönlichkeit nicht aufzugeben brauchen. Sei das nicht besser, als wenn sie beide sich gegenseitig lahmlegen wollten? Sie könnten – nein, sie müßten sich diese Wahrheiten ins Gesicht sagen; sie seien die Leute danach. Schließlich nannte er sie sein Kind, seinen lieben Taugenichts, dessen Ränkegeist ihn erfreue; sie in beschränkten Verhältnissen zu sehen, werde ihn wahrhaft betrüben.

»Das ist alles?« fragte sie, als er schwieg.

Sie hatte ihn mit der gespanntesten Aufmerksamkeit angehört und fuhr jetzt fort, die Augen zu ihm aufschlagend:

»Wenn Sie mich verheiraten wollen, um mich zu besitzen, dann haben Sie sich verrechnet... Ich habe gesagt: Niemals! Verlassen Sie sich darauf!«

»Welcher Einfall!« rief er leicht errötend.

Er hustete, nahm vom Schreibtische ein Papiermesser und prüfte den Griff, damit Clorinde seine Verlegenheit nicht bemerke. Sie jedoch kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern saß in Gedanken versunken da und fragte endlich leise:

»Und wen soll ich heiraten?«

»Raten Sie!«

Sie lächelte still und trommelte achselzuckend mit den Fingern auf dem Schreibtisch, obgleich sie es sehr genau wußte. Endlich sagte sie halblaut:

»Er ist so dumm!«

Rougon nahm Delestang in Schutz. Er sei ein vorzüglicher Mensch, mit dem sie alles werde machen können, was sie wolle. Er berichtete Näheres über seine Gesundheit, sein Vermögen, seine Gewohnheiten. Übrigens verpflichtete er sich, dem Paare seinen ganzen Einfluß zur Verfügung zu stellen, wenn er je wieder zur Macht gelangen solle. Delestang sei vielleicht kein überlegener Geist, aber er werde jeden Platz ausfüllen, wohin man ihn stelle.

»Er entspricht dem Programm, das gebe ich Ihnen zu!« gestand sie mit freimütigem Lächeln.

Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort:

»Mein Gott, ich sage nicht nein; vielleicht haben Sie recht... Herr Delestang mißfällt mir nicht.«

Bei diesen letzten Worten sah sie ihn an. Sie glaubte, wiederholt bemerkt zu haben, daß er auf Delestang eifersüchtig war; aber sein Gesicht blieb unbeweglich. Er hatte in der Tat genügend starke Fäuste, um in zwei Tagen seine Begierde zu töten. Im Gegenteil schien er vom Erfolge seines Schrittes entzückt und begann ihr von neuem die Vorteile einer solchen Verbindung auszumalen, als ob er als gegnerischer Advokat ihr ein besonders günstiges Geschäft erläutern wolle. Er hatte ihre Hände ergriffen, tätschelte sie freundschaftlich mit der Miene eines glücklichen Genossen und wiederholte:

»Diese Nacht ist es mir erst eingefallen, und ich sagte mir sogleich: Das ist unsere Rettung! ... Ich will nicht, daß Sie unverheiratet bleiben! Sie sind das einzige Weib, das mir eines Mannes wert zu sein scheint. Delestang bringt unsere Sache, in Ordnung. Mit ihm behalten wir freien Spielraum.«

Vergnügt schloß er:

»Ich denke, Sie werden mich entschädigen, indem Sie mir außerordentliche Dinge zeigen.«

»Kennt Herr Delestang Ihre Pläne?« fragte sie.

Einen Augenblick war er überrascht, als ob ihr ein Wort entschlüpft sei, das er von ihr nicht erwartet hatte; dann versetzte er ruhig:

»Nein, das ist überflüssig. Er wird es später erfahren.« Sie hatte sich wieder an das Siegeln ihrer Briefe gemacht. Wenn sie ein großes Siegel ohne Anfangsbuchstaben auf den Lack gedrückt hatte, drehte sie den Brief herum und: versah ihn langsam und in großen Buchstaben mit der Aufschrift. Es waren größtenteils die Namen sehr bekannter italienischer Staatsmänner. Sie schien seine Neugier zu bemerken, denn sie sagte, indem sie sich erhob und die Briefe zusammenraffte, um sie zur Post zu geben:

»Wenn Mama ihre Migräne hat, muß ich schreiben.« Damit ging sie hinaus. Rougon begann in dem Zimmerchen auf und ab zu wandern. An dem Mappenschrank las er wie bei Geschäftsleuten die Aufschriften: Quittungen, zu ordnende Briefe, Akten A. usw. Er lächelte, als er unter den Papierschnitzeln am Boden ein zerrissenes Mieder herumliegen sah. Im Tintenfaß lag ein Stück Seife, am Boden blaue Samtfetzen, Überreste von einer Flickschneiderei, die man fortzufegen vergessen hatte. Da die Türe zum Schlafzimmer halb offen stand, steckte er neugierig den Kopf hinein; aber die Vorhänge waren dicht geschlossen, und es war drinnen so finster, daß nur die dunkle Masse des Bettes zu erkennen war. Eben trat Clorinde wieder ein, und er sagte:

»Ich speise heute abend bei unserm Manne. Lassen Sie mir freie Hand?«

Sie antwortete nicht gleich. Sie sah finster drein, als habe sie auf der Treppe abermals über die Sache nachgedacht. Er stand schon am Geländer, aber sie führte ihn zurück und schloß die Tür. Ihr Traum sank vor ihr zusammen, eine Hoffnung, in die sie sich so fest eingewiegt hatte, daß sie sie noch vor einer Stunde als Gewißheit ansah. Die ganze Glut einer tödlichen Beleidigung stieg ihr in die Wangen; es schien ihr, als sei sie geohrfeigt worden.

»Also es ist ernst?« fragte sie und stellte sich mit dem Rücken gegen das Licht, damit er die Röte ihrer Wangen nicht bemerke.

Er brachte seine Gründe zum drittenmal vor; sie aber schwieg. Sie fürchtete beim Sprechen sich von der Wut hinreißen zu lassen, die sie in ihrem Kopfe hämmern fühlte. Sie fürchtete, sich an ihm zu vergreifen. Während sie das Leben, das sie sich schon so schön ausgemalt hatte, in Trümmer sinken sah, verwirrten sich ihre Blicke und Gedanken, sie trat zur Tür ihres Schlafzimmers, im Begriff einzutreten, Rougon hineinzuzerren und ihm zuzurufen: »Da, nimm mich, ich vertraue mich dir an, und nur wenn du es willst, werde ich nachher deine Frau sein!«

Rougon, der, noch immer sprach, begriff sie plötzlich und schwieg erbleichend. Sie sahen einander an, und einen Augenblick schwankten sie, am ganzen Leibe zitternd. Er sah wieder das Bett im Schatten seiner Vorhänge. Sie berechnete schon die Folgen ihrer Großmut. Doch ging es bei beiden schnell vorüber, und sie sagte langsam:

»Sie wünschen diese Verbindung?«

Ohne im geringsten zu zögern, versetzte er nachdrücklich:

»Ja.«

»Nun gut, handeln Sie danach!«

Beide wandten sich mit kleinen Schritten der Tür zu und traten in sehr ruhiger Haltung auf den Flur hinaus. Nur an Rougons Schläfen zeugten einige Schweißtropfen noch von dem Kampfe, den ihm dieser letzte Sieg gekostet. Clorinde richtete sich im Bewußtsein ihrer Kraft auf. Einen Augenblick standen sie einander stumm gegenüber; sie hatten sich nichts mehr zu sagen und konnten sich doch nicht trennen. Als er ihr endlich die Hand reichte und sich abwenden wollte, hielt sie ihn mit kurzem Drucke zurück und sagte:

»Sie halten sich für stärker, als ich bin... Sie irren sich... Eines Tages werden Sie es vielleicht bedauern.«

Sie drohte ihm nicht mehr. Sie lehnte sich auf das Geländer, um ihn hinabsteigen zu sehen. Als er unten war, blickte er noch einmal hinauf, und sie lächelten einander zu. Sie dachte nicht mehr an eine kindische Rache; sie träumte schon davon, ihn durch einen großartigen Triumph zu vernichten. In das Zimmer zurücktretend, sagte sie unwillkürlich halblaut:

»Um so schlimmer! Jeder Weg führt nach Rom!«

Noch an diesem Abend begann Rougon Delestangs Herz zu belagern. Er berichtete ihm schmeichelhafte Ausdrücke, die angeblich Fräulein Balbi beim Festessen im Rathause am Tauftage über ihn geäußert hatte. Er wurde nicht müde, den ehemaligen Anwalt von der außerordentlichen Schönheit des Mädchens zu unterhalten. Er, der ihn früher so oft vor den Frauen gewarnt, suchte ihn dieser einen mit gebundenen Händen und Füßen zu überliefern. Bald rühmte er ihre wundervollen Hände, bald redete er mit verlockender Rückhaltlosigkeit von ihrem Wüchse. Delestang, dessen leicht entzündliches Herz schon ohnehin von Clorinde eingenommen war, brannte bald lichterloh. Als Rougon ihm sagte, er selbst habe nie an sie gedacht, gestand er, daß er sie seit einem halben Jahre liebe, jedoch geschwiegen habe, um ihm nicht ins Gehege zu gehen. Nunmehr ging er jeden Abend zu Rougon, um mit ihm von ihr zu plaudern. Es war gleichsam alles gegen ihn verschworen: er konnte niemanden mehr anreden, ohne das Lob seiner Angebeteten zu vernehmen; selbst die Charbonnels hielten ihn eines Morgens mitten auf dem Eintrachtsplatze an und äußerten weitläufig ihre Bewunderung für »das schöne Mädchen, mit dem man ihn überall sehe«.

Clorinde ihrerseits hatte ein köstliches Lächeln angenommen. Sie hatte einen neuen Lebensplan entworfen und sich nach wenigen Tagen in ihre neue Rolle gefunden. Sie war klug genug, den ehemaligen Anwalt nicht durch die ritterliche Keckheit verführen zu wollen, die sie eben bei Rougon versucht hatte; Sie verwandelte sich in eine schmachtende, leicht zu verletzende Unschuld, sagte, sie sei so nervös, daß ein zu zärtlicher Händedruck sie krank mache. Als Delestang Rougon berichtete, daß sie bei einem Handkusse ihm ohnmächtig in die Arme gesunken war, erklärte Rougon dies für einen Beweis größter Seelenreinheit. Als die Geschichte ihr zu lange währte, überlieferte sich Clorinde an einem Juliabende mit der plötzlichen Hingebung eines Backfisches. Delestang war von diesem Siege ganz verwirrt? um so mehr, als er sich vorwarf, sich feige eine Ohnmacht des Mädchens zunutze gemacht zu haben; sie hatte wie tot dagelegen und schien sich an nichts zu erinnern. Als er sich zu entschuldigen wagte oder wieder eine Zärtlichkeit versuchte, sah sie ihn so unschuldig an, daß er anfing zu stammeln, von Gewissensbissen und zugleich von Verlangen verzehrt. Nach diesem Abenteuer dachte er ernstlich daran, sie zu heiraten, um die Abscheulichkeit, die er begangen, wiedergutzumachen; auch sah er darin ein Mittel, um das gestohlene Glück von Rechts wegen zu besitzen, dieses Glück einer Minute, das ihn noch in der Erinnerung erglühen machte, und das er anders wiederzufinden verzweifelte.

Doch zögerte er noch acht Tage lang und ging erst mit Rougon sich beraten. Als dieser das Vorgefallene erfahren hatte, blieb er einen Augenblick gesenkten Hauptes sitzen, um den Abgrund dieses Frauenherzens in seiner ganzen Schwärze zu ergründen: den langen Widerstand, den sie ihm entgegengesetzt, um dann plötzlich diesem Schafskopf in die Arme zu sinken. Die geheimen Triebfedern dieses Gegensatzes in ihrem Benehmen begriff er nicht. Im Innersten verletzt, fühlte er anfangs das Bedürfnis, mit einer Flut von Beschimpfungen alles herauszusagen. Übrigens leugnete Delestang als galanter Mann auf seine rohen Fragen jede intime Beziehung, und dies genügte, Rougon wieder zu sich zu bringen. Er brachte dann den ehemaligen Anwalt sehr geschickt zu einem Entschluß. Er riet ihm nicht gerade zu dieser Ehe, aber trieb ihn dazu durch Erwägungen, die mit der Sache eigentlich gar nicht in Zusammenhang standen. Die häßlichen Geschichten, die über Fräulein Balbi in Umlauf waren, hätten ihn überrascht; er habe nicht daran geglaubt, selbst Erkundigungen eingezogen und nur Vorteilhaftes erfahren. Übrigens dürfe man nicht über das Weib reden, das man liebe. Das war sein letztes Wort.

Als man sechs Wochen später aus der Magdalenenkirche kam, wo die Hochzeit mit außerordentlicher Pracht gefeiert worden, antwortete Rougon einem Abgeordneten, der ihm seine Verwunderung über Delestangs Wahl ausdrückte:

»Was wollen Sie? Ich habe es ihm hundertmal gesagt... Er mußte durch eine Frau eingetunkt werden.«

Gegen Ausgang des Winters erfuhren Delestang und seine Frau, als sie von ihrer Reise nach Italien zurückkehrten, Rougon stehe im Begriffe, Fräulein Beulin d'Orchère heimzuführen. Als sie ihn besuchten, beglückwünschte ihn Clorinde mit der größten Unbefangenheit. Er erwiderte gutmütig, er tue es nur um seiner Freunde willen. Seit einem Vierteljahre verfolge man ihn beständig mit dem Beweise, daß ein Mann in seiner Stellung verheiratet sein müsse. Er erzählte es lachend und fügte hinzu, daß, wenn er abends seine Freunde empfange, kein weibliches Wesen da sei, den Tee einzuschenken.

»Also ist Ihnen dieser Gedanke ganz plötzlich gekommen?« erwiderte Clorinde lächelnd. »Sie hätten zugleich mit uns heiraten müssen, dann wären wir zusammen nach Italien gegangen.«

Sie fragte ihn, noch immer scherzend, ob nicht sein Freund Du Poizat diesen guten Einfall gehabt habe. Er verneinte; Du Poizat habe im Gegenteil diese Verbindung aufs entschiedenste bekämpft; der ehemalige Unterpräfekt verabscheue Herrn Beulin d'Orchère. Aber alle anderen, Herr Kahn, Herr Béjuin, Frau Correur, die Charbonnels sogar, seien in den Lobeserhebungen des Fräulein Veronika unerschöpflich gewesen; sie werde nach ihrer Ansicht Tugenden, Gedeihen und unsagbare Reize in sein Haus bringen. Er schloß mit der scherzhaften Wendung:

»Kurz und gut, man hat dies Weib eigens für mich gemacht; ich konnte sie nicht ausschlagen.«

Dann fügte er bedeutungsvoll hinzu:

»Für den Fall, daß wir im Herbste Krieg haben, muß man sich rechtzeitig nach Bundesgenossen umsehen.

Clorinde stimmte ihm lebhaft bei und begann ebenfalls ein Loblied auf Fräulein Beulin d'Orchère, die sie doch nur einmal gesehen hatte. Delestang, der sich bis dahin begnügt hatte, mit dem Kopfe zu nicken, ohne seine Frau aus den Augen zu lassen, erging sich jetzt ebenfalls in Lobpreisungen der Ehe. Er wollte eben berichten, wie glücklich er sei, da erhob sie sich und redete von einem andern Besuche, den sie noch abstatten müßten. Als Rougon ihnen das Geleite gab, hielt sie ihn zurück und ließ ihren Mann vorausgehen. Dabei flüsterte sie ihm ins Ohr:

»Ich habe es Ihnen wohl gesagt, daß Sie vor Ablauf eines Jahres heiraten würden!«


 << zurück weiter >>