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Zehntes Kapitel

Rougon hatte an Du Poizat und Herrn Kahn geschrieben, daß man ihm die Unbequemlichkeiten eines festlichen Empfanges an den Toren von Niort ersparen möge. Er kam Samstag abend gegen sieben Uhr an und begab sich geradeswegs zur Präfektur in der Absicht, bis zum folgenden Mittag auszuruhen, denn er war sehr müde. Nach dem Essen kamen jedoch einige Gäste. Die Nachricht von der Ankunft des Ministers mußte schon die Stadt durcheilt haben. Die Tür eines dem Speisesaale benachbarten Salons wurde geöffnet, und eine Art Empfang begann. Rougon stand am Fenster, mußte sein Gähnen unterdrücken und die Begrüßungen freundlich beantworten.

Ein Abgeordneter des Bezirkes, der Advokat, der die Regierungskandidatur des Herrn Kahn geerbt hatte, erschien zuerst. Er war ganz außer sich, in Überzieher und hellen Beinkleidern, und entschuldigte sich damit, daß er eben zu Fuß von einem seiner Güter komme; trotzdem habe er Seine Exzellenz sofort begrüßen wollen. Dann kam ein kleiner dicker Mensch, in einen zu engen Frack eingeschnürt, in weißen Handschuhen und mit förmlicher, niedergeschlagener Miene, der erste Gehilfe des Bürgermeisters. Er war soeben von seiner Magd in Kenntnis gesetzt worden und wiederholte immerfort, der Herr Bürgermeister werde untröstlich sein, er habe Seine Exzellenz erst für den folgenden Tag erwartet und befinde sich auf seinem zehn Kilometer entfernten Gute. Nach ihm kamen noch sechs Herren: große Füße, dicke Hände, hohe, massive Gestalten; der Präfekt stellte sie als ausgezeichnete Mitglieder der statistischen Gesellschaft vor. Der Gymnasialdirektor endlich brachte seine Frau mit, eine reizende, achtundzwanzigjährige Blonde aus Paris, deren Toiletten Niort in Aufruhr brachten. Sie beklagte sich vor Rougon bitter über die Provinz.

Inzwischen wurde Herr Kahn, der mit dem Minister und dem Präfekten gespeist hatte, über die Feierlichkeit ausgefragt. Man werde sich eine Meile weit vor die Stadt begeben, nach »den Mühlen«, wie die Gegend hieß, an den Eingang eines Tunnels der Bahn von Niort nach Angers, und Seine Exzellenz der Minister des Innern werde selbst die erste Mine entzünden. Das schien rührend. Rougon spielte den Gutmütigen. Er wolle nur das so mühsame Unternehmen eines alten Freundes ehren. Übrigens betrachte er sich als einen Pflegesohn des Kreises Deux-Sèvres, weil dieser ihn einst in die gesetzgebende Versammlung geschickt habe. Der wirkliche Zweck dieser ihm von Du Poizat lebhaft angeratenen Reise war jedoch der, ihn seinen alten Wählern in seiner ganzen Macht zu zeigen, um seine Kandidatur vollends zu sichern, falls er wieder einmal in den gesetzgebenden Körper eintreten wollte.

Durch die Fenster des Salons sah man die Stadt schwarz und schlafend daliegen. Niemand kam mehr; man hatte des Ministers Ankunft zu spät erfahren. Das war ein Triumph für die Eifrigen, die sich dort befanden. Sie dachten nicht daran zu gehen, sie blähten sich auf in der Freude, die ersten zu sein, die Se. Exzellenz in kleiner Gesellschaft den Ihren nennen durften. Der Bürgermeistergehilfe sagte zum soundso vielten Male mit klagender Stimme, aus der man seinen geheimen Jubel heraushörte:

»Mein Gott, wie wird es dem Herrn Bürgermeister leid tun! ... Und dem Herrn Präsidenten! Und dem Herrn Staatsanwalt und all den anderen Herren!«

Gegen neun Uhr konnte man glauben, daß sich die ganze Stadt im Vorzimmer befinde, so mächtig war das Geräusch von Tritten. Darauf meldete ein Diener, der Herr Polizeizentralkommissar wünsche Seiner Exzellenz seine Aufwartung zu machen. Und herein trat Gilquin, prächtig herausstaffiert, in Frack, strohgelben Handschuhen und Ziegenlederstiefeln. Du Poizat hatte ihn in seinem Kreise untergebracht. Gilquin benahm sich sehr anständig; er hatte nur ein etwas gewagtes Wiegen der Schultern beibehalten, sowie die Angewohnheit, sich nicht von seinem Hute zu trennen, er stützte ihn gewöhnlich leicht umgekehrt auf seine Hüfte, in der studierten Haltung, wie er es auf einem Modekupfer gesehen.

Er verneigte sich vor Rougon und murmelte mit übertriebener Demut:

»Ich empfehle mich der freundlichen Erinnerung Eurer Exzellenz, die ich öfter in Paris zu sehen die Ehre hatte.«

Rougon lächelte, und sie plauderten einen Augenblick. Dann begab sich Gilquin in den Speisesaal, wo der Tee gereicht wurde. Er fand dort Herrn Kahn damit beschäftigt, die Liste der für morgen Eingeladenen nochmals durchzusehen. Im Salon redete man unterdessen von der Größe der Regierung; Du Poizat stand neben Rougon und pries das Kaiserreich, und beide tauschten Schmeicheleien darüber aus, als hätten sie sich seiner als eines eigenen Werkes vor den Maulaffen feilhaltenden Bewohnern von Niort zu rühmen.

»Sind das Prachtkerle!« brummte Gilquin, durch die große offene Tür diese Szene betrachtend.

Indem er beständig Rum in seinen Tee goß, stieß er Herrn Kahn an den Ellbogen. Dabei lachte er behaglich über den mageren und eifrigen Du Poizat, den er mit seinen schiefen weißen Zähnen und seinem Gesichte, das dem eines Kindes im Fieber glich und im Triumphe leuchtete, »sehr gelungen« fand.

»Sie haben ihn nicht im Kreise ankommen sehen!« fuhr er leise fort. »Ich war bei ihm. Er stampfte beim Gehen fest auf und schaute wütend drein. Er muß die Leute hier gehörig im Magen haben. Seit er Präfekt ist, macht er sich ein Vergnügen daraus, sich für seine Kindheit zu rächen. Die Spießbürger, die ihn einst als armen Schlucker gekannt haben, wagen es nicht mehr zu lächeln, wenn er vorbeigeht – dafür stehe ich Ihnen. Er ist ein vollwichtiger Präfekt, einer, der ganz bei der Sache ist. Er hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit diesem Langlade, den wir ersetzt haben, einem Schürzenjäger, blond wie ein Mädchen... Wir haben Photographien von sehr dekolletierten Damen selbst in den Aktenbündeln gefunden.«

Gilquin schwieg einen Augenblick. Er glaubte zu bemerken, daß die Frau des Gymnasialdirektors in der Ecke ihn nicht aus den Augen lasse. Um seine Gestalt möglichst vorteilhaft zu zeigen, bog er sich nieder und flüsterte Herrn Kahn zu:

»Haben Sie von der Begegnung Du Poizats mit seinem Vater gehört? Sie wissen, der Alte ist ein ehemaliger Gerichtsvollzieher, hat sich reich gewuchert und lebt jetzt wie ein Wolf in einem alten, halb eingefallenen Hause mit geladenen Schußwaffen im Flur ... Du Poizat, dem er zwanzigmal den Galgen prophezeit hat, träumte schon lange davon, seinem Väter zu imponieren. Das war der Hauptgrund, weshalb er hier Präfekt werden wollte... Eines Morgens also wirft sich mein Du Poizat in Gala und klopft beim Alten an unter dem Vorwande, er sei auf einer Inspektionsreise. Eine gute Viertelstunde wird hin und her parlamentiert und endlich geöffnet. Ein blasser Alter starrt mit verblüfftem Gesichte auf die goldgestickte Uniform. Wissen Sie, was er sagte, als er erfuhr, sein Sohn sei Präfekt? ›He, Leopold, schicke nicht mehr wegen der Steuern!‹ Im übrigen weder Erregung noch Überraschung. Du Poizat kehrte heim mit eingekniffenen Lippen, das Gesicht so weiß wie sein Hemd. Dieser Gleichmut seines Vaters brachte ihn auf. Das war einer, bei dem er nicht aufkam.«

Herr Kahn nickte leicht. Er hatte die Liste der Einladungen wieder eingesteckt und trank nun ebenfalls eine Tasse Tee, wobei er immer in den Salon hinüberblickte.

»Rougon schläft im Stehen«, bemerkte er. »Diese Dummköpfe sollten ihn schlafen gehen lassen. Er muß morgen bei Kräften sein.«

»Ich sehe ihn zum erstenmal wieder«, äußerte Gilquin. »Er ist dick geworden.«

Dann wiederholte er leise:

»Sehr pfiffig diese Kerle! Sie müssen bei dem Hauptstreiche einen kapitalen Kniff angewendet haben. Ich hatte ihnen die Nachricht gebracht. Am andern Tage – bums! ging es dennoch los. Rougon behauptet, er sei zur Polizei gegangen, wo niemand ihm habe Glauben schenken wollen. Na, das ist schließlich seine Sache, darüber brauchte man nicht zu reden ... Dieses Vieh von Du Poizat hatte mir ein famoses Frühstück in einem Boulevardcafé bezahlt. Oh, war das ein Tag! Den Abend haben wir im Theater zubringen müssen; ich entsinne mich an nichts mehr, ich habe zwei Tage danach geschlafen.«

Herr Kahn fand Gilquins vertrauliche Mitteilungen offenbar beunruhigend und verließ den Speisesaal. Gilquin, allein zurückgeblieben, war jetzt überzeugt, daß die Frau des Gymnasialdirektors ihn entschieden ins Auge gefaßt habe. Er kehrte in den Salon zurück, machte sich um sie zu schaffen und brachte ihr schließlich Tee, Gebäck und Brötchen. Er sah gar nicht übel aus, wie ein Mensch von guter Gesellschaft, aber schlechter Erziehung, was die schöne Blonde allmählich zu erweichen schien. Der Abgeordnete erörterte inzwischen die Notwendigkeit einer neuen Kirche in Niort, der Bürgermeistergehilfe bat um eine Brücke, der Direktor um Erweiterung des Gymnasialgebäudes, während die sechs Mitglieder der statistischen Gesellschaft nur zustimmend nickten.

»Wir werden morgen sehen, meine Herren«, versetzte Rougon mit halbgeschlossenen Augen. »Ich bin gekommen, um Ihre Wünsche kennenzulernen und Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«

Um zehn Uhr kam ein Diener und flüsterte dem Präfekten ein Wort zu. Als dieser es dem Minister zugeraunt hatte, eilte letzterer in ein Nebenzimmer und fand hier Frau Correur. Sie hatte ein großes und hageres Mädchen bei sich, dessen unschönes Gesicht ganz mit Sommersprossen bedeckt war.

»Wie, Sie sind in Niort?« rief Rougon.

»Erst seit heute nachmittag«, erwiderte Frau Correur. »Wir sind da gegenüber abgestiegen, im Hotel ›Stadt Paris‹ am Präfekturplatz.«

Darauf berichtete sie, daß sie von Coulonges komme, wo sie zwei Tage zugebracht habe. Dann stellte sie das große Mädchen vor:

»Fräulein Herminie Billecoq, die so freundlich war, mich zu begleiten.«

Herminie Billecoq verbeugte sich förmlich, und Frau Correur fuhr fort:

»Ich habe Ihnen von dieser Reise nichts gesagt, weil Sie vielleicht mit mir unzufrieden gewesen wären, aber das Verlangen, meinen Bruder zu sehen, hat mich überwältigt. ... Als ich von Ihrer Reise nach Niort erfuhr, bin ich hergeeilt. Wir haben Sie mit Späherblicken verfolgt und in die Präfektur eintreten sehen; doch hielten wir es für besser, uns erst spät vorzustellen. Die kleinen Städte sind solche Klatschnester.«

Rougon nickte zustimmend. Die feiste Frau Correur, rosig geschminkt und gelb gekleidet, schien ihm in der Provinz tatsächlich kompromittierend.

»Haben Sie Ihren Bruder gesehen?« fragte er.

»Ja, ja«, knirschte sie mit zusammengepreßten Zähnen. »Frau Martineau hat nicht gewagt, mich vor die Tür zu setzen, aber sie hat hinter mir mit Zucker ausgeräuchert... Der arme Bruder! Ich wußte, daß er krank sei, aber es gab mir wirklich einen Stich ins Herz, ihn so abgefallen zu sehen. Er hat mir versprochen, mich nicht zu enterben; das sei gegen seine Grundsätze. Das Testament ist geschrieben, das Vermögen wird zwischen mir und Frau Martineau geteilt... Nicht wahr. Herminie?«

»Das Vermögen wird geteilt«, bestätigte die Angeredete. »Er hat es gesagt, als Sie eintraten, und er hat es wiederholt, als er Ihnen die Tür wies. Gewiß, ich habe es gehört!«

Inzwischen verabschiedete Rougon die beiden Frauen mit den Worten:

»Gut, es freut mich sehr! Sie sind jetzt ruhiger. Mein Gott, Familienzwistigkeiten werden schließlich immer beigelegt. Guten Abend also. Ich lege mich schlafen.«

Aber Frau Correur hielt ihn zurück. Sie hatte ihr Taschentuch gezogen und drückte es in einem Verzweiflungsanfall vor die Augen.

»Der arme Martineau!... Er war so gut, er hat mir so leicht verziehen!... Wenn Sie wüßten, mein Freund. Seinetwegen bin ich gekommen, um Sie für ihn anzuflehen...« Tränen erstickten ihre Stimme. Sie schluchzte laut auf. Rougon, der nicht begriff, was es bedeuten sollte, blickte erstaunt auf die beiden. Fräulein Herminie Billecoq weinte gleichfalls, aber leiser; sie war sehr zartfühlend, sie litt an der ansteckenden Rührseligkeit. Sie sprach zuerst und stammelte:

»Herr Martineau hat sich politisch kompromittiert.«

Da fand auch Frau Correur wieder Worte und ließ ihrem Redestrom freien Lauf.

»Sie werden sich entsinnen, daß ich Ihnen gegenüber eines Tages Bedenken geäußert habe. Ich hatte ein Vorgefühl... Martineau ging unter die Republikaner. Bei den letzten Wahlen hat er sich dazu hinreißen lassen, nach Kräften für den Kandidaten der Opposition zu wirken. Ich kannte die Einzelheiten, will Sie aber damit verschonen. Kurz, es konnte kein gutes Ende nehmen. Sobald ich zu Goulonges im ›Goldenen Löwen‹ abgestiegen war, begann ich zu fragen und erfuhr alles. Martineau hat alle möglichen Dummheiten begangen. Es würde niemanden im Lande wundernehmen, wenn er verhaftet würde. Man erwartet von Tag zu Tag, daß die Gendarmen ihn fortschleppen... Denken Sie sich, was für ein Unglück das für mich wäre! Deshalb habe ich an Sie gedacht, mein Freund...«

Wieder erstickte ihre Stimme in Schluchzen. Rougon suchte sie zu beruhigen. Er wolle mit Du Poizat reden und die Verfolgung aufhalten, falls sie schon begonnen hätte. Er ließ sich selbst das Wort entschlüpfen:

»Ich bin der Herr, schlafen Sie ruhig!«

Frau Correur nickte und wickelte mit trockenen Augen ihr Taschentuch zusammen. Dann fügte sie noch leise hinzu:

»Nein, nein, Sie haben keine Ahnung: Es ist schlimmer, als Sie sich vorstellen können... Er geleitet seine Frau zur Messe und bleibt selbst an der Tür, weil er keinen Fuß in die Kirche setzen will. Das ist ein Ärgernis Sonntag für Sonntag. Er besucht oft einen alten Advokaten, der sich dorthin zurückgezogen hat, einen Achtundvierziger, mit dem man ihn stundenlang schreckliche Dinge reden hört. Oft hat man nächtlicherweile verdächtige Gestalten in seinen Garten schlüpfen sehen, ohne Zweifel, um irgendein Losungswort zu holen.«

Bei jedem Satze zuckte Rougon die Achseln; aber Fräulein Billecoq fügte erregt hinzu, wie entrüstet über solche Duldsamkeit:

»Und die rot gesiegelten Briefe, die er aus allen Weltgegenden bekommt, wie uns der Briefträger gesagt hat. Er wollte nicht mit der Sprache heraus, er war ganz bleich. Wir haben ihm zwanzig Sous geben müssen ... Und seine letzte Reise vor vier Wochen. Er ist acht Tage fort gewesen, und noch heute weiß niemand in der Gegend wohin. Die Wirtin vom ›Goldenen Löwen‹ hat uns versichert, er habe nicht einmal einen Koffer mitgenommen.«

»Herminie, ich bitte Sie!« sagte Frau Gorreur beunruhigt. »Martineau sitzt tief genug drin. Es ist nicht unsere Sache, seine Lage noch zu verschlimmern.«

Rougon hörte jetzt zu und ließ seine Blicke von der einen zur andern schweifen. Er war sehr ernst geworden und murmelte:

»Wenn er sich so kompromittiert hat! ...«

Er glaubte, in den trüben Augen der Frau Correur eine Flamme aufleuchten zu sehen, und fuhr fort:

»Ich werde mein Möglichstes tun, aber ich kann nichts versprechen.«

»Ach, er ist verloren, er ist verloren!« rief Frau Correur. »Ich fühle es ... Wir wollen nichts sagen. Wenn wir Ihnen alles sagten ...«

Sie hielt inne und kaute an ihrem Taschentuch.

»Zwanzig Jahre lang habe ich ihn nicht gesehen! Und ich muß ihn wiederfinden, um ihn vielleicht nie wiederzusehen! ... Er war so gut, so gut!«

Herminie zuckte leicht die Achseln und winkte Rougon zu, er möge der Verzweiflung einer Schwester vergeben, aber der alte Notar sei der schlechteste aller Halunken.

»Ich an Ihrer Stelle würde alles berichten«, sagte sie. »Es ist besser.«

Da schien sich Frau Correur zu einer großen Tat aufzuraffen:

»Sie erinnern sich, daß überall das Tedeum gesungen wurde, als der Kaiser vor der Oper so wunderbar gerettet worden ... Als man es in Coulonges sang, fragte ein Nachbar Martineau, ob er nicht zur Kirche gehen wolle, und dieser Unglückliche antwortete: ›Wozu in die Kirche? Ich frage den Teufel nach dem Kaiser!‹«

»Ich frage den Teufel nach dem Kaiser!« wiederholte Fräulein Herminie Billecoq fassungslos.

»Begreifen Sie jetzt meine Besorgnis?« führ Frau Correur fort. »Ich sage Ihnen, seine Verhaftung würde niemanden in der Gegend überraschen.«

Bei diesen Worten sah Rougon ihr fest in die Augen. Er antwortete nicht gleich. Er schien zum letztenmal dieses dicke, schwammige Gesicht zu befragen, dessen matte Augen unter den dünnen, blonden Brauen hervorzwinkerten. Einen Augenblick ruhte sein Auge auf dem fetten, weißen Halse. Dann streckte er die Arme aus und rief:

»Ich vermag nichts, glauben Sie mir. Ich bin nicht der Herr.«

Dann führte er Gründe an. Er mache sich ein Gewissen daraus, sich in solche Sachen zu mischen. Wenn die Gerechtigkeit sich zum Einschreiten veranlaßt sehe, müsse man ihr freien Lauf lassen. Hätte er Frau Correur doch lieber nicht gekannt! Seine Freundschaft zu ihr könne ihm die Hände binden, aber er habe geschworen, gewisse Dienste selbst seinen Freunden zu verweigern. Er werde Erkundigungen einziehen. Schließlich begann er, sie zu trösten, als ob ihr Bruder schon nach einer Verbannungskolonie unterwegs sei. Sie senkte den Kopf und schluchzte leise, wobei jedesmal der ungeheure blonde Haarwulst auf ihrem Kopfe ins Wanken geriet. Endlich beruhigte sie sich. Als sie sich verabschiedete, schob sie Herminie vor sich hin und sagte:

»Fräulein Herminie Billecoq ... Ich glaube, ich habe sie Ihnen schon vorgestellt. Entschuldigen Sie, ich habe einen so wirren Schädel! ... Es ist das Fräulein, das auszustatten uns gelungen ist. Der Offizier, ihr Verführer, hat sie noch nicht heimführen können, weil die Förmlichkeiten kein Ende nehmen ... Danken Sie Seiner Exzellenz, liebes Kind!«

Das Mädchen dankte errötend mit dem Gesichte einer Unschuld, die ein unziemliches Wort vernommen hat. Frau Correur ließ sie vorangehen, dann drückte sie Rougon sehr warm die Hand und flüsterte ihm zu:

»Ich rechne auf Sie, Eugène.«

Als der Minister in den Salon zurückkehrte, fand er ihn leer. Es war Du Poizat gelungen, den Abgeordneten, den ersten Adjunkten und die sechs Mitglieder der statistischen Gesellschaft zu verabschieden. Selbst Herr Kahn war gegangen, nachdem er die Zusammenkunft auf zehn Uhr am nächsten Vormittag festgesetzt hatte. Im Speisesaale waren nur noch die Frau des Direktors und Gilquin, die Backwerk knabberten und dabei von Paris plauderten. Gilquin warf zärtliche Blicke, sprach von den Rennen, vom Gemäldesalon, von einer Erstaufführung im Französischen Lustspielhause mit der Sicherheit eines Mannes, der in allen Gesellschaftskreisen zu Hause ist. Inzwischen berichtete der Direktor dem Präfekten leise über einen Lehrer der Quarta, der in republikanischem Geruche stand. Es war elf Uhr. Man erhob sich, um Seiner Exzellenz gute Nacht zu wünschen, und Gilquin zog sich mit dem Direktor und dessen Frau zurück, indem er ihr den Arm bot, aber Rougon winkte ihn zu sich.

»Herr Zentralkommissar, ich bitte um ein Wort.«

Als sie allein waren, redete er zugleich ihn und den Präfekten an:

»Was für eine Geschichte ist das mit dem Martineau? ... Ist der Mann wirklich sehr verdächtig?«

Gilquin lächelte, und Du Poizat berichtete Näheres:

»Mein Gott, an den denke ich nicht. Man hat ihn angezeigt. Ich habe Briefe erhalten ... Freilich beschäftigt er sich mit Politik. Aber wir haben im Kreise schon vier Verhaftungen vorgenommen. Ich möchte, um die vorgeschriebene Zahl von fünf voll zu machen, lieber einen Lehrer der Quarta einstecken, der seinen Schülern revolutionäre Bücher vorliest.«

»Ich habe sehr belastende Tatsachen in Erfahrung gebracht«, sagte Rougon streng. »Die Tränen seiner Schwester können diesen Martineau nicht retten, wenn er wirklich so gefährlich ist. Es handelt sich um die öffentliche Wohlfahrt.«

Er wandte sich an Gilquin und fragte:

»Was gedenken Sie zu tun?«

»Ich werde morgen zur Verhaftung schreiten«, erwiderte dieser. »Ich kenne die ganze Geschichte. Ich habe Frau Correur in der ›Stadt Paris‹ gesehen, wo ich gewöhnlich esse.«

Du Poizat wandte nichts dagegen ein. Er zog ein kleines Taschenbuch, strich darin einen Namen aus und schrieb einen andern dafür hin, indem er dem Polizeikommissar zugleich empfahl, den Lehrer der Quarta auf jeden Fall zu überwachen. Rougon begleitete Gilquin bis zur Tür und sagte noch:

»Dieser Martineau ist etwas leidend. Gehen Sie persönlich nach Goulonges und handeln Sie so schonend wie möglich.«

Aber Gilquin richtete sich mit verletzter Miene auf. Er setzte alle Achtung vor der Exzellenz beiseite, duzte sie sogar und rief:

»Hältst du mich denn für einen gemeinen Spion? Laß dir von Du Poizat die Geschichte von dem Apotheker erzählen, den ich vorgestern im Bette verhaftet habe. Bei ihm lag die Frau eines Gerichtsvollziehers. Niemand hat etwas erfahren ... Ich handle stets als Mann von Welt.«

Rougon lag neun Stunden in tiefem Schlafe. Als er gegen halb neun Uhr erwachte, ließ er Du Poizat rufen, der mit sehr vergnügter Miene kam, die Zigarre im Munde. Sie plauderten und scherzten wie einst, als sie noch bei Frau Gorreur wohnten und sich morgens durch Klapse auf die nackten Schenkel zu wecken pflegten. Beim Waschen fragte der Minister den Präfekten mancherlei über das Land, die Beamten, die Bedürfnisse der einen und die Ansprüche der anderen. Er wollte für jeden ein freundliches Wort finden.

»Keine Furcht, ich werde Ihnen schon vorsagen!« versicherte Du Poizat lachend.

Darauf unterrichtete er ihn kurz über Persönlichkeiten, mit denen er in Berührung kommen werde. Rougon ließ ihn zuweilen eine Sache wiederholen, um sie seinem Gedächtnisse besser einzuprägen. Um zehn Uhr kam Herr Kahn. Sie frühstückten zu Dreien und setzten dabei die letzten Einzelheiten der Feierlichkeit fest. Der Präfekt hatte eine Rede zu halten, Herr Kahn ebenfalls. Rougon würde zuletzt reden. Aber es würde besser sein, noch eine vierte Rede folgen zu lassen. Einen Augenblick dachte man an den Bürgermeister, doch Du Poizat fand ihn zu dumm und empfahl den staatlichen Bauingenieur, der natürlich dazu berufen war, dessen kritischen Blick jedoch Herr Kahn fürchtete. Als sie sich endlich erhoben, nahm er den Minister beiseite, um ihm die Punkte anzudeuten, die er in seiner Rede betont sehen möchte.

Um halb elf Uhr wollte man sich in der Präfektur versammeln. Der Bürgermeister und sein erster Beamter fanden sich zugleich ein, ersterer stotterte und war trostlos, daß er sich am Abend zuvor nicht in Niort befunden habe, während letzterer sich bei Seiner Exzellenz höflichst erkundigte, ob sie eine gute Nacht gehabt und sich erholt habe. Darauf erschienen der Gerichtspräsident, der Staatsanwalt und seine beiden Beamten, der Leiter des Staatsbauamtes, denen der Obersteuereinnehmer, der Direktor der direkten Steuern und der Vorstand des Grundbuchamtes folgten, mehrere der Herren mit ihren Damen. Die Frau des Gymnasialdirektors, die niedliche Blonde, brachte in ihrer himmelblauen, sehr pikanten Toilette eine große Bewegung hervor; sie bat Seine Exzellenz, ihren Gatten zu entschuldigen, der sich abends zuvor bei der Heimkehr einen Gichtanfall zugezogen habe und deshalb nicht kommen könne. Inzwischen fanden sich die übrigen ein: der Oberst des achtundsiebzigsten Linienregiments, das in Niort lag, der Präsident des Handelsgerichtes, die beiden Friedensrichter der Stadt, der Forstinspektor mit seinen drei Töchtern, Gemeinderäte, Abgeordnete der Handels- und Gewerbekammer, der statistischen Gesellschaft und des Schiedsrichteramtes.

Der Empfang fand im großen Saale der Präfektur statt. Du Poizat besorgte die Vorstellungen, und der Minister begrüßte mit höflicher Verbeugung jedermann als alten Bekannten. Er war über alle erstaunlich gut unterrichtet. Er sprach mit dem kaiserlichen Staatsanwalt in Ausdrücken der wärmsten Anerkennung über eine jüngst von ihm gehaltene Anklagerede in einer Ehebruchssache; er erkundigte sich beim Steuerdirektor mit bewegter Stimme nach dessen Frau, die seit zwei Monaten das Bett hüten mußte; er hielt den Oberst der Achtundsiebziger einen Augenblick fest, um ihm zu zeigen, daß ihm die erfolgreichen Studien seines Sohnes zu Saint-Cyr keineswegs unbekannt seien; er redete über Fußbekleidung mit einem Gemeinderat, der große Schuhwerkstätten besaß, und begann mit dem Grundbuchführer, einem leidenschaftlichen Archäologen, eine Unterhaltung über den in der letzten Woche aufgefundenen Druidenstein. Blieb er einmal stecken, dann kam Du Poizat ihm mit einem geschickt eingeworfenen Worte zu Hilfe. Übrigens bewahrte er eine vorzügliche Haltung.

Als der Präsident des Handelsgerichtes mit einer Verbeugung eintrat, rief er ihm leutselig entgegen:

»Sie kommen allein, Herr Präsident? Ich hoffe aber, Sie werden heute abend zum Festessen Ihre Frau Gemahlin mitbringen ...«

Als er die verblüfften Gesichter um sich her sah, hielt er inne. Du Poizat stieß ihn leicht an. Da erinnerte er sich, daß der Präsident des Handelsgerichtes infolge gewisser Vorfälle von seiner Frau getrennt lebe. Er hatte sich geirrt, er hatte mit dem Präsidenten des Zivilgerichtes zu reden geglaubt. Das aber brachte ihn nicht im mindesten aus der Fassung. Noch immer lächelnd, ohne sein Versehen zu beachten, fuhr er mit schlauer Miene fort:

»Ich habe eine gute Nachricht für Sie, mein Herr. Ich weiß, daß mein Kollege, der Justizminister, Sie zu einer Auszeichnung vorgeschlagen hat ... Es ist eine Indiskretion von mir, hüten Sie also das Geheimnis.«

Der Präsident des Handelsgerichtes wurde sehr rot. Er erstickte fast vor Freude. Man umdrängte und beglückwünschte ihn, während Rougon dieses Kreuz, das er mit so vieler Geistesgegenwart verliehen, seinem Gedächtnisse einprägte, damit er nicht vergesse, seinen Kollegen daran zu erinnern. Er zeichnete den betrogenen Ehemann aus. Du Poizat konnte ein Lächeln der Bewunderung nicht unterdrücken.

Inzwischen hatten sich etwa fünfzig Personen in dem großen Saale versammelt. Man wartete noch immer, schweigend und verlegen.

»Es wird Zeit, wir können aufbrechen«, murmelte der Minister.

Aber der Präfekt flüsterte ihm zu, der Abgeordnete, der vormalige Gegner des Herrn Kahn, sei noch nicht zur Stelle. Endlich kam auch er, in Schweiß gebadet; seine Uhr mußte stehengeblieben sein, er konnte es gar nicht begreifen. Dann begann er, um alle über seinen Besuch vom Abend zuvor in Kenntnis zu setzen:

»Wie ich gestern Eurer Exzellenz gesagt habe ...«

Damit trat er zu Rougon und teilte ihm mit, daß er am nächsten Morgen nach Paris zurückkehren werde. Die Osterferien seien schon am Dienstag abgelaufen, die Session sei wieder eröffnet, er habe jedoch geglaubt, noch einige Tage in Niort bleiben zu sollen, um Seine Exzellenz im Namen des Kreises zu begrüßen.«

Alle Geladenen waren inzwischen in den Hof der Präfektur hinabgestiegen, wo etwa zehn Wagen zu beiden Seiten der Freitreppe; sie erwarteten. Der Minister bestieg mit dem Abgeordneten, dem Präfekten und dem Bürgermeister eine Kalesche, die den Zug eröffnete. Die übrigen folgten möglichst genau nach der Rangordnung in zwei andern Kaleschen, drei Landauern und zwei Jagdwagen zu sechs und acht Plätzen. In der Präfekturstraße ordnete sich der Zug und fuhr dann in kurzem Trabe ab. Die Bänder der Damen flatterten, während ihre Röcke über den Schlag hinausquollen. Die schwarzen Hüte der Herren glänzten in der Sonne. Man mußte eine ganze Strecke durch die Stadt fahren. In den engen Straßen wurden die Wagen auf den spitzen Pflastersteinen so derb geschüttelt, daß sie unter dem lauten Getöse ihrer Eisenbeschläge dahinrollten. Aus allen Fenstern, aus allen Türen grüßten die Bewohner von Niort stumm und suchten Seine Exzellenz, sehr erstaunt, den Minister im bürgerlichen Überrock neben der goldgestickten Uniform des Präfekten zu sehen.

Nachdem man die Stadt verlassen, rollten die Wagen auf einem breiten, mit prächtigen Bäumen bepflanzten Wege dahin. Das Wetter war sehr mild, ein schöner Apriltag und blauer, sonnenheller Himmel. Die Straße, gerade und glatt, lief zwischen Gärten hin, in denen Flieder und Aprikosen blühten. Darauf dehnte sich weit das offene Feld aus, nur hier und da von einer Baumgruppe unterbrochen. In den Wagen wurde geplaudert.

»Das ist eine Spinnerei, nicht wahr?« sagte Rougon, nachdem der Präfekt ihm etwas zugeflüstert hatte.

Darauf wandte er sich zum Bürgermeister und zeigte auf das rote Ziegelgebäude am Rande des Wassers:

»Das ist Ihre Spinnerei, wenn ich nicht irre. Man hat mir von Ihrem neuen System, Wolle zu kämmen, berichtet. Ich werde trachten, einen Augenblick für alle diese Wunder zu erübrigen.«

Dann erkundigte er sich nach der Triebkraft des Flusses. Nach seiner Ansicht boten durch Wasser getriebene Motoren unter günstigen Verhältnissen riesige Vorteile. Dabei setzte er den Bürgermeister durch seine technischen Kenntnisse in Erstaunen. Die übrigen Wagen folgten in ungleichen Zwischenräumen. Bei dem eintönigen Trabe der Pferde wurden Gespräche geführt, die vor Zahlen starrten. Da erscholl ein perlendes Lachen, wonach sich alle Köpfe umwandten; es war die Frau des Gymnasialdirektors, deren Schirm auf einen Kieselhaufen gefallen war.

»Sie haben hier ein Gut«, wandte sich Rougon zu dem Abgeordneten. »An diesem Abhang, wenn ich nicht irre ... Prächtige Wiesen! Ich weiß übrigens, daß Sie sich mit Viehzucht beschäftigen, und daß Ihre Kühe auf der letzten landwirtschaftlichen Ausstellung preisgekrönt wurden.«

Darauf redeten sie über Vieh. Die Wiesen glänzten in der Sonne wie grüner Samt, reich gestickt mit Blumen in allen Farben. Hohe Pappelreihen gestatteten Ausblicke in die Ferne, auf wunderhübsche Landschaftsbilder. Eine alte Frau, die einen Esel trieb, mußte das Tier am Rande des Weges anhalten, bis der Zug vorüber war. Der Esel, erschrocken über die Menge Wagen, deren lackierte Wände in der Sonne schimmerten, fing an zu schreien. Indessen bewahrten sowohl die geputzten Damen wie die behandschuhten Herren ihren Ernst.

Zur Linken ging es eine kleine Erhöhung hinauf, dann wieder hinab. Man war am Ziele. Es war eine Senkung, eine Art Sackgasse, von drei Abhängen eingeschlossen, die den Weg versperrten. Von der Umgebung sah man, wenn man emporblickte, hier nur die Trümmer zweier Mühlen, die sich scharf gegen den Himmel abhoben. Da unten war inmitten eines viereckigen Grasplatzes ein Zelt aus grauer Leinwand mit breitem, rotem Rande errichtet und an den vier Ecken mit Fahnen geschmückt. Etwa tausend Neugierige waren zu Fuß gekommen und standen, Bürger, Damen und Bauern, zur Rechten im Schatten des einen Hügels. Vor dem Zelte stand eine Abteilung des achtundsiebzigsten Linienregimentes unter den Waffen, gegenüber die Feuerwehr von Niort, deren gute Haltung sehr auffiel, während am Rande des Grasplatzes eine Arbeiterschar in neuen Blusen wartete, an ihrer Spitze die in ihre Überröcke gehüllten Ingenieure. Sobald die Wagen sichtbar wurden, begann die philharmonische Gesellschaft, ein Verein von. Liebhabermusikanten, die Ouvertüre zur »Weißen Dame«.

»Seine Exzellenz lebe hoch!« riefen einige Stimmen, die jedoch durch die Instrumente übertönt wurden.

Rougon stieg aus. Er erhob die Blicke und sah sich in dem Loche um, auf dessen Grunde er stand, ärgerlich über die Beengtheit des Horizonts, die ihm die Feierlichkeit zu beeinträchtigen schien. Einen Augenblick blieb er im Grase stehen und erwartete ein Wort des Willkommens. Du Poizat hatte die Präfektur sofort nach dem Frühstück verlassen und vorsichtshalber die Sprengmine untersucht, an die Seine Exzellenz Feuer legen sollte. Er führte den Minister zum Zelte; die Gäste folgten, anfangs in einiger Unordnung. Rougon bat um nähere Auskunft.

»Also in diesem Einschnitte wird der Tunnel münden?«

»Allerdings«, versetzte Herr Kahn. »Das erste Sprengloch ist in den rötlichen Felsen gebohrt, da, wo Eure Exzellenz die Fahne sehen.«

An dem Hügel im Hintergründe, den die Hacke schon angegriffen hatte, war der nackte Felsen sichtbar. Entwurzelte Büsche hingen zwischen den fortgeräumten Erdmassen. Der Boden des Einschnittes war mit Zweigen bedeckt. Herr Kahn wies auf eine doppelte Reihe Pfähle, welche die Bahnlinie bezeichneten und mit ihren, mit weißen Papierschnitzeln umwickelten Spitzen die Pfade, das Gras und Gebüsch durchschnitten. Es war ein friedlicher Erdenwinkel, der ausgeweidet werden sollte.

Inzwischen hatten die Behörden sich unter dem Zelte aufgestellt. Die Neugierigen beugten sich vor, um zwischen den Leinwandstreifen hindurchzugehen. Die philharmonische Gesellschaft beendete eben die Ouvertüre der »Weißen Dame«.

»Herr Minister,« durchbrach da plötzlich eine schrille Stimme das Schweigen, »es gereicht mir zu großer Ehre, als erster Eurer Exzellenz dafür zu danken, daß Sie die Güte hatten, die Einladung anzunehmen, die wir uns erlaubt haben, Ihnen zu übersenden. Der Kreis Deux-Sèvres wird in Ewigkeit nicht vergessen ...«

Es war Du Poizat, der das Wort ergriffen hatte. Er stand drei Schritte weit vor Rougon, und bei gewissen wohl abgemessenen Redensarten neigten sie die Köpfe leicht zueinander. Er redete so eine Viertelstunde, erinnerte den Minister daran, wie glänzend er den Kreis in der gesetzgebenden Versammlung vertreten habe; die Stadt Niort habe seinen Namen als den ihres Wohltäters in ihre Jahrbücher eingetragen und brenne vor Verlangen nach einer Gelegenheit, ihm ihre Dankbarkeit zu erweisen. Du Poizat hatte die politische und praktische Seite der Begrüßung übernommen. Zuweilen entführte der Wind seine Stimme, und dann sah man nur seine Gebärden, eine regelmäßige Bewegung seines rechten Armes, und die tausend Neugierigen auf dem Abhange betrachteten die Stickerei seines Ärmels, deren Gold in einem Sonnenstrahle aufblitzte.

Dann trat Herr Kahn in die Mitte des Zeltes. Er sprach sehr laut, manche Worte bellte er förmlich heraus. Wenn er am Ende eines Satzes selbstgefällig inne hielt, sandte das Echo aus dem Hintergrunde des Tales seine letzten Worte stets zurück. Er berichtete über seine langjährigen Bemühungen, seine Studien und die Schritte, die er vier Jahre lang habe unternehmen müssen, um der Gegend die Wohltat einer neuen Eisenbahn zu verschaffen. Jetzt werde Segen und Gedeihen in den Kreis einkehren, die Felder würden befruchtet werden, die Fabriken würden ihre Erzeugnisse verdoppeln, der Handel werde selbst in den entlegensten Dörfern einen neuen Aufschwung nehmen – kurz, nach seinen Worten schien es, daß Deux-Sèvres unter seinen Zauberhänden ein Schlaraffenland werde voller Milchbäche und Zauberhaine, wo gut gedeckte Tafeln die Vorübergehenden zum Mahle einluden. Dann nahm er plötzlich die Miene übertriebener Bescheidenheit an. Er verdiene nicht den geringsten Dank, habe nie ein so großartiges Unternehmen ins Werk setzen können ohne seinen hohen Gönner, auf den er so stolz sei. Er wandte sich an Rougon und nannte ihn »den erleuchteten Minister, den Beschützer aller edlen und nützlichen Gedanken«. Zum Schlusse pries er die finanziellen Vorteile des Unternehmens. An der Börse reiße man sich um die Aktien. Glücklich der Rentner, der sein Geld in einer Unternehmung habe anlegen können, der Seine Exzellenz der Minister des Innern seinen Namen zu leihen sich herabließ.

»Sehr gut, sehr gut!« murmelten einige Gäste.

Der Bürgermeister und mehrere Beamte drückten Herrn Kahn die Hand, der sehr ergriffen schien. Draußen wurde Beifall gerufen. Die philharmonische Gesellschaft glaubte eine lustige Tanzweise anstimmen zu sollen, aber der erste Adjunkt schickte eiligst einen Feuerwehrmann, der die Musik schweigen hieß. Unter dem Zelte zögerte inzwischen der Chef des Bauamtes, der Aufforderung zum Reden nachzukommen, weil er sich nicht vorbereitet habe. Auf das Drängen des Präfekten hin entschied er sich jedoch. Herr Kahn flüsterte letzterem sehr beunruhigt zu:

»Sie tun unrecht. Er ist schlimm wie die Pest.«

Der Chef des Bauamtes war ein langer, magerer Mann, der sehr zum Spott neigte. Er redete langsam und zog bei jeder beißenden Wendung den Mundwinkel schief. Er begann damit Herrn Kahn mit Lobsprüchen zu überhäufen. Darauf kamen boshafte Bemerkungen. Er beurteilte kurz das Projekt der Bahn mit der Geringschätzung, die die Staatsingenieure den Zivilingenieuren gegenüber gewöhnlich hegen. Er erinnerte an den Gegenentwurf der Westbahn-Gesellschaft, wonach die Bahn über Thouars gehen sollte, und hob, ohne sich anscheinend darüber lustig zu machen, den Bogen hervor, den die Linie des Herrn Kahn machte, um die Hochöfen von Bressuire zu erreichen. Alles sagte er ohne irgendwelche Grobheit, mit liebenswürdigen Wendungen untermischt, aber voller Nadelstiche, die nur die Eingeweihten fühlten. Am Schlusse war er noch grausamer. Er schien zu bedauern, daß »der erlauchte Minister« sich bei einem Geschäfte kompromittieren werde, dessen finanzielle Seite alle Sachverständigen beunruhige. Ungeheure Summen würden erforderlich sein; die größte Ehrlichkeit, die größte Selbstlosigkeit würden nötig sein. Mit schiefem Munde schloß er:

»Diese Besorgnisse sind grundlos, wir sind völlig beruhigt, da wir an der Spitze des Unternehmens einen Mann sehen, dessen günstige Vermögensverhältnisse und erprobte kaufmännische Redlichkeit im Kreise wohlbekannt sind.«

Ein Beifallsgemurmel wurde laut. Nur einige Leute sahen Herrn Kahn an, der sich mit bleichen Lippen zu lächeln bemühte. Rougon hatte mit halbgeschlossenen Augen zugehört, als wenn ihn das grelle Licht blende. Als er sie wieder öffnete, waren seine hellen Augen schwarz geworden. Er hatte anfangs nur sehr wenig sprechen wollen; jetzt aber hatte er einen der Seinigen zu verteidigen. Er trat bis an den Rand des Zeltes vor, und hier begann er mit einer Handbewegung, die in ihrer weit ausholenden Größe sich an das ganze lauschende Frankreich zu wenden schien, folgendermaßen:

»Meine Herren, erlauben Sie mir, im Geiste diese Hügel überschreitend, das ganze Reich mit einem Blicke zu überschauen und so die Feierlichkeit, die uns hier vereinigt, zu erhöhen, um dabei die gewerbliche und Handelstätigkeit überhaupt zu feiern. In dem Augenblicke, da ich rede, gräbt man vom Norden bis zum Süden Kanäle, baut man Eisenbahnen, durchsticht man Berge, errichtet man Brücken ...«

Tiefes Schweigen herrschte ringsum. Zwischen den einzelnen Sätzen hörte man nur das Rauschen der Blätter und von fern das Brausen einer Schleuse. Die Feuerwehr, die trotz der Hitze an guter Haltung mit den Soldaten wetteiferte, schielte hinüber, um den Minister reden zu sehen, ohne den Hals zu wenden. Auf dem Abhänge hatten sich die Zuschauer gemächlich niedergelassen, die Damen hockten auf ihren ausgebreiteten Taschentüchern; zwei Herren, welche die Sonne erreichte, öffneten die Schirme ihrer Frauen. Allmählich erhob Rougon die Stimme. Er schien sich in diesem Loche beengt zu fühlen, als ob das Tal für seine Gebärden nicht weit genug sei. Mit den heftig fuchtelnden Händen schien er den Horizont erweitern zu wollen. Zweimal suchte er Raum, aber er begegnete oben am Himmelsrande nur den Mühlen, deren ausgeweidete Gerippe in der Sonnenglut knackten.

Der Redner hatte das Thema des Herrn Kahn wieder aufgenommen, behandelte es jedoch von einem weiteren Gesichtspunkte aus. Nicht nur für den Kreis Deux-Sèvres breche eine Zeit wunderbaren Gedeihens an, sondern für ganz Frankreich dank der Zweigbahn von Niort nach Angers. Zehn Minuten verweilte er dabei, die zahllosen Wohltaten aufzuzählen, die sich über die Bevölkerung ergießen würden. Er trieb die Sache so weit, von der Hand Gottes zu reden. Dann antwortete er dem Chef des Bauamtes; er erörterte seine Rede nicht, spielte nicht einmal darauf an, sondern sagte einfach das Gegenteil von dem, was jener behauptet hatte. Er betonte die Hingabe des Herrn Kahn, stellte ihn als bescheiden, selbstlos, erhaben hin. Die finanzielle Seite des Unternehmens verursachte ihm keine Sorge. Mit einem Lächeln, einer schnellen Handbewegung häufte er Goldberge auf. Da wurde er von Bravorufen unterbrochen.

»Meine Herren, noch ein letztes Wort«, sagte er, nachdem er sich die Lippen abgetrocknet.

Das letzte Wort dauerte eine Viertelstunde. Er ließ sich dazu hinreißen weiterzugehen, als er gewollt. Ja, als er in seiner Rede bei der Größe des Reiches angekommen war und des Kaisers tiefe Einsicht feierte, ließ er merken, daß Seine Majestät die Zweigbahn Niort-Angers in besonderer Weise begünstige. Das Unternehmen wurde zu einer Staatsangelegenheit.

Drei Beifallssalven ertönten. Eine Rabenschar, die in beträchtlicher Höhe unter dem klaren Himmel dahinflog, brach erschrocken in langanhaltendes Krächzen aus. Nach dem letzten Worte der Rede hatte die philharmonische Gesellschaft auf ein Zeichen vom Zelte her wieder zu spielen begonnen, während die Damen ihre Röcke zusammenrafften und sich schnell erhoben, um von dem Schauspiele nichts zu verlieren. Inzwischen drängten sich die Gäste mit entzücktem Lächeln um Rougon. Der Bürgermeister, der Staatsanwalt, der Oberst der Achtundsiebziger nickten, als der Abgeordnete sich halblaut in Ausdrücken der Bewunderung erging, aber doch so, daß der Minister ihn hören konnte. Die höchste Begeisterung jedoch zeigte der Chef des Bauamtes; er bekundete eine außerordentliche Dienstbeflissenheit mit verzogenem Munde, gleichsam niedergeschmettert durch die herrlichen Worte des großen Mannes.

»Wenn Eure Exzellenz mir jetzt folgen wollen«, sagte Herr Kahn, dessen dickes Gesicht vor Freude schwitzte.

Man kam zu Ende. Seine Exzellenz schickte sich an, die erste Mine auffliegen zu lassen. Die Arbeiterschar in neuen Blusen hatte Befehl erhalten und ging dem Minister und Herrn Kahn voran in den Einschnitt hinein, wo sie sich in zwei Reihen aufstellten. Ein Werkführer hielt eine brennende Zündschnur, die er Rougon überreichte. Die im Zelte zurückgebliebenen Vertreter der Behörden reckten die Hälse. Die Zuschauer standen in angstvoller Erwartung. Die philharmonische Gesellschaft spielte noch immer.

»Wird es großen Lärm machen?« fragte die Frau des Gymnasialdirektors einen der beiden Staatsanwaltsbeamten mit unruhigem Lächeln.

»Je nach der Art des Gesteines«, beeilte sich der Präsident des Handelsgerichtes zu erwidern, worauf er sich in mineralogische Erläuterungen einließ.

»Ich werde mir die Ohren verstopfen«, murmelte die älteste Tochter des Forstrates.

Rougon kam sich mit der brennenden Zündschnur in der Hand inmitten all dieser Menschen lächerlich vor. Oben auf dem Rande der Hügel knackten die Mühlengerippe lauter als je. Er legte eilends Feuer an die Lunte, deren Ende ihm der Werkführer zwischen zwei Steinen wies. Gleich darauf ließ ein Arbeiter einen langen Trompetenstoß ertönen, und die Arbeiterschar trat zurück. Herr Kahn hatte Seine Exzellenz schleunigst unter das Zelt zurückgeführt, wobei er eine besorgte Unruhe an den Tag legte.

»Nun, geht es noch nicht los?« stammelte der Vorstand des Grundbuchamtes, der vor Angst mit den Augen zwinkerte und sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte wie die Damen.

Der Schuß krachte erst nach zwei Minuten. Man hatte vorsichtigerweise eine sehr lange Lunte gelegt. Die Spannung der Zuschauer steigerte sich allmählich zur Angst; alle hefteten die Augen auf den roten Felsen und bildeten sich ein, ihn schwanken zu sehen; nervöse Leute sagten, es zucke ihnen durch die Brust. Endlich gab es einen dumpfen Krach, der Fels spaltete sich, und Bruchstücke wie zwei Fäuste groß, wurden in dem Rauch emporgeschleudert. Darauf ging alle Welt heim, und hundertmal vernahm man die Frage:

»Riechen Sie das Pulver?«

Am Abend gab der Präfekt ein Festmahl, an dem die Behörden teilnahmen. Für den folgenden Ball hatte er fünfhundert Einladungen verschickt. Der Ball war glänzend. Der große Saal war mit Grün geschmückt, und in den Ecken waren noch vier kleine Kronleuchter angebracht, deren Kerzen im Verein mit denen des großen Leuchters sehr helles Licht spendeten. Niort konnte sich eines solchen Glanzes nicht erinnern. Die Strahlen, die durch die sechs Fenster fielen, erleuchteten den ganzen Präfekturplatz, auf dem sich über zweitausend Neugierige drängten, die Augen aufwärts gerichtet, um die Tänze zu sehen. Selbst die Musik hörte man draußen so deutlich, daß die Gassenjungen auf der Straße Galopp tanzten. Seit neun Uhr fächelten sich die Damen, Erfrischungen wurden herumgereicht, und Quadrillen folgten den Polkas und Walzern. An der Tür empfing Du Poizat sehr feierlich die Spätkommenden mit einem Lächeln.

»Exzellenz tanzen nicht?« fragte kühn die Frau des Gymnasialdirektors, die eben in einem mit Goldsternen besäten Tarlatankleide eintrat. Rougon entschuldigte sich lächelnd. Er stand an einem Fenster inmitten einer Gruppe. Während er sich mit seiner Umgebung über eine Revision des Katasters unterhielt, blickte er häufig hinaus. Auf der andern Seite des Platzes hatte er eben in dem Scheine der Kerzen in einem Fenster des Gasthauses »Zur Stadt Paris« Frau Correur und Fräulein Herminie Billecoq bemerkt. Sie lagen dort aufgestützt wie auf eine Logenbrüstung mit glänzenden Gesichtern und nackten Hälsen, von Zeit zu Zeit, wenn es in dem Tanzsaale hoch herging, nach Herzenslust kichernd.

Inzwischen hatte die Direktorsgattin ihren Rundgang durch den Saal vollendet, zerstreut, unempfänglich für die Bewunderung, die der Umfang ihres langen Rockes unter den ganz jungen Leuten erregte. Sie suchte jemanden mit schmachtenden Blicken, wobei sie jedoch immer lächelte.

»Der Herr Polizeikommissar ist nicht gekommen?« fragte sie endlich Du Poizat, der sich nach der Gesundheit ihres Gatten erkundigte. Ich habe ihm einen Walzer versprochen.«

»Er müßte hier sein«, versetzte der Präfekt; »auch ich bin überrascht, ihn nicht zu sehen ... Er hat heute einen Auftrag auszuführen gehabt, doch hat er versprochen, um sechs Uhr zurück zu sein.«

Um Mittag nach dem Frühstück hatte Gilquin zu Pferde Niort verlassen, um den Notar Martineau zu verhaften. Coulonges war fünf Meilen entfernt. Er hoffte, in zwei Stunden dort zu sein und gegen vier Uhr spätestens heimkehren zu können, um das Festmahl nicht zu versäumen, zu dem er geladen war. Also beeilte er den Schritt seines Rosses nicht sehr, wiegte sich im Sattel und nahm sich vor, abends gegenüber dieser blonden Frau, die er nur etwas mager fand, sehr unternehmend zu sein. Gilquin hatte dicke Weiber gern. In Coulonges stieg er im »Goldenen Löwen« ab, wo ein Korporal und zwei Gendarmen ihn erwarten sollten. Auf diese Art würde niemand seine Ankunft bemerken; er würde einen Wagen nehmen und den Notar »einpacken«, ohne daß eine Nachbarin den Kopf aus dem Fenster stecken würde. Aber die Gendarmen waren nicht zur Stelle. Gilquin wartete bis fünf Uhr, fluchte, trank Grog und sah alle Viertelstunden nach der Uhr. Unmöglich konnte er noch zum Festmahl nach Niort gelangen. Er ließ satteln, als endlich der Korporal mit seinen Leuten erschien. Es hatte ein Mißverständnis stattgefunden.

»Gut, gut, entschuldigen Sie sich nicht, dazu haben wir keine Zeit!« schrie der Polizeikommissar wütend. »Es ist schon ein Viertel auf sechs! ... Wir wollen unsern Mann einstecken, und zwar sofort! In zehn Minuten müssen wir unterwegs sein!«

Gewöhnlich war Gilquin ein guter Kerl. Er rühmte sich in seinen amtlichen Beziehungen stets der vollendetsten Höflichkeit. Er hatte heute sogar einen verwickelten Plan ersonnen, um dem Bruder der Frau Correur allzu heftige Erregungen zu ersparen: so wollte er allein eintreten, während die Gendarmen mit dem Wagen an der Gartentür, die auf einen Feldweg mündete, warten sollten. Aber die drei Stunden Wartezeit im »Goldenen Löwen« hatten ihn so aufgebracht, daß er alle diese schönen Vorsichtsmaßregeln vergaß. Er fuhr durch die Stadt und klingelte heftig an der Haustür des Notars. Einen Gendarm ließ er hier zurück, den andern schickte er hinten herum, die Gartenmauern zu überwachen. Er selbst trat mit dem Korporal ein, während ein Dutzend Neugieriger erschrocken von weitem zusah.

Beim Anblick der Uniformen verschwand die Magd, die geöffnet hatte, von einem kindischen Schrecken ergriffen, indem sie aus Leibeskräften schrie:

»Madame! Madame! Madame!« Eine kleine dicke Frau stieg mit sehr ruhigem Gesicht die Treppe herab.

»Sie sind wohl Frau Martineau?« fragte Gilquin rasch. »Mein Gott, liebe Frau, ich habe einen traurigen Auftrag auszuführen ... Ich muß Ihren Gatten verhaften.«

Sie faltete ihre kurzen Hände zusammen, während ihre Lippen sich entfärbten. Aber sie stieß keinen Schrei aus. Sie blieb auf der untersten Stufe stehen und versperrte den Weg zur Treppe mit ihren Röcken. Sie wollte den Verhaftsbefehl sehen, verlangte Erklärungen und zog die Sache in die Länge.

»Passen Sie auf! Er wird uns entwischen!« flüsterte der Korporal dem Kommissar ins Ohr.

Sie mußte es gehört haben, denn sie sah sie ruhig an und sagte:

»Bitte, kommen Sie!«

Sie ging voran und führte sie in ein Zimmer, in dessen Mitte Herr Martineau im Schlafrock stand. Das Schreien der Magd hatte ihn bewogen, den Lehnstuhl zu verlassen, worin er seine Tage zu verbringen pflegte. Er war sehr groß, die Hände wie tot, das Gesicht wachsbleich; nur seine schwarzen, milden und doch energischen Augen zeigten noch Leben. Frau Martineau wies schweigend auf ihn hin.

»Lieber Gott, ich habe einen traurigen Auftrag zu erfüllen, mein Herr ...«

Als er geendet hatte, nickte der Notar nur schweigend. Ein leichter Schauer ließ den Schlafrock über seinen mageren Gliedern erzittern. Dann sagte er sehr höflich:

»Es ist gut, meine Herren, ich folge Ihnen.«

Darauf begann er die Sachen zu ordnen, die in dem Zimmer umherlagen, legte einen Pack Bücher beiseite und ließ sich von seiner Frau ein reines Hemd geben. Der Schauer schüttelte ihn wieder und stärker. Als seine Frau ihn wanken sah, folgte sie ihm wie einem Kinde mit ausgebreiteten Armen, um ihn aufzufangen.

»Schnell, schnell, mein Herr«, drängte Gilquin.

Der Notar ging noch zweimal durch das Gemach; dann streckte er plötzlich die Hände in die Luft und sank starr, zusammengekrampft in einen Sessel, von einem Schlaganfalle getroffen. Seiner Frau liefen die hellen Tränen die Wangen herab, aber sie schwieg.

Gilquin hatte seine Uhr gezogen und schrie:

»Gottes Donner!«

Es war halb sechs. Jetzt mußte er darauf verzichten, am Festmahl in der Präfektur teilnehmen zu können. Ehe dieser Mensch in einen Wagen geschafft wurde, mußte mindestens noch eine Viertelstunde vergehen. Er suchte sich damit zu trösten, daß er schwur, sich den Ball nicht entgehen zu lassen; eben fiel ihm ein, daß er von der Frau des Direktors sich den ersten Walzer ausgebeten hatte.

»Schwindel!« flüsterte ihm der Korporal zu. »Soll ich den Mann auf die Beine bringen?«

Ohne die Antwort abzuwarten, trat er vor und ermahnte den Notar, nichts vorzutäuschen. Der aber lag mit geschlossenen Augen und schmalen Lippen starr wie eine Leiche da. Mit der Zeit verlor der Korporal die Geduld, begann zu schimpfen und packte schließlich mit derbem Griffe den Kragen des Schlafrockes. Da aber stieß ihn die bis dahin so ruhige Frau heftig zurück, trat vor ihren Mann hin und ballte als entschlossene und gottesfürchtige Frau ihre Fäuste.

»Reiner Schwindel, sage ich Ihnen!« wiederholte der Korporal.

Gilquin zuckte die Achseln. Er war entschlossen, den Notar tot oder lebendig hinwegzuführen.

»Lassen Sie einen der Leute den Wagen aus dem ›Goldenen Löwen‹ holen. Ich habe den Wirt schon verständigt.« Als der Korporal gegangen war, trat Gilquin an das Fenster nd schaute gemächlich in den Garten hinunter, dessen Aprikosenbäume in voller Blüte standen. Er war ganz in Gedanken versunken, als er sich an der Schulter berührt fühlte. Frau Martineau stand vor ihm und fragte ihn mit getrockneten Wangen und wieder fest gewordener Stimme:

»Dieser Wagen ist für Sie, nicht wahr? Sie können meinen Mann in diesem Zustande doch nicht nach Niort schleppen?«

»Mein Gott, liebe Frau,« sagte er zum drittenmal, »mein Auftrag ist sehr peinlich ...«

»Aber das wäre ja ein Verbrechen! Sie töten ihn! Das hat Ihnen doch niemand aufgetragen!«

»Ich habe den Befehl«, versetzte er rauher, um die Bitten, die er voraussah, abzuschneiden.

Sie sah furchtbar aus. Ein Anfall rasenden Zornes überflog ihr feistes Gesicht, während ihre Blicke das Zimmer durchflogen, wie um ein Rettungsmittel für den äußersten Fall zu finden. Aber sie zwang sich gewaltsam zur Ruhe und nahm die Haltung einer willensstarken Frau an, die nicht auf ihre Tränen rechnet.

»Gott wird Sie strafen, mein Herr!« sagte sie einfach, nachdem sie ihn eine Weile lang nicht aus den Augen gelassen hatte.

Darauf wandte sie sich um, ohne zu schluchzen, ohne weiter zu bitten, und kauerte neben dem Sessel nieder, in dem ihr Mann mit dem Tode rang. Gilquin lächelte.

Da kam der Korporal, der selbst zum »Goldenen Löwen« gegangen war, mit der Meldung zurück, der Wirt behaupte, nicht den kleinsten Wagen zur Verfügung zu haben. Das Gerücht von der Verhaftung des Notars, der in der Gegend sehr beliebt war, mußte sich verbreitet haben. Offenbar verbarg der Wirt seinen Wagen; zwei Stunden vorher hatte er sich verpflichtet, dem Kommissar eine alte Kutsche zu stellen, die er gewöhnlich Reisenden zu Ausflügen in die Umgebung vermietete.

»Durchsucht den Gasthof!« schrie Gilquin wütend über dies neue Hindernis, »durchsucht alle Häuser des Ortes! Will man sich schließlich über uns lustig machen? Ich werde erwartet und habe keine Zeit zu verlieren! Ich gebe Ihnen eine Viertelstunde Zeit, verstehen Sie?«

Der Korporal ging mit seinen Leuten, die er in verschiedenen Richtungen auf die Suche schickte. Dreiviertel Stunden verstrichen, dann eine ganze, endlich fünfviertel Stunden. Nach anderthalb Stunden erschien ein Gendarm mit langem Gesicht: alle Nachforschungen waren erfolglos geblieben. Gilquin wanderte in fieberhafter Aufregung von der Tür zum Fenster und sah die Nacht hereinbrechen. Gewiß würde der Ball ohne ihn eröffnet werden, die hübsche Frau würde ihn für unhöflich halten; das würde ihn lächerlich machen und seine Verführungskünste lahm legen. Sooft er an dem Notar vorüberging, glaubte er, vor Zorn zu ersticken; niemals hatte ihm ein Übeltäter soviel Umstände gemacht. Der Notar blieb regungslos liegen und wurde immer kälter und blässer.

Es war sieben Uhr vorbei, als der Korporal mit strahlendem Gesichte zurückkam. Endlich hatte er die alte Kutsche des Gastwirtes in einem Schuppen eine Viertelstunde vor der Stadt verborgen, entdeckt. Sie war bespannt, und das Schnauben des Pferdes hatte ihn auf die Spur gebracht. Jetzt aber, wo der Wagen da war, mußte Herr Martineau angekleidet werden, und das dauerte sehr lange. Seine Frau legte ihm zunächst mit würdevoller Gemessenheit weiße Strümpfe und ein frisches Hemd an, dann einen schwarzen Anzug: Beinkleider, Weste und Rock. Von den Gendarmen ließ sie sich nicht im geringsten helfen. Der Notar lag in ihren Armen, ohne Widerstand zu leisten. Man hatte eine Lampe angezündet. Gilquin klopfte vor Ungeduld in die Hände, während der Korporal unbeweglich dastand und sein Hut einen mächtigen Schatten an die Decke warf.

»Fertig?« fragte Gilquin wiederholt.

Frau Martineau kramte seit fünf Minuten in einem Schranke herum. Sie zog ein Paar schwarzer Handschuhe daraus hervor und steckte sie in die Tasche ihres Mannes.

»Ich hoffe, mein Herr,« fragte sie, »Sie werden mich im Wagen sitzen lassen? Ich will meinen Mann begleiten.«

»Das ist unmöglich!« versetzte er barsch.

Sie schwieg und drang nicht weiter in ihn.

»Aber Sie werden mir doch wenigstens erlauben, ihm zu folgen?« fragte sie dann.

»Die Straße ist frei!« sagte er. »Aber Sie werden keinen Wagen finden, weil es hier weit und breit keinen gibt.«

Sie zuckte nur leicht die Achseln und ging hinaus, einen Befehl zu erteilen. Nach zehn Minuten hielt ein Wagen vor der Tür, hinter der Kutsche. Jetzt mußte man Herrn Martineau hinunterschaffen. Die beiden Gendarmen trugen ihn, seine Frau hielt ihm den Kopf. Sobald der Sterbende die geringste Klage ausstieß, befahl sie den beiden Männern stillzustehen, was sie trotz der schrecklichen Blicke des Kommissars auch taten. So gab es auf jeder Treppenstufe einen Halt. Der Notar schien ein Toter, den man hinaustrug, gekleidet, wie sich's geziemte. Er mußte besinnungslos in den Wagen gelegt werden.

»Halb neun Uhr!« rief Gilquin und warf einen letzten Blick auf die Uhr. »Verfluchter Dienst! Ich werde überhaupt nicht mehr rechtzeitig nach Hause kommen!«

Das war schon so. Er mußte sehr froh sein, wenn er um die Mitte des Balles anlangte. Er schwang sich fluchend in den Sattel und hieß den Kutscher scharf zufahren. An der Spitze die Kutsche, zu jeder Seite ein Gendarm, einige Schritte dahinter der Kommissar und der Korporal, endlich der Wagen mit Frau Martineau. Die Nacht war sehr kühl. Auf der grauen, endlosen Straße eilte der Zug durch die schlummernde Landschaft dahin; nichts war vernehmbar als das dumpfe Rollen der Räder und der gleichmäßige Galopp der Pferde. Auf dem ganzen Wege wurde kein Wort gesprochen. Gilquin legte sich die Anrede an seine Tänzerin zurecht; Frau Martineau erhob sich zuweilen in ihrem Wagen, sie glaubte, ein Röcheln vernommen zu haben; aber sie konnte vor sich kaum die Kutsche erkennen, die schwarz und schweigend dahinrollte.

Um halb elf Uhr erreichte man Niort. Der Kommissar ließ an den Wällen entlang fahren, um die Stadt zu umgehen. Am Gefängnisse mußte geläutet werden. Als der Pförtner den Häftling so weiß und starr sah, ging er den Direktor wecken. Dieser kam, etwas leidend, bald in Pantoffeln heraus. Aber er wurde zornig und weigerte sich entschieden, einen Menschen in diesem Zustande aufzunehmen. Hielt man etwa das Gefängnis für ein Krankenhaus?

»Er ist einmal hier, was sollen wir denn mit ihm anfangen?« fragte Gilquin außer sich über diesen letzten Zwischenfall.

»Was Sie wollen, Herr Kommissar,« versetzte der Direktor, »aber ich wiederhole, hierher kommt er nicht. Eine solche Verantwortung nehme ich nie auf mich.«

Frau Martineau hatte die Gelegenheit benutzt, zu ihrem Manne in den Wagen zu steigen. Sie schlug vor, ihn in einen Gasthof zu bringen.

»Ja, in den Gasthof, zum Teufel, wohin Sie wollen«, schrie Gilquin. »Ich hab' es schließlich satt. Fort mit ihm!«

Dennoch trieb er den Diensteifer so weit, daß er den Notar bis zur »Stadt Paris« begleitete, wo Frau Martineau absteigen wollte. Der Präfekturplatz begann sich zu leeren, nur Straßenbuben sprangen noch auf dem Bürgersteige herum, während die Bürger mit ihren Frauen sich langsam in den dunklen Straßen verloren, um schlafen zu gehen. Aber die sechs Fenster des großen Saales erleuchteten den Platz noch immer taghell, die Musik klang im Schweigen der Nacht noch lauter, die Damen, deren nackte Schultern man an den Lücken der Vorhänge vorbeigleiten sah, wiegten ihren nach Pariser Mode geordneten Kopfputz. Während der Notar in ein Zimmer des ersten Stockes geschafft wurde, bemerkte Gilquin Frau Gorreur und Fräulein Herminie Billecoq, die ihr Fenster noch nicht verlassen hatten. Sie lehnten noch immer da, von dem Dunste des Festes wie berauscht. Frau Correur mußte jedoch ihren Bruder erkannt haben, denn sie neigte sich so weit vor, daß sie Gefahr lief herauszufallen. Auf einen hastigen Wink von ihr stieg er hinauf.

Etwas später, gegen Mitternacht, erreichte der Ball in der Präfektur seinen Höhepunkt. Die Türen des Speisesaales waren geöffnet und daselbst ein kalter Imbiß aufgetragen. Die Damen, sehr rot, fächelten sich, lachten und aßen stehend. Andere tanzten weiter, um keine Quadrille zu verlieren, und begnügten sich mit einem Glase Fruchtsaft, das ihnen die Herren brachten. Ein leuchtender Staub schwebte, in der Luft, gleichsam von den Haaren, den Röcken und den goldberingten Armen auffliegend, die durch die Luft sausten. Es war zuviel Gold, zuviel Musik und zuviel Hitze da. Rougon, der drinnen erstickte, eilte auf einen leisen Wink Du Poizats hinaus.

Neben dem großen Saale, in dem Zimmer, wo er sie schon am Abend zuvor gesehen hatte, erwarteten ihn Frau Correur und Fräulein Herminie Billecoq, beide laut schluchzend.

»Mein armer Bruder, mein armer Martineau!« stammelte erstere, ihre Tränen im Taschentuche verbergend. »Ach! ich fühlte es wohl, Sie konnten ihn nicht retten ... Mein Gott, warum haben Sie ihn nicht gerettet?«

Er wollte antworten, sie ließ ihm jedoch nicht Zeit dazu.

»Er ist heute verhaftet worden. Eben habe ich ihn gesehen ... Mein Gott, mein Gott!«

»Trösten Sie sich«, sagte er endlich. »Man wird sich für seine Sache interessieren. Ich hoffe zuversichtlich, daß er freigelassen wird.«

Frau Correur hörte auf, sich die Augen zu trocknen. Sie sah ihn an und rief mit ihrer natürlichen Stimme:

»Er ist ja tot.«

Und sogleich fuhr sie in weinerlichem Tone fort, das Gesicht in ihr Schnupftuch vergrabend:

»Mein Gott, mein Gott! armer Martineau!«

Tot! Rougon fühlte einen leichten Schauder über seine Haut rieseln. Er fand kein Wort. Zum erstenmal sah er vor sich einen Abgrund, einen düsteren Abgrund, in den er langsam hinabgestoßen wurde. Dieser Mensch war also jetzt tot. Das hatte er nicht gewollt. Die Dinge hatten eine Wendung genommen, an die er nicht gedacht hatte.

»Leider ja! Der arme liebe Mann ist tot«, berichtete Fräulein Herminie Billecoq mit tiefen Seufzern. »Wie es scheint, hat man sich geweigert, ihn im Gefängnisse aufzunehmen. Als wir ihn in einem so traurigen Zustande ankommen sahen, ist Frau Correur hinuntergelaufen und hat sich den Eintritt erzwungen, indem sie rief, sie sei seine Schwester. Eine Schwester hat immer das Recht, den letzten Atemzug ihres Bruders zu hören, nicht wahr? Das habe ich auch der nichtsnutzigen Frau Martineau gesagt, die gar davon redete, uns fortjagen zu lassen. Sie hat uns schon einen Platz vor dem Bette freigeben müssen! ... Oh, mein Gott! es ging sehr schnell zu Ende. Er hat nicht länger geröchelt als eine Stunde. Er lag auf dem Bette, ganz in Schwarz gekleidet; man hätte ihn für einen Notar halten mögen, der zu einer Hochzeit geht. Er ist erloschen wie eine Kerze, nur ein wenig hat er das Gesicht verzerrt. Es hat ihm nicht viel Schmerz verursachen können.«

»Und diese Frau Martineau hat schließlich noch Streit mit mir angefangen!« berichtete Frau Correur ihrerseits. »Ich weiß nicht mehr, was sie faselte; sie sprach von der Erbschaft und klagte mich an, meinem Bruder den Rest gegeben zu haben. Ich habe ihr geantwortet: ›Ich, liebe Frau, hätte ihn niemals fortführen lassen; eher hätten mich die Gendarmen zerhackt!‹ Und sie hätten mich zerhackt, wie ich Ihnen sage... Nicht wahr, Herminie?«

»Ja, ja«, bestätigte das Mädchen.

»Schließlich, was wollen Sie, meine Tränen werden ihn nicht erwecken, aber man weint, um sich zu erleichtern ... Mein armer Martineau!«

Rougon war sehr unzufrieden. Er zog die Hände zurück, deren Frau Correur sich bemächtigt hatte, und fand noch immer keine Erwiderung, angewidert durch die Umstände, welche diesen Todesfall begleitet hatten, und die ihm abscheulich erschienen.

»Sehen Sie!« rief Herminie, an das Fenster tretend, »man sieht die Kammer von hier aus, da gegenüber in der hellen Beleuchtung, das dritte Fenster links im ersten Stock ... Hinter den Vorhängen brennt ein Licht.«

Dann verabschiedete er sie, während Frau Correur sich entschuldigte, ihn ihren Freund nannte und ihre erste Regung rechtfertigte, der sie nachgegeben, als sie ihm die Trauernachricht brachte.

»Das ist eine sehr ärgerliche Geschichte!« raunte er Du Poizat zu, als er, noch ganz bleich im Gesicht, in den Saal zurückkehrte.

»Dieser Esel von Gilquin ist daran schuld!« antwortete der Präfekt achselzuckend.

Der Ball hatte seinen vollen Glanz erreicht. Im Speisesaale, dessen eine Ecke man durch die große Türe gewahrte, stopfte der erste Staatsanwaltsbeamte die drei Töchter des Forstrates mit Leckerbissen voll; der Oberst der Achtundsiebziger trank Punsch und lauschte dabei den Bosheiten des Chefs des Bauamtes, der Mandeltörtchen knusperte. Herr Kahn wiederholte an der Türe dem Gerichtspräsidenten sehr laut seine Rede vom Nachmittage über die Vorteile der neuen Eisenbahn, umgeben von einem dichtgedrängten Kreise ernster Männer: dem Steuerdirektor, den beiden Friedensrichtern, den Vertretern der Handelskammer und der statistischen Gesellschaft, die Maulaffen feilhielten. Im großen Saale wiegte ein von den Bläsern hell hervorgeschmetterter Walzer unter den fünf Kronleuchtern die Paare, darunter den Sohn des Steuereinnehmers und die Schwester des Bürgermeisters, einen der Staatsanwaltsbeamten mit einem Fräulein in Blau, den andern mit einem Fräulein in Rosa. Aber besonders ein Paar erregte ein Murmeln der Bewunderung: der Polizeikommissar und die Frau des Gymnasialdirektors, die sich eng umschlungen langsam im Tanze drehten; er hatte sich schleunigst in Wichs geworfen: schwarzen Frack, Lackstiefel und weiße Handschuhe; und die hübsche Blonde hatte ihm seine Verspätung verziehen und hing trunken an seinem Halse, die Augen in Zärtlichkeit schwimmend. Gilquin schwang die Hüften, seinen Oberkörper zurückwerfend, wie er als Haupttänzer der öffentlichen Bälle zu tun pflegte, eine verteufelte Würze, deren Geschmack die Zuschauer entzückte. Rougon, den das Paar beinahe umgeworfen hätte, mußte sich rasch an die Wand drücken, um die beiden in einem Wirbel goldgestirnter Tarlatane vorübersausen zu lassen.


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