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Siebentes Kapitel

Am Abend des Tages, als Clorinde zu Compiègne angekommen war, plauderte sie mit Herrn von Plouguern in einem Fenster der Wandkartengalerie. Man erwartete das kaiserliche Paar, um sich in den Speisesaal zu begeben. Die zweite Folge der für dieses Jahr Eingeladenen befand sich kaum seit drei Stunden im Schlosse, und weil noch nicht alle versammelt waren, beschäftigte sich die junge Frau damit, die Eintretenden mit einem Worte zu beurteilen. Die Damen in ausgeschnittenen Kleidern und Blumen im Haar, steckten schon in der Tür ein holdes Lächeln auf, die Herren bewahrten eine ernste Haltung mit ihren weißen Krawatten, kurzen Beinkleidern und seidenen Strümpfen.

»Da ist der Ritter!« flüsterte Clorinde. »Er sieht sehr gut aus... Aber sieh doch, Pate, Herrn Beulin d'Orchère, man sollte meinen, er müsse anfangen zu bellen, und was für Beine, gerechter Gott!«

Herr von Plouguern hörte diesen Spöttereien schmunzelnd zu. Der Ritter Rusconi kam und begrüßte Clorinde mit der schmachtenden Artigkeit der schönen Italiener; dann machte er bei den übrigen Frauen die Runde, sich in abgemessenen Verbeugungen wiegend, die einen sehr gefälligen Eindruck machten. Einige Schritte abseits stand Delestang, in die großen Karten des Compiègner Waldes vertieft, welche die Wände der Galerie bedeckten.

»In welchem Wagen bist du denn gekommen?« fragte Clorinde. »Ich habe dich auf dem Bahnhofe gesucht, um mit dir zu fahren. Denke dir, ich war in einen Haufen Menschen eingeklemmt.

Plötzlich unterbrach sie sich und erstickte zwischen den Fingern einen Lachanfall:

»Herr La Rouquette sieht zuckersüß aus.«

»Ja, wie ein Frühstück von Pensionärinnen«, bemerkte der Senator boshaft.

In diesem Augenblicke wurde an der Tür ein lautes Rauschen von Gewändern vernehmlich. Der Flügel öffnete sich sehr weit, und herein trat eine Frau in einem Kleide, dermaßen mit Schleifen, Blumen und Spitzen überladen, daß sie den Rock mit beiden Händen zusammendrücken mußte, um durchzukommen. Es war Frau von Combelot, Clorindens Schwägerin. Diese warf der Eintretenden einen spöttischen Blick zu und flüsterte:

»Sollte man's für möglich halten!«

Als Herr von Plouguern sie selbst ansah, die im ganz einfachen Tarlatankleide über einem schlecht zugeschnittenen rosa Untergewande dastand, fuhr sie im Tone vollkommener Gleichgültigkeit fort:

»Weißt du, Pate, mich nimmt man schon wie ich bin!«

Inzwischen hatte Delestang die Karten verlassen und war seiner Schwester entgegengegangen, um sie seiner Frau zuzuführen. Sie standen miteinander auf gespanntem Fuße und tauschten eine sauer-süße Begrüßung aus. Dann ging Frau von Combelot weiter, eine Atlasschleppe hinter sich herziehend, die einem Blumenbeete glich, so daß alles einige Schritte vor dieser Hochflut von Spitzen beiseite trat. Als Clorinde sich wieder mit Herrn von Plouguern allein sah, scherzte sie über die große Leidenschaft, die ihre Schwägerin für den Kaiser bezeigte. Nachdem der Senator von dem heldenhaften Widerstände des letzteren berichtet hatte, bemerkte sie:

»Das ist kein großes Verdienst; sie ist so mager! Ich habe gehört, daß andere sie hübsch finden, ich weiß nicht, weshalb. Sie hat ein völlig nichtssagendes Gesicht.«

Bei diesen Worten blickte sie beständig aufmerksam zur Tür und sagte:

»Diesmal muß es Herr Rougon sein.«

Aber« mit einem Aufblitzen ihrer Augen fuhr sie fort:

»Nein, es ist Herr von Marsy.«

Der Minister, sehr sorgfältig mit schwarzem Frack und Kniehosen bekleidet, kam lächelnd auf Frau von Combelot zu; während er sie begrüßte, schweiften seine Blicke unstet und verschleiert über die Gäste, als ob er niemanden kenne. Als man; ihn begrüßte, verbeugte er sich sehr verbindlich. Mehrere Herren näherten sich ihm, und bald stand er inmitten eines dichten Ringes. Sein bleiches Gesicht mit den feinen, boshaften Zügen ragte über die Schultern der sich vor ihm Verneigenden hervor.

»Übrigens«, wandte sich Clorinde wieder an Herrn von Plouguern, indem sie ihn tiefer in die Nische zog, »habe ich darauf gerechnet, daß du mir Näheres berichten wirst... Was weißt du über die berüchtigten Briefe der Frau von Llorentz?«

»Was alle Welt weiß!« versetzte er.

Er begann, von den drei Briefen zu erzählen, die Herr von Marsy vor fünf Jahren kurz vor der Hochzeit des Kaisers an Frau von Llorentz gerichtet haben sollte. Sie hatte eben ihren Gatten, einen General spanischer Herkunft, verloren, und befand sich damals in Madrid, um die Hinterlassenschaft zu ordnen. Es war die schöne Zeit der Liebschaft. Der Graf hatte, um sie aufzuheitern, auch seiner Neigung zum Schwänkedichten folgend, ihr äußerst heikle Mitteilungen Über gewisse hohe Personen gemacht, in deren Umgebung er lebte. Man sagte, daß Frau von Llorentz, eine schöne, höchst eifersüchtige Frau, seit jener Zeit diese Briefe verwahre und sie als ein Racheschwert über das Haupt des Herrn von Marsy halte.«

»Sie ließ sich von der Notwendigkeit überzeugen, daß er eine walachische Fürstin heirate«, schloß der Senator. »Aber nachdem sie ihm einen Honigmond vergönnt, bedeutete sie ihm, daß er zu ihren Füßen zurückzukehren habe, andernfalls werde sie eines schönen Morgens die drei schrecklichen Briefe auf den Schreibtisch des Kaisers niederlegen; so hat er denn sein Joch wieder aufgenommen... Er überhäuft sie mit Gefälligkeiten, um sie zur Herausgabe dieser verdammten Briefe zu bewegen.«

Clorinde lachte sehr; die Geschichte schien ihr überaus drollig, und sie hatte noch viel darüber zu fragen. Wenn der Graf Frau von Llorentz hinterginge, würde sie imstande sein, ihre Drohung auszuführen? Wo verwahrte sie diese drei Briefe? – In ihrem Leibchen, zwischen zwei Atlasbändern, wie sie hatte sagen hören. Aber Herr von Plouguern wußte es auch nicht genau. Er kannte einen jungen Menschen, der, um eine Abschrift davon nehmen zu können, unnützerweise ein halbes Jahr lang den unterwürfigen Sklaven der Frau von Llorentz gespielt hatte.

»Zum Teufel!« fuhr er fort, »er läßt dich nicht aus den Augen, Kleine! Wirklich, ich habe es ganz vergessen, du hast ihn erobert! Ist es wahr, daß er bei seiner letzten Abendgesellschaft fast eine Stunde lang mit dir geplaudert hat?«

Die junge Frau antwortete nicht; sie schien ihn gar nicht zu hören; sie stand unbeweglich und stolz da unter den zudringlichen Blicken des Herrn von Marsy. Dann hob sie langsam den Kopf und sah ihn an, seinen Gruß erwartend. Er kam heran, verbeugte sich, und sie lächelte ihm sehr huldvoll zu, doch redeten sie kein Wort miteinander. Der Graf kehrte in die Mitte seiner Gruppe zurück, wo La Rouquette sehr laut sprach und ihn jeden Augenblick »Seine Exzellenz« nannte.

Allmählich hatte sich die Galerie doch gefüllt. Es waren an hundert Menschen beisammen: hohe Beamte, Generäle, fremde Staatsmänner, fünf Abgeordnete, drei Präfekten, zwei Maler, ein Romanschriftsteller, zwei Akademiker, ungerechnet die Schloßbeamten, Kammerherren, Adjutanten und Stallmeister. Beim Glanze der Kronleuchter erhob sich das leichte Gesumme der Stimmen. Die Vertrauten des Schlosses wandelten mit kurzen Schritten umher, während die zum ersten Male Geladenen stille standen und sich inmitten der Frauen kaum zu rühren wagten. Diese erste Stunde der Verlegenheit, unter großenteils einander unbekannten Menschen, die sich unversehens an der Tür des kaiserlichen Speisesaales zusammenfanden, verlieh den Gesichtern einen Ausdruck verdrießlicher Würde. Hin und wieder trat plötzlich Schweigen ein, und die Köpfe wandten sich mit dem Ausdruck fragender Neugier um. Die Ausstattung des geräumigen Gemaches im Stile des Kaiserreiches, die steifbeinigen Pfeilertischchen, die viereckigen Sessel schienen die Feierlichkeit der Stunde noch zu erhöhen.

»Da ist er endlich!« flüsterte Clorinde.

Rougon war eben eingetreten und blieb zwei Schritte von der Tür einen Augenblick stehen. Er sah gemütlich aus, wie ein schwerfälliger Spießbürger; sein Gesicht war schläfrig, sein Rücken etwas gekrümmt. Mit einem Blicke gewahrte er den Hauch von Feindseligkeit, der bei seiner Ankunft über gewisse Gruppen hinwehte. Er jedoch schritt unbekümmert vorwärts, rechts und links einige Händedrücke austeilend, bis er Herrn von Marsy gegenüberstand. Sie begrüßten sich und schienen von der Begegnung entzückt. Aug in Auge plauderten sie freundschaftlich als Feinde, die einer des andern Kraft achten. Um sie her war ein freier Raum entstanden. Die Frauen beobachteten ihre geringsten Bewegungen, während die Männer, eine große Zurückhaltung heuchelnd, die Augen abwandten und sich dabei heimlich bedeutungsvolle Blicke zuwarfen. In den Ecken wurde geflüstert. Welche heimliche Absicht mochte der Kaiser haben? Warum brachte er so diese beiden Männer zusammen? Herr La Rouquette, ganz außer Fassung, glaubte ein großes Ereignis zu wittern. Er fragte Herrn von Plouguern, der ihm zum Spaß folgende Antwort gab:

»Wer weiß: Rougon wird vielleicht Marsy aus dem Sattel werfen, und man wird gut tun, sich an ihn zu halten ... Wenn nur der Kaiser nichts Schlimmes im Schilde führt! Zuweilen hat er solche Anwandlungen ... Vielleicht hat er sich auch nur das Vergnügen machen wollen, sie zusammen zu sehen in der Hoffnung, daß sie sich drollig gebärden werden.

Da verstummte das Flüstern, eine große Bewegung ging durch den Saal. Zwei Palastbeamte gingen von Gruppe zu Gruppe, halblaut einige Worte murmelnd. Die Gäste, plötzlich ernst geworden, wandten sich zur linksseitigen Tür und bildeten ein Spalier, die Herren auf der einen, die Damen auf der andern Seite. Dicht an die Tür trat Herr von Marsy, neben ihn Rougon; dann folgten die übrigen nach Rang und Stand. So wartete man drei Minuten in tiefster Stille. Da öffneten sich beide Türflügel. Der Kaiser im Frack, auf der Brust das rote Band des Großordens, trat zuerst ein, hinter ihm der Kammerherr vom Dienst, Herr von Combelot. Mit einem schwachen Lächeln blieb er vor Marsy und Rougon stehen, drehte langsam seinen langen Schnurrbart, den ganzen Körper wiegend, und flüsterte wie verlegen:

»Sagen Sie Frau Rougon, daß die Nachricht von ihrer Krankheit uns mit tiefem Bedauern erfüllt hat ... Wir hätten lebhaft gewünscht, sie mit Ihnen hier zu sehen ... Hoffentlich ist es nicht so schlimm, Erkältungen sind jetzt häufig.«

Damit ging er weiter. Nach zwei Schritten reichte er einem General die Hand und fragte ihn nach dem Wohlergehen seines Sohnes, den er »meinen kleinen Freund Gaston« nannte; Gaston stand im Alter des kaiserlichen Prinzen, war aber schon viel kräftiger. Dann ging er vorwärts, vom Spalier mit tiefen Verbeugungen begrüßt. Endlich stellte ganz am Ende der Kette Herr von Combelot einen Akademiker vor, der zum erstenmal bei Hofe war, und der Kaiser sprach vom neuesten Werk des Gelehrten, in dem er einige Seiten mit dem größten Vergnügen gelesen zu haben erklärte.

Inzwischen war die Kaiserin in Begleitung der Frau von Llorentz eingetreten. Sie war sehr einfach gekleidet, trug ein blaues Seidenkleid mit einem Überwurf aus weißen Spitzen. Mit kurzen Schritten, lächelnd, anmutig den entblößten Hals neigend, den ein Diamantenherz an einfachem blauen Samtbande zierte, schritt sie die Kette der Frauen ab. Ihre Schritte begleiteten Verbeugungen, Rauschen und Knistern der Kleider, aus denen Moschusduft emporstieg. Frau von Llorentz stellte ihr eine junge Frau vor, die sehr bewegt schien. Frau von Combelot benahm sich mit zärtlicher Vertraulichkeit.

Als das Herrscherpaar das Ende der Kette erreicht hatte, kehrte es zurück, diesmal der Kaiser bei den Frauen, die Kaiserin bei den Herren entlang gehend, wobei neue Vorstellungen zu erledigen waren. Noch redete niemand, achtungsvolle Verlegenheit schloß den Gästen den Mund. Dann aber lösten sich die Reihen, halblaute Worte wurden gewechselt, und helles Lachen ertönte, als der Generaladjutant des Schlosses meldete, es sei aufgetragen.

»Du bedarfst meiner jetzt nicht mehr?« flüsterte Herr von Plouguern vergnügt Clorinden ins Ohr.

Sie lächelte ihm zu. Sie war vor Herrn von Marsy stehen geblieben, um ihn zu zwingen, ihr den Arm zu reichen, was er auch höflicherweise tat. Es entstand eine kleine Verwirrung. Der Kaiser und die Kaiserin schritten voran, dann folgten die, denen die Plätze neben den Majestäten angewiesen waren; es waren diesmal zwei fremde Diplomaten, eine junge Amerikanerin und die Gattin eines Ministers. Dann folgten die anderen Gäste, jeder am Arm der Dame, die er erwählt hatte. Langsam ordnete sich der Zug.

Der Eintritt in den Speisesaal gestaltete sich sehr prunkvoll. Fünf Kronleuchter gossen ihre Lichtfluten über die lange Tafel aus, daß das Silber des Tafelaufsatzes blitzte, auf dem Jagdstücke: der Hirsch, die Hunde und das Hallali dargestellt waren. Die flachen Teller am Rande des Tisches bildeten eine Reihe von silbernen Monden, die Seiten der Schüsselwärmer, in denen sich das Kerzenlicht spiegelte, die Gläser, an denen das Licht herniederrieselte, die rosa schimmernden Fruchtkörbe und Blumenschalen verliehen in der Tat der kaiserlichen Tafel einen Glanz, der den ganzen weiten Saal erfüllte. Durch die weitgeöffnete Tür trat der Zug herein, nachdem er den Gardensaal langsam durchschritten hatte. Die Herren neigten sich hernieder, flüsterten ein Wort und richteten sich dann wieder auf, insgeheim von der Eitelkeit gekitzelt, diesem Triumphzuge anzugehören; die Frauen mit nackten, lichtübergossenen Schultern, blickten mit mildem Entzücken drein; ihre über die Teppiche rauschenden Schleppen, welche die Paare voneinander trennten, steigerten mit dem Knistern ihrer kostbaren Stoffe noch den majestätischen Eindruck des Zuges. Es war ein fast zärtliches Herannahen, eine lüsterne Ankunft in einem Räume voll Pracht, Licht und Wärme, gleichsam ein sinnkitzelndes Bad, worin der Moschusduft der Gäste sich mit dem leichten Dunst des Wildbratens und dem scharfen Gerüche der Zitronenscheiben mischte. Als der Zug im Angesichte der prächtigen Tafel die Schwelle überschritt, begrüßte ihn die in einer Nachbargalerie verborgene Militärmusik mit einer Fanfare, ähnlich dem Eröffnungszeichen eines Zauberfestes, so daß die Herren, ein wenig durch ihre kurzen Beinkleider beengt, unwillkürlich lächelnd die Arme ihrer Begleiterinnen drückten.

Die Kaiserin wandte sich nach rechts zur Mitte der Tafel, wo sie stehen blieb, während der Kaiser, links hinuntergehend, ihr gegenüber Platz nahm. Nachdem die dazu bezeichneten Personen sich rechts und links von Ihren Majestäten aufgestellt hatten, wandelten die übrigen Paare einen Augenblick um den Tisch, um sich ihre Nachbarschaft nach Gefallen zu wählen. Es waren siebenundachtzig Gedecke, und fast drei Minuten vergingen, bis endlich alle eingetreten waren und ihren Platz gefunden hatten. Der Alabasterglanz der Schultern, die lichten Blumen der Toiletten, die Diamanten in dem hoch aufgekämmten Haar machten im Glanz der Kronleuchter den Eindruck eines hellen Lachens. Endlich nahmen die Diener die Hüte ab, welche die Herren bis dahin in der Hand gehalten hatten, und man setzte sich.

Herr von Plouguern hatte sich Rougon angeschlossen. Nach der Suppe stieß er ihn an und fragte:

»Haben Sie etwa Clorinde beauftragt, eine Verständigung zwischen Ihnen und Marsy anzubahnen?«

Dabei blickte er zu der jungen Frau hinüber, die an der anderen Seite des Tisches neben dem Grafen saß und sehr vertraulich mit ihm plauderte. Rougon begnügte sich, verdrießlich die Achseln zu zucken, und stellte sich, als sehe er nicht hinüber. Aber trotz seiner Bemühungen, gleichgültig zu erscheinen, blickte er immer wieder nach Clorinde hin, beobachtete die geringste Bewegung ihrer Hände, ihrer Lippen, als ob er ihr die Worte vom Munde lesen wolle. Frau von Combelot, die sich so nahe wie möglich zum Kaiser gesetzt hatte, beugte sich zu Rougon hinüber und sagte:

»Herr Rougon, erinnern Sie sich noch jenes Unfalles? Sie haben mir damals einen Wagen verschafft. Ein ganzer Saum meines Kleides wurde weggerissen.«

Sie suchte, sich damit interessant zu machen, daß eines Tages ihr Wagen vom Landauer eines russischen Fürsten fast mitten durchgefahren wurde. Rougon mußte antworten, und ein Weilchen redete man an der Mitte der Tafel von diesem Gegenstande. Man erwähnte allerlei Unfälle, unter anderen, daß letzte Woche eine Parfümeriehändlerin aus der Panoramapassage vom Pferde gestürzt sei und dabei einen Arm gebrochen habe. Der Kaiserin entfuhr ein Ausruf des Bedauerns, der Kaiser sagte nichts, er hörte nur nachdenklich zu und aß langsam.

»Wo ist denn Delestang geblieben?« fragte Rougon seinerseits Herrn von Plouguern.

Sie suchten ihn und entdeckten ihn endlich am Ende der Tafel neben Herrn von Combelot, gleich allen seinen Nachbarn aufmerksam sehr freien Spaßen zuhörend, die von dem lauten Gespräch der übrigen gedeckt wurden. Herr La Rouquette hatte die drollige Geschichte einer Wäscherin aus seiner Heimat angefangen, der Ritter Rusconi gab persönliche Bemerkungen über die Pariserinnen zum Besten, einer der beiden Maler tauschte mit dem Romanschriftsteller sehr schonungslose Worte aus über die zu fetten oder zu mageren Arme der Damen, die ihren Spott herausforderten. Rougon aber schleuderte wütende Blicke auf Clorinde, die zu dem Grafen immer liebenswürdiger wurde, und auf ihren Einfaltspinsel von Gatten, der wie blind auf seinem Platze saß und würdevoll zu den etwas starken Dingen lächelte, die er zu hören bekam.

»Warum hat er sich nicht zu uns gesetzt?« murrte er.

»Nun, ich sehe keinen Grund, ihn zu beklagen«, versetzte Herr von Plouguern. »Man scheint sich an jenem Ende der Tafel gut zu unterhalten.«

Dann flüsterte er ihm ins Ohr:

»Ich glaube, sie sind im Zuge, Frau von Llorentz zu verlästern. Haben Sie bemerkt, wie tief ihr Kleid ausgeschnitten ist? ... Ich fürchte, der linke Busen schlüpft heraus.

Er beugte sich vor, um Frau von Llorentz besser ins Auge zu fassen – sie saß auf derselben Seite der Tafel, etwa fünf Plätze von ihm entfernt –, wurde aber plötzlich ernst. Die Dame, eine etwas starke, hübsche Blonde, hatte in diesem Augenblick ein schreckliches Aussehen; sie war ganz bleich vor Ingrimm, ihre blauen Augen schimmerten schwärzlich und hingen unverwandt an Herrn von Marsy und Clorinde. Er brummte zwischen den Zähnen so leise, daß selbst Rougon es nicht vernahm:

»Teufel, das geht schief!«

Die Musik spielte beständig in der Ferne, sie schien von der Decke herabzurieseln. Bei gewissen Klängen der Trompeten hoben die Tischgenossen die Köpfe und suchten, sich auf die Melodie zu besinnen, dann hörten sie gar nichts mehr, die weichen Töne der Klarinetten wurden vom Klingen des Silbergeschirrs übertönt, das in ungeheuren Stößen herbeigeschleppt wurde. Die großen Schüsseln klangen zuweilen dazwischen wie Zymbeln. Rings um die Tafel bewegte sich wortlos ein Heer von Bedienten. Die Türsteher in Frack und hellblauen Beinkleidern, mit Degen und Dreispitz; die Diener mit gepudertem Haar in großer grüner Livree, mit Goldtressen besetzt. In genauer Ordnung kamen die Gerichte an und wurden die Weine herumgereicht, die Vorgesetzten und Aufseher, der Tafelmeister, der Verwalter des Silberzeuges überwachten dies verwickelte Geschäft, diese anscheinende Verwirrung, worin jedoch die Rolle des letzten Lakaien von vornherein geregelt war. Das kaiserliche Paar bedienten die Leibkammerdiener Ihrer Majestäten mit gemessener Würde.

Als die Braten kamen und die schweren Burgunder Weine eingeschenkt wurden, wuchs der Lärm. Gegenwärtig schwatzte Herr La Rouquette über Küchenfragen und erörterte, ob das am Spieß gebratene Rehbockviertel, das eben aufgetragen wurde, gehörig gar sei. Bis dahin hatte es Crecisuppe, blaugesottenen Lachs, Rindslende mit Schalottenbrühe, gebratene Hähnchen, Rebhuhn mit Kohl und Austerpastetchen gegeben.

»Ich wette, daß wir noch Artischocken im Saft und Gurken in Sahne bekommen«, sagte der junge Abgeordnete.

»Ich habe Krebse gesehen«, erklärte Delestang höflich.

Als aber die Artischocken und die Gurken erschienen, triumphierte Herr La Rouquette und fügte hinzu, er kenne den Geschmack der Kaiserin. Inzwischen blickte der Romanschriftsteller den Maler an, schnalzte leicht mit der Zunge und flüsterte:

»Na, mittelmäßige Küche!«

Jener verzog das Gesicht und nickte. Nachdem er getrunken, bemerkte er seinerseits:

»Die Weine sind vorzüglich!«

In diesem Augenblicke lachte die Kaiserin so laut, daß alles schwieg und die Hälse reckte, um zu erfahren, was es gebe. Die Kaiserin sprach mit dem deutschen Gesandten, der zu ihrer Rechten saß, in abgebrochenen Worten, die niemand verstand, und lachte dabei beständig. In dem neugierigen Schweigen hörte man ein einzelnes Horn, von gedämpften Bässen begleitet, eine klangvolle Stelle aus einem rührsamen Liede vortragen. Allmählich nahm der Lärm wieder zu. Stühle wurden herumgerückt, Ellbogen auf die Tischkante gestemmt, und vertrauliche Unterhaltungen entspannen sich in der Freiheit, welche die Tafel des fürstlichen Wirtes gestattete.

»Wünschen Sie etwas Gebäck?« fragte Herr von Plouguern.

Rougon lehnte kopfschüttelnd ab. Seit einem Weilchen aß er nicht mehr. Das Silbergeschirr war durch Sèvres-Porzellan ersetzt, das zart in Blau und Rosa bemalt war. Der ganze Nachtisch ging an ihm vorüber, ohne daß er etwas mehr als einen Bissen Camembertkäse genossen hätte. Er tat sich keinen Zwang mehr an, faßte Clorinde und Herrn von Marsy scharf ins Auge, ohne Zweifel in der Hoffnung, die junge Frau einschüchtern zu können. Diese aber war so vertraulich mit dem Grafen, daß sie ganz zu vergessen schien, wo sie sich befand, und als ob sie beide in einem traulichen Zimmer allein bei einem gemütlichen Mahle säßen. Ihre große Schönheit wurde durch eine ungewöhnliche Zärtlichkeit verklärt, und sie knabberte an dem Zuckerwerk, das ihr der Graf reichte; sie eroberte ihn mit ihrem beständigen, unverschämt ruhigen Lächeln. Man begann um sie her zu flüstern.

Die Unterhaltung drehte sich eben um die Mode. Herr von Plouguern fragte Clorinde aus Bosheit nach der neuesten Hutform. Als sie die Frage überhörte, neigte er sich zu Frau von Llorentz, um ihr dieselbe Frage vorzulegen. Aber er wagte es nicht, so furchtbar sah sie aus, wie sie die Zähne in wütender Eifersucht zusammengepreßt hatte. Clorinde hatte eben Herrn von Marsy ihre linke Hand überlassen unter dem Vorwande, ihm einen Stein zu zeigen, den sie am Finger trug. Er zog den Ring ab und steckte ihn wieder an, es war fast unanständig. Frau von Llorentz, die nervös mit einem Löffel spielte, zerbrach ihr Bordeauxglas, dessen Splitter ein Diener eiligst entfernte.

»Sie werden einander noch in die Haare geraten, soviel ist sicher«, flüsterte der Senator Rougon ins Ohr. »Haben Sie die beiden beobachtet? ... Der Teufel soll mich holen, wenn ich Clorindens Spiel verstehe! Was will sie denn eigentlich?«

Als er die Augen zu seinem Nachbar erhob, bemerkte er eine überraschende Veränderung in dessen Zügen und fragte:

»Was haben Sie? Fehlt Ihnen etwas?«

»Nichts,« versetzte Rougon; »es ist mir nur zu warm. Diese Mahlzeiten dauern mir zu lange. Außerdem herrscht hier ein solcher Moschusgeruch! ...«

Doch die Tafel ging zu Ende. Nur einzelne Damen kauten, halb in ihre Sessel zurückgelehnt, noch ein Biskuit. Sonst rührte sich niemand. Der Kaiser, bis dahin stumm, sprach jetzt mit erhobener Stimme, und die Gäste an den beiden Enden der Tafel, welche die Anwesenheit Seiner Majestät ganz vergessen zu haben schienen, lauschten mit beifälligen Mienen. Der Herrscher antwortete auf einen Vortrag, den Herr Beulin d'Orchère gegen die Ehescheidung gehalten. Dann unterbrach er sich, warf einen Blick auf den sehr weit entblößten Busen der jungen Amerikanerin zu seiner Linken und schloß mit seiner matten Stimme:

»In Amerika habe ich nur häßliche Frauen sich scheiden lassen sehen.«

Die Gäste lachten. Das Wort schien so geistreich, daß Herr La Rouquette sich abmühte, einen geheimen Sinn dahinter zu suchen. Die junge Amerikanerin erblickte ohne Zweifel eine Schmeichelei darin, denn sie dankte, verwirrt den Kopf neigend. Da erhob sich das kaiserliche Ehepaar. Lautes Rauschen von Kleidern, ein Trippeln um die Tafel her wurde vernehmlich, während die Türsteher und die Diener, ernst an die Wand gelehnt, allein in diesem Durcheinander von Leuten, die gut gegessen hatten, ihre Haltung bewahrten. Dann ordnete der Zug sich aufs neue. Ihre Majestäten an der Spitze, dahinter paarweise die Gäste, die langen Schleppen getrennt, so schritten sie mit etwas abgespannter Feierlichkeit durch den Gardensaal zurück. Hinter ihnen drein erdröhnten im hellen Glänze der Kronleuchter über dem noch warmen Durcheinander der Tafel die Paukenschläge der Militärmusik, die eben den Schluß einer Quadrille spielte.

Der Kaffee wurde in der Wandkartengalerie eingenommen. Ein Schloßpräfekt bot dem Kaiser die Tasse auf purpurner Platte. Mehrere Gäste hatten sich inzwischen schon in das Rauchzimmer begeben. Die Kaiserin saß mit einigen Damen im sogenannten Familiensalon links von der Galerie. Man flüsterte sich ins Ohr, daß sie mit dem sonderbaren Benehmen Clorindens während des Mahles sehr unzufrieden sei. Sie bemühte sich, bei Hofe während des Aufenthaltes in Compiègne eine bürgerliche Wohlanständigkeit einzuführen, eine Vorliebe für unschuldige Spiele und ländliche Vergnügungen. Sie hatte einen persönlichen Haß gegen gewisse Ausschreitungen.

Herr von Plouguern hatte Clorinde beiseitegenommen, um ihr den Text zu lesen. Sein eigentlicher Zweck aber war, sie in die Beichte zu nehmen. Sie jedoch stellte sich sehr überrascht. Wie konnte man behaupten, daß sie sich mit dem Grafen Marsy kompromittiert habe? Sie hatten miteinander gescherzt, weiter nichts.

»Hier, sieh!« flüsterte der alte Senator.

Damit stieß er die halboffene Tür eines Nebenzimmers auf und zeigte ihr Frau von Llorentz, die Herrn von Marsy einen schrecklichen Auftritt machte. Sie hatte die beiden dort eintreten sehen. Die schöne Blonde machte ganz außer sich ihrem Zorne in sehr derben Ausdrücken Luft, setzte alle Rücksicht beiseite und dachte nicht daran, daß ihr Toben einen gräßlichen Skandal herbeiführen könne. Der Graf redete mit etwas bleichem, doch lächelndem Gesicht leise und hastig auf sie ein, um sie zu beruhigen. Schon hatte man den Lärm in der Wandkartengalerie vernommen, und einige Gäste entfernten sich vorsichtig aus der Nähe des Zimmers.

»Du willst sie also dahin bringen, daß sie ihre famosen Briefe an die vier Ecken des Schlosses anschlägt?« fragte Herr von Plouguern, der jungen Frau den Arm reichend und sie hinwegführend.

»Das wäre sehr ergötzlich!« versetzte sie lachend.

Darauf begann er, ihren nackten Arm mit dem Feuer eines jungen Anbeters drückend, ihr wieder Moral zu predigen. Solche Extravaganzen müsse man Frau von Combelot überlassen. Er versicherte, daß Ihre Majestät gegen sie sehr aufgebracht sei. Clorinde, welche die Kaiserin vergötterte, war hierüber sehr erstaunt. Womit hatte sie Mißfallen erregen können? Als sie das Zimmer der Kaiserin erreicht hatten, blieben sie einen Augenblick vor der halboffenen Türe stehen. Ein ganzer Kreis von Damen saß um einen großen Tisch; in der Mitte die Kaiserin, die sich geduldig bemühte, ihnen ein Kinderspiel beizubringen. Einige Herren standen hinter den Sesseln und verfolgten den Unterricht mit großer Aufmerksamkeit.

Am Ende der Galerie schalt unterdessen Rougon Delestang aus. Er wagte nicht, dessen Frau zu erwähnen; er zankte, weil jener sich mit einer Wohnung begnügt hatte, die auf den Schloßhof hinaus lag. und wollte ihn dazu zwingen, eine nach dem Park hinaus zu verlangen. Aber da nahte Clorinde am Arme des Herrn von Plouguern und sagte laut, um gehört zu werden:

»Laßt mich doch in Ruhe mit eurem Marsy! Ich werde heute abend nicht mehr mit ihm sprechen. Genügt das?«

Diese Worte beruhigten alle. Eben trat Herr von Marsy mit sehr vergnügtem Gesicht aus dem kleinen Zimmer, er scherzte einen Augenblick mit dem Ritter Rusconi und begab sich dann in den Salon der Kaiserin, die man samt den anderen Damen bald über eine von ihm erzählte Geschichte herzhaft lachen hörte. Nach zehn Minuten erschien auch Frau von Llorentz; sie sah abgespannt aus, ihre Hände zitterten noch; obgleich sie ihre geringsten Bewegungen von neugierigen Blicken verfolgt sah, blieb sie dennoch tapfer stehen und plauderte mit diesem und jenem.

Eine respektvolle Langeweile verursachte vielfaches Gähnen, das hinter den Taschentüchern unterdrückt wurde. Der Abend war der peinliche Teil des Tages. Die Neugeladenen wußten nicht, was sie anfangen sollten, traten an die Fenster und blickten in die Nacht hinaus. Herr Beulin d'Orchère setzte in einer Ecke seinen Vortrag über die Ehescheidung fort. Der Romanschriftsteller, der es »tödlich langweilig« fand, fragte einen Akademiker ganz leise, ob man nicht zu Bett gehen könne. Inzwischen ging der Kaiser von Zeit zu Zeit durch die Galerie schleppfüßig mit einer Zigarette im Munde.

»Es war unmöglich, für heute abend irgend etwas zu veranstalten«, erklärte Herr von Cambelot der kleinen Gruppe, die Rougon und seine Freunde bildeten. »Morgen nach der Hetzjagd wird bei Fackelschein das Wild zur Strecke gebracht. Übermorgen werden die Schauspieler des ›Französischen Lustspielhauses‹ die ›Prozeßkrämer‹ aufführen. Man spricht auch von lebenden Bildern und einem Bilderrätsel, die zu Ende der Woche dargestellt werden sollen.«

Darauf ging er zu den Einzelheiten über. Seine Frau werde mitwirken, und die Proben sollten demnächst beginnen. Dann erzählte er weitläufig von einem Spaziergang, den der Hof vor zwei Tagen zu dem »drehbaren Stein« unternommen, einem Druidenfelsen, um den her man Ausgrabungen veranstaltete. Die Kaiserin hatte darauf bestanden, in die Höhle hinabzusteigen.

»Denken Sie sich,« fuhr der Kammerherr mit bewegter Stimme fort, »die Arbeiter hatten das Glück, vor Ihrer Majestät zwei Schädel bloßzulegen. Niemand hätte es erwartet, und alle waren äußerst befriedigt.«

Er strich seinen prächtigen schwarzen Bart, der ihm bei dem schönen Geschlechte zu vielen Erfolgen verhalf; sein hübsches Gesicht hatte einen Zug einfältiger Süßlichkeit, und aus übergroßer Höflichkeit lispelte er beim Sprechen.

»Aber«, nahm Clorinde das Wort, »man hat mir versichert, die Schauspieler vom Operettentheater würden uns das neue Stück aufführen ... Die Schauspielerinnen haben wundervolle Toiletten. Und man lacht sich krank dabei, scheint es.«

Herr von Combelot murmelte mit zusammengekniffenen Lippen:

»Ja, ja, vorübergehend ist davon die Rede gewesen.«

»Nun, und? ...«

»Man ist davon abgekommen, weil die Kaiserin dergleichen Stücke nicht liebt.«

Da wurde eine lebhafte Bewegung im Saale bemerkbar; die Herren waren aus dem Rauchzimmer zurückgekehrt. Der Kaiser wollte seine Partie Scheibespiel beginnen; Frau von Combelot, die sich auf ihre Stärke in diesem Spiele etwas zugute tat, hatte ihn gebeten, eine Scharte auswetzen zu dürfen; sie erinnere sich, im vorigen Jahre von ihm besiegt worden zu sein, und bot sich ihm immer mit so demütiger Zärtlichkeit, mit so bezauberndem Lächeln an, daß Seine Majestät unbehaglich, eingeschüchtert, oft die Augen abwenden mußte.

Das Spiel begann unter den Augen einer großen Anzahl von Zuschauern, die im Kreise herumstanden und die Würfe beurteilten. Die junge Frau warf den ersten Stein auf die große, mit grünem Tuche bedeckte Tafel und traf dicht neben das Ziel, das ein weißer Punkt bezeichnete. Der Kaiser aber, noch geschickter, warf ihren Stein beiseite und setzte den seinen an dessen Stelle. Man klatschte leise Beifall. Dennoch gewann Frau von Combelot.

»Um was ging das Spiel, Majestät?« fragte sie kühn.

Der Kaiser lächelte, ohne zu antworten. Dann wandte er sich um und fragte:

»Herr Rougon, wollen Sie mit mir spielen?«

Rougon verbeugte sich und nahm die Wurfsteine, wobei er von seiner Ungeschicklichkeit sprach.

Unter den Zuschauern hatte sich ein Murmeln erhoben. Wurde Rougon wirklich wieder in Gnaden aufgenommen? Die stumme Feindseligkeit, die ihn seit seiner Ankunft umgab, schmolz dahin, Köpfe reckten sich vor, um seine Würfe beifällig zu verfolgen. Herr La Rouquette führte noch verlegener als vor dem Essen seine Schwester beiseite, um zu erfahren, woran man sich zu halten habe; sie aber konnte ihm offenbar keine befriedigende Auskunft geben, denn er kehrte mit der Miene größter Ungewißheit zurück.

»Sehr gut!« murmelte Clorinde bei einem äußerst geschickten Wurfe Rougons.

Dabei warf sie den Freunden des großen Mannes, die in ihrer Nähe standen, bedeutungsvolle Blicke zu. Der Augenblick war geeignet, ihn in des Kaisers Gunst zu fördern, und sie führte den Angriff. Einen Augenblick regnete es Lobeserhebungen auf ihn.

»Zum Teufel!« entfuhr es Delestang, der unter den befehlenden Augen seiner Frau keinen andern Ausdruck fand.

»Und Sie behaupteten, Sie seien ungeschickt!« rief der Ritter Rusconi hingerissen. »Ah, Majestät, spielen Sie nicht um Frankreich mit ihm!«

»Aber Herr Rougon würde gewiß auch für Frankreich seinen Mann stellen«, fügte Herr Beulin d'Orchère hinzu, indem er seinem Bulldoggengesicht einen schlauen Ausdruck zu geben suchte.

Das war gerade aufs Ziel losgegangen, und der Kaiser geruhte zu lächeln. Er lachte sogar ganz herzhaft, als Rougon von all diesen Lobsprüchen verwirrt, bescheiden erwiderte:

»Mein Gott, ich habe als Knabe Knöchel gespielt!«

Der ganze Saal brach in Lachen aus, als Seine Majestät das Beispiel dazu gab, und ein Weilchen herrschte ungewöhnliche Heiterkeit. Clorinde hatte mit weiblicher Schlauheit sofort begriffen, daß man mit der Bewunderung Rougons, der im ganzen nur sehr mittelmäßig spielte, vor allem dem Kaiser schmeichelte, der eine unbestreitbare Überlegenheit bewies. Indessen hatte Herr von Plouguern sich noch nicht bequemt, diesen von ihm beneideten Erfolg zu feiern. Sie stieß ihn wie aus Versehen mit dem Ellbogen an; er begriff und begeisterte sich über den nächsten Stein, den sein Kollege warf. Herr La Rouquette ließ sich gar zu dem gewagten Warte hinreißen:

»Sehr hübsch! Ein mächtiger Wurf!«

Als der Kaiser gewonnen hatte, bat Rougon um die Gelegenheit, seine Niederlage wettmachen zu dürfen. Die Steine glitten von neuem über das grüne Tuch gleich dem Rascheln dürren Laubes, als ein Kinderfräulein im Zimmer der Kaiserin erschien, auf dem Arme den kaiserlichen Prinzen. Das etwa zwanzig Monate alte Kind war sehr einfach in Weiß gekleidet, sein Haar war wirr, seine Augen schlaftrunken. Wenn es so des Abends erwachte, wurde es gewöhnlich der Kaiserin gebracht, die es liebkoste. Es blickte mit dem ernsthaften Ausdruck kleiner Kinder in das glänzende Licht.

Ein Greis, hoher Würdenträger, humpelte heran, so schnell es seine gichtbehafteten Beine gestatteten, beugte den greisenhaft zitternden Kopf nieder, ergriff das weiche Kinderhändchen und murmelte mit seiner gebrochenen Stimme:

»Kaiserliche Hoheit! ... Kaiserliche Hoheit! ...«

Das Kind, durch die Annäherung dieses Pergamentgesichtes erschreckt, warf sich heftig zurück und begann laut zu schreien. Aber der Alte ließ es nicht los, sondern beteuerte seine Ergebenheit, so daß man das weiche Händchen seinen Lippen und seiner Verehrung entziehen mußte.

»Tragen Sie das Kind hinaus!« sagte der Kaiser ungeduldig zu dem Fräulein.

Die zweite Partie hatte er verloren. Jetzt begann die entscheidende. Rougon, der die Lobsprüche ernst nahm, gab sich alle Mühe, und Clorinde fand, daß er zu gut spiele. Während er seine Steine sammelte, flüsterte sie ihm ins Ohr:

»Ich hoffe, Sie werden nicht wieder gewinnen.«

Er lächelte. Plötzlich wurde lautes Gebell vernehmlich: Nero, des Kaisers Lieblingshund, war durch eine offene Tür in den Saal gedrungen. Seine Majestät gab Befehl, ihn hinauszuführen, und ein Diener hielt ihn schon am Halsband, als der Alte, der hohe Würdenträger, von neuem hervorstürzte und rief:

»Mein schöner Nero, mein schöner Nero! ...«

Er kniete fast auf den Teppich, um ihn in seine zitternden Arme zu schließen. Er drückte den Kopf des Hundes an seine Brust, küßte ihn und wiederholte:

»Bitte, Majestät, schicken Sie ihn nicht fort! Er ist so schön!«

Der Kaiser willigte ein, daß er bleibe, worauf der Alte seine Liebkosungen verdoppelte. Der Hund knurrte nicht einmal, sondern leckte zutraulich die welken Hände, die ihn streichelten.

Rougon beging unterdessen Fehler über Fehler. Er warf einen Stein so ungeschickt, daß die tuchüberzogene Bleischeibe in den Busen einer Dame flog, die sie errötend zwischen ihren Spitzen hervorholte. Der Kaiser gewann. Darauf gab man ihm in zartsinniger Weise zu verstehen, daß er einen Sieg errungen habe, auf den er stolz sein könne. Er wurde dadurch fast gerührt und ging mit Rougon plaudernd auf und ab, als ob er sich verpflichtet fühle, ihn zu trösten. Sie begaben sich an das Ende des Saales, um für ein Tänzchen Platz zu machen, das zum Schluß des Abends veranstaltet wurde.

Die Kaiserin trat eben aus ihrem Zimmer und bemühte sich mit bezaubernder Anmut, die zunehmende Langeweile zu zerstreuen. Sie hatte vorgeschlagen, ein Spiel zu beginnen, aber es war schon spät, man zog vor zu tanzen. Alle Damen hatten sich im Wandkartensaale versammelt, und man sandte in das Rauchzimmer, um die Herren zu holen, die sich dort versteckt hielten. Als die Paare zur Quadrille antraten, setzte sich Herr von Combelot dienstbereit an das Piano. Es war ein Spielwerk, das durch eine Kurbel in Bewegung gesetzt wurde. Der Kammerherr drehte sie mit dem ernstesten Gesichte von der Welt.

»Herr Rougon,« äußerte der Kaiser, »man hat mir von Ihrer Arbeit berichtet, worin Sie die englische Verfassung mit der unsrigen vergleichen wollen ... Ich könnte Ihnen vielleicht weiteren Stoff dazu liefern.«

»Majestät sind zu gütig ... Aber ich habe einen andern, großen Plan.«

Da Rougon den Kaiser so wohlgeneigt sah, wollte er die Gelegenheit benutzen und setzte sein Vorhaben des weiteren auseinander: ein Gebiet in den Landes, mehrere Geviertmeilen groß, urbar zu machen, eine Stadt zu gründen, kurz, ein neues Land zu erobern. Während er so redete, erhob der Kaiser die trüben Augen, und ein matter Schimmer flammte darin auf. Doch unterbrach er ihn nicht, nickte nur hin und wieder und sagte erst, als jener geendet hatte:

»Ohne Zweifel, man könnte es versuchen ...«

Dann wandte er sich zu Delestang, der mit seiner Frau und Herrn von Plouguern in der Nähe stand:

»Herr Delestang, sagen Sie uns Ihre Meinung! ... Ich habe Ihre Musterwirtschaft zu La Chamade von meinem Besuche her in bester Erinnerung.«

Der Gerufene kam, doch mußte der Kreis, der sich um den Kaiser gebildet hatte, in die Nische zurückweichen. Frau von Combelot, die eben halb bewußtlos in Herrn La Rouquettes Armen vorüberwalzte, hatte mit ihrer langen Schleppe die Seidenstrümpfe des Kaisers gestreift, ja fast umwickelt. Herr von Combelot ergötzte sich an seiner Musik, er drehte die Kurbel rascher und wiegte gemessen sein schönes, wohlfrisiertes Haupt; zuweilen warf er einen Blick auf den Kasten, wie überrascht von den feierlichen Tönen, die gewisse Kurbeldrehungen hervorriefen.

»Ich habe das Glück gehabt, in diesem Jahre durch eine neue Kreuzung prächtige Kälber zu erzielen«, erklärte Delestang. »Leider wurden die Pferche eben ausgebessert, als Eure Majestät La Chamade besuchten.«

Der Kaiser redete langsam, einsilbig über Landwirtschaft, Viehzucht, Mästung. Seit seinem Besuche in La Chamade schätzte er Delestang sehr hoch und lobte ihn besonders deshalb, weil er den Versuch gemacht hatte, seine Leute in eine Art Verband zu bringen mit einem Anteil am Gewinn und einer Altersversorgungskasse. Wenn sie miteinander sprachen, hatten sie viele gemeinsame Gedanken und menschenfreundliche Pläne, worüber sie sich andeutungsweise verständigten.

»Hat Herr Rougon Ihnen seinen Plan mitgeteilt?« fragte der Kaiser.

»Ein herrlicher Plan!« erwiderte Delestang. »Man könnte Versuche im großen machen ...«

Er zeigte sich wahrhaftig begeistert. Die Veredlung der Schweinerassen war eben sein Lieblingsgegenstand. Die schönen Schläge stürben in Frankreich aus. Dann ließ er merken, daß er ein neues Verfahren zur Anlage künstlicher Wiesen studiere, doch bedürfe er dazu sehr ausgedehnter Landstrecken. Falls Rougons Plan gelingen sollte, werde er sich dorthin begeben, um sein Verfahren anzuwenden. Plötzlich hielt er inne: er hatte bemerkt, daß seine Frau ihn starr anblickte. Seitdem er sich für Rougons Plan erklärt hatte, biß sie sich auf die Lippen, ganz bleich vor Wut.

»Mein Freund!« flüsterte sie, auf das Piano hinweisend.

Herr von Combelot spreizte seine steifen Finger und ballte sie dann sachte wieder zusammen, um sich zu erholen. Er wollte eben mit dem ergebenen Lächeln eines Märtyrers eine Polka beginnen, als Delestang kam und sich erbot, ihn abzulösen. Er nahm es höflich an, als ob er einen Ehrenplatz abtrete. Darauf fing Delestang an, die Polka herabzuleiern. Aber das war etwas ganz anderes; er hatte nicht das gleichmäßige Spiel, die geschmeidige und doch markige Hand des Kammerherrn.

Rougon wollte jedoch vom Kaiser ein entscheidendes Wort vernehmen. Dieser, von dem Plane sehr verlockt, fragte ihn nunmehr, ob er dort nicht große Arbeiterstädte errichten wolle; es werde leicht sein, jedem Hausvater ein Stückchen Land, freien Wasserverbrauch und landwirtschaftliche Geräte zu bewilligen. Er versprach, ihm sogar Pläne mitzuteilen, den Grundriß einer dieser Städte, den er selbst entworfen, mit lauter gleichmäßigen Häusern, worin alle Bedürfnisse vorgesehen waren.

»Gewiß, ich stimme ganz mit Eurer Majestät überein«, versetzte Rougon, beunruhigt von dem nebelhaften Sozialismus des Herrschers. »Wir könnten ohne Eure Majestät nichts tun ... Es wird zweifellos in einigen Gemeinden das Enteignungsverfahren angewendet, der Grundsatz des Gemeinwohles ausgesprochen, werden müssen. Schließlich werde ich an die Bildung einer Gesellschaft denken müssen ... Ein Wort Eurer Majestät ist erforderlich ...«

Des Kaisers Auge umflorte sich. Er nickte und wiederholte dann dumpf, kaum hörbar:

»Wir werden sehen ... Wir werden noch davon ...«

Damit entfernte er sich schleppenden Ganges, quer durch eine Quadrillefigur schreitend. Rougon machte ein vergnügtes Gesicht, als ob er eines günstigen Bescheides sicher sei. Clorinde strahlte. Allmählich hatte sich unter den ernsteren Herren, die nicht tanzten, die Neuigkeit verbreitet, Rougon werde Paris verlassen und an die Spitze eines großen Unternehmens im Süden treten. Man kam, ihn zu beglückwünschen, und lächelte ihm vom einen Ende des Saales bis zum andern zu. Die frühere Feindseligkeit war verschwunden; wenn er sich selbst verbannte, konnte man ihm schon die Hand drücken, ohne sich in Verruf zu bringen. Viele Gäste fühlten sich augenscheinlich erleichtert; Herr La Rouquette trat sogar aus den Reihen der Tänzer und redete darüber mit dem entzückten Ausdruck eines seiner Sorgen entledigten Menschen mit dem Ritter Rusconi:

»Er tut wohl daran; er wird da draußen große Dinge vollbringen; Rougon ist ein Kraftmensch, aber sehen Sie, es fehlt ihm an politischem Takte.«

Darauf pries er die Güte des Kaisers, der »Seine alten Diener liebte, wie man. an ehemaligen Geliebten zu hängen pflegt«. Er gebe sich ihnen hin, habe Rückfälle von Zuneigung, selbst nachdem er mit ihnen auf die auffälligste Weise gebrochen. Wenn er Rougon nach Compiegne geladen habe, sei der Grund sicher eine uneingestandene Schwäche seines Herzens. Der junge Abgeordnete führte andere Tatsachen an, die für das gute Herz Seiner Majestät zeugten: er hatte die vierhunderttausend Franken Schulden bezahlt, zu denen eine Tänzerin einen General verleitet hatte; einem seiner alten Mitverschworenen von Straßburg und Boulogne hatte er achthunderttausend Franken zur Hochzeit geschenkt, der Witwe eines höheren Beamten fast eine Million.

»Seine Kasse wird geplündert«, schloß er. »Er hat sich nur deshalb zum Kaiser wählen lassen, um seine Freunde zu bereichern ... Ich zucke die Achseln, wenn ich die Republikaner ihm seine Zivilliste vorwerfen höre. Hätte er das Zehnfache, er würde alles verschenken. Das Geld fällt wieder an Frankreich zurück.«

Indem beide so halblaut miteinander plauderten, folgten sie dem Kaiser mit den Blicken. Er hatte eben einen Rundgang durch den Saal vollendet und schritt vorsichtig, schweigend und einsam durch die Gruppe der Tänzerinnen, die ihm achtungsvoll Platz machten. Wenn er hinter den nackten Schultern einer sitzenden Dame vorbeiging, reckte er etwas den Hals, kniff die Augenlider zusammen und tauchte den Blick so tief wie möglich in den Busen.

»Und dieser Scharfblick!« fügte der Ritter Rusconi noch leiser hinzu. »Ein außerordentlicher Mensch!«

Der Kaiser hatte sich ihnen genähert und blieb eine Minute ernst und nachdenklich stehen. Dann schien er auf Clorinde zuschreiten zu wollen, die eben sehr heiter und schön war; da sah sie ihn kühn an und schien ihn zu erschrecken. So ging er weiter, die Linke auf die Hüfte gestützt, mit der andern Hand den gewichsten Schnurrbart drehend. Als er sich Herrn Beulin d'Orthère gegenüber sah, wich er ihm aus, dann kam er von der Seite heran und fragte:

»Sie tanzen nicht, Herr Präsident?«

Der Richter antwortete, daß er nicht tanzen könne und daher niemals in seinem Leben getanzt habe.

Der Kaiser wandte in ermutigendem Tone ein:

»Das schadet nichts, man tanzt dennoch.«

Das war sein letztes Wort. Langsam erreichte er die Tür und verschwand.

»Nicht wahr, ein außerordentlicher Mensch?« wiederholte Herr La Rouquette das Wort des Ritters Rusconi. »Im Auslande beschäftigt man sich sehr viel mit ihm, wie?«

Der Ritter antwortete mit diplomatischer Zurückhaltung nur durch ein unbestimmtes Nicken. Doch gestand er, daß die Augen von ganz Europa am Kaiser hingen. Ein Wort aus den Tuilerien erschüttere die benachbarten Throne.

»Das ist ein Fürst, der zu schweigen versteht«, schloß er mit einem Lächeln, dessen feiner Spott dem jungen Abgeordneten entging.

Beide wandten sich ritterlich wieder zu den Damen und machten ihre Aufforderungen für die folgende Quadrille. Seit einer Viertelstunde drehte ein Adjutant die Kurbel. Delestang und Herr von Combelot eilten hinzu und erboten sich, an seine Stelle zu treten. Aber die Damen riefen:

»Herr von Combelot, Herr von Combelot! Er dreht viel besser!«

Der Kammerherr dankte mit liebenswürdiger Verbeugung und drehte mit wahrhaft künstlerischer Vollendung weiter, Es war der letzte Tanz. Im Familiensalon war inzwischen der Tee aufgetragen. Nero, der unter einem Sofa hervorkroch, wurde mit Butterbrötchen vollgestopft. Kleine Gruppen bildeten sich und unterhielten sich vertraulich miteinander. Herr von Plouguern hatte sich mit einem belegten Brötchen in die Ecke einer Konsole geflüchtet, aß, schlürfte seinen Tee und erklärte dabei Delestang, mit dem er das belegte Brot teilte, wie er, den man als Legitimisten kannte, dazu gekommen sei, die Einladung nach Compiegne anzunehmen. Mein Gott! Es war sehr einfach! Er glaubte, er dürfe seine Unterstützung nicht länger einer Regierung versagen, die Frankreich vor der Anarchie rette. Dann bemerkte er:

»Dies Brötchen ist vorzüglich ... Ich habe heute abend schlecht genug gegessen.«

In Compiègne war übrigens sein boshafter Witz immer lebendig. Er äußerte über die meisten der anwesenden Frauen so derbe Worte, daß Delestang darüber errötete. Er schone nur die Kaiserin, eine wahre Heilige, sagte er. Sie zeige sich musterhaft fromm und sei Legitimistin; sie würde gewiß Heinrich V. zurückberufen haben, wenn sie frei über den Thron zu verfügen hätte. Darauf feierte er ein Weilchen die süßen Freuden der Religion. Als er dann wieder eine etwas schlüpfrige Anekdote zum Besten gab, kehrte gerade die Kaiserin in Begleitung der Frau von Llorentz in ihre Gemächer zurück. Auf der Türschwelle verbeugte sie sich tief vor der Versammlung, die den Gruß durch eine stille Verbeugung erwiderte.

Die Zimmer leerten sich; man sprach lauter und tauschte Händedrücke aus. Als Delestang seine Frau suchte, um mit ihr hinaufzugehen, fand er sie nirgends. Endlich entdeckte Rougon, der ihm suchen half, sie neben Herrn von Marsy auf einem schmalen Sofa in dem kleinen Zimmer, wo Frau von Llorentz vor dem Grafen nach der Tafel so schrecklich die Eifersüchtige gespielt hatte. Clorinde lachte sehr laut, erhob sich, als sie ihren Mann kommen sah, und sagte, noch immer lachend:

»Guten Abend, Herr Graf ... Sie sollen morgen bei der Jagd sehen, ob ich meine Wette halte.«

Rougon folgte ihr mit den Blicken, als Delestang sie am Arm hinwegführte. Er hätte sie bis zu ihrer Tür begleiten mögen, um zu fragen, was für eine Wette sie meine; aber er mußte Herrn von Marsy standhalten, der ihn mit verdoppelter Höflichkeit zurückhielt. Als jener sich endlich von ihm verabschiedet, ging er, anstatt sein Bett aufzusuchen, durch eine offene Tür in den Park. Die Oktobernacht war sehr dunkel: kein Stern war zu sehen, kein Lüftchen regte sich; alles war schwarz und tot. In der Ferne lag der schweigende Hochwald wie ein schwarzes Gebirge; kaum konnte er zu seinen Füßen den matten Schimmer der Wege erkennen. Hundert Schritte von der Terrasse blieb er stehen und ließ sich mit dem Hut in der Hand die erquickende Kühle der Nacht über das Gesicht streichen. Das war eine Erfrischung, wie ein Kraftbad. Er blickte träumerisch nach links auf das Gebäude, wo ein Fenster noch hell erleuchtet war, und während die anderen allmählich dunkel wurden, noch immer allein die schläfrige Masse des Schlosses belebte. Der Kaiser wachte, und plötzlich glaubte er seinen Schatten zu sehen, einen ungeheuren Kopf mit den langen Schnurrbartenden; dann huschten zwei andere Schatten vorbei, der eine sehr schlank, der andere dick, so dick, daß er das ganze Fenster ausfüllte. In diesem letzteren erkannte er deutlich den ungeheuren Schattenriß eines Geheimpolizisten, mit dem Seine Majestät sich stundenlang einzuschließen pflegte; und als der schlanke Schatten wieder sichtbar wurde, kam er auf die Vermutung, es könne eine Frau sein. Endlich verschwand alles, das Fenster nahm wieder seinen ruhigen Schimmer an und sandte seinen Flammenblick in die geheimnisvollen Tiefen des Parkes. Vielleicht dachte der Kaiser jetzt an die Urbarmachung des Landes, an die Gründung einer Arbeiterstadt, wo die Ausrottung der Verarmung im großen versucht werden sollte. Er faßte seine Entschlüsse oft in der Nacht, nachts unterzeichnete er Erlasse, verfaßte er Aufrufe, setzte er Minister ab. Allmählich zog ein Lächeln über Rougons Züge; unwillkürlich fiel ihm ein Bild ein: Der Kaiser mit blauer Schürze und auf dem Kopfe eine Polizeimütze aus einem Zeitungsblatt war damit beschäftigt, ein Zimmer zu Trianon mit Tapeten zu drei Franken die Rolle zu bekleben, um dort eine Geliebte unterzubringen; und er stellte ihn sich vor, wie er jetzt in der Einsamkeit seines Zimmers, umgeben vom Schweigen der Nacht, Bilder ausschnitt und sie mit Hilfe eines kleinen Pinsels sehr sauber aufklebte.

Rougon erhob den Arm, und es entfuhren ihm die Worte:

»Seine Bande hat ihn zu dem gemacht, was er ist!«

Dann beeilte er sich, ins Schloß zurückzukehren. Ihn begann zu frieren, besonders an den Füßen, da seine Beinkleider nur bis zum Knie reichten.

Am andern Morgen gegen neun Uhr ließ Clorinde durch Antonia, die sie mitgenommen, anfragen, ob sie mit ihrem Gatten bei ihm ihr Frühstück nehmen könne. Er hatte sich eine Tasse Schokolade bestellt und erwartete das Ehepaar. Antonia ging mit der großen silbernen Platte voran, auf der ihnen der Kaffee gebracht worden.

»So, das wird gemütlicher, nicht wahr?« sagte Clorinde beim Eintreten. »Sie haben auf dieser Seite die Sonne... Sie wohnen viel besser als wir!«

Damit begann sie, die Wohnung zu untersuchen. Sie bestand aus einem Vorzimmer, woran sich rechts ein Gemach für den Diener schloß; rückwärts lag das Schlafzimmer, ein weiter Raum, mit rotgeblümtem Zitz ausgeschlagen, darin ein großes, breites Mahagonibett und ein ungeheurer Kamin, in dem große Klötze flammten.

»Potztausend!« rief Rougon, »Sie müssen sich beschweren! Ich hätte niemals ein Zimmer nach dem Hofe hinaus angenommen. Wenn man sich alles gefallen läßt! ... Ich habe es gestern Delestang gesagt.«

Die junge Frau brummte achselzuckend:

»Er würde nichts dagegen haben, wenn ich in der Scheune untergebracht würde.«

Sie bestand darauf, selbst das Ankleidezimmer zu sehen, dessen ganze Einrichtung aus Sèvresporzellan – in Weiß und Gold – bestand. Als sie dann an das Fenster trat, entfuhr ihr ein leichter Ausruf der Überraschung und Bewunderung. Vor ihr breitete meilenweit der Forst sein wogendes Wipfelmeer aus; ungeheure Baumkronen verloren sich in einem langsamen Wiegen und Wallen, und im hellen Sonnenlichte des Oktobermorgens schien das ganze ein Gold- und Purpurmeer, ein betreßter Kaisermantel, der von einem Himmelsrande bis zum andern reichte.

»Kommen Sie, wir wollen frühstücken!« sagte Clorinde.

Sie räumten einen Tisch ab, auf dem sich ein Schreibzeug und eine Schreibmappe befanden; und es machte ihnen einen besonderen Spaß, sich selbst zu bedienen. Die junge Frau, sehr gut gelaunt, bemerkte wiederholt, daß sie nach einer langen Traumreise im Gasthofe zu erwachen geglaubt habe, dessen Wirt ein Fürst sei. Dies Frühstück aufs Geratewohl, auf silbernen Schüsseln aufgetragen; ergötzte sie wie ein Abenteuer in einem fernen, unbekannten Lande, wie sie sagte. Inzwischen drückte Delestang seine Verwunderung über die Holzmasse aus, die im Kamin loderte, und schloß, nachdenklich in die Glut blickend:

»Ich habe mir erzählen lassen, daß tagtäglich im Schlosse für fünfzehnhundert Franken Holz verbrannt wird ... Fünfzehnhundert Franken! Rougon, scheint Ihnen die Ziffer nicht etwas hoch?«

Rougon, der seine Schokolade schlürfte, begnügte sich zu nicken. Die Fröhlichkeit Clorindens machte ihn sehr nachdenklich. Sie schien in einem wahren Schönheitsfieber erwacht zu sein; ihre großen Augen sprühten vor Kampflust.

»Von welcher Wette haben Sie gestern gesprochen?« fragte er sie plötzlich.

Sie lachte, ohne zu antworten; als er in sie drang, erwiderte sie nur:

»Sie werden schon sehen!«

Allmählich wurde er aufgebracht und grob. Er spielte den Eifersüchtigen, warf anfangs verschleierte Andeutungen, schließlich ganz unverhüllte Anklagen hin: sie habe sich sehr auffällig gemacht, habe ihre Hand länger als zwei Minuten in der des Herrn von Marsy gelassen. Delestang tunkte inzwischen ruhig lange Brotschnitte in seinen Kaffee.

»Wenn ich Ihr Gatte wäre!« rief Rougon.

Clorinde war hinter Delestang getreten, stützte beide Hände auf seine Schultern und fragte:

»Wenn Sie mein Mann wären, was dann?«

Damit beugte sie sich zu ihrem Gatten nieder und flüsterte ihm ins Ohr, daß ihr warmer Atem sein Haar kräuselte:

»Nicht wahr, mein Freund, er würde ganz artig sein, ebenso artig wie du?«

Statt aller Antwort neigte er sich über die Hand, die auf seiner linken Schulter ruhte, und küßte sie. Er warf einen verlegenen Blick auf Rougon und zwinkerte ihm mit den Augen zu, um ihm anzudeuten, daß er vielleicht etwas zu weit gegangen sei. Rougon hätte ihn beinahe einen Schafskopf genannt. Aber Clorinde winkte ihm über dem Kopfe ihres Mannes zu, und er folgte ihr zum Fenster, an das sie den Arm lehnte. Einen Augenblick starrte sie schweigend in die unermeßliche Ferne, dann fragte sie unvermittelt:

»Warum wollen Sie Paris verlassen? Haben Sie mich nicht mehr lieb? ... Hören Sie, ich will vernünftig sein, Ihre Ratschläge befolgen, wenn Sie es aufgeben, sich in die abscheuliche Heide zu verbannen.«

Er ward sehr ernst, als dieser Handel ihm vorgeschlagen wurde. Er rückte die großen Interessen, die ihn riefen, in den Vordergrund und erklärte, er könne jetzt keinesfalls mehr zurück. Während er redete, bemühte sich Clorinde vergeblich, die Wahrheit in seinem Gesichte zu lesen; er schien fest entschlossen fortzugehen.

»Gut, ich sehe, daß Ihnen an mir nichts mehr liegt. Darum benehme ich mich so, wie es mir beliebt... Sie werden schon sehen.«

Sie trat vom Fenster ohne Groll zurück; sie lachte sogar. Delestang interessierte sich noch immer für das Feuer und suchte die Zahl der Kamine des Schlosses zu ermitteln. Aber sie unterbrach ihn, denn es war gerade Zeit zum Ankleiden, wenn sie nicht zur Jagd zu spät kommen wollte. Rougon begleitete sie bis auf den Flur, einen mit einem grünen Teppich belegten, klosterähnlichen, breiten Gang. Im Vorübergehen unterhielt sich Clorinde damit, an den Türen die Namen der Gäste zu lesen, die auf kleinen, von dünnen Holzleisten eingerahmten Zetteln geschrieben standen. Schließlich wandte sie sich um, und da ihr schien, daß Rougon mit verlegenem Ausdruck ihr nachblickte, als wolle er sie zurückrufen, blieb sie lächelnd einige Sekunden stehen. Er aber trat in sein Zimmer zurück und schlug die Tür heftig zu.

Das Frühstück wurde diesen Morgen früher eingenommen. In der Wandkartengalerie plauderte man viel vom Wetter, das für eine Hetzjagd vorzüglich sei: eine in Goldstaub aufgelöste Sonne, die Luft hell und glänzend, unbewegt wie stehendes Wasser. Die Hofwagen sollten kurz vor Mittag vom Schlosse abfahren; als Ort der Zusammenkunft war der »Königsborn« bestimmt, eine weite Lichtung mitten im Walde. Die kaiserliche Jägerei wartete dort schon seit einer Stunde: die berittenen Jäger waren in roten Beinkleidern, den großen, bordenbesetzten dreieckigen Hut seitwärts gesetzt, die Hundewärter in schwarzen Schuhen mit Silberschnallen, um ungehindert durch das Gebüsch laufen zu können. Um die Meute her waren die Wagen der von den Nachbarschlössern geladenen Gäste in Reih und Glied halbkreisförmig aufgefahren, während im Vordergrunde die Gruppen von Damen und uniformierten Jägern ein Bild aus alter Zeit schienen, eine Jagd unter Ludwig XV., die in der milden Luft wieder zum Leben erwacht war. Das kaiserliche Paar begleitete die Jagd nicht, sondern kehrte sofort nach ihrem Beginn in seinem leichten Wagen zum Schlosse zurück, und viele folgten diesem Beispiele. Rougon hatte anfangs versucht, sich an Clorindens Seite zu halten, aber sie trieb ihren Renner so toll vorwärts, daß er zurückblieb und heimzukehren beschloß, wütend darüber, daß er sie an der Seite des Herrn von Marsy in weiter Ferne in einem Baumgange dahinjagen sah.

Gegen halb sechs Uhr wurde Rougon gebeten, in den inneren Gemächern der Kaiserin den Tee zu nehmen. Dies war eine Gunst, die gewöhnlich geistreichen Leuten vorbehalten blieb. Er fand dort schon die Herren Beulin d'Orchère und von Plouguern; letzterer trug in gewählten Ausdrücken einen derben Spaß vor, der sehr belacht wurde. Inzwischen kehrten allmählich die Jäger heim: so Frau von Combelot, die eine übermäßige Ermüdung heuchelte, und als man sie ausfragte, in lauter Jägerausdrücken antwortete:

»Das Wild hat sich mehr als vier Stunden lang hetzen lassen. Denken Sie sich, ein Weilchen ist es auf die Ebene ausgebrochen. Es hatte sich etwas erholt. Am roten Sumpfe wurde es endlich erlegt! Ein prächtiges Hallali!«

Der Ritter Rusconi berichtete mit unruhiger Miene ein anderes Vorkommnis.

»Das Pferd der Frau Delestaeg ist durchgegangen ... Sie ist auf dem Wege nach Pierrefonds hin verschwunden, und man weiß noch nicht, wo sie geblieben ist.«

Darauf wurde er mit Fragen bestürmt; die Kaiserin, schien trostlos. Er erzählte, daß Clorinde die ganze Zeit mit wilder Ausdauer der Jagd gefolgt sei und mit ihrer Haltung die schneidigsten Reiter entzückt habe. Plötzlich sei ihr Pferd einen Seitenweg abgebogen ...

»Ja,« schaltete Herr La Rouquette ein, der vor Eifer brannte, seine Weisheit auszukramen, »sie hat das arme Tier auch zu rücksichtslos gepeitscht! ...« Herr von Marsy ist hinterdrein gejagt, um ihr beizustehen, aber auch er ist nicht mehr zum Vorschein gekommen.«

Frau von Llorentz, die hinter Ihrer Majestät saß, erhob sich. Ihr war, als blicke man sie lächelnd an, und sie wurde ganz bleich. Die Unterhaltung wandte sich darauf den Gefahren der Jagd zu: Einst war der Hirsch in einen Bauernhof geflüchtet und hatte sich so wütend gegen die Hunde gekehrt, daß eine Dame in dem Getümmel das Bein brach. Dann stellte man Vermutungen auf. Wenn Herr von Marsy des durchgegangenen Pferdes Herr geworden war, würden sie gewiß beide abgestiegen sein, um sich einige Minuten zu erholen; Hütten, Schuppen und Häuschen gab es eine Menge im Walde. Es schien Frau von Llorentz, als ob das Lächeln sich verstärkte, während man sich heimlich an ihrer eifersüchtigen Wut weidete. Rougon schwieg und trommelte in fieberhafter Erregung mit den Fingern einen Marsch auf seinen Knien.

»Und wenn sie die Nacht draußen zubringen!« brummte Herr von Plouguern zwischen den Zähnen.

Die Kaiserin hatte den Auftrag gegeben, daß Clorinde sofort nach ihrer Rückkehr zum Tee geladen werde. Plötzlich hörte man halbunterdrückte Ausrufe. Die junge Frau stand auf der Schwelle, mit geröteten Wangen und sieghaft lächelnd. Sie dankte Ihrer Majestät für ihre bezeugte Teilnahme und fuhr ruhig fort.

»Mein Gott, ich bin untröstlich. Es war unrecht, sich um mich zu ängstigen ... Ich hatte mit Herrn von Marsy gewettet, daß ich das gefallene Wild als erste erreichen würde. Ohne dieses verdammte Pferd ...«

Und sie schloß vergnügt:

»Wir haben nicht verloren, weder ich, noch er.«

Aber sie mußte das Abenteuer ausführlicher erzählen, und sie tat es ohne die geringste Befangenheit. Nach zehn Minuten rasenden Galopps war ihr Pferd ermattet, ohne daß sie Schaden genommen hätte. Da sie jedoch vor Erregung ein wenig wankte, habe Herr von Marsy sie für kurze Zeit unter einen Schuppen geführt.

»Wir haben es erraten!« rief Herr La Rouquette. »Sie sagen, unter einen Schuppen? Ich hatte gesagt: in einen Pavillon.«

»Es muß da sehr unbequem gewesen sein!« bemerkte Herr von Plouguern boshaft.

Clorinde entgegnete langsam mit glücklichem Lächeln:

»Nein, durchaus nicht. Es lag Stroh darin, und darauf habe ich mich gesetzt ... Es war ein großer Schuppen voller Spinngewebe, die Nacht brach an; es war sehr drollig.«

Frau von Llorentz fest anblickend, fuhr sie noch gedehnter fort, was ihren Worten einen besonderen Nachdruck verlieh:

»Herr von Marsy ist sehr gut zu mir gewesen.«

Seitdem die junge Frau ihren Unfall zu erzählen begonnen, hatte Frau von Llorentz heftig zwei Finger an ihre Lippen gepreßt. Bei den letzten Worten schloß sie die Augen, als sei sie vor Zorn schwindlig geworden. So saß sie eine Minute lang; dann konnte sie sich nicht länger beherrschen und ging hinaus. Herr von Plouguern schlich sehr neugierig hinterdrein. Clorinde, die sie beobachtete, machte unwillkürlich eine siegreiche Gebärde.

Herr Beulin d'Orchère brachte die Unterhaltung auf einen Skandalprozeß, womit die öffentliche Meinung sich sehr viel beschäftigte; es handelte sich um eine Scheidungsklage, die auf das Unvermögen des Mannes gegründet war; und er berichtete gewisse Tatsachen in so schicklichen Ausdrücken der Rechtspflege, daß Frau von Combelot, die ihn nicht mehr verstand, um nähere Erklärungen bat. Der Ritter Rusconi erntete lebhaften Beifall, indem er halblaut Volksweisen aus Piemont vortrug, Liebeslieder, die er dann ins Französische übersetzte. Als er gerade mitten in einem solchen war, trat Delestang ein, der seit zwei Stunden den Wald nach seiner Frau durchsucht hatte; man lächelte über sein verstörtes Gesicht. Die Kaiserin schien inzwischen eine lebhafte Zuneigung zu Clorinde gefaßt zu haben, ließ sie an ihrer Seite Platz nehmen und redete mit ihr über Pferde. Pyramos, das Pferd, das die junge Frau auf der Jagd geritten, hatte einen sehr harten Galopp, sie versprach ihr für den andern Tag Cäsar.

Rougon war bei Clorindens Ankunft an ein Fenster getreten und tat, als spähe er angelegentlich nach den Lichtern hinüber, die in der Ferne, links im Park, angezündet wurden. So konnte niemand das leichte Beben seiner Gesichtsmuskeln wahrnehmen. Er stand dort lange und starrte in die Nacht hinaus. Endlich wandte er sich, gleichgültig um, als Herr von Plouguern, der eben zurückgekehrt war, auf ihn zutrat und ihm mit einer Stimme, die vor befriedigter Neugier fieberhaft bebte, zuraunte:

»Es war schrecklich! ... Haben Sie gesehen, daß ich ihr gefolgt bin? Gerade am Ende des Ganges ist sie Marsy begegnet, und beide traten in ein Zimmer ein. Ich habe gehört, daß er ihr geradeheraus sagte, sie töte ihn ... Sie lief davon wie eine Tolle geradeswegs zum Zimmer des Kaisers. Meiner Treu, ich glaube wahrhaftig, daß sie die berühmten Briefe auf das Schreibpult des Kaisers niedergelegt hat!«

Da erschien Frau von Llorentz wieder ganz bleich, das Haar wirr um die Schläfen flatternd und hastig atmend. Mit der verzweifelten Ruhe eines Kranken, der eben eine Operation auf Tod und Leben an sich vorgenommen, nahm sie ihren Platz hinter der Kaiserin wieder ein.

»Ganz gewiß, sie hat die Briefe aus der Hand gegeben«, wiederholte Herr von Plouguern und faßte sie scharf ins Auge.

Da Rougon ihn nicht zu verstehen schien, beugte er sich hinter Clorinde und erzählte ihr die Geschichte. Sie hörte ihm entzückt mit freudestrahlenden Augen zu. Erst als man die Zimmer der Kaiserin verließ, um zu Tische zu gehen, schien sie Rougon zu bemerken. Sie nahm seinen Arm und sagte, während Delestang hinter ihnen ging:

»Sehen Sie? Da haben Sie's! ... Wären Sie heute früh artig gewesen, so wäre ich nicht Gefahr gelaufen, Arme und Beine zu brechen.«

Am Abend gab es eine sogenannte kalte Jagd bei Fackelschein. Als die Gäste den Speisesaal verließen, kehrten sie nicht unmittelbar in die Wandkartengalerie zurück, sondern zerstreuten sich in den Sälen der Schloßvorderseite, deren Fenster alle weit geöffnet waren. Der Kaiser trat auf den Hauptbalkon, wo noch etwa zwanzig Personen Platz hatten. Unten hielten zwei Reihen Diener in großer Livree mit gepudertem Haar vom Gitter bis zur Vorhalle einen breiten Gang frei. Jeder hielt eine lange Pike, an deren Ende Werg in weingeistgefüllten Pfannen brannte. Die hohen grünen Flammen züngelten durch die Luft, als ob sie da aufgehängt seien, in der Nacht schimmernd, ohne sie zu erleuchten, so daß sie nichts unterscheiden ließen als die doppelte Reihe Scharlachwesten der Diener, die sie violett färbten. Zu beiden Seiten des Hofes drängte sich eine zahlreiche Menge zusammen, Compiègner Bürger mit ihren Frauen, fahle Gesichter, im Halbdunkel wimmelnd. Zuweilen ließ ein Schlaglicht einen häßlichen Kopf hervortreten, das grünlich-graue Antlitz eines kleinen Rentners. In der Mitte vor der Freitreppe lagen die Überbleibsel des Hirsches, mit seinem Felle bedeckt, auf dem Pflaster; der Kopf war dem Schlosse zugewandt. Gegenüber am Gitter wartete die Meute, von Jägern umgeben. Dort hielten Hundewärter in grünen Röcken und langen, baumwollenen Strümpfen Fackeln, die sie schwenkten. Ein grelles, rötliches Licht, von Rauchwolken unterbrochen, die sich nach der Stadt zuwälzten, beleuchtete die Hunde, die mit offenen Schnauzen, keuchend dort zusammengekoppelt waren.

Der Kaiser stand aufrecht; sein starres, undurchdringliches Gesicht trat zuweilen im Scheine der Fackeln hervor. Clorinde hatte seit dem Essen jede seiner Gebärden belauert, jedoch nichts entdecken können als einen Zug verdrießlicher Müdigkeit, die schlechte Laune eines Kranken, der schweigend duldet. Nur einmal glaubte sie zu bemerken, daß er zu Herrn von Marsy hinüberschielte; aber seine Augenlider blieben gesenkt. So lehnte er etwas vorgebeugt an der Brüstung des Balkons, verdrossen seinen Schnurrbart drehend, während hinter ihm die Gäste die Hälse reckten, um besser zu sehen.

»Vorwärts, Firmin!« sagte er ungeduldig.

Die Jäger bliesen die »Königsfanfare«, die Hunde begannen ihr Geläute und heulten, den Hals vorstreckend und sich auf die Hinterbeine stellend, daß es einen furchtbaren Lärm gab. Sofort zeigte ein Lakai der gierigen Meute den Hirsch, und zugleich senkte Firmin, der Jägermeister, der auf der Freitreppe stand, seine Peitsche. Die Hunde, die nur auf dies Zeichen gewartet hatten, sprangen in drei Sätzen über den Hof, keuchend vor Gier. Als aber Firmin von neuem die Peitsche erhob, legten sie sich dicht vor dem Hirsche auf das Pflaster, in fieberhafter Ungeduld zitternd, die Mäuler weit offen, vom Heulen erschöpft. Sie mußten zurückweichen und ihren Platz am Gitter wieder einnehmen.

»Ach, die armen Tiere!« äußerte Frau von Combelot mit dem Ausdrucke schmachtenden Bedauerns.

»Famos!« rief Herr La Rouquette.

Auch der Ritter Rusconi klatschte Beifall. Einige Damen neigten sich mit vor Erregung zuckenden Mundwinkeln weit vor, von der brennenden Neugier erfüllt, die Hunde bei ihrer Mahlzeit zu sehen. Aber man gab den Tieren nicht sogleich ihre Knochen. Die Sache war sehr aufregend.

»Nein, noch nicht!« flüsterten tiefe Stimmen.

Inzwischen hatte Firmin zweimal hintereinander seine Peitsche erhoben und gesenkt. Die Meute schäumte, zum äußersten getrieben. Nachdem Firmin die Peitsche zum drittenmal gesenkt hatte, erhob er sie nicht wieder. Der Lakai hatte sich mit dem Felle und dem Kopfe des Hirsches in Sicherheit gebracht. Da stürzten die Hunde vorwärts und wälzten sich über die Reste; ihr wütendes Bellen erstickte in einem dumpfen Knurren, einem krampfhaften Zittern gestillter Gier. Knochen knackten. Auf dem Balkon und an den Fenstern tat sich allgemeine Befriedigung kund; die Damen lächelten grausam und preßten ihre weißen Zähne zusammen; die Männer keuchten erregt mit funkelnden Augen und zerbrachen die aus dem Speisesaale mitgebrachten Zahnstocher. Im Hofe fand gleichsam eine plötzliche Schlußfeier statt: die Jäger bliesen Fanfaren, die Hundewärter schwenkten ihre Fackeln, bengalische Flammen warfen ihr blutiges Rot durch die Nacht und besprühten die sanften Gesichter der Compiègner Bürger mit einem großtropfigen roten Regen.

Da wandte der Kaiser sich um. Als er Rougon neben sich sah, schien er aus dem tiefen Sinnen zu erwachen, worin er seit dem Essen versunken war, und begann:

»Herr Rougon, ich habe mir Ihren Plan überlegt ... Es stehen ihm Hindernisse entgegen, viele Hindernisse.

Er hielt inne, öffnete die Lippen und schloß sie wieder. Beim Fortgehen fügte er hinzu:

»Sie müssen in Paris bleiben, Herr Rougon!«

Clorinde, die seine Worte vernommen hatte, konnte eine Bewegung des Triumphes nicht unterdrücken. Alle Gesichter waren ernst und besorgt geworden, während Rougon langsam durch die Gruppen zur Landkartengalerie schritt.

Unten beendeten die Hunde ihr Mahl. Sie schoben sich wütend einer unter den andern, um in die Mitte des Haufens zu gelangen. Es war eine Fläche von weißen und schwarzen Körpern, die sich mit gefräßigem Knurren durch- und übereinander drängten wie ein lebendiger See. Sie schlangen die Reste immer gieriger hinunter; jeder wollte alles haben. Hin und wieder gerieten zwei aneinander und heulten grimmig auf. Ein starker Bracke, ein prächtiges Tier, das zu weit an den Rand gedrängt worden, wich knurrend aus dem Kreise und stürzte sich dann in weitem Satze mitten in das Gewühl. Er drängte die anderen beiseite und riß sich ein gehöriges Stück aus den Eingeweiden des Hirsches los.


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