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Neuntes Kapitel

An einem Märzmorgen saß Rougon im Ministerium des Innern vor seinem Schreibpulte, eifrig damit beschäftigt, ein vertrauliches Rundschreiben zu verfassen, das die Präfekten am andern Tage schon in Händen haben sollten.

»Jules! Nennen Sie mir doch ein Wort, welches dasselbe besagt wie Autorität«, sagte er. »Diese Sprache ist einfach dumm! ... Ich schreibe in jeder Zeile: Autorität.«

»Nun: Macht, Regierung, Reich«, versetzte der junge Mann lächelnd.

Herr Jules d'Escorailles, den er zum Sekretär ernannt hatte, las auf einer Ecke des Schreibtisches die eingelaufenen Briefe. Er öffnete die Umschläge sorgfältig mit einem Messer, überflog mit einem Blick den Inhalt und ordnete die Briefe sodann. Vor dem Kamin, in dem ein helles Feuer brannte, saßen der Oberst, Herr Kahn und Herr Béjuin. Alle drei hatten sich sehr behaglich hingestreckt und wärmten ihre Sohlen, ohne ein Wort zu sagen. Sie waren zu Hause. Herr Kahn las eine Zeitung, die beiden anderen lagen träumerisch zurückgelehnt, drehten ihre Daumen und starrten in die Flammen.

Rougon erhob sich, goß ein Glas Wasser ein und leerte es auf einen Zug.

»Ich weiß nicht, was ich gestern gegessen habe«, murmelte er. »Ich möchte heute die ganze Seine austrinken!«

Er setzte sich nicht sogleich wieder, sondern ging in dem Gemache umher, seinen mächtigen Körper dehnend und reckend. Sein schwerer Tritt ließ durch den dicken Teppich den Boden erbeben. Er schob die grünsamtenen Vorhänge beiseite, um mehr Licht zu haben. Dann schritt er durch das weite, mit dem schwarzen, verblaßten Luxus eines möblierten Palastes ausgestattete Gemach, breitete in seiner Mitte die Arme aus, faltete die Hände im Nacken und genoß wie trunken den Duft der Verwaltung, den Duft der befriedigten Macht, den er dort einsog. Wider Willen mußte er lachen; und er lachte ganz allein, daß ihm die Seiten wackelten; es war ein Lachen, das seinen Triumph verkündigte. Als der Oberst und die beiden anderen diesen Heiterkeitsausbruch hörten, wandten sie sich um und nickten ihm schweigend zu.

»Es ist gar nicht übel«, sagte er einfach.

Als er seinen Platz vor dem ungeheuren Schreibtisch aus Palissanderholz wieder einnahm, trat Merle herein in tadelloser Haltung, in schwarzem Frack und weißer Krawatte.

Er hatte in seinem würdevollen Gesichte keine Spur von Bart mehr.

»Ich bitte Eure Exzellenz um Verzeihung«, murmelte er, »der Präfekt des Somme-Departements ist da ...«

»Er soll zum Teufel gehen, ich arbeite«, rief Rougon schroff. »Es ist unglaublich, ich habe keinen Augenblick für mich!«

Merle ließ sich nicht aus der Fassung bringen und fuhr fort:

»Der Herr Präfekt versichert, daß Eure Exzellenz ihn erwarten... Auch die Präfekten des Nièvre-, des Cher- und des Jura-Departements sind da.«

»Gut, so mögen sie warten; dazu sind sie da«, versetzte Rougon sehr laut.

Der Türsteher ging hinaus. Herr d'Escorailles lächelte; auch die drei anderen, die sich wärmten und streckten, waren durch die Antwort des Ministers ergötzt. Dieser fühlte sich durch seinen Erfolg geschmeichelt und fuhr fort:

»Es ist wahr, seit vier Wochen stecke ich unter den Präfekten ... Ich habe sie alle kommen lassen. Wirklich eine hübsche Gesellschaft! Einige sind geradezu einfältig. Immerhin gehorchen sie. Aber ich bin es bald satt ... Übrigens arbeite ich eben für sie.«

Damit setzte er sich wieder zu seinem Rundschreiben. In der warmen Luft des Gemaches war nichts vernehmbar als das Kritzeln seiner Gänsefeder und das leise Rascheln der Briefe, die Herr d'Escorailles öffnete. Herr Kahn hatte ein anderes Blatt vorgenommen, Herr Béjuin und der Oberst waren in einen Halbschlaf versunken.

Frankreich saß angstbebend im Vorzimmer. Indem der Kaiser Rougon zur Macht berief, wollte er durch Strenge abschrecken. Er kannte seine eherne Faust und hatte ihm am Morgen nach dem Attentat im Zorne des Geretteten gesagt: »Keine Nachsicht! Man muß Sie fürchten!« Er hatte ihn mit dem schrecklichen » Gesetze über die öffentliche Sicherheit« ausgerüstet, das die Regierung ermächtigte, jeden wegen eines politischen Vergehens Verurteilten nach Algier zu schicken oder aus dem Reiche zu verbannen. Obgleich bei dem Verbrechen in der Le Peletierstraße keine französische Hand im Spiele gewesen, wurden die Republikaner dennoch gleich dem Wild gehetzt und verbannt; es war ein Ausfegen der zehntausend Verdächtigen, die am 2. Dezember übersehen worden. Man sprach von einer durch die Revolutionäre vorbereiteten Bewegung, man sagte, daß Waffen und Papiere mit Beschlag belegt worden seien. Seit Mitte März waren dreihundertachtzig Verbannte in Toulon eingeschifft worden. Jetzt ging wöchentlich ein Zug ab. Das Land zitterte vor Schrecken, der wie eine Gewitterwolke aus dem grünsamtenen Kabinett aufstieg, wo Rougon allein, die Arme reckend, lachte.

Niemals hatte der große Mann eine ähnliche Befriedigung empfunden. Er befand sich wohl, mästete sich einen Schmerbauch an; mit der Macht hatte er auch seine Gesundheit wiedererlangt. Wenn er auftrat, setzte er die Fersen so gewichtig auf seinen Teppich, daß man es in ganz Frankreich hörte. Er wünschte nur, daß er nicht sein leeres Glas niedersetzen, nicht seine Feder hinwerfen, kurz eine Bewegung machen könne, ohne daß das Land den Stoß verspüre. Es war für ihn ein Vergnügen, Schrecken zu verbreiten, den Blitz zu schmieden, inmitten der Wohlfahrt seiner Freunde mit den groben Fäusten des Emporkömmlings ein Volk zu erwürgen. In einem seiner Rundschreiben hieß es: »Die Guten können sich beruhigen, die Bösen allein sollen zittern.« Er spielte die Rolle des Herrgotts, mit eifersüchtiger Hand die einen verdammend, die anderen errettend. Ein grenzenloser Hochmut überkam ihn, die seiner Kraft und seiner Einsicht bezeugte Anbetung wurde zum regelrechten Götzendienste. Er bewirtete sich selbst mit übermenschlichen Genüssen.

In dem Gewühl der Männer des zweiten Kaiserreichs trug Rougon schon seit langer Zeit offen herrschsüchtige Gesinnungen zur Schau. Sein Name bedeutete die Unterdrückung bis zum äußersten, die Verweigerung aller Freiheiten, die absolute Regierung. So täuschte sich denn niemand, als er zum Minister ernannt wurde. Seinen Vertrauten machte er jedoch Geständnisse: er habe mehr Bedürfnisse als Überzeugungen, er finde die Macht zu wünschenswert, zu notwendig für seine Herrschgelüste, um sie nicht anzunehmen, unter welchen Bedingungen sie ihm auch geboten werde. Regieren, seinen Fuß auf den Nacken der Menge setzen, darauf sei sein Ehrgeiz vor allem gerichtet; alles andere seien Nebensachen, denen er sich stets fügen werde. Er hatte nur eine Leidenschaft: über den anderen zu stehen. Nur daß gegenwärtig die Umstände, unter denen er wieder zur Herrschaft gelangt war, für ihn die Freude am Erfolge verdoppelten; der Kaiser hatte ihm völlige Freiheit im Handeln gelassen: er sah also seinen alten Wunsch erfüllt, die Menschen mit der Peitsche zu jagen wie eine Herde. Für ihn gab es keine größere Freude, als sich verabscheut zu sehen. Wenn ihm zuweilen jemand das Wort »Tyrann« zurief, lächelte er und sagte die tiefsinnigen Worte:

»Wenn ich einmal liberal werde, wird man sagen, ich hätte mich geändert.«

Aber Rougons größtes Vergnügen war, vor seinen Freunden zu triumphieren. Er vergaß Frankreich, die Beamten, die er zu seinen Füßen sah, das Heer von Bittstellern, das seine Tür belagerte – um sich beständig von seinen zehn bis fünfzehn Vertrauten bewundern zu lassen. Ihnen war sein Kabinett jederzeit geöffnet; er ließ sie dort auf den Sesseln, ja selbst auf dem Schreibtisch unumschränkt herrschen, er fühlte sich glücklich, beständig einige zwischen seinen Beinen zu spüren wie treue Tiere. Minister war nicht nur er, sondern sie alle, die ihm als Teile seines Ichs galten. Nach dem Siege wurde heimlich weiter gearbeitet, die Bande wurden noch enger geknüpft; er begann ihnen eine eifersüchtige Freundschaft zu erweisen, er setzte seine Stärke darein, nicht allein zu sein, er fühlte, wie seine Brust sich durch ihren Ehrgeiz weitete. Er vergaß sogar, daß er sie früher heimlich verachtet hatte, und kam so weit, sie als sehr klug, mächtig, nach seinem Ebenbilde geschaffen anzusehen. Er wollte besonders, daß man ihn in ihnen achtete, er verteidigte sie so nachdrücklich wie seine zehn Finger. Ihre Beschwerden waren die seinigen. Er bildete sich schließlich ein, ihnen viel zu verdanken, indem er lächelnd ihrer ausdauernden Propaganda gedachte. Selbst bedürfnislos, teilte er seinen Freunden fette Bissen zu und empfand dabei die Freude, um sich her Glanz und Glück zu verbreiten.

Inzwischen herrschte im Kabinett noch immer drückendes Schweigen. Herr d'Escorailles prüfte eben die Aufschrift eines neuen Briefes und reichte ihn dann uneröffnet Rougon hin.

»Von meinem Vater«, sagte er dabei.

Der Marquis dankte dem Minister mit übertriebener Demut, daß er Jules an seine Seite genommen. Rougon las langsam die beiden engbeschriebenen Seiten. Er faltete den Brief zusammen, steckte ihn ein und fragte, ehe er seine Arbeit fortsetzte:

»Hat Du Poizat nicht geschrieben?«

»Gewiß«, antwortete der Sekretär, einen Brief unter den anderen hervorsuchend. »Er fängt an, in seine Präfektur sich einzuleben. Er sagt, Deux-Sèvres und besonders Niort müssen von einer starken Faust gezügelt werden.«

Rougon durchflog den Brief und murmelte dann:

»Er erhält die gewünschten Vollmachten ... Antworten Sie ihm nicht, mein Rundschreiben ist für ihn bestimmt.«

Er nahm die Feder wieder auf und suchte nach einem passenden Schluß. Du Poizat hatte Präfekt in Niort, seiner Heimat, werden wollen; und der Minister blickte bei jeder wichtigen Entscheidung auf Deux-Sèvres, um Frankreich nach den Ratschlägen und Wünschen seines alten Leidensgenossen zu regieren. Endlich hatte er sein vertrauliches Schreiben an die Präfekten beendigt, als Herr Kahn plötzlich auffuhr:

»Das ist doch scheußlich!«

Er zeigte auf eine Stelle des Blattes, das er in Händen hielt und fragte Rougon:

»Haben Sie dies gelesen? ... An der Spitze steht ein Artikel, der die niedrigsten Leidenschaften aufstachelt. Hören Sie nur: Die strafende Hand muß schuldlos sein; denn wenn die Gerechtigkeit irrt, lösen sich die Bande der Gesellschaft von selbst. – Verstehen Sie? ... Und in den ›Vermischten Nachrichten‹! Da steht die Geschichte einer Gräfin, die der Sohn eines Kornhändlers entführt hat. Solche Geschichten dürfte man nicht durchgehen lassen. Das untergräbt die Achtung des Volkes vor den höheren Klassen.«

Herr d'Escorailles fiel ein:

»Die Erzählung ist noch gräßlicher. Es ist die Rede von einer wohlerzogenen Frau, die ihren Gatten betrügt. Dabei hat sie nicht einmal Gewissensbisse.«

Rougon sah schrecklich aus, als er erwiderte:

»Ja, ja, auf diese Nummer bin ich schon aufmerksam gemacht worden. Sie sehen, daß ich die Stellen mit Rotstift bezeichnet habe ... Dazu ist es ein Blatt, das auf unserer Seite steht! Täglich muß ich es Zeile für Zeile entziffern. Selbst der Beste taugt nichts, man muß ihnen allen den Hals abschneiden!«

Mit zusammengekniffenen Lippen fuhr er fort:

»Ich habe den Direktor des Blattes holen lassen. Ich erwarte ihn.«

Der Oberst hatte das Blatt Herrn Kahn aus den Händen genommen. Auch er äußerte seine Entrüstung und gab dann das Blatt Herrn Béjuin, der seinerseits ganz außer sich geriet. Rougon saß, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, mit halbgeschlossenen Augenlidern sinnend da.

»Da fällt mir ein«, wandte er sich an seinen Sekretär. »Der arme Huguenin ist gestern gestorben. Man muß jemanden für die erledigte Inspektorstelle ernennen.«

Als die drei Freunde vor dem Kamin lebhaft die Köpfe wandten, fuhr er fort:

»Eine Stelle ohne Bedeutung. Sechstausend Franken Gehalt. Allerdings ist auch nichts zu tun.«

Aber er wurde unterbrochen. Die Tür eines benachbarten Zimmers hatte sich geöffnet, und er rief:

»Herein, herein, Herr Bouchard! Ich wollte Sie eben holen lassen.«

Herr Bouchard, seit einer Woche Abteilungsvorstand, brachte eine Arbeit über die Bürgermeister und Präfekten, die um das Offiziers- oder Ritterkreuz der Ehrenlegion baten. Rougon hatte an die Würdigsten fünfundzwanzig Kreuze zu verleihen. Er nahm die Arbeit, prüfte die Liste der Namen und blätterte in Aktenbündeln. Unterdessen trat Bouchard an den Kamin und begrüßte seine Freunde. Er stellte sich zum Kamin und hob seine Rockschöße auf, um sich zu wärmen.

»Ein abscheulicher Regen, was?« murmelte er. »Der Frühling kommt heuer spät.«

»Ein Gottsdonnerwetterregen! Ich fühle einen Gichtanfall, ich habe die ganze Nacht im linken Bein Stechen gehabt.«

Nach kurzem Schweigen fragte Herr Kahn:

»Und Ihre Frau?«

»Ich denke, ihr geht es gut«, versetzte Herr Bouchard. »Sie kommt, glaube ich, heute früh.«

Neues Schweigen. Rougon blätterte immer fort. Bei einem Namen machte er halt und fragte:

»Isidor Gaudibert ... Hat der nicht Verse gemacht?«

»Gewiß«, antwortete Herr Bouchard. »Er ist seit 1852 Bürgermeister von Barbeville. Zu jedem freudigen Ereignisse, zur Hochzeit des Kaisers, zur Niederkunft der Kaiserin, zur Taufe des kaiserlichen Prinzen hat er Ihren Majestäten Oden voller Geschmack gesandt.«

Der Minister zog den Mund schief. Aber der Oberst versicherte, er habe die Oden gelesen und finde sie geistvoll. Er führte besonders eine an, worin der Kaiser mit einem Feuerwerk verglichen war. Ohne jeden Übergang, zweifellos nur um ihren Gefühlen Ausdruck zu leihen, begannen alle drei Herren den Kaiser aufs Überschwenglichste zu loben. Jetzt hing ihm die ganze Gesellschaft mit wahrer Leidenschaft an. Die beiden Vettern, der Oberst und Herr Bouchard, jetzt versöhnt, warfen sich nicht mehr die Prinzen von Orleans oder den Grafen von Chambord vor, sondern wetteiferten darin, wer den Herrscher besser loben könne.

»Nein, der nicht!« rief Rougon plötzlich. »Dieser Jusselin ist eine Kreatur Marsys. Die Freunde meines Vorgängers zu belohnen habe ich nicht nötig.«

Und mit einem Federstrich, der das Papier aufriß, strich er den Namen aus.

»Also muß man einen anderen für das Offizierskreuz finden«, fuhr er fort.

Die Herren rührten sich nicht. Herr d'Escorailles hatte trotz seiner großen Jugend das Ritterkreuz schon vor acht Tagen erhalten; Herr Kahn und Herr Bouchard waren Offiziere der Ehrenlegion, der Oberst endlich war eben erst zum Kommandeur ernannt worden.

»Ein Offizierskreuz also«, wiederholte Rougon, weiterblätternd.

Plötzlich hielt er inne und fragte lebhaft:

»Sind Sie nicht irgendwo Bürgermeister, Herr Béjuin?«

Herr Béjuin begnügte sich damit, zweimal das Haupt zu neigen. Statt seiner antwortete Herr Kahn:

»Gewiß, er ist Bürgermeister in Saint-Florent, der kleinen Gemeinde, wo sich seine Glasfabrik befindet.«

»Das paßt ja ausgezeichnet!« sagte der Minister, entzückt, daß er wieder einen der Seinigen befördern konnte. »Er ist erst Ritter ... Herr Béjuin, Sie bitten nie um etwas. Ich muß immer an Sie denken.«

Herr Béjuin dankte lächelnd. Er bat wirklich nie um etwas. Aber er war beständig da, schweigend, bescheiden, auf die Brosamen wartend, und alles auflesend.

»Léon Béjuin, nicht wahr? An Stelle von Pierre François Jusselin«, sagte Rougon, indem er den Namen änderte.

»Béjuin, Jusselin, das reimt sich!« bemerkte der Oberst.

Dieser Spaß schien sehr gelungen, und es wurde viel darüber gelacht. Endlich nahm Herr Bouchard die unterzeichneten Erlasse wieder fort. Rougon hatte sich erhoben, er fühlte Unruhe in den Beinen, sagte er; Regentage regten ihn immer auf. Inzwischen verging die Zeit: aus den Bureaus drang ein Summen herüber, schnelle Schritte durchkreuzten die Nachbarzimmer, Türen wurden geöffnet und geschlossen, während ein durch die Vorhänge gedämpftes Flüstern durch die Räume lief. Es kamen noch mehr Beamte, um Erlasse zur Unterzeichnung vorzulegen. Es war ein beständiges Kommen und Gehen, die Verwaltungsmaschine in vollem Gange mit einer unsagbaren Verschwendung von Papier, das aus einem Bureau in das andere wanderte. Inmitten dieses Treibens hörte man ordentlich das dumpfe, ergebene Schweigen der mehr als zwanzig Personen, die im Vorzimmer unter Merles Augen schlummerten und warteten, bis Seine Exzellenz sich herablassen werde, sie zu empfangen. Rougon entwickelte, von allen diesen Leuten umgeben, eine fieberhafte Tätigkeit, gab in einer Ecke halblaute Befehle, brach dann plötzlich in heftige Worte gegen irgendeinen höheren Beamten aus, verteilte die Arbeit und entschied die Angelegenheiten mit einem Worte, – riesenhaft, unverschämt, Hals und Kopf von Kraft strotzend.

Da trat Merle ein mit seiner ruhigen Würde, von der alle barschen Verweise abprallten.

»Der Herr Präfekt der Somme«, begann er.

»Schon wieder!« unterbrach ihn Rougon wütend.

Jener verbeugte sich und wartete, um dann fortzufahren:

»Der Herr Präfekt der Somme hat mich gebeten, Eure Exzellenz zu fragen, ob Sie ihn heute vormittag empfangen wollen. Wenn nicht, wolle Eure Exzellenz die Güte haben, ihm eine Stunde für morgen zu bestimmen.«

»Ich werde ihn heute empfangen ... Er möge sich ein wenig gedulden, zum Teufel!«

Die Tür war offen geblieben, und man sah durch die Öffnung das Vorzimmer, einen weiten Raum, in der Mitte einen langen Tisch und an den Wänden eine Reihe roter Samtsessel. Alle diese Sessel waren besetzt; zwei Damen standen am Tisch. Alle Köpfe wandten sich der Tür zu, die Blicke glitten flehend in das Kabinett des Ministers, alle mit dem Verlangen, einzutreten. Nahe der Tür saß der Präfekt der Somme, ein kleiner, blasser Mann, und redete mit seinen beiden Kollegen vom Jura und Cher. Da er Anstalten machte, sich zu erheben, ohne Zweifel in dem Glauben, daß er endlich vorgelassen werde, fuhr Rougon fort, zu Merle gewendet:

»In zehn Minuten, hören Sie? Augenblicklich kann ich niemanden empfangen, durchaus niemanden.«

Aber während er noch redete, sah er Herrn Beulin d'Orchère das Vorzimmer durchschreiten. Er eilte ihm entgegen, zog ihn in sein Kabinett und rief:

»Bitte, treten Sie doch ein, lieber Freund I Sie sind eben gekommen? Sie haben doch nicht zu warten brauchen? ... Was gibt es Neues?«

Damit schloß sich die Türe unter dem bestürzten Schweigen der Insassen des Wartezimmers. Rougon und Herr Beulin d'Orchère redeten in einem Fenster leise miteinander. Letzterer, kürzlich zum ersten Präsidenten des Pariser Gerichtshofes ernannt, hatte den Ehrgeiz, Justizminister zu werden, aber der Kaiser hatte sich auf eine dahingehende Andeutung nicht geäußert.

»Gut, gut«, sagte der Minister lauter. »Die Nachricht ist vorzüglich. Ich werde handeln, das verspreche ich Ihnen.«

Eben hatte er ihn durch seine Gemächer hinausgeleitet, als Merle erschien und ankündigte:

»Herr La Rouquette.«

»Nein, nein, ich bin beschäftigt, ich werde noch verrückt!« rief Rougon und hieß den Diener mit einer nachdrücklichen Gebärde die Tür schließen.

Herr La Rouquette hatte es sehr gut gehört; nichtsdestoweniger trat er lächelnd ein und fragte, die Hände zum Gruße ausstreckend:

»Wie geht es Eurer Exzellenz? Meine Schwester schickt mich. Gestern in den Tuilerien sahen Sie etwas ermüdet aus ... Sie wissen, daß nächsten Montag in den Gemächern der Kaiserin Theater gespielt werden soll. Meine Schwester wirkt auch mit. Combelot hat die Kostüme gezeichnet. Sie kommen doch?«

Er blieb eine geschlagene Viertelstunde, Rougon um den Hart gehend, ihn bald »Exzellenz«, bald »lieber Meister« nennend. Er kramte einige Anekdoten über die kleinen Theater aus, empfahl eine Tänzerin und bat um eine Fürsprache bei dem Direktor der Tabakfabriken, um gute Zigarren zu bekommen. Endlich machte er über Herrn von Marsy die schlechtesten Spaße.

»Er ist doch ein netter Junge«, erklärte Rougon, nachdem der junge Abgeordnete gegangen war. »Ich will mein Gesicht, in das Waschbecken tauchen; meine Wangen drohen vor Hitze zu platzen.«

Er verschwand hinter einer Portiere, und ein lautes Plätschern, Schnaufen und Pusten wurde hörbar. Herr d'Escorailles hatte inzwischen die eingelaufenen Briefe geordnet und holte eine kleine Feile mit Schildpattgriff hervor, um sich damit säuberlich die Nägel zu putzen. Herr Béjuin und der Oberst starrten zur Decke empor, dermaßen in ihre Sessel versenkt, als ob sie sie nie mehr zu verlassen gedächten. Herr Kahn blätterte noch in dem Haufen Zeitungen, der neben ihm auf einem Tische lag. Er wandte sich um, besah die Titel und warf sie beiseite. Dann erhob er sich.

»Sie wollen fort?« fragte Rougon, der eben wieder erschien, sich das Gesicht abtrocknend.

»Ja,« versetzte Herr Kahn, »ich habe die Blätter gelesen und will gehen.«

Aber er hieß ihn warten, nahm ihn beiseite und kündigte ihm an, daß er sich ganz sicher nächste Woche nach Deux-Sèvres begeben werde, um bei der Eröffnung der Arbeiten für die Bahn von Niort nach Angers anwesend zu sein. Er habe mehrere Gründe, dorthin zu reisen. Herr Kahn war entzückt. Anfangs März hatte er endlich die Konzession erhalten. Es handelte sich jetzt nur darum, die Arbeiten in Gang zu bringen, und er fühlte die ganze Bedeutung, welche die Anwesenheit des Ministers dieser Feier, deren Einzelheiten er schon erwägte, verleihen müsse.

»Abgemacht also, ich rechne auf Sie beim ersten Spatenstich!« sagte er, sich entfernend.

Rougon saß wieder an seinem Schreibtische und las eine Namensliste durch. Im Vorzimmer wuchs die Anzahl der Harrenden.

»Ich habe kaum noch eine Viertelstunde Zeit!« murmelte er. »Ich werde so viele empfangen, wie ich eben kann.«

Er klingelte und befahl Merle:

»Lassen Sie den Herrn Präfekten der Somme eintreten.«

Aber er fügte, die Liste durchfliegend, sogleich hinzu:

»Warten Sie noch! ... Sind Herr und Frau Charbonnel da? Dann lassen Sie sie kommen!«

Man hörte den Diener rufen: »Herr und Frau Charbonnel!« Und die beiden Bürgersleute aus Plassans erschienen, von den erstaunten Blicken der ganzen Versammlung begleitet. Herr Charbonnel trug einen Frack mit viereckigen Schößen und einem Samtkragen, seine Frau ein flohfarbenes Seidenkleid und einen Hut mit gelben Bändern. Zwei Stunden lang hatten sie schon geduldig gewartet.

»Sie hätten mir Ihre Karte hereinschicken sollen. Merle kennt Sie.«

Ohne ihre mit »Eurer Exzellenz« gespickten Sätze zu Ende zu hören, rief er vergnügt:

»Viktoria! Der Staatsrat hat entschieden. Wir haben unsern schrecklichen Bischof besiegt!«

Die alte Dame wurde von ihrer Erregung übermannt, so daß sie sich setzen mußte. Ihr Gatte stützte sich auf die Lehne eines Stuhles.

»Ich habe diese gute Nachricht schon gestern abend erfahren«, fuhr der Minister fort. »Um sie Ihnen persönlich mitteilen zu können, habe ich Sie hergebeten ... Das ist doch ein fetter Bissen, fünfhunderttausend Franken!«

Er scherzte weiter, entzückt von ihrem fassungslosen Aussehen. Frau Charbonnel konnte endlich mit halberstickter, bänglicher Stimme die Frage hervorbringen:

»Also es ist bestimmt entschieden? ... Der Prozeß wird nicht wieder anfangen?«

»Nein, nein, verlassen Sie sich darauf. Die Erbschaft ist Ihr Eigentum.«

Darauf berichtete er Näheres. Der Staatsrat hatte die Schwestern von der heiligen Familie nicht ermächtigt, die Erbschaft anzutreten, weil natürliche Erben vorhanden seien; er hatte das Testament für ungültig erklärt, weil es nicht alle Erfordernisse der Echtheit aufwies. Der Bischof Rochart war wütend. Rougon, der ihn am Abend vorher bei seinem Kollegen, dem Unterrichtsminister, getroffen hatte, lacht« noch jetzt über seine feindseligen Blicke. Sein Sieg über den geistlichen Herrn ergötzte ihn sehr.

»Sie sehen, er hat mich nicht verschluckt«, sagte er endlich. »Ich bin ihm zu dick ... Wir sind noch nicht fertig miteinander. Ich habe es ihm an seinen Augen abgelesen. Der Mann wird nichts vergessen. Aber das ist meine Sache.«

Die Charbonnels erschöpften sich in Danksagungen und Bücklingen. Sie sagten, sie würden noch am selben Abend abreisen. Sie waren sehr beunruhigt; das Haus ihres Vetters Chevassu zu Faverolles stand unter der Obhut einer alten, frommen Dienerin, die den Schwestern von der heiligen Familie sehr ergeben war; vielleicht werde ihr Haus auf die Nachricht vom Ausgange des Prozesses hin ausgeplündert. Diese Nonnen waren zu allem fähig.

»Ja, reisen Sie heute noch ab«, nahm der Minister wieder das Wort. »Sollte etwas schief gehen, schreiben Sie mir.«

Als er sie hinausgeleitete, bemerkte er das Erstaunen der übrigen Harrenden; der Präfekt der Somme tauschte mit seinen Kollegen ein Lächeln aus, die beiden Damen am Tische zogen verächtlich die Lippen zusammen. Er sah es und rief mit erhobener Stimme:

»Also schreiben Sie mir ja! Sie wissen, wie sehr ich Ihnen ergeben bin. Und wenn Sie nach Plassans kommen, sagen Sie meiner Mutter, daß es mir gut geht!«

Er geleitete sie auch noch durch das Vorzimmer, ohne sich ihrer im geringsten zu schämen, dieser ganzen Gesellschaft zum Trotz; sehr stolz darauf, daß er aus einer kleinen Stadt stammte und sie jetzt so hoch stellen konnte, wie es ihm beliebte. Und die Bittsteller wie die Beamten verneigten sich und grüßten das flohfarbene Seidenkleid und die viereckigen Frackschöße der Charbonnels.

Als er in sein Kabinett zurückkehrte, hatte der Oberst sich erhoben und sagte:

»Auf Wiedersehen heute abend! Es wird hier zu warm.«

Darauf neigte er sich zum Minister und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Es handelte sich um seinen August, den er aus der Schule zu nehmen im Begriffe stand, da er die Hoffnung aufgegeben hatte, daß der Junge jemals die Abgangsprüfung bestehen werde. Rougon hatte versprochen, ihn in sein Ministerium aufzunehmen, obgleich das Reifezeugnis von allen seinen Beamten gefordert wurde.

»Ja, ja, bringen Sie ihn nur!« sagte er. »Ich werde mich über die Förmlichkeiten hinwegsetzen. Ich werde ein Auskunftsmittel suchen ... Und er soll sogleich etwas bekommen, weil Sie es wünschen.«

Herr Béjuin blieb allein am Ofen. Er rollte seinen Sessel mitten vor, ohne zu beachten, daß das Zimmer sich leerte. Er wartete immer bis zuletzt, nachdem die anderen gegangen waren, und hoffte, es werde ihm irgend etwas Vergessenes angeboten werden.

Nunmehr bekam Merle von neuem den Befehl, den Präfekten der Somme hereinzuführen. Anstatt jedoch zur Tür zu gehen, näherte er sich dem Schreibtische und sprach mit liebenswürdigem Lächeln:

»Wenn Eure Exzellenz gütigst gestatten wollen, werde ich mich sogleich eines kleinen Auftrages entledigen.«

Rougon stemmte beide Ellbogen auf seine Schreibmappe, um zu hören.

»Es ist die arme Frau Correur ... Ich bin heute früh bei ihr gewesen. Sie hütet das Bett; sie hat eine Geschwulst an sehr ungelegener Stelle, dicker als die halbe Faust. Es ist nicht gefährlich, doch leidet sie viele Schmerzen, weil sie eine gar so feine Haut hat ...«

»Also?« fragte der Minister.

»Ich habe selbst der Magd geholfen, sie umzuwenden. Indessen, ich habe meinen Dienst ... Sie ist sehr unruhig und wäre so gern gekommen, um den Bescheid Eurer Exzellenz auf alle ihre Anliegen zu erfahren. Als ich ging, rief sie mich zurück und sagte, ich würde sie sehr verbinden, falls ich ihr heute abend, wenn ich vom Dienst käme, den Bescheid bringen könnte ... Würden Eure Exzellenz so gütig sein ...?«

Der Minister wandte sich ruhig um und sagte:

»Herr d'Escorailles, geben Sie mir doch den Aktenband da unten aus dem Schranke.«

Es war der Band Frau Correurs, eine ungeheure graue Mappe, die von Papieren strotzte. Da waren Briefe, Pläne, Bittschriften in allen Schriftgattungen und Orthographien: Gesuche um Tabaksläden, um Stempelmarkenverschleiße, um Unterstützungen, Pensionen, Gehaltszulagen. Alle diese losen Blätter trugen am Rande eine Empfehlung von Frau Correur: fünf bis sechs Zeilen mit einer kräftigen, fast männlichen Unterschrift.

Rougon durchblätterte den Band und betrachtete die kurzen Bemerkungen, die er mit Rotstift an den Rand der Briefe geschrieben hatte.

»Die Pension der Frau Jalaguier ist auf achtzehnhundert Franken angesetzt. Frau Leturc hat ihren Tabaksladen ... Die Lieferungen Frau Chardons sind angenommen ... Für Frau Testanière noch nichts ... Ah! sagen Sie ihr auch, daß ich die Angelegenheit des Fräulein Herminie Billecoq erledigt habe. Ich habe von ihr gesprochen; einige Damen werden die Mitgift zusammenschießen, die zu ihrer Heirat mit dem Offizier, der sie verführt hat, nötig ist.«

»Ich danke Eurer Exzellenz tausendmal!« erwiderte Merle mit einer Verbeugung.

Er ging hinaus, als ein wunderhübscher Blondkopf, mit einem rosa Hute bedeckt, in der Tür erschien.

»Darf man eintreten?« flötete sie.

Frau Bouchard trat ein, ohne die Antwort abzuwarten. Sie hatte den Türsteher nicht im Vorzimmer gesehen und war deshalb geradeaus gegangen. Rougon, der sie »mein liebes Kind« nannte, hieß sie Platz nehmen, nachdem er ihre niedlichen, fein behandschuhten Finger einen Augenblick zwischen den seinen gehalten hatte.

»Kommen Sie in einer ernsten Angelegenheit?« fragte er.

»Gewiß, sehr ernst«, versetzte sie lächelnd.

Darauf befahl er Merle, niemanden einzulassen. Herr d'Escorailles, der seine Nägel inzwischen in Ordnung gebracht hatte, begrüßte Frau Bouchard. Sie winkte ihm, sich herabzuneigen, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er nickte, ergriff seinen Hut und sagte zu Rougon:

»Ich gehe zum Frühstück; es liegt nichts Wichtiges vor ... Nur diese Inspektorstelle. Man müßte jemanden ernennen.«

Der Minister schüttelte verlegen den Kopf und erwiderte:

»Gewiß, jemand muß ernannt werden ... Man hat mir schon eine ganze Schar von Bewerbern vorgeschlagen. Aber es ist mir langweilig, Leute zu ernennen, die ich nicht kenne.«

Er blickte um sich, suchte in den Ecken des Zimmers, wie um dort jemanden zu finden. Plötzlich fiel sein Blick auf Herrn Béjuin, der noch schweigend und scheinheilig vor dem Ofen ausgestreckt lag, und er rief:

»Herr Béjuin!«

Der Träumer öffnete langsam die Augen, ohne sich zu rühren.

»Wollen Sie Inspektor werden? Eine Stelle mit sechstausend Franken ohne Arbeit und sehr gut verträglich mit Ihrem Abgeordnetenmandat.«

Herr Béjuin wiegte den Kopf. Ja, ja, er nehme an. Als die Sache ins reine gebracht war, blieb er noch zwei Minuten, um zu schnüffeln. Endlich mußte er jedoch einsehen, daß an diesem Morgen nichts mehr für ihn abfallen werde; er ging langsam, die Füße schleppend, hinter Herrn d'Escorailles von dannen.

»Endlich sind wir allein ... Was wünschen Sie, liebes Kind?« fragte Rougon die hübsche Frau Bouchard.

Er hatte einen Sessel herangerollt und setzte sich vor sie mitten in das Zimmer. Erst da wurde er auf ihre Toilette aufmerksam: ein Kleid von blaßrosa Kaschmir, sehr weich, das sie umhüllte wie ein Pudermantel. Sie war gekleidet, ohne bekleidet zu sein. Auf ihren Armen, auf ihrem Halse war der geschmeidige Stoff wie lebendig, während unten breite Falten ihre runden Beine bezeichneten. Es war eine bewußte Nacktheit, eine wohlberechnete Verführung selbst in der etwas hoch geschnürten Taille, welche die Hüfte hervortreten ließ. Kein Stückchen vom Unterrock war zu sehen, sie schien ohne Leibwäsche, sah jedoch reizend aus.

»Nun, was haben Sie?« wiederholte er.

Sie antwortete noch nicht, sondern lächelte nur, lehnte sich zurück, mit ihrem gekräuselten Haar unter dem rosa Hute, und zeigte zwischen den geöffneten Lippen den feuchten Glanz ihrer Zähne. Ihre kleine Gestalt hatte eine einschmeichelnde Ungezwungenheit an sich, einen Ausdruck inständiger und unterwürfiger Bitte.

»Ich möchte Sie um etwas bitten«, murmelte sie endlich und fügte dann lebhaft hinzu:

»Sagen Sie zuerst, daß Sie es mir bewilligen!«

Er aber versprach nichts. Er wollte vor allem wissen, um was es sich handelte. Er mißtraute den Frauen. Als sie sich ganz nahe zu ihm neigte, fragte er sie:

»Das muß ja eine schlimme Geschichte sein, daß Sie nicht zu reden wagen. Da muß ich Sie wohl in die Beichte nehmen ... Also der Reihe nach. Ist's für Ihren Mann?« Sie schüttelte den Kopf, noch immer lächelnd.

»Teufel! ... Also für Herrn d'Escorailles? Sie haben sich da eben heimlich mit ihm verschworen.«

Sie verneinte abermals mit einem Mäulchen, das klar besagte, daß sie Herrn d'Escorailles habe den Laufpaß geben müssen. Während Rougon überrascht nachsann, rückte sie ihren Stuhl noch etwas näher heran, so daß sie zwischen seinen Beinen saß.

»Hören Sie mich an ... Sie sind mir nicht böse? Sie haben mich ein wenig lieb? ... Es ist wegen eines jungen Mannes. Sie kennen ihn nicht; ich werde ihn sogleich nennen, wenn Sie ihm die Stelle gegeben haben ... Eine unbedeutende Stelle. Sie brauchen nur ein Wort zu sagen, und wir würden Ihnen sehr dankbar sein.«

»Vielleicht ein Verwandter von Ihnen?« fragte er wieder.

Sie seufzte, sah ihn schmachtend an und ließ ihre Hände sinken, damit er sie ergreife. Dann sagte sie sehr leise:

»Nein, ein Freund ... Mein Gott, ich bin sehr unglücklich!«

Mit diesem Geständnisse überlieferte sie sich ihm. Es war ein sehr wollüstiger Angriff, mit überlegener Kunst geplant, scharfsinnig berechnet, um ihm die leisesten Bedenken zu benehmen. Einen Augenblick glaubte er sogar, sie habe diese Geschichte nur in einer Vollendung ihrer Verführungskünste erfunden, um sich noch begehrenswerter zu machen in dem Augenblicke, da sie aus den Armen eines anderen kam.

»Aber das ist sehr schlimm!« rief er.

Sie aber legte mit einer raschen und vertraulichen Bewegung die unbeschuhte Hand auf seinen Mund und lehnte sich dabei ganz an ihn. Ihre Augen schlossen sich, ihr Gesicht nahm einen verzückten Ausdruck an. Ihr Knie hob das weiche Kleid in die Höhe, das sie nicht mehr verhüllte als das feine Gewebe eines langen Nachthemdes. Der straffe Stoff des Leibchens zeigte die Bewegungen ihres Busens. Einige Sekunden hielt er sie wie nackt in den Armen. Dann packte er sie heftig an der Taille und stellte sie erbost und fluchend mitten in das Zimmer:

»Donnerwetter, so seien Sie doch vernünftig!«

Sie stand mit gesenktem Blick und bleichen Lippen vor ihm.

»Ja, es ist sehr schlecht, es ist unwürdig! Herr Bouchard ist ein ausgezeichneter Mann. Er betet Sie an und hegt zu Ihnen blindes Vertrauen ... Nein, ich werde Ihnen gewiß nicht dazu behilflich sein, ihn zu betrügen. Ich weigere mich, hören Sie, ich weigere mich ganz entschieden! Und ich sage Ihnen meine Meinung, ich halte damit nicht hinterm Berge, mein schönes Kind! ... Man kann nachsichtig sein. So zum Beispiel mag es noch hingehen ...«

Er hielt inne, er war im Begriffe, sich entschlüpfen zu lassen, daß er ihr Herrn d'Escorailles gestatte. Allmählich beruhigte er sich und gewann seine ganze Würde wieder. Er hieß sie sich setzen, da er sah, daß ein leichtes Zittern sie überfiel; er selbst blieb stehen und las ihr gehörig den Text. Es war eine wohlstilisierte Predigt. Sie verletze alle göttlichen und menschlichen Gesetze, sie wandele an einem Abgrunde, schände den häuslichen Herd, bereite sich selbst ein Alter voller Gewissensbisse vor; und da er auf ihren Lippen ein leises Lächeln zu gewahren glaubte, entwarf er eine Schilderung dieses Alters: die Schönheit verwelke, das Herz bleibe leer für immer, die Stirn erröte unter den weißen Haaren. Dann prüfte er ihren Fehltritt vom Standpunkte der Gesellschaft aus; hier wurde er besonders streng, denn hatte sie auch in seinen Augen die Entschuldigung einer leicht erregbaren Natur für sich, so war doch das schlechte Beispiel, das sie gab, unverzeihlich; das führte ihn darauf, gegen die moderne Sittenlosigkeit, die schamlosen Ausschreitungen der Gegenwart zu donnern. Endlich kam er auf sich selbst zu reden. Er war der Hüter der Gesetze. Er durfte seine Macht nicht dazu mißbrauchen, das Laster zu ermutigen. Eine Regierung ohne Tugend schien ihm ein Unding. Er schloß damit, daß er seine Gegner aufforderte, in seiner Verwaltung ein einziges Beispiel von Vetterngunst nachzuweisen, eine einzige Gunst, die durch Ränke erlangt sei.

Die niedliche Frau Bouchard hörte ihn gesenkten Hauptes und zusammengekauert an, wobei man ihren zarten Hals unter dem Nackenschleier ihres rosa Hutes sah. Als er seinem Herzen Luft gemacht hatte, ging sie stumm zur Tür. Aber als sie beim Hinausgehen die Hand auf die Türklinke legte, hob sie den Kopf und murmelte lächelnd:

»Er heißt Georg Duchesne: ist erster Beamter in der Abteilung meines Mannes und möchte gern zweiter Vorstand werden ...«

»Nein, nein!« schrie Rougon.

Sie ging und maß ihn mit dem verächtlichen Blicke der verschmähten Frau. Sie schritt zögernd, zog langsam ihre Schleppe nach, als wolle sie das Bedauern um ihren Besitz zurücklassen.

Der Minister kehrte mit müdem Ausdruck in sein Kabinett zurück. Er hatte Merle einen Wink gegeben, und dieser folgte ihm. Die Tür war halb offen geblieben.

»Der Herr Direktor der ›Volksstimme‹, den Eure Exzellenz zu sehen wünschte, ist eben gekommen«, meldete der Türsteher halblaut.

»Sehr gut!« antwortete Rougon. »Aber ich werde zuerst die Beamten empfangen, die solange schon gewartet haben.«

In diesem Augenblick erschien ein Kammerdiener in der Tür, die zu den Privatgemächern führte. Er meldete, das Frühstück sei bereit, und Frau Delestang erwarte Seine Exzellenz im Salon. Der Minister fuhr lebhaft auf und befahl:

»Sagen Sie, daß aufgetragen werde! Um so schlimmer! Ich werde nachher empfangen. Ich falle um vor Hunger.«

Er drehte sich um und warf einen Blick in das Vorzimmer, das noch immer voll war. Kein Beamter, kein Bittsteller hatte sich vom Flecke gerührt. Die drei Präfekten plauderten in ihrer Ecke, die beiden Damen am Tische stützten sich etwas ermüdet auf ihre Finger; dieselben Köpfe lehnten sich noch an derselben Stelle in die rotsamtenen Sessel. Darauf verließ er sein Kabinett und beauftragte Merle, den Präfekten der Somme und den Direktor des ›Voeu national‹ dazubehalten.

Frau Rougon war etwas leidend und deshalb tags zuvor auf einen Monat nach dem Süden gereist; sie hatte in der Gegend von Pau einen Oheim. Delestang befand sich mit einer sehr wichtigen Sendung betreffs einer landwirtschaftlichen Frage betraut, seit sechs Wochen in Italien. Deshalb hatte der Minister Clorinde, die mit ihm länger zu sprechen wünschte, zu einem Junggesellenfrühstück ins Ministerium geladen.

Sie wartete geduldig, in einer Abhandlung über Verwaltungsrecht blätternd, die auf einem Tische, lag.

»Ihnen muß der Magen auch schon schief hängen«, sagte er vergnüglich. »Ich bin heute vormittag wirklich überschwemmt worden.«

Er bot ihr den Arm und führte sie in den Speisesaal, einen gewaltigen Raum, worin die beiden Gedecke auf einem Tischchen am Fenster fast verschwanden. Zwei lange Lakaien warteten auf. Rougon und Clorinde, im Essen und Trinken beide sehr mäßig, aßen schnell einige Radieschen, eine Schnitte kalten Lachs, Koteletten mit Brei und etwas Käse. Den Wein berührten sie nicht. Rougon trank vormittags nur Wasser. Kaum zehn Worte wechselten sie beim Essen. Als die beiden Lakaien abgeräumt und Kaffee nebst Likören gebracht hatten, faltete die junge Frau ein wenig die Brauen; er verstand es und sagte den Dienern:

»Es ist gut. Gehen Sie! Ich werde klingeln.«

Die Diener gingen. Darauf erhob sie sich und schüttelte von ihrem Rocke die Krümel ab. Sie trug ein schwarzseidenes Kleid, das zu weit, mit Volants besetzt und dermaßen verwickelt war, daß sie darin ganz eingepackt schien und man nicht erkennen konnte, wo sich ihre Hüften und ihr Busen befanden.

»Welch eine Halle!« murmelte sie, den Raum durchschreitend. »Ihr Speisesaal ist für Hochzeiten und große Gastmahle eingerichtet!«

Zurückkehrend fügte sie hinzu:

»Ich möchte eine Zigarette rauchen!«

»Teufel!« sagte Rougon, »ich habe keinen Tabak. Ich rauche nie.«

Sie aber blinzelte ihm zu und zog aus der Tasche ein Beutelchen aus roter Seide, mit Gold gestickt, nicht größer als eine Börse. Mit ihren zarten Fingerspitzen drehte sie eine Zigarette, und um nicht klingeln zu müssen, jagten sie durch den ganzen Saal nach Zündhölzchen. Endlich fanden sie drei auf der Ecke eines Geschirrständers, und sie nahm sie sorgsam an sich. Dann begann sie, die Zigarette im Munde und behaglich in ihrem Sessel ausgestreckt, den Kaffee in kleinen Zügen hinunterzuschlürfen, wobei sie Rougon lächelnd voll anblickte.

»Ich stehe ganz zu Ihren Diensten«, sagte er, gleichfalls lächelnd. »Sie haben zu plaudern, also plaudern wir.«

Sie machte eine gleichgültige Gebärde und sagte:

»Ja. Ich habe einen Brief von meinem Manne bekommen. Er ist sehr glücklich, dank Ihnen mit dieser Sendung betraut zu sein; nur will er nicht, daß man ihn völlig im Auslande vergesse ... Doch wir werden darüber noch reden. Es hat keine Eile.«

Sie begann wieder zu rauchen und ihn mit ihrem erregenden Lächeln anzusehen. Rougon hatte sich allmählich daran gewöhnt, sie so zu sehen, ohne sich die Fragen vorzulegen, die einst seine Neugier so lebhaft gereizt hatten. Sie gehörte jetzt mit zu seinen Gewohnheiten; er nahm sie jetzt als eine bekannte und eingereihte Erscheinung hin, deren Sonderbarkeiten ihn nicht im geringsten mehr überraschten. In Wirklichkeit aber wußte er noch immer nichts Genaues über sie; er kannte sie ebensowenig wie in den ersten Tagen. Sie war vielseitig: kindisch und dabei unergründlich; oft töricht, zuweilen außerordentlich scharfsinnig, sehr liebenswürdig und sehr boshaft. Wenn sie ihn noch manchmal durch eine Gebärde, ein unverstandenes Wort überraschte, hatte er dafür nur das Achselzucken des überlegenen Mannes und sagte sich, alle Weiber seien so. Damit glaubte er eine große Geringschätzung des weiblichen Geschlechtes zu bezeigen; das verschärfte nur Clorindens feines, grausames Lächeln, das nur die Spitzen ihrer Zähne zwischen den roten Lippen zeigte.

»Was sehen Sie mich denn so an?« fragte er endlich, durch die großen Augen, die auf ihn gerichtet waren, belästigt. »Mißfällt Ihnen etwas an mir?«

Ein verhohlener Gedanke blitzte im Grunde von Clorindens Augen auf, während zwei Falten ihrem Munde einen Ausdruck großer Härte verliehen. Aber sie nahm sofort ihr bezauberndes Lächeln wieder an und flüsterte, den Rauch in kleinen Ringeln fortblasend:

»Nicht doch, Sie gefallen mir sehr gut ... Ich dachte an etwas, mein Lieber. Wissen Sie, daß Sie schreckliches Glück gehabt haben?«

»Wieso?«

»Ganz gewiß ... Sie stehen auf dem Gipfel, den Sie erreichen wollten. Alle Welt hat Sie mitgeschoben, die Ereignisse selbst haben Ihnen geholfen.«

Er wollte antworten, da klopfte es an der Tür. Clorinde barg unwillkürlich die Zigarette hinter ihrem Rock. Es war ein Beamter, der Seiner Exzellenz eine sehr dringende Depesche überreichte. Rougon las sie mit verdrießlichem Gesichte und gab dem Beamten an, in welchem Sinne zu antworten sei. Dann schloß er die Tür heftig, setzte sich wieder und sagte:

»Ja, ich habe Freunde, die mir sehr ergeben sind. Ich bemühe mich, es ihnen zu vergelten ... Sie haben recht, ich habe selbst den Ereignissen einiges zu danken. Der Mensch vermag oft nichts, wenn die Tatsachen ihm nicht helfen.«

Während er dies langsam sagte, blickte er sie unter den schweren Lidern, die seine Augen fast verbargen, scharf an. Warum redete sie von seinem Glück? Was wußte sie von den Ereignissen, die ihn begünstigt hatten? Du Poizat hatte doch nicht geplaudert? Aber als er sie so lächelnd und träumerisch dasitzen sah, ihre Züge wie von einer sinnlichen Erinnerung bewegt, fühlte er, daß etwas anderes sie beschäftigte; sicher wußte sie nichts. Er selbst vergaß es und zog es vor, in seinem Gedächtnisse nicht zu forschen. Es gab in seinem Leben eine Stunde, die schließlich ihm selbst sehr verworren schien. Er glaubte, seine hohe Stellung wirklich den Bemühungen seiner Freunde zu verdanken.

»Ich wollte nichts sein, man hat mich wider Willen vorwärts gedrängt«, fuhr er fort. »Schließlich hat sich alles zum Guten gewendet. Wenn ich etwas Gutes zu wirken vermag, werde ich mich befriedigt fühlen.«

Er trank seinen Kaffee aus. Clorinde rollte ihre zweite Zigarette.

»Entsinnen Sie sich?« flüsterte sie. »Als Sie vor zwei Jahren den Staatsrat verließen, fragte ich Sie nach dem Grunde dieser Unbesonnenheit. Damals spielten Sie den Duckmäuser, jetzt aber können Sie frei heraus reden... Sagen Sie mir offen, haben Sie dabei einen bestimmten Plan gehabt?«

»Einen Plan hat man immer«, versetzte er bedeutungsvoll. »Ich fühlte, daß ich wankte, und tat den Sprung lieber selbst.«

»Ist Ihr Plan gelungen? Haben die Dinge den Lauf genommen, den Sie vorausgesehen haben?«

Er blinzelte mit gemütlicher Schlauheit und versetzte:

»Das nicht. Sie wissen wohl, die Dinge gehen niemals so, wie man will. Wenn man nur sein Ziel erreicht!«

Er unterbrach sich und bot ihr Likör an:

»Curacao oder Chartreuse?«

Sie nahm ein Gläschen von dem letzteren. Während er einschenkte, klopfte es wieder. Sie verbarg ihre Zigarette wie vorhin mit einer Gebärde der Ungeduld. Er erhob sich wütend, ohne die Flasche aus der Hand zu lassen. Diesmal war es ein Brief mit großem Siegel. Er durchflog ihn mit einem Blicke, steckte ihn in die Rocktasche und sagte:

»Gut. Jetzt aber wünsche ich, nicht mehr gestört zu werden.«

Als er ihr gegenüber wieder Platz genommen, netzte sie ihre Lippen in dem Gläschen, Tropfen für Tropfen schlürfend und den Minister von unten her mit funkelnden Augen anschauend. Sie befand sich wieder in einer weichen Stimmung, die ihr Gesicht verklärte. Sie stützte beide Ellbogen auf den Tisch und sagte sehr leise:

»Nein, mein Lieber, Sie werden niemals alles wissen, was man für Sie getan hat.«

Er rückte ihr näher, stützte sich ebenfalls auf den Tisch und rief lebhaft:

»Halt! Das wollten Sie mir erzählen! Jetzt ist keine Geheimniskrämerei mehr am Platze, nicht wahr? ... Sagen Sie mir, was haben Sie getan?«

Sie weigerte sich und bewegte lange das Kinn, indem sie fester auf ihre Zigarette biß.

»So schrecklich ist es? Fürchten Sie vielleicht, ich würde meine Schuld nicht abtragen können? ... Warten Sie, ich werde mich aufs Raten verlegen ... Sie haben dem Papst geschrieben und mir einen Herrgott in meinen Wassertopf tauchen lassen, ohne daß ich es merkte?«

Sie aber wurde über diesen Spaß erzürnt und drohte zu gehen, wenn er so fortfahre.

»Lachen Sie nicht über die Religion!« sagte sie. »Das würde Ihnen Unglück bringen.«

Dann fuhr sie ruhiger fort, verjagte mit der Hand den Rauch, der Rougon zu belästigen schien, und ihre Stimme nahm einen eigenen Klang an, als sie sagte:

»Ich habe viele Menschen aufgesucht und habe Ihnen Freunde geworben.«

Sie fühlte ein boshaftes Bedürfnis, ihm alles zu erzählen. Er sollte wissen, in welcher Weise sie bei seinem Glücke mitgeholfen hatte. Dies Geständnis war die erste Befriedigung ihres so lange verhaltenen Grolles. Wäre er in sie gedrungen, hätte sie ihm alles haarklein berichtet. Dieser Rückblick machte sie heiter, ein wenig ausgelassen, und wärmte ihre Haut mit goldigem Schmelz.

»Ja, ja,« wiederholte sie, »Leute, die Ihren Plänen sehr feindlich gesinnt waren, habe ich für Sie erobern müssen, mein Lieber.«

Rougon wurde sehr bleich. Er hatte begriffen und sagte nur:

»Ah!«

Er suchte diesen Gegenstand zu vermeiden. Sie aber bohrte ihre großen schwarzen Augen mit unverschämter Ruhe in die seinen und lachte aus vollem Halse. Da gab er nach und bequemte sich zu fragen:

»Herrn von Marsy, nicht wahr?«

Sie nickte und blies einen Mund voll Rauch über die Schulter.

»Den Ritter Rusconi?«

Sie bejahte abermals.

»Herrn Lebeau, Herrn von Salneuve, Herrn Guyot-Laplanche?«

Sie bejahte auch dies. Herrn von Plouguern aber wollte sie nicht zugeben. Den nicht. Und mit triumphierender Miene trank sie ihr Gläschen langsam vollends aus.

Rougon war aufgestanden. Er ging durch den Saal, trat zurückkehrend hinter sie und flüsterte ihr zu:

»Warum nicht mit mir?«

Sie wandte sich schnell um aus Furcht, er möchte ihr Haar küssen.

»Mit Ihnen? Das hätte ja keinen Zweck! Wozu mit Ihnen? ... Es ist eine Dummheit, was Sie da sagen! Vor Ihnen brauche ich Ihre Sache doch nicht zu verfechten.«

Als er sie zornbleich ansah, schlug sie ein lautes Gelächter auf.

»Ah, die liebe Unschuld! Man darf nicht einmal scherzen, er glaubt alles! ... Halten Sie mich eines solchen Handels wirklich für fähig, mein Lieber? Und noch dazu für Ihre schönen Augen? Übrigens, wenn ich wirklich alle diese Gemeinheiten begangen hätte, würde ich sie Ihnen gewiß nicht an die Nase hängen! ... Nein, Sie sind wirklich drollig!«

Rougon verlor einen Augenblick die Fassung. Aber der spöttische Ton, womit sie selbst sich Lügen strafte, ließ sie nur noch herausfordernder erscheinen, ihre ganze Gestalt, ihr Lachen, das ihren Busen schüttelte, die Flamme ihrer Augen, alles wiederholte und bestätigte ihre Geständnisse. Er streckte den Arm aus, um sie zu umschlingen, da klopfte es zum drittenmal.

»Meinetwegen«, murmelte sie. »Ich behalte diesmal meine Zigarette.«

Ein Türsteher trat ganz außer Atem ein und meldete, Seine Exzellenz der Herr Justizminister wünsche Seine Exzellenz zu sprechen, und dabei schielte er zu der rauchenden Dame hinüber.

»Sagen Sie, ich sei ausgegangen!« rief Rougon. »Ich bin für niemanden zu sprechen, hören Sie?«

Als der Mann rückwärts mit einer Verbeugung hinausgegangen war, wurde Rougon wütend und schlug mit der Faust auf die Möbel. Man lasse ihn nicht mehr atmen; noch abends zuvor sei man bis in sein Ankleidezimmer gedrungen, während er sich rasierte. Clorinde schritt entschlossen der Tür zu und sagte:

»Warten Sie, man soll uns nicht mehr stören!«

Sie nahm den Schlüssel, steckte ihn ins Schloß und drehte zweimal herum.

»So. Nun mögen sie klopfen.«

Sie trat an das Fenster und drehte sich die dritte Zigarette. Er glaubte, ihm stehe ein Schäferstündchen bevor, kam heran und flüsterte ihr in den Nacken:

»Clorinde!«

Sie rührte sich nicht, und er sagte noch leiser:

»Clorinde, weshalb willst du nicht?«

Das Duzen nahm sie hin. Sie schüttelte den Kopf, aber nur schwach, als ob sie ihn ermutigen, vorwärts treiben wolle. Er wagte es nicht, sie zu berühren, er war mit einem Male furchtsam geworden und bat schön um Erlaubnis wie ein Schuljunge, dem sein erstes Liebesabenteuer alle Kraft lähmt. Endlich küßte er sie derb in den Nacken unter den Haarwurzeln. Da wandte sie sich verachtungsvoll um und rief:

»Was, kommen Sie wieder auf solche Streiche, mein Lieber? Ich glaubte, Sie wären darüber hinaus ... Was für eine närrische Rolle spielen Sie! Sie umarmen die Weiber nach anderthalb Jahren Überlegens!«

Gesenkten Hauptes fiel er über sie her und ergriff eine ihrer Hände, die er fast wund küßte. Sie sträubte sich nicht, fuhr aber fort ihn zu verspotten, ohne zu zürnen.

»Beißen Sie mir nur nicht die Finger ab! Das ist alles, was ich verlange ... Ah, das hätte ich Ihnen nicht zugetraut! Sie waren so vernünftig geworden, als ich Sie in Ihrer Wohnung besuchte! Und jetzt werden Sie wieder toll, weil ich Ihnen Unsauberkeiten erzähle, an die ich, Gott sei Dank, nie gedacht habe! Sie sind mir nett, mein Lieber! ... Ich schmachte nicht so lange. Es ist eine alte Geschichte: Sie haben mich nicht gewollt, jetzt will ich Sie nicht mehr.«

»Hören Sie mich an! Alles, was Sie wünschen!« flüsterte er. »Ich will alles tun, alles bewilligen.«

Sie aber weigerte sich noch immer und strafte ihn jetzt in seinen sinnlichen Begierden dafür, daß er sie einst ausgeschlagen hatte. Es war ihre erste Rache. Sie hatte ihn allmächtig sehen wollen, um ihn dann abzuweisen und so sein männliches Kraftbewußtsein zu beschämen.

»Niemals, niemals!« sagte sie immer wieder. »Haben Sie es ganz vergessen? Niemals!«

Da warf sich Rougon ihr schmählich zu Füßen. Er umarmte ihr Kleid, er küßte ihre Knie durch die Seide. Das war nicht der weiche Stoff, den Frau Bouchard trug, sondern ein Paket ärgerlich dicken Stoffes, dessen Geruch ihn dennoch berauscht«. Sie überließ ihm achselzuckend ihre Röcke. Aber er wurde kühner, ließ die Hände tiefer gleiten und suchte ihre Füße unter dem Saume.

»Nehmen Sie sich in acht!« sagte sie ruhig.

Und als er trotzdem seine Hände unter ihr Kleid steckte, setzte sie ihm die brennende Zigarette auf die Stirn. Er sprang aufschreiend empor und wollte sich von neuem auf sie stürzen. Sie aber trat schnell beiseite und ergriff, sich nahe beim Kamin an die Wand lehnend, einen Glockenzug.

»Ich klingle und sage, daß Sie mich eingeschlossen haben!« rief sie.

Er machte kehrt und drückte die Fäuste an die Schläfen, am ganzen Leibe zitternd. Einige Sekunden blieb er so unbeweglich stehen und fürchtete, sein Kopf könne bersten. Er reckte sich in die Höhe, wie um sich mit einem Schlage zu beruhigen; ihm brausten die Ohren, rote Flammen zuckten vor seinen Augen und drohten ihn zu blenden.

»Ich bin ein Vieh«, murmelte er. »Das ist blöd'.«

Clorinde lachte mit Siegermiene und predigte ihm Moral. Er tue sehr unrecht, die Frauen zu verachten, er werde noch zu der Einsicht kommen, daß es sehr kluge Frauen gebe. Dann fand sie ihren gewöhnlichen, gutmütigen Ton wieder.

»Wir grollen einander darum nicht, wie? ... Sehen Sie, das dürfen Sie nie von mir verlangen. Ich will nicht, ich mag nicht.«

Rougon ging beschämt auf und ab. Sie ließ den Glockenzug fahren, setzte sich wieder an den Tisch und machte sich ein Glas Zuckerwasser zurecht.

»Ich habe gestern einen Brief von meinem Manne bekommen«, fuhr sie ruhig fort. »Ich hatte heute früh so viel zu tun, daß ich vielleicht nicht zum Frühstück gekommen wäre, wenn ich ihn Ihnen nicht hätte zeigen wollen. Da haben Sie ihn ... Er erinnert Sie an Ihre Versprechungen.«

Er nahm den Brief, las ihn im Gehen und warf ihn dann mit gelangweiltem Ausdruck vor sie auf den Tisch hin.

»Nun?« fragte sie.

Er antwortete nicht sogleich. Er beugte sich hinten über und gähnte leicht.

»Er ist dumm!« sagte er endlich.

Sie war sehr verletzt. Seit einiger Zeit duldete sie nicht mehr, daß man die Fähigkeiten ihres Gatten bezweifle. Sie senkte einen Augenblick den Kopf und hielt ihre vor Empörung zitternden Hände gewaltsam still. Nach und nach befreite sie sich von der Unterwürfigkeit der Schülerin und schien Rougon genug von seiner Kraft entlehnt zu haben und sich ihm als furchtbare Gegnerin entgegenzustellen.

»Wenn wir diesen Brief zeigten, wäre es um ihn geschehen«, sagte der Minister, um sich für den Widerstand der Frau am Gatten zu rächen. »Der gute Mann ist nicht leicht unterzubringen!«

»Sie übertreiben, mein Lieber!« nahm sie nach einer Weile das Wort. »Früher schwuren Sie darauf, daß er die schönste Zukunft vor sich habe. Er besitzt sehr ernste und sehr zuverlässige Vorzüge. Sie wissen: es sind nicht immer die wirklich gescheiten Männer, die am weitesten kommen.«

Rougon zuckte nur die Achseln und setzte seinen Spaziergang fort.

»Es liegt in Ihrem Interesse, daß er in das Ministerium eintritt. Sie hätten dort einen Freund mehr. Wenn der Minister für Handel und Ackerbau sich wirklich aus Gesundheitsrücksichten zurückzieht, wie man sagt, ist die beste Gelegenheit zur Hand. Mein Mann ist auf diesem. Gebiete ein Sachverständiger, und seine Sendung nach Italien empfiehlt ihn der Wahl der Kaisers ... Sie wissen, der Kaiser hält Stücke auf ihn, sie verstehen einander gut; sie haben gleiche Ansichten ... Ein Wort von Ihnen würde die Angelegenheit erledigen.«

Er ging noch einige Male auf und ab, ohne zu antworten. Dann trat er vor sie hin und sagte:

»Nun gut, ich will es tun ... Es gibt noch Dümmere. Aber ich tue es nur um Ihretwillen. Ich will Sie entwaffnen, denn Sie müssen gar schlimm sein. Nicht wahr, Sie sind sehr rachsüchtig?«

Er scherzte. Sie lachte ebenfalls und wiederholte:

»O ja, sehr rachsüchtig. Ich vergesse nichts.«

Als sie ihn verließ, hielt er sie an der Tür noch einen Augenblick fest. Zweimal drückten sie einander kräftig die Hände, ohne ein Wort dabei zu sagen.

Sobald Rougon allein war, kehrte er in sein Kabinett zurück. Das weite Gemach war leer. Er setzte sich an den Schreibtisch, stützte die Arme auf die Schreibmappe und schnaufte, daß es in der Stille doppelt laut klang. Die Augen fielen ihm zu, und für etwa zehn Minuten versank er in einen träumerischen Halbschlummer. Dann aber fuhr er auf, reckte die Arme und klingelte. Merle trat ein.

»Der Herr Präfekt der Somme wartet noch immer, nicht wahr? Lassen Sie ihn eintreten!«

Der Präfekt der Somme kam blaß und lächelnd und richtete seine kleine Gestalt stramm auf. Er verbeugte sich tadellos vor dem Minister. Rougon, noch etwas schlaftrunken, wartete und lud ihn zum Sitzen ein.

»Herr Präfekt, ich habe Sie herberufen, um Ihnen gewisse Anweisungen mündlich zu geben ... Sie wissen, daß die revolutionäre Partei wieder das Haupt erhebt. Wir sind haarbreit an einer furchtbaren Katastrophe vorbeigekommen. Das Land will endlich beruhigt sein und sich unter dem kraftvollen Schutze der Regierung wissen. Seine Majestät der Kaiser ist seinerseits entschlossen, Exempel festzusetzen; denn bisher hat man seine Güte gröblichst mißbraucht.

Er sprach langsam, in seinen Sessel zurückgelehnt und mit einem schweren Siegel mit Achatgriff spielend. Der Präfekt bestätigte jeden Satz mit lebhaftem Kopfnicken.

»Ihr Departement«, fuhr der Minister fort, »ist eines der schlimmsten. Die republikanische Seuche ...«

»Ich tue alles, was in meinen Kräften steht«, wollte der Präfekt sagen.

»Lassen Sie mich ausreden ... Darum müssen wir dort mit Nachdruck auftreten. Um mich hierüber mit Ihnen zu verständigen, habe ich Sie zu sprechen gewünscht. Wir haben uns hier mit einer Arbeit beschäftigt und eine Liste aufgestellt ...«

Er suchte zwischen seinen Papieren, ergriff einen Band und blätterte darin.

»Man hat die nötig erscheinende Anzahl von Verhaftungen auf ganz Frankreich verteilen müssen. Die auf jedes Departement entfallende Zahl entspricht dem Eindrucke, der hervorgebracht werden soll ... Verstehen Sie unsere Absichten recht. Also im Departement Haute-Marne, wo es nur eine verschwindende Minderheit von Republikanern gibt, genügen drei Verhaftungen. Das Departement Meuse hingegen erfordert deren fünfzehn. Was Ihr Departement betrifft, die Somme, nicht wahr? Sagen wir, die Somme ...«

Er blätterte weiter und blinzelte dabei. Endlich erhob er den Kopf und sah dem Beamten ins Gesicht.

»Herr Präfekt, Sie haben zwölf Verhaftungen vorzunehmen.«

Das blasse Männchen verbeugte sich, und wiederholte:

»Zwölf Verhaftungen. Ich habe Eure Exzellenz vollkommen verstanden.«

Aber er war verlegen und konnte eine leichte Unruhe nicht verbergen. Als der Minister sich nach einigen Minuten weiterer Unterhaltung erhob, um ihn zu verabschieden, entschloß er sich zu fragen:

»Könnten Eure Exzellenz mir die Persönlichkeiten bezeichnen?«

»Oh, verhaften Sie, wen Sie wollen! ... Um solche Kleinigkeiten kann ich mich nicht bekümmern. Woher soll ich die Zeit nehmen? Reisen Sie noch heute abend ab und beginnen Sie morgen mit den Verhaftungen ... Ich rate Ihnen, hoch zu greifen. Sie haben da genug Advokaten, Kaufleute und Apotheker, die sich mit Politik beschäftigen. Stecken Sie mir diese ganze Gesellschaft ein. Das macht mehr Eindruck.«

Der Präfekt fuhr sich mit besorgter Gebärde über die Stirn, in seinem Gedächtnisse suchend, um Advokaten, Kaufleute, Apotheker zu finden. Er nickte immer wieder beistimmend. Aber Rougon war ohne Zweifel mit seiner schwankenden Haltung unzufrieden.

»Ich darf Ihnen nicht verhehlen,« fuhr er fort, »daß Seine Majestät jetzt mit dem Verwaltungspersonal sehr unzufrieden ist. Es könnte bald ein starker Präfektenschub stattfinden. Wir brauchen in der gegenwärtigen bedenklichen Lage unbedingt zuverlässige Leute.«

Das wirkte wie ein Peitschenhieb.

»Exzellenz können auf mich rechnen!« rief der Präfekt. »Ich habe meine Leute schon gefunden: ein Apotheker zu Péronne, ein Zeughändler und ein Papierfabrikant zu Doullens; was die Advokaten betrifft, die fehlen nicht, das ist die reine Pest ... Oh, ich versichere Eurer Exzellenz, ich werde das Dutzend schon finden! ... Ich bin ein alter Diener des Kaiserreiches!«

Er redete noch davon, daß das Land gerettet werden müsse, und ging mit einer sehr tiefen Verbeugung. Der Minister wiegte seinen mächtigen Körper und schaute nachdenklich hinter ihm drein; er traute den kleinen Leuten nicht. Ohne sich zu setzen, strich er die Somme mit Rotstift aus der Liste, wie es schon mit mehr als zwei Dritteln der Departements geschehen war. Im Kabinett herrschte noch das dumpfe Schweigen der grünen, bestaubten Vorhänge und der Fettgeruch, mit dem Rougons Wohlbeleibtheit es zu erfüllen schien.

Als er Merle wieder klingelte und dabei das ganze Vorzimmer voll Menschen sah, fuhr er auf. Er glaubte sogar die beiden Damen am Tische wieder zu erkennen.

»Ich habe Ihnen aufgetragen, die ganze Gesellschaft zu verabschieden!« rief er. »Ich gehe, ich kann nicht mehr empfangen.«

»Der Herr Direktor der ›Volksstimme‹ ist da«, murmelte Merle.

Rougon hatte ihn vergessen. Er ballte die Fäuste hinter dem Rücken und befahl, ihn einzulassen. Es war ein wohlgenährter Mann von etwa vierzig Jahren, sehr sorgfältig gekleidet.

»Ah, da sind Sie ja, mein Herr!« fuhr ihn der Minister an. »Die Dinge können so unmöglich weiter gehen. Das sage ich Ihnen!«

Auf und ab gehend, überhäufte er die Presse mit Schmähworten. Sie verbreite Verwirrung und Sittenlosigkeit, sie treibe zu allen Ausschreitungen an. Ihm seien die Straßenräuber noch lieber als die Journalisten; ein Dolchstoß sei zu heilen, aber die Federstiche seien vergiftet, und er fand andere, noch schlimmere Vergleiche. Nach und nach fing er an sich selbst anzufeuern, seine Stimme schwoll zum Donner an. Der Direktor ließ mit unterwürfigem und bestürztem Gesicht das Gewitter über sich ergehen und fragte endlich:

»Wenn Exzellenz mir gütigst erklären wollten, ich verstehe nicht recht, warum ...«

»Was, warum!« schrie Rougon aufgebracht.

Er stürzte auf den Schreibtisch zu, breitete das Blatt darauf aus und zeigte ihm die vom Rotstift ganz durchsetzten Spalten.

»Keine zehn Zeilen sind einwandfrei! In Ihrem Leitartikel scheinen Sie die Unfehlbarkeit der Regierung in Sachen der Unterdrückung zu bezweifeln. In diesem Abschnitte auf der zweiten Seite scheinen Sie auf mich anzuspielen, indem Sie von Emporkömmlingen reden, die der Erfolg unverschämt macht. In den Vermischten Nachrichten bringen Sie schmutzige Geschichten, alberne Ausfälle gegen die höheren Klassen.«

Der erschrockene Direktor legte die Hände zusammen und versuchte eine Einrede.

»Ich schwöre Eurer Exzellenz ... Ich bin außer mir, daß Exzellenz einen Augenblick glauben konnten ... Ich, der ich für Exzellenz eine so glühende Bewunderung hege.

Aber Rougon hörte nicht auf ihn.

»Und was das Schlimmste ist, mein Herr, jedermann kennt die Bande, die Sie an die Regierung knüpfen. Wie können die anderen Blätter uns achten, wenn die von uns bezahlten es nicht tun? Seit heute früh haben alle meine Freunde mich auf diese Abscheulichkeiten aufmerksam gemacht.«

Darauf begann der Direktor mit Rougon um die Wette zu schreien. Diese Stellen seien ihm nicht vor die Augen gekommen. Aber er werde alle seine Redakteure vor die Tür setzen. Wenn Exzellenz es wünsche, werde er jeden Morgen einen Abzug der Nummer einreichen. Rougon lehnte es beruhigt ab, dazu habe er keine Zeit. Er drängte ihn zur Tür, als ihm noch etwas einfiel.

»Noch eins. Ihre Erzählung ist gemein. Diese wohlerzogene Frau, die ihren Mann betrügt, ist ein verabscheuungswürdiger Vorwurf gegen die gute Erziehung. Man darf nicht sagen, daß eine anständige Frau einen Fehltritt begehen kann.«

»Die Geschichte gefällt sehr!« murmelte der Direktor, von neuem besorgt. »Ich habe sie gelesen und sehr interessant gefunden!«

»So, Sie haben Sie gelesen! Hat diese Unglückliche denn schließlich wenigstens Gewissensbisse?«

Der Direktor rieb sich verwirrt die Stirn und suchte sich zu besinnen.

»Gewissensbisse? Nein, ich glaube nicht.«

Rougon hatte die Tür geöffnet und schrie, als er sie hinter ihm schloß:

»Sie muß durchaus Gewissensbisse haben. Verlangen Sie vom Verfasser, daß er ihr Gewissensbisse beilege!«


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