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Zweites Kapitel

Am Morgen war im »Moniteur« die Entlassung Rougons veröffentlicht, der sich »aus Gesundheitsrücksichten« zurückzog. Er war nach dem Frühstück in den Staatsrat gekommen, um bis zum Abend seinem Nachfolger den Platz zu räumen. In dem großen mit Rot und Gold verzierten Präsidentenzimmer saß er vor dem riesigen Palisanderschreibtisch, leerte die Schubläden, ordnete die Papiere und band sie mit roten Fäden in Päckchen.

Dann klingelte er. Ein Türsteher trat herein, ein stattlicher Mann, der ehemals in. der Kavallerie gedient hatte.

»Bringen Sie mir eine brennende Kerze«, bat Rougon.

Der Mann stellte einen der kleinen Leuchter vom Kamin auf den Tisch; als er sich zum Gehen wandte, rief Rougon ihn zurück:

»Merle! Lassen Sie niemanden herein! Niemanden, hören Sie?«

»Gewiß, Herr Präsident!« versetzte jener und schloß die Tür geräuschlos hinter sich.

Rougon wandte sich lächelnd zu Delestang, der am andern Ende des Zimmers vor einem Aktenkasten stand und die Kartons aufmerksam durchsuchte.

»Der wackere Merle hat heute den »Moniteur« noch nicht gelesen!« murmelte er.

Delestang nickte, ohne eine Antwort zu finden. Er hatte einen prächtigen Kopf, sehr kahl, aber eine jener vorzeitigen Glatzen, welche den Frauen gefallen. Sein nackter Schädel, der seine Stirn über die Maßen vergrößerte, gab ihm das Aussehen eines Mannes von großer Klugheit. Sein rosiges, etwas viereckiges und völlig bartloses Antlitz erinnerte an die regelmäßigen und nachdenklichen Gesichter, die Maler von Einbildungskraft den großen Staatsmännern zu leihen pflegen.

»Merle ist Ihnen sehr ergeben«, sagte er endlich.

Damit versenkte er den Kopf wieder in den Kasten, den er eben durchsuchte.

Rougon knitterte eine Handvoll Papiere zusammen, entzündete sie an der Kerze und warf sie in eine große Bronzeschale, die auf dem Pulte stand. Er sah zu, wie sie völlig ausbrannten und sagte:

»Delestang, die unteren Kartons lassen Sie liegen! Es sind Akten darin, in denen nur ich mich zurechtfinde.«

Darauf setzten beide ihre Arbeit schweigend eine gute Viertelstunde hindurch fort. Das Wetter war schön, die Sonne schien hell durch die drei großen Fenster herein, die auf das Flußufer gingen. Eines stand halb offen und ließ den frischen Luftzug von der Seine hereinstreichen, der zuweilen die seidenen Fransen der Vorhänge hob. Zerknüllte Papiere, die auf dem Teppich lagen, rollten leise knisternd weiter.

»Sehen Sie das hier!« sagte Delestang, Rougon einen Brief reichend, den er eben gefunden.

Rougon las ihn und verbrannte ihn ruhig an der Kerze. Es war ein heikler Brief. Sie plauderten in abgerissenen Sätzen, unterbrachen sich jeden Augenblick und versenkten die Nase wieder in die Papierberge. Rougon dankte Delestang dafür, daß er gekommen, um ihm zu helfen. Dieser »gute Freund« war der einzige, mit dem er ruhig die schmutzige Wäsche seiner fünfjährigen Präsidentschaft waschen konnte. Er hatte ihn in der gesetzgebenden Versammlung kennengelernt, wo beide auf derselben Bank nebeneinandergesessen. Dort hatte er eine aufrichtige Neigung zu diesem schönen Manne gefaßt, den er hinreißend dumm, hohl und aufgeblasen fand. Er pflegte im Tone der Überzeugung zu sagen: »Dieser verteufelte Delestang wird es weit bringen!« Er beförderte ihn, erwarb sich seine Dankbarkeit und gebrauchte ihn wie einen Kasten, worin er alles verschloß, was er nicht bei sich behalten konnte.

»Man ist doch dumm, so viele Papiere aufzubewahren!« murmelte Rougon, eine neue übervolle Schublade öffnend.

»Hier ein Brief von einer Frau!« bemerkte Delestang augenzwinkernd.

Rougon lachte so herzlich, daß seine ganze breite Brust erzitterte. Er nahm den Brief kopfschüttelnd; als er die ersten Zeilen durchflogen hatte, rief er:

»Der kleine d'Escorailles hat es hier vergessen. Hübsche Waschzettel! Man kommt weit mit drei Zeilen von Frauenhand!«

Während er den Brief verbrannte, fügte er hinzu:

»Hüten Sie sich vor den Weibern, Delestang, verstehen Sie?«

Delestang ließ den Kopf hängen. Er war immer in eine fragwürdige Liebschaft verwickelt. Im Jahre 1851 hatte er sogar seine Zukunft als Politiker auf das Spiel gesetzt, indem er die Frau eines sozialistischen Abgeordneten liebte und öfter dem Manne zu Gefallen mit den Gegnern der Regierung gestimmt hatte. Der zweite Dezember traf ihn wie ein wahrer Keulenschlag. Er schloß sich zwei Tage lang ein, verloren, vernichtet in dem Gedanken, man werde jeden Augenblick kommen und ihn verhaften. Rougon hatte ihn aus der Patsche ziehen müssen, indem er ihn bestimmte, bei den Wahlen nicht aufzutreten, und ihn in das Elysee brachte, wo er für ihn eine Staatsratsstelle erangelte. Delestang, der Sohn eines Weinhändlers aus Berry, ehemaliger Advokat, der bei Saint-Menehould eine Musterwirtschaft besaß, hatte mehrere Millionen und bewohnte in der Kolosseumstraße ein sehr vornehmes Haus.

»Ja, hüten Sie sich vor den Weibern!« wiederholte Rougon und hielt bei jedem Worte inne, um in die Aktenbündel zu blicken. »Wenn die Weiber Ihnen nicht eine Krone auf das Haupt setzen, legen sie Ihnen einen Strick um den Hals ... In unseren Jahren muß man sein Herz so gut wie seinen Magen hüten.«

In diesem Augenblick entstand ein großer Lärm im Vorzimmer; man hörte Merles Stimme, der den Eintritt verweigerte. Vergeblich; ein kleiner Mann drängte sich herein mit den Worten:

»Zum Teufel, ich muß meinem lieben Freunde guten Tag sagen!«

»Siehe da! Du Poizat!« rief Rougon, ohne sich zu erheben.

Als Merle anfing, sich eifrig zu entschuldigen, hieß er ihn, die Tür schließen. Dann sagte er ruhig:

»Ich glaubte Sie in Bressuire... Man läßt also seine Unterpräfektur im Stich wie eine alte Liebschaft, wie?«

Du Poizat, schmächtig, mit unansehnlichem Gesicht und sehr weißen, schlecht stehenden Zähnen, zuckte leicht die Achseln und erwiderte:

»Ich bin erst seit heute früh in Geschäften hier und wollte Ihnen erst am Abend in der Marbeufstraße guten Tag sagen. Ich hätte mich zu Tische eingeladen... Aber nachdem ich den Moniteur gelesen.

Er zog einen Stuhl vor den Tisch und pflanzte sich gerade vor Rougon hin.

»Was geht denn vor? Ich komme vom Lande, von Deux-Sèvres, hatte wohl geahnt, daß etwas sich vorbereite, war aber weit entfernt zu vermuten... Warum haben Sie mir nicht geschrieben?«

Rougon zuckte die Achseln. Offenbar hatte Du Poizat draußen erfahren, daß er in Ungnade gefallen, und war gekommen, um. zu sehen, ob es kein Mittel gebe, etwas aus dem Schiffbruch zu retten. Er durchschaute ihn bis ins Mark, indem er sagte:

»Ich würde Ihnen heute abend geschrieben haben ... Reichen Sie Ihre Entlassung ein, mein Lieber!«

»Das eben wollte ich wissen; ich werde es tun«, versetzte Du Poizat einfach.

Damit erhob er sich pfeifend. Indem er mit kleinen Schritten auf und ab trippelte, gewahrte er Delestang, der inmitten eines Haufens Kartons auf dem Teppich kniete. Er ging leise zu ihm und reichte ihm die Hand. Dann zog er eine Zigarre hervor und zündete sie an der Kerze an.

»Man darf doch rauchen; hier wird ja gepackt«, sagte er und ließ sich wieder in den Sessel nieder. »Ein ergötzliches Ding, das Ausziehen!«

Rougon hatte sich in ein Bündel Papiere versenkt, die er sehr aufmerksam las. Er sichtete sie sorgfältig, verbrannte die einen und behielt die anderen. Du Poizat beobachtete ihn, den Kopf zurückgelehnt und zuweilen leichte Rauchringel aus den Mundwinkeln ausstoßend. Sie hatten sich einige Monate vor der Februarrevolution kennengelernt, als sie beide bei Frau Courreur im Hotel Kibitz, Kibitzstraße, wohnten. Du Poizat hauste dort als engerer Landsmann, denn er war wie Frau Correur in Coulonges, einem Städtchen des Bezirks Niort, geboren. Sein Vater war Gerichtsvollzieher und hatte ihn die Rechte studieren lassen, wozu er ihm in Paris monatlich hundert Franken aussetzte, obgleich er hübsche Summen erwuchert hatte. Das Vermögen des Biedermannes blieb so unerklärlich, daß man ihm sogar nachsagte, er habe in einem alten Schrein, den er gepfändet hatte, einen Schatz gefunden. Seit Anfang der bonapartistischen Propaganda benutzte Rougon diesen schmächtigen Gesellen, der wütend und mit beunruhigendem Lächeln seine hundert Franken monatlich verzehrte; er hatte mit ihm in den heikelsten Angelegenheiten unter einer Decke gespielt. Als später Rougon in die gesetzgebende Versammlung eintreten wollte, war es Du Poizat, der seine Wahl mit schweren Kämpfen zu Deux-Sèvres durchsetzte. Nach dem Staatsstreiche erwirkte Rougon ihm dafür die Ernennung zum Unterpräfekten in Bressuire. Der junge Mann, kaum dreißig Jahre alt, hatte in seiner Heimat triumphieren wollen wenige Meilen von seinem Vater, dessen Geiz ihn quälte, seit er die Schule verlassen.

»Und wie geht es dem Vater Du Poizat?« fragte Rougon ohne aufzublicken.

»Nur zu gut«, versetzte der Sohn verdrossen. »Er hat seine letzte Haushälterin fortgejagt, weil sie drei Pfund Brot aß. Jetzt hat er hinter seiner Türe zwei geladene Gewehre, und wenn ich ihn besuchen will, muß ich mit ihm über die Hofmauer hinweg verhandeln.«

Während er sprach, hatte sich Du Poizat vorgebeugt und wühlte mit den Fingern in der Bronzeschale zwischen den halbverbrannten Papierfetzen. Rougon bemerkte es und erhob lebhaft den Kopf. Er hatte immer eine geheime Angst vor seinem alten Genossen gehabt, dessen weiße, unregelmäßige Zähne an die eines jungen Wolfes erinnerten. Solange sie zusammen arbeiteten, war sein Hauptaugenmerk darauf gerichtet, jenem nicht das geringste in Händen zu lassen, was ihn selbst bloßstellen könne. Als er bemerkte, daß jener die unverbrannt gebliebenen Worte zu lesen versuchte, warf er eine neue Handvoll brennender Briefe in die Schale. Du Poizat begriff vollkommen, aber er lächelte nur und scherzte:

»Das ist das große Aufräumen!«

Eine Papierschere ergreifend, benutzte er sie wie eine kleine Zange. Er zündete die erlöschenden Briefe an der Kerze von neuem an, ließ zu stark zusammengedrückte Papierballen in freier Luft verbrennen und schüttelte die lodernden Trümmer wie den flammenden Rum einer Punschbowle. In der Schale jagten Funken umher, während ein bläulicher Rauch aufstieg und langsam dem offenen Fenster zuwallte. Die Kerze flackerte ein wenig, dann brannte sie wieder mit gerader, sehr hoher Flamme.

»Ihre Kerze brennt wie ein Totenlicht«, fuhr Du Poizat scherzend fort. »Was für ein Begräbnis, mein armer Freund! Wie viele Tote hat man in die Asche zu betten!«

Rougon wollte antworten, als sich im Vorzimmer neuer Lärm erhob. Merle verwehrte wieder den Eintritt; als der Wortwechsel lauter wurde, bat Rougon:

»Delestang, haben Sie doch die Güte nachzusehen, was da vorgeht! Wenn ich mich zeige, wird man auf uns Sturm laufen.«

Delestang schritt vorsichtig durch die Tür, die er hinter sich schloß. Aber fast augenblicklich sah er wieder herein und meldete:

»Kahn ist da!«

»Lassen Sie ihn herein«, sagte Rougon. »Aber nur ihn, hören Sie?«

Dann rief er Merle, um ihm seinen Auf trag zu wiederholen.

»Ich bitte um Verzeihung, lieber Freund«, wandte er sich an Kahn, als Merle gegangen war. »Aber ich bin so beschäftigt... Bitte, setzen Sie sich neben Herrn Du Poizat und rühren Sie sich nicht, sonst muß ich Sie beide hinauswerfen!«

Der Abgeordnete schien über diesen wenig höflichen Empfang nicht im mindesten betroffen; er war an Rougons Eigenheiten gewöhnt. Er nahm also einen Sessel, setzte sich neben Du Poizat, der sich die zweite Zigarre anzündete. Nachdem er einigemal Atem geholt, bemerkte er:

»Es wird schon warm ... Ich komme aus der Marbeufstraße; ich glaubte, Sie noch zu Hause zu treffen.«

Rougon antwortete nicht, sondern knüllte schweigend die Papiere zusammen und warf sie in einen Korb, den er dicht zu sich herangezogen hatte.

»Ich habe mit Ihnen zu reden«, fuhr Herr Kahn fort.

»Reden Sie, reden Sie!« versetzte Rougon. »Ich höre.«

Aber der Abgeordnete schien erst jetzt die Unordnung zu bemerken, die im Zimmer herrschte, und fragte mit gutgespielter Überraschung:

»Was haben Sie denn vor? Wollen Sie ein anderes Zimmer beziehen?«

Die Stimme klang so aufrichtig, daß Delestang sich die Mühe gab, Herrn Kahn den Moniteur vor die Augen zu halten.

»Mein Gott!« rief Kahn, nachdem er einen Blick darauf geworfen, ich glaubte die Sache seit gestern abend geregelt! Das ist ja ein wahrer Donnerschlag... Mein lieber Freund ...«

Er war aufgestanden und reichte Rougon die Hände. Dieser blickte ihn schweigend an, in seinem groben Gesichte zogen sich zwei tiefe, spöttische Falten von den Mundwinkeln herab. Da er sah, daß Du Poizat ein gleichgültiges Gesicht aufsteckte, tauchte in ihm der Verdacht auf, die beiden hätten sich schon am Morgen getroffen, um so mehr, als Herr Kahn versäumt hatte, beim Anblick des Unterpräfekten seine Überraschung zu zeigen. Der eine mußte in den Staatsrat gekommen sein, während der andere in die Marbeufstraße lief. Auf diese Art mußten sie ihn sicher treffen. Doch sagte er nur ruhig:

»Also Sie haben mir etwas mitzuteilen?«

»Reden wir nicht davon, lieber Freund!« rief der Abgeordnete. »Sie haben genug Sorgen. Ich werde Sie an einem solchen Tage doch gewiß nicht mit meinen Angelegenheiten belästigen!«

»Bitte, tun Sie sich keinen Zwang an, reden Sie immerhin!«

»Nun denn, wegen meiner Angelegenheit, Sie wissen, dieser verdammten Konzession... Gut, daß Du Poizat da ist, er kann uns sichere Auskunft geben.«

Darauf begann er ausführlich über den Stand seiner Angelegenheit zu berichten. Es handelte sich um eine Bahn von Niort nach Angers, deren Bau er seit drei Jahren betrieb. Die Wahrheit war, daß sie Bressuire berühren sollte, wodurch der Wert der Hochöfen, die er dort besaß, sich verzehnfachen mußte; bis dahin hatte sich das Unternehmen wegen der beschwerlichen Frachten nur mühsam aufrechterhalten können. Ferner hoffte er bei der Begebung der Aktien auf einen ergiebigen Fischzug im Trüben. Herr Kahn entfaltete demnach eine erstaunliche Tätigkeit, um die Genehmigung zum Bau zu erhalten; durch Rougon nachdrücklich unterstützt, war er nahe daran, sie zu bekommen, da bot Herr de Marsy, Minister des Innern, ärgerlich, daß er nicht bei dem glänzenden Geschäfte, das er witterte, beteiligt war, und um obendrein Rougon zu ärgern, seinen ganzen Einfluß auf, diese Genehmigung zu hintertreiben. Er hatte sogar mit der Kühnheit, die ihn so gefürchtet machte, die Genehmigung durch den Minister der öffentlichen Arbeiten dem Direktor der Westbahngesellschaft antragen lassen, und verbreitete das Gerücht, daß diese Gesellschaft allein eine Flügelbahn bauen könne, deren Arbeiten zuverlässige Bürgschaften forderten. Herr Kahn lief Gefahr, zugrunde gerichtet zu werden. Rougons Sturz vollendete seinen Ruin.

»Gestern habe ich erfahren,« sagte er, »daß ein Ingenieur der Gesellschaft beauftragt ist, eine neue Linie zu entwerfen. Haben Sie von der Sache gehört, Du Poizat?«

»Gewiß!« versetzte der Unterpräfekt. »Die betreffenden Arbeiten sind schon in Angriff genommen. Man will den Bogen vermeiden, den Sie machen, um Bressuire zu berühren. Die Linie soll schnurgerade über Parthenay und Thouars gehen.«

Der Abgeordnete sah entmutigt aus und brummte:

»Das ist der reine Hohn! Was würde es ihnen schaden, wenn die Bahn an meinem Werke vorbeigeht? Aber ich werde es nicht dulden, ich werde eine Denkschrift gegen ihren Plan verfassen... Ich gehe mit Ihnen nach Bressuire zurück.«

»Darauf warten Sie lieber nicht!« riet ihm Du Poizat lächelnd. »Ich werde wahrscheinlich mein Entlassungsgesuch einreichen.«

Herr Kahn sank in seinen Sessel, als habe er den letzten Schlag erhalten. Den Bart mit beiden Händen zausend, sah er Rougon flehend an. Dieser hatte seine Mappen liegen lassen und hörte mit den Ellbogen auf dem Schreibtisch zu.

Endlich sagte er mit rauher Stimme:

»Ihr wollt einen Rat, nicht wahr? Nun denn, stellt euch tot, liebe Freunde, sucht die Sachen in ihrem jetzigen Stande zu erhalten und wartet, bis wir wieder die Herren sind... Du Poizat wird seine Entlassung nehmen, sonst wird man sie ihm geben, ehe vierzehn Tage vergehen. Sie, Kahn, schreiben dem Kaiser und suchen durch alle Mittel die Erteilung der Bauerlaubnis an die Westbahngesellschaft zu verhindern; Sie werden sie jetzt gewiß nicht erhalten, aber solange sie kein anderer hat, kann sie Ihnen später zufallen.«

Als die beiden nickten, fuhr er noch offenherziger fort:

»Mehr kann ich augenblicklich nicht für euch tun. Ich liege am Boden, laßt mir Zeit, mich zu erheben... Sehe ich traurig aus? Durchaus nicht. Also tut mir den Gefallen und macht nicht ein Gesicht, als ob ihr meinem Sarge folgtet... Ich für mein Teil bin sehr froh, in das Privatleben zurückzukehren. Endlich kann ich mich erholen!«

Er atmete tief auf und wiegte mit gekreuzten Armen seine mächtige Gestalt hin und her. Herr Kahn sprach nicht mehr von seiner Angelegenheit, sondern nahm die sorglose Miene Du Poizats an, um eine vollkommene Seelenruhe zu zeigen. Delestang hatte einen neuen Aktenschrank in Angriff genommen und machte dabei nicht mehr Geräusch, als einige Mäuse, die zwischen den Papierbündeln ihr Spiel treiben. Die Sonne, die auf dem roten Teppich langsam vorrückte, warf auf den Schreibtisch einen Streif gelben Lichtes, in dem die Kerze noch immer trübe brannte.

Inzwischen hatte sich ein vertrauliches Gespräch entsponnen. Rougon band wieder Pakete zusammen und versicherte, die Politik passe nicht für ihn. Er lächelte dabei gutmütig, während seine Lider wie müde den Glanz seiner Augen verdeckten. Er hätte gern weite Ländereien, um sie nach seiner Weise zu bebauen, mit Viehherden, Pferden, Rindern, Schafen und Hunden, deren unumschränkter Herr er sei. Er erzählte, daß es früher in Plassans, als er noch ein unbedeutender Advokat war, sein Hauptvergnügen gewesen, in der Bluse hinauszuziehen und in den Schluchten des Seillegebirges Adler zu jagen. Er nannte sich einen Bauer, sein Großvater habe noch Spaten und Spitzhacke gehandhabt. Dann tat er, als sei er der großen Welt überdrüssig. Die Macht langweile ihn; er wolle den Sommer auf dem Lande verleben. Niemals habe er sich leichter gefühlt als diesen Morgen; und er reckte sich gewaltig auf, als habe er eine Last abgeworfen.

»Was hatten Sie hier als Präsident? Achtzigtausend Franken?« fragte Herr Kahn; als jener nickte, fuhr er fort:

»Und jetzt bleiben Ihnen nur die dreißigtausend Franken als Senator?«

Was fragte Rougon danach? Er könne von einer Kleinigkeit leben, er habe kein Laster; das war keine Lüge. Er war weder Spieler, noch Schürzenjäger, noch Schlemmer. Er schwärmte dafür, sein eigener Herr zu sein, weiter nichts. Und er kam darauf zurück, ein Gut zu pachten, wo alles Vieh ihm gehorchen müsse. Es war sein höchstes Ziel, eine Peitsche zu schwingen und zu gebieten; überlegen, klüger und stärker zu sein. Allmählich wurde er lebhafter, sprach von den Tieren, als seien sie Menschen, die Menge verlange die Rute, die Hirten trieben ihre Herden nur mit Steinwürfen vorwärts. Er schien ein anderer zu werden; seine dicken Lippen schwollen förmlich von Verachtung an, sein ganzes Gesicht strotzte von Kraft. In der Faust schwang er ein Aktenbündel, als wolle er es den beiden an den Kopf werfen, so daß sie etwas beunruhigt dieser Erregung gegenüberstanden.

»Der Kaiser hat sehr unklug gehandelt«, murmelte Du Poizat.

Plötzlich beruhigte sich Rougon. Sein Gesicht wurde wieder grau, sein Körper sank in die schlaffe Haltung eines Fettwanstes zurück. Er begann den Kaiser mit Lobsprüchen zu überhäufen: er habe einen überlegenen Scharfsinn, eine unglaubliche Gedankentiefe. Du Poizat und Herr Kahn wechselten einen Blick. Aber Rougon überbot sich in Beteuerungen seiner Ergebenheit; er sei stets stolz darauf gewesen, nur ein Werkzeug in den Händen Napoleons III. zu sein. Er erschöpfte endlich die Geduld Du Poizats, der ein Mann von großer Lebhaftigkeit und Empfindlichkeit war, und es entspann sich ein Wortstreit. Du Poizat redete in herben Ausdrücken von allem, was er und Rougon von 1848–1851 für das Kaisertum getan hatten, als sie bei Frau Melanie Correur Hungerpfoten sogen. Er erzählte von den schrecklichen Tagen besonders während des ersten Jahres, wo sie durch den Pariser Schmutz stampfen mußten, um Anhänger zu werben. Später hätten sie ihre Haut zwanzigmal zu Markte getragen. Hatte sich nicht Rougon am Morgen des zweiten Dezember an der Spitze eines Linienregiments des Palais Bourbon bemächtigt? War das nicht ein Spiel um Kopf und Kragen? Heute opfert man ihn höfischen Ränken.

Aber Rougon widersprach; er sei nicht geopfert, er ziehe sich aus persönlichen Gründen zurück. Als dann Du Poizat sich dazu fortreißen ließ, die Leute in den Tuilerien als »Schweine« zu bezeichnen, hieß er ihn schweigen, schlug dabei mit der Faust auf den Schreibtisch, daß es krachte und sagte nur:

»Das alles sind Dummheiten!«

»Sie gehen etwas zu weit!« murmelte Herr Kahn.

Delestang hatte sich sehr bleich erhoben, öffnete ganz leise die Tür und spähte hinaus, ob niemand horchte. Aber er sah im Vorzimmer nur die hohe Gestalt Merles, der sehr verschwiegen den Rücken wandte. Rougons Worte hatten Du Poizat erröten lassen; er schwieg und kaute verdrießlich an seiner Zigarre.

Rougon fuhr nach einer Weile fort:

»Ohne Zweifel befindet sich der Kaiser in schlechter Umgebung. Ich habe mir erlaubt, ihm das zu sagen, und er lächelte. Er hat selbst darüber zu scherzen geruht, indem er äußerte, meine Umgebung sei nicht besser als die seine.«

Du Poizat und Herr Kahn lachten gezwungen; sie fanden das Wort sehr hübsch.

»Aber ich wiederhole,« fuhr Rougon mit eigentümlichem Ausdruck fort, »ich ziehe mich ganz freiwillig zurück. Wenn man Sie, meine Freunde, fragt, so versichern Sie, daß ich noch gestern abend mein Entlassungsgesuch hätte zurücknehmen können... Weisen Sie auch das Geklatsch wegen dieser Geschichte mit dem Rodriguez zurück, aus der man einen ganzen Roman gesponnen zu haben scheint. Ich bin hierüber anderer Meinung gewesen als die Mehrheit des Staatsrates, und es haben allerdings Reibungen stattgefunden, die meinen Rücktritt beschleunigt haben. Aber ich habe dazu ernstere Gründe, die aus früherer Zeit stammen. Ich war seit langer Zeit entschlossen, die hohe Stellung zu verlassen, auf die das Wohlwollen des Kaisers mich gestellt hat.«

Er sprach alles mit einer Bewegung der rechten Hand, wie er sie bei seinen Kammerreden sehr häufig gebrauchte. Diese Mitteilungen waren sichtlich für die Öffentlichkeit bestimmt. Herr Kahn und Du Poizat, die ihren Rougon kannten, suchten durch geschickte Fragen hinter die Wahrheit zu kommen. Der große Mann, wie sie ihn unter sich nannten, mußte ein hohes Spiel spielen. Sie lenkten deshalb das Gespräch auf die Politik im allgemeinen. Rougon witzelte über die parlamentarische Regierung, die er den »Misthaufen der Mittelmäßigkeiten« nannte. Die Kammer erfreute sich nach seiner Ansicht einer widersinnigen Freiheit. Man spreche dort viel zu viel. Frankreich müsse durch eine gut gebaute Maschine regiert werden, der Kaiser oben als Triebkraft, die Körperschaften und die Beamten unten als Räderwerk. Und während er so sein System in übertriebener Weise darstellte, lachte er über die Dummköpfe, die eine starke Regierung verlangen, daß ihm der Bauch wackelte.

»Aber«, fiel Herr Kahn ein, »der Kaiser oben und alle anderen unten, das ist nur für den Kaiser angenehm!«

»Wenn man sich langweilt, geht man,« versetzte Rougon ruhig und fügte dann lächelnd hinzu:

»Man wartet bis es einem wieder Vergnügen macht und kehrt dann zurück!«

Es folgte ein längeres Schweigen. Herr Kahn strich sich befriedigt den Bart; er wußte, was er wissen wollte. Er hatte tags zuvor in der Kammer das Richtige getroffen, als er vermutete, daß Rougon, als er seinen Einfluß in den Tuilerien abnehmen sah, ging, ehe er gegangen wurde, und sich anschicke, die Haut zu wechseln. Die Geschichte des Rodriguez bot ihm eine herrliche Gelegenheit, sich als ehrlichen Mann aufzuspielen.

»Und was sagen die Leute?« fragte Rougon, um das Schweigen zu brechen.

»Was mich betrifft,« versetzte Du Poizat, »so bin ich eben erst hier angekommen. Indessen habe ich in einem Kaffeehause einen mit einem Orden geschmückten Herrn Ihren Rücktritt lebhaft billigen hören.«

Herr Kahn seinerseits erklärte:

»Béjuin war gestern sehr betrübt; er liebt Sie sehr. Er ist etwas beschränkt, aber sehr verläßlich. Selbst der kleine La Rouquette schien mir sehr anständig; er äußerte sich höchst günstig über Sie.«

So redete man weiter über diesen und jenen. Rougon fragte ohne die geringste Befangenheit, ließ sich von dem Abgeordneten genau Bericht erstatten und erfuhr von ihm haarklein, welche Haltung die Kammer ihm gegenüber beobachtete.

Du Poizat, der schwer darunter litt, daß er gar keine Neuigkeit auszukramen hatte, unterbrach den Sprecher mit den Worten:

»Heute nachmittag streife ich in der Stadt umher, um Ihnen morgen früh eine Menge Nachrichten mitzuteilen.«

»Beiläufig,« rief Herr Kahn lachend, »ich habe vergessen, Ihnen von Combelot zu erzählen! ... In meinem Leben habe ich keinen so arg verlegenen Menschen gesehen.«

Er verstummte; Rougon hatte ihn augenzwinkernd auf Delestang aufmerksam gemacht, der, auf einem Stuhle stehend und ihnen den Rücken zuwendend, die im oberen Teile eines Schrankes angehäuften Zeitungen abräumte. Herr von Combelot hatte eine Schwester Delestangs geheiratet, und dieser empfand seit Rougons Entlassung seine Verwandtschaft mit einem Kammerherrn unangenehm. Er wollte den Schwerenöter spielen und wandte sich lächelnd mit der Frage um:

»Warum fahren Sie nicht fort? ... Combelot ist ein Narr. Heraus ist's!«

Diese gemütliche Hinrichtung eines Schwagers erheiterte die Herren ungemein. Delestang gewahrte seinen Erfolg und ging so weit, sich über den Bart Combelots lustig zu machen, über diesen herrlichen schwarzen Bart, der in der Frauenwelt so berühmt war. Dann warf er ein Paket Zeitungen auf den Teppich und sagte, unvermittelt ernst werdend:

»Was die einen betrübt, erfreut die anderen.«

Diese Wahrheit brachte die Unterhaltung wieder auf Herrn de Marsy. Rougon, über eine Mappe gebeugt und jede Tasche eingehend musternd, ließ es ruhig geschehen, daß seine Freunde sich das Herz erleichterten. Sie sprachen über Marsy mit der Heftigkeit von Politikern, die sich auf einen Gegner stürzen. Es regnete Schimpfworte, abscheuliche Anklagen, Wahrheiten, die zu Lügen aufgebauscht wurden. Du Poizat, der Marsy vor dem Kaiserreich gekannt hatte, versicherte, daß er sich damals von seiner Geliebten habe aushalten lassen, einer Baronin, deren Diamanten er im Verlaufe eines Vierteljahres verzehrt habe. Herr Kahn behauptete, in Paris gebe es nicht eine faule Sache, in der Herr de Marsy nicht seine Hand im Spiele habe. Sich gegenseitig erhitzend, tischten sie immer stärkere Dinge auf: Bei einem Bergwerksunternehmen habe Marsy ein Trinkgeld von fünfzehnhunderttausend Franken eingesackt; im letzten Monat habe er der kleinen Florence von der Komischen Oper ein Haus geschenkt, eine Kleinigkeit von sechsmalhunderttausend Franken, seinen Anteil am Schacher mit den Aktien der marokkanischen Bahn; vor kaum acht Tagen endlich hatte das Unternehmen der ägyptischen Kanäle, durch seine Helfershelfer eingeführt, mit einem ungeheuren Krach geendet, da die Aktionäre erfahren hatten, daß in den zwei Jahren, während deren sie beständig ihre Beiträge zahlten, nicht ein Spatenstich geschehen war. Endlich griffen sie den Mann selbst an, bemüht, das hochtrabende Wesen eines vornehmen Abenteurers, das er an den Tag legte, zu verkleinern; von alten Krankheiten sprechend, welche ihm später einen üblen Streich spielen würden; sie hatten sogar an seiner Gemäldesammlung vieles auszusetzen.

»Er ist ein Räuber in der Haut eines Hanswurst«, sagte Du Poizat endlich.

Rougon hob langsam den Kopf, sah die beiden mit seinen großen Augen an und sagte:

»Was nützt euch all das Gerede? Marsy besorgt seine Geschäfte, wie ihr die eurigen besorgen wollt... Wir verstehen einander nicht. Wenn ich ihm selbst eines Tages die Rippen zerbrechen könnte, würde ich es sehr gerne tun. Aber trotz allem, was ihr da erzählt, ist Marsy ein feiner Kopf. Wenn er einmal Appetit nach euch bekäme, er würde euch beide mit Haut und Haar verschlingen. Das sage ich euch!«

Er erhob sich, des Sitzens müde, reckte sich und fügte laut gähnend hinzu:

»Um so mehr, liebe Freunde, als ich mich ihm jetzt nicht mehr in den Weg stellen könnte.«

»Wenn Sie nur wollten,« murmelte Du Poizat mit geschmeidigem Lächeln, »könnten Sie Marsy in eine schöne Patsche bringen. Sie haben hier Papiere, die er sehr teuer bezahlen würde... Sehen Sie, da unten die Akten Lardenois', worin er eine so sonderbare Rolle spielt. Ich erkenne da einen höchst merkwürdigen Brief von ihm, den ich selbst Ihnen seinerzeit überbracht habe.«

Rougon hatte eben die Papiere, mit denen er nach und nach den Korb gefüllt hatte, in den Kamin geworfen. Die Bronzeschale hatte nicht ausgereicht.

»Man schlägt einen Gegner tot, aber man kratzt ihn nicht. Alle Welt hat solche dumme Briefe, die bei anderen herumliegen«, versetzte er mit verächtlichem Achselzucken.

Damit nahm er den Brief, zündete ihn an der Kerze an und setzte damit den Haufen Papier in Brand, den er in den Kamin geworfen hatte. Er hockte einen Augenblick schwerfällig da und überwachte die brennenden Blätter, die bis auf den Teppich rollten. Manche dicken Verwaltungsakten verkohlten und drehten sich zusammen wie Bleiplatten, zierliche Karten und Wische, mit plumpen Schriftzügen bedeckt, brannten mit kleinen blauen Flammen, während inmitten des Scheiterhaufens unter dem Funkenregen einzelne angebrannte Bruchstücke leserlich blieben.

In diesem Augenblicke tat sich die Tür weit auf, und eine lachende Stimme sagte: »Schon gut, ich werde Sie entschuldigen, Merle... Ich bin hier zu Hause. Wenn Sie mich hier nicht hätten eintreten lassen, würde ich ganz gewiß durch den Sitzungssaal gegangen sein.«

Es war Herr d'Escorailles, den Rougon vor einem halben Jahre zum Beisitzer im Staatsrate hatte ernennen lassen. Er führte die hübsche Frau Bouchard am Arm, die in einem lichten Frühlingskleide frisch und blühend aussah.

»So muß es kommen! Nun auch noch Weiber!« brummte Rougon.

Er verließ den Kamin nicht gleich, sondern blieb auf der Erde hocken mit der Feuerschaufel in der Hand, womit er die Flammen dämpfte aus Furcht, es könne ein Brand entstehen. Er erhob den dicken Kopf mit unzufriedenem Ausdruck, aber Herr d'Escorailles ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Er wie die junge Frau hatten schon auf der Schwelle zu lachen aufgehört und eine dem Ernste der Gelegenheit angemessene Miene angenommen.

»Lieber Meister,« sagte er, »ich bringe Ihnen eine Ihrer Freundinnen, die darauf besteht, Ihnen ihr Bedauern auszudrücken... Wir haben heute früh den Moniteur gelesen...«

»Sie haben den Moniteur gelesen?« murrte Rougon, der sich endlich entschloß aufzustehen.

Dabei gewahrte er jemanden, den er noch nicht gesehen hatte, und brummte augenzwinkernd:

»Ah! Herr Bouchard!«

Es war wirklich der Herr Gemahl, der eben hinter den Röcken seiner Frau schweigend und würdevoll eintrat. Herr Bouchard war sechzig Jahre alt, sein Kopf ganz weiß, sein Auge glanzlos, das Gesicht gleichsam abgenutzt im fünfundzwanzigjährigen Verwaltungsdienste. Er ergriff, ohne ein Wort zu sprechen, mit teilnahmsvollem Ausdruck Rougons Hand und schüttelte sie dreimal kräftig von oben nach unten.

»Gut,« sagte Rougon, »es ist sehr liebenswürdig, daß Sie alle mich besuchen – nur stören Sie mich teufelsmäßig... Bitte, setzen Sie sich dorthin... Du Poizat, geben Sie Frau Bouchard Ihren Sessel!«

Er wandte sich um: – und sah sich dem Oberst Jobelin gegenüber.

»Auch Sie, Oberst!« rief er.

Die Tür war offen geblieben; Merle hatte sich dem Eintritte des Obersten nicht widersetzen können, da dieser den Bouchards auf dem Fuße folgte. Er führte seinen Sohn herbei, einen langen fünfzehnjährigen Schlingel, damals Schüler der dritten Klasse am Gymnasium Ludwigs des Großen.

»Ich wollte Ihnen August zuführen«, sagte er. »Nur im Unglück bewähren sich die wahren Freunde. August, gib die Hand!«

Aber Rougon stürzte nach dem Vorzimmer und rief:

»Merle, schließen Sie doch die Tür! Woran denken Sie denn? Ganz Paris kommt noch!«

Jener versetzte ruhig:

»Weil man Sie gesehen hat, Herr Präsident!«

Er mußte zur Seite treten, um den Charbonnels Platz zu machen. Sie kamen nebeneinander, doch nicht Arm in Arm, pustend, niedergeschlagen, bestürzt. Sie sagten wie aus einem Munde:

»Wir haben eben den Moniteur gelesen... Ach, welch schreckliche Neuigkeit! Wie trostlos wird Ihre arme Mutter sein! Und in welche traurige Lage versetzt es uns!«

Offenherziger als die anderen, begannen sie sofort ihre kleinen Angelegenheiten auszukramen. Rougon hieß sie jedoch schweigen, schob einen unter dem Türschlosse verborgenen Riegel vor und brummte, jetzt könne man die Tür einschlagen. Da er sah, daß keiner seiner Freunde das Feld räumen wollte, ergab er sich darein und suchte seine Arbeit inmitten der neun, die das Zimmer anfüllten, zu vollenden. Das Aufräumen der Papiere hatte schließlich das Unterste zu oberst gekehrt. Auf dem Teppich lag ein Haufen Mappen, so groß, daß der Oberst und Herr Bouchard, die zu einem Fenster flüchten wollten, sehr vorsichtig auftreten mußten, um keine wichtige Urkunde zu beschädigen. Alle Stühle waren mit zusammengeschnürten Paketen beladen; Frau Bouchard hatte den einzig freigebliebenen Sessel bekommen und hörte lächelnd die Artigkeit der Herren Du Poizat und Kahn an, während Herr d'Escorailles in Ermangelung einer Fußbank ihr eine mit Briefen vollgestopfte dicke blaue Tasche unter die Füße schob. Die Schubladen des Schreibtisches, in einer Ecke umgestürzt, gestatteten den Charbonnels, sich einen Augenblick auszuruhen, während Jung-August, entzückt, in einen Umzug hineingeraten zu sein, hinter dem Haufen von Mappen verschwand, in dessen Mitte Herr Delestang sich verschanzt hatte. Letzterer erregte dichten Staub, indem er die Zeitungen von den oberen Fächern herunterwarf. Frau Bouchard hustete leicht, und Rougon, die Mappen leerend, die er sich selbst vorbehalten hatte, sagte ihr:

»Sie tun unrecht, in diesem Schmutze zu bleiben.« Aber die junge Frau, noch ganz rot vom Husten, versicherte, sie befinde sich sehr gut, ihr Hut könne den Staub vertragen. Und die Gesellschaft erschöpfte sich in Äußerungen der Teilnahme. Der Kaiser mußte sich in der Tat gar nicht um das Wohl und Wehe des Landes kümmern, da er sich mit Leuten umgebe, die seines Vertrauens so unwürdig seien. Frankreich habe einen schweren Verlust erlitten. Übrigens sei es immer so: gegen eine hervorragende Begabung pflegen sich alle Mittelmäßigkeiten zu verbinden.

»Die Regierungen sind undankbar«, erklärte Herr Kahn.

»Um so schlimmer für sie!« bemerkte der Oberst. »Sie schlagen sich selbst, indem sie ihre Diener treffen wollen.«

Aber Herr Kahn wollte das letzte Wort haben. Er wandte sich an Rougon:

»Wenn ein Mann wie Sie fällt, ist das ein Unglück für das Land.«

Die Gesellschaft bestätigte:

»Gewiß, gewiß, ein Unglück für das Land.«

Das Übertriebene dieser Lobsprüche ließ Rougon den Kopf erheben. Seine grauen Wangen bekamen einige Farbe, sein ganzes Gesicht lächelte vergnüglich. Er kokettierte mit seiner Kraft wie ein Weib mit seiner Schönheit und nahm gern die wohlgezielten Schmeicheleien auf; war er doch stark genug, um auch durch die schwersten Ladungen nicht niedergeschmettert zu werden. Inzwischen wurde offenbar, daß seine Freunde einander im Wege standen: sie beobachteten sich gegenseitig, suchten einander zu verdrängen, hüteten sich aber, laut zu sprechen. Gerade jetzt, wo der große Mann darniederzuliegen schien, war die Zeit günstig, von ihm ein Versprechen zu erpressen. Der Oberst faßte zuerst einen Entschluß. Er führte Rougon, der mit einer Mappe unter dem Arm ihm gefügig folgte, in eine Fensternische.

»Haben Sie an mich gedacht?« fragte er ganz leise mit liebenswürdigem Lächeln.

»Versteht sich. Ihre Ernennung zum Kommandeur ist mir noch vor vier Tagen versprochen worden. Nur kann ich, wie Sie sich selbst sagen müssen, jetzt durchaus nichts mit Bestimmtheit zusagen... Ich muß Ihnen gestehen, ich fürchte, daß meine Freunde die Ungnade, in die ich gefallen bin, werden mitbüßen müssen.«

Die Lippen des Obersten zitterten vor Erregung. Er stammelte, man müsse kämpfen, er selbst werde kämpfen. Endlich wandte er sich hastig um und rief:

»August!«

Der Junge lag auf allen vieren unter dem Schreibtische, damit beschäftigt, die Titel der Aktenhefte zu lesen, was ihm gestattete, funkelnde Blicke auf die niedlichen Stiefelchen der Frau Bouchard zu werfen. Jetzt kam er eilig herbei, und der Oberst fuhr halblaut fort:

»Da sehen Sie den Sausewind. Sie wissen, eines Tages werde ich ihn irgendwo unterbringen müssen. Dabei zähle ich auf Sie. Ich schwanke noch zwischen der richterlichen Laufbahn und der Verwaltung... Gib die Patsche, August, daß dein guter Freund sich deiner erinnere!«

Inzwischen hatte Frau Bouchard, die bisher vor Ungeduld an ihrem Handschuh genagt hatte, sich erhoben, nach dem Fenster links begeben und Herrn d'Escorailles gewinkt, ihr zu folgen. Ihr Gatte befand sich schon dort, mit aufgestützten Ellbogen die Aussicht genießend. Gegenüber standen die mächtigen Kastanien der Tuilerien mit ihrem im warmen Sonnenlichte zitternden Laube; die Seine, hier in ihrem Abschnitt von der Königsbrücke bis zur Eintrachtsbrücke sichtbar, wälzte ihre blauen, glitzernden Wogen dahin.

Plötzlich wandte sich Frau Bouchard um und rief:

»O, Herr Rougon, sehen Sie doch nur!«

Da er sich beeilte, den Obersten stehenzulassen, um dem Rufe zu folgen, zog sich Du Poizat, welcher der jungen Frau gefolgt war, bescheiden zu Herrn Kahn an das Mittelfenster zurück.

»Sehen Sie das Ziegelschiff? Beinahe wäre es eben gekentert«, fuhr die junge Frau lebhaft fort.

Rougon blieb höflicherweise stehen, bis Herr d'Escorailles auf einen neuen Blick der jungen Frau ihm sagte: »Herr Bouchard will sich zur Ruhe setzen. Wir haben ihn hergeführt, daß Sie ihn zur Vernunft bringen.«

Herr Bouchard erklärte darauf, die Ungerechtigkeiten der Menschen empörten ihn:

»Ja, Herr Rougon, ich habe als Expeditionsbeamter im Ministerium des Innern begonnen und habe es bis zum Bureauvorsteher gebracht, ohne fremder Gunst oder eigenen Ränken irgend etwas zu verdanken... Seit dem Jahre 1847 bin ich Bureauvorsteher. Fünfmal ist der Platz des Abteilungsvorstandes schon frei gewesen, viermal unter der Republik, einmal unter dem Kaiserreich, ohne daß der Minister an mich und meine berechtigten Ansprüche gedacht hätte! ... Jetzt sind Sie auch nicht mehr da, um das mir gegebene Versprechen zu erfüllen; da ziehe ich mich lieber zurück.«

Rougon mußte ihn beruhigen. Die Stelle sei noch keinem andern verliehen; sollte sie ihm noch einmal entgehen, so sei es nur eine verlorene Gelegenheit, die sicher wiederkehren werde. Dann ergriff er Frau Bouchards Hände und sagte ihr väterliche Artigkeiten. Ihres Gatten Haus war das erste gewesen, das ihn nach seiner Ankunft in Paris aufgenommen hatte. Dort hatte er den Obersten, einen Vetter des Hausherrn, getroffen. Als dann Herr Bouchard im Alter von vierundfünfzig Jahren seinen Vater beerbte und das Verlangen hatte, zu heiraten, war Rougon Trauzeuge der Frau Bouchard, geb. Adele Desvignes, eines sehr wohlerzogenen Mädchens aus einer ehrbaren Familie in Rambouillet. Der Bureauvorsteher hatte ein Mädchen aus der Provinz gewünscht, weil er auf Ehrbarkeit hielt. Adele, blond, zierlich, liebenswürdig, mit der etwas einfältigen Kindlichkeit ihrer blauen Augen, war in ihrer vierjährigen Ehe schon beim dritten Liebhaber angelangt.

»Seien Sie unbesorgt!« sagte Rougon und drückte ihre Hände; »Sie wissen wohl, daß man alles tut, was Sie wollen. Jules wird Ihnen dieser Tage sagen, woran wir sind.«

Darauf nahm er Herrn d'Escorailles beiseite, um ihm mitzuteilen, daß er am Morgen an dessen Vater geschrieben, um ihn zu beruhigen. Der junge Mann werde sicher seine Stelle behalten. Die d'Escorailles waren eines der ältesten Geschlechter von Plassans und erfreuten sich dort allgemeiner Verehrung. Daher setzte Rougon, der einst in schiefen Schuhen vor dem Hause des alten Marquis, Jules' Vater, sich herumgetrieben, seinen Stolz darein, den jungen Mann als seinen Schützling zu betrachten. Die Familie hegte noch immer eine inbrünstige Verehrung für Heinrich V., doch hinderte sie den Sohn nicht, sich dem Kaiserreich anzuschließen. Das gehörte mit zu den bösen Zeitläuften.

Herr Kahn und Du Poizat schwatzten am Mittelfenster, das sie geöffnet hatten, um mehr für sich zu sein, und sahen dabei zu den im Sonnenstaube bläulich glänzenden Dächern der Tuilerien hinüber. Sie suchten sich gegenseitig durch abgebrochene Worte auszuforschen; Rougon sei zu empfindlich. Er habe diese Geschichte mit Rodriguez, die so leicht zu ordnen war, nicht gar so krumm nehmen sollen. Dann brummte Herr Kahn, die Augen ins Blaue gerichtet, als wenn er mit sich selbst spreche:

»Man weiß, daß man fällt; man weiß aber niemals, ob man sich wieder erheben wird.«

Du Poizat schien es nicht gehört zu haben. Erst nach längerer Zeit sagte er:

»Er ist ein tüchtiger Kerl!«

Darauf wandte sich der Abgeordnete hastig zu ihm und sagte sehr rasch:

»Unter uns: ich fürchte für ihn. Er spielt mit dem Feuer... Wir sind gewiß seine Freunde und denken nicht daran, ihn zu verlassen. Ich will nur feststellen, daß er bei alledem an uns durchaus nicht gedacht hat... So hatte ich jetzt die wichtigsten Interessen in Händen, und er durchkreuzt sie mir durch seinen tollen Streich. Nicht wahr, er kann es mir nicht verübeln, wenn ich jetzt an einer andern Türe anklopfe? Denn schließlich habe nicht ich allein den Schaden, sondern auch die Bevölkerung.«

»Man muß an einer andern Tür anklopfen«, bestätigte Du Poizat lächelnd.

Doch der andere rief in einem plötzlichen Wutanfall aus: »Ist das möglich! Dieser Teufelskerl verfeindet einen mit aller Welt! Hält man es mit ihm, ist man gezeichnet, als habe man ein Aushängeschild auf dem Rücken.«

Allmählich beruhigte er sich, seufzte und blickte nach dem Triumphbogen hinüber, dessen graue Steinmasse aus dem Grün der Elyseischen Felder auftauchte. Dann fuhr er leise fort:

»Was wollen Sie? Ich bin treu wie ein Hund.« Im nächsten Augenblicke stand der Oberst hinter ihnen und sagte mit seiner Soldatenstimme: »Die Treue ist der Weg der Ehre!« Die beiden machten ihm Platz, und er fuhr fort: »Rougon wird heute unser Schuldner; er gehört sich selbst nicht mehr.«

Das war das Wort, das allen auf der Zunge gelegen. Nein, Rougon gehörte sich selbst nicht mehr. Und man mußte es ihm rundheraus sagen, damit er seine Pflichten erkenne. Alle drei besprachen sich heimlich weiter und teilten sich Hoffnungen mit. Von Zeit zu Zeit wandten sie sich um und warfen einen spähenden Blick durch das weite Gemach, um zu sehen, ob nicht ein Freund den großen Mann zu lange in Beschlag halte.

Dieser raffte inzwischen die Aktenbündel zusammen, wobei er mit Frau Bouchard weiter schwatzte. Die Charbonnels begannen inzwischen zu streiten in ihrem Winkel, wo sie bis dahin schweigend und verlegen gesessen hatten. Zweimal hatten sie versucht, sich Rougons zu bemächtigen, der sich von dem Obersten und der jungen Frau hatte entführen lassen. Herr Charbonnel drängte endlich seine Frau auf ihn zu, und diese stammelte:

»Heute morgen haben wir einen Brief von Ihrer Mutter erhalten...«

Er ließ sie jedoch nicht aussprechen, sondern führte beide in die Fensternische rechts und ließ seine Akten noch einmal ohne allzu große Ungeduld im Stiche.

»Wir haben einen Brief von Ihrer Mutter erhalten«, wiederholte die Frau und zog das Schreiben hervor, um es zu lesen.

Er aber nahm es ihr aus der Hand und überflog es mit einem Blicke. Die Charbonnels, ehemalige Ölhändler in Plassans, waren Schützlinge der Frau Felicité, wie Rougons Mutter dort hieß. Sie hatte sie ihm aus Anlaß eines Gesuches empfohlen, das sie an den Staatsrat gerichtet hatten. Einer ihrer Vettern, ein Herr Chevassu zu Faverolles, dem Hauptorte eines benachbarten Departements, hatte bei seinem Tode den Schwestern von der heiligen Familie eine halbe Million hinterlassen. Die Charbonnels, die nach dem Ableben eines Bruders des Verstorbenen plötzlich wider Erwarten Anrechte auf die Erbschaft bekommen hatten, schrien über Erbschleicherei; da der Orden vom Staatsrate die Ermächtigung erbeten hatte, das Vermächtnis anzunehmen, eilten sie nach Paris und ließen sich im Hotel du Périgord, Jakobstraße, nieder, um ihre Angelegenheit in der Nähe verfolgen zu können. Die Sache zog sich aber schon ein halbes Jahr lang hin.

»Wir sind sehr betrübt!« seufzte Frau Charbonnel, während Rougon den Brief las. »Ich wollte von diesem Streite nichts wissen, aber mein Mann sagte immer, mit Ihrer Unterstützung sei das Geld so gut wie gewonnen, und Sie brauchten nur ein Wort zu sagen, um uns die halbe Million in die Tasche zu stecken... Nicht wahr, Charbonnel?«

Der vormalige Ölhändler nickte verzweiflungsvoll.

»Das war ein schönes Stück Geld«, fuhr die Frau fort, »und lohnte der Mühe, darum sein ruhiges Leben ein wenig zu stören. Und wie ist unser Leben gestört! Wissen Sie, Herr Rougon, daß gestern die Wirtschafterin unseres Hotels sich geweigert hat, unsere schmutzige Tischwäsche zu wechseln! Mir muß solches widerfahren, mir, die ich in Plassans fünf Schränke voll Leinenzeug habe!«

Sie fuhr fort, sich bitter über Paris zu beklagen, das sie verabscheute. Sie waren für acht Tage nach Paris gekommen; dann verfloß Woche um Woche in der Hoffnung, sie würden endlich abreisen können, und sie hatten sich nichts nachschicken lassen. Jetzt, da noch kein Ende abzusehen war, hockten sie in ihrem Zimmer, aßen, was die Wirtschafterin ihnen zu bieten für gut hielt, ohne Wäsche, fast ohne Kleider. Sie hatten nicht einmal eine Bürste, und Frau Charbonnel mußte sich bei ihrer Toilette eines zerbrochenen Kammes bedienen. Zuweilen setzten sie sich auf ihren kleinen Koffer und weinten vor Müdigkeit und Wut.

»In dem Gasthofe verkehren so zweifelhafte Leute!« brummte Herr Charbonnel mit verschämten Augen. »Neben uns wohnt ein junger Mann. Wir hören da Dinge...«

Rougon faltete den Brief zusammen und sagte:

»Meine Mutter gibt Ihnen den vorzüglichen Rat, zu warten. Auch ich kann Ihnen nur zureden, sich in Geduld zu fassen... Ihre Sache scheint mir gut; aber jetzt bin ich abgetreten und kann daher nichts mehr versprechen.«

»Wir reisen morgen heim!« rief Frau Charbonnel in einem Anfall von Verzweiflung.

Sogleich aber wurde sie kreideweiß, so daß ihr Gatte sie stützte. Einen Augenblick sahen sie einander stumm an mit zitternden Lippen und drohten in Tränen auszubrechen. Sie waren betäubt, als ob plötzlich die halbe Million vor ihnen in Rauch aufgegangen sei.

Rougon fuhr freundlich fort:

»Sie haben einen gefährlichen Gegner. Rochart, der Bischof von Faverolles, ist selbst gekommen, um 'die Ansprüche der Ordensschwestern zu unterstützen. Ohne seine Dazwischenkunft hätten Sie längst gewonnen. Die Geistlichkeit ist heutzutage leider sehr mächtig... Aber ich habe Freunde hinter mir; ich hoffe, ich kann etwas tun, ohne selbst hervorzutreten. Sie haben so lange gewartet, und wenn Sie morgen abreisen...«

»Wir bleiben, wir bleiben!« stammelte Frau Charbonnel eifrig. »Ach, Herr Rougon, diese Erbschaft kommt uns teuer zu stehen!«

Rougon wandte sich lebhaft zu seinen Papieren. Er warf einen Blick durch das Zimmer und freute sich, daß er niemanden mehr sah, der ihn in eine Fensternische hätte ziehen können; die ganze Bande war gesättigt. In einigen Minuten kam er mit seiner Arbeit tüchtig vorwärts. Er hatte eine ihm eigene, fast rohe Munterkeit, womit er der Leute spottete und sich für die Langeweile rächte, die man ihm verursachte. Eine Viertelstunde lang war er schrecklich für seine Freunde, deren Geschichten er so gefällig' angehört hatte. Er zeigte sich selbst gegen die hübsche Frau Bouchard so hart, daß ihr die Tränen in die Augen traten, ohne daß sie dabei aufgehört hatte zu lächeln. Die Freunde, die an seine Keulenschläge gewöhnt waren, lachten darüber; denn niemals stand es besser um ihre Angelegenheiten, als wenn Rougon sie in solcher Weise mißhandelte.

Da klopfte es bescheiden an der Tür. Er aber rief Delestang, der öffnen wollte, zu:

»Nein, nein, lassen Sie! Will man sich über mich lustig machen? Mein Kopf ist schon ganz wirr!«

Da an der Türe heftiger gerüttelt wurde, brummte er zwischen den Zähnen:

»Wenn ich bliebe, wie würde ich diesen Merle an die Luft setzen!«

Es klopfte nicht mehr. Aber plötzlich öffnete sich in der Ecke eine kleine Tür, und man erblickte einen ungeheuren Rock von blauer Seide, der sich rücklings hereinschob. Und dieser sehr helle, mit Bandschleifen geschmückte Rock blieb da einen Augenblick zur Hälfte innerhalb des Zimmers, ohne daß man sonst noch etwas sah; nur eine dünne Frauenstimme hörte man von draußen her lebhaft sprechen.

»Herr Rougon!« rief die Frau, endlich ihr Gesicht zeigend. Es war Frau Correur, die einen Hut trug, der mit einem Rosenbündel besetzt war. Rougon, der mit geballten Fäusten näher gekommen war, zog die Schultern ein und schüttelte ihr die Hand, indem er einen krummen Buckel machte.

»Ich habe Merle gefragt, wie er sich hier befinde?« sagte Frau Correur, den langen Burschen, der lächelnd vor ihr stand, mit einem zärtlichen Blicke betrachtend. »Herr Rougon, sind Sie mit ihm zufrieden?«

»Gewiß, das bin ich«, bestätigte Rougon liebenswürdig.

Merle lächelte nach wie vor, wobei seine Augen auf dem feisten Nacken der Frau Correur ruhten. Sie räusperte sich und ordnete ihr Haar an den Schläfen, worauf sie fortfuhr:

»Ganz recht, mein Junge! Wenn ich jemanden unterbringe, dann wünsche ich, daß jeder zufrieden ist... Und wenn Sie einen guten Rat nötig haben, besuchen Sie mich; Sie wissen ja, früh zwischen acht und neun Uhr. Bleiben Sie verständig!«

Dann trat sie in das Zimmer und sagte zu Rougon:

»Es geht nichts über gediente Soldaten!«

Sie ließ ihn nicht mehr los, sondern führte ihn, durch das ganze Zimmer trippelnd, bis zum Fenster in der andern Ecke und zankte ihn aus, weil er nicht geöffnet hatte. Wenn Merle sie nicht durch die kleine Türe eingelassen hätte, wäre sie draußen geblieben? Sie mußte ihn doch, bei Gott, sehen; wie konnte er gehen ohne ihr zu sagen wie es um ihre Bittschriften stehe? Sie zog ein kleines, sehr fein in rosa Leinwand gebundenes Heft aus der Tasche und fuhr fort:

»Ich habe den Moniteur erst nach dem Frühstück gelesen und sofort einen Wagen genommen. Wie steht es mit der Hauptmannswitwe Frau Leturc, die einen Tabaksverschleiß haben möchte? Ich habe ihr für die nächste Woche Bescheid versprochen. Und das Fräulein Hermine Billeroy? Sie wissen wohl, eine ehemalige Schülerin von St. Denis, die ihr Verführer, ein Offizier, heiraten will, wenn ein Menschenfreund die erforderliche Mitgift hergibt? Wir haben an die Kaiserin gedacht. Und alle die Frauen: Chardon, Testaniere, Zalaguier, die seit Monaten warten!«

Rougon antwortete ihr ruhig, erklärte die Verzögerungen und vertiefte sich in die kleinsten Einzelheiten. Zum Schlüsse gab er jedoch Frau Correur zu verstehen, daß sie künftig weit weniger auf ihn rechnen dürfe. Dies machte sie trostlos. Sie war so glücklich, Dienste erweisen zu können! Was sollte sie nun mit all diesen Frauen anfangen? Dann kam sie auf ihre eigenen Angelegenheiten zu sprechen, die Rougon sehr genau kannte. Sie wiederholte, daß sie eine Martineau sei, eine Martineau aus Coulonges, einer guten Familie, der Vendee entstammend, in welcher man sieben Notare zählen konnte. Das Amt kam vom Vater auf den Sohn. Über ihren Namen Correur aber erklärte sie sich niemals deutlich. Vierundzwanzig Jahre alt war sie nach einem ganzen Sommer von Stelldichein, die sie einem Fleischergehilfen unter einem Wagenschuppen gegeben, mit dem Liebsten durchgebrannt. Ihr Vater hatte ein halbes Jahr unter diesem Skandal gelitten, von dem die ganze Gegend noch immer sprach. Seitdem lebte sie in Paris und war für die Ihrigen tot. Zehnmal hatte sie ihrem Bruder geschrieben, der jetzt das Notariat bekleidete, ohne von ihm eine Antwort zu erhalten; und sie legte dieses Schweigen ihrer Schwägerin zur Last, »ein Pfaffenfrüchtchen, das diesen Narren Martineau an der Nase herumführe«, wie sie sagte. Einer ihrer Lieblingsträume war, wieder heimzukehren wie Du Poizat, um sich als gemachte und geachtete Frau zu zeigen.

»Vor acht Tagen habe ich nochmals geschrieben,« murmelte sie; »ich wette, sie wirft meine Briefe ins Feuer! ... Wenn Martineau stürbe, müßte sie mir doch Tür und Tor öffnen. Sie haben kein Kind, und ich würde dort wichtige Angelegenheiten zu ordnen haben... Martineau ist fünfzehn Jahre älter als ich und leidet obendrein an der Gicht, wie ich erfahren habe.«

Dann fuhr sie in plötzlich verändertem Tone fort:

»Wir wollen uns darüber nicht länger den Kopf zerbrechen. Wir haben jetzt für Sie zu arbeiten, nicht wahr, Eugène? Und wir werden arbeiten, sollen Sie sehen. Sie müssen alles sein, damit wir etwas werden... Sie entsinnen sich, im Jahre einundfünfzig?«

Rougon lächelte, und wie sie ihm mütterlich die Hand drückte, flüsterte er ihr ins Ohr:

»Wenn Sie Gilquin sehen, sagen Sie ihm doch, er möge vernünftig sein. Als er neulich auf die Polizei gebracht wurde, ließ er es sich einfallen, meinen Namen zu nennen, damit ich ihn freimache.«

Frau Correur versprach mit Gilquin zu reden, einem ihrer früheren Mieter aus der Zeit, wo noch Rougon bei ihr wohnte. Er war ein gelegentlich sehr schätzbarer Gesell, aber von einem bedenklich unordentlichen Lebenswandel.

»Ich habe unten einen Wagen; ich empfehle mich«, schloß sie lächelnd mit erhobener Stimme schon mitten im Zimmer.

Dennoch blieb sie noch einige Minuten, um zu sehen, ob sich die Gesellschaft nicht mit ihr zugleich verabschiede. Um sie dazu zu bewegen, erbot sie sich sogar, jemanden in ihrem Wagen mitzunehmen. Der Oberst nahm auch an, und es wurde ausgemacht, daß August neben dem Kutscher auf dem Bock sitzen solle. Darauf begann allseitiges Händeschütteln. Rougon stand an der weit offenen Tür, und jeder, der sie durchschritt, hatte ihm noch ein letztes Wort des Beileids zu sagen. Herr Kahn, Du Poizat und der Oberst reckten den Hals und flüsterten ihm jeder noch ins Ohr» er möge sie nicht vergessen. Die Charbonnels waren schon auf der obersten Treppenstufe, und Frau Correur schwatzte im Vorzimmer mit Merle, während Frau Bouchard, die ihren Gatten und Herrn d'Escorailles einige Schritte hatte vorausgehen lassen, noch sehr anmutig vor Rougon stand und ihn mit einschmeichelnder Stimme fragte, wann sie ihn in seiner Wohnung unter vier Augen sprechen könne, ganz allein, denn sie sei zu einfältig, wenn noch andere Leute da seien. Als aber der Oberst es hörte, kehrte er sofort um, die anderen folgten, und jener rief:

»Wir alle werden Sie besuchen.«

»Sie dürfen sich nicht vergraben!« äußerten mehrere.

Herr Kahn hieß die anderen schweigen und ließ das große Wort vom Stapel:

»Sie gehören nicht sich selbst an, sondern Ihren Freunden und Frankreich.«

Endlich gingen sie, und Rougon konnte die Tür wieder schließen, wobei er einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausstieß. Da trat Delestang, den er ganz vergessen hatte, hinter dem Haufen Kartons hervor, die er als gewissenhafter Freund geordnet. Er war etwas stolz auf seine Tätigkeit. Er war fleißig, während die anderen schwatzten. So hatte er Grund, sich des lebhaften Dankes zu erfreuen, den der große Mann ihm ausdrückte. Kein anderer als er, sagte Rougon, könne ihm nützlich sein; er habe einen Ordnungssinn und eine Methode zu arbeiten, womit er es weit bringen werde; und Rougon fand noch andere Schmeicheleien, ohne daß man daraus ersah, ob er sich nicht lustig mache. Endlich wandte er sich um, musterte alle Winkel und sagte:

»Aber ich glaube, wir sind dank Ihrem Beistande fertig... Ich habe nur noch Merle zu beauftragen, daß er mir diese Pakete heimbesorgt.«

Er rief den Türsteher, zeigte ihm seine privaten Papiere, und jener antwortete auf jeden Befehl:

»Ja, Herr Präsident.«

»Dummkopf!« rief Rougon endlich gereizt, »nennt mich doch nicht mehr Präsident; ich bin es nicht mehr!«

Merle verneigte sich, schritt auf die Tür zu und blieb dort zögernd stehen. Dann kam er zurück und sagte:

»Unten ist eine Frau zu Pferde, sie möchte den gnädigen Herrn sprechen... Sie sagte, sie werde gern die Treppe heraufreiten, wenn sie breit genug sei... Sie will den gnädigen Herrn nur begrüßen.«

Rougon ballte schon die Faust in der Meinung, es sei ein Scherz. Aber Delestang, der an das Fenster gegangen war, kam eilends zurück und flüsterte sehr erregt:

»Fräulein Clorinde!«

Darauf ließ Rougon ihr sagen, er komme hinunter. Während er und Delestang ihre Hüte nahmen, sah er letzteren mit gerunzelten Brauen argwöhnisch an, verwundert über seine Erregung, und wiederholte:

»Mißtrauen Sie den Weibern!«

Von der Schwelle aus warf er einen letzten Blick in das Gemach. Durch die drei Fenster, die offen geblieben waren, schien die Sonne hell herein, die geöffneten leeren Kartons, die zerstreuten Schubladen, die zusammengeschnürten und mitten auf dem Teppich aufgehäuften Pakete grell beleuchtend. Von den Papieren, die in den Kamin geworfen worden, war nur noch eine kleine Schaufel schwarzer Asche geblieben. Als er die Tür schloß, erlosch die niedergebrannte Kerze, die auf dem Schreibtisch vergessen war, und der Klang der von der Glut berstenden gläsernen Leuchterdille hallte durch das weite, öde Gemach.


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