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Achtes Kapitel

Wochen vergingen. Rougon hatte sein müßiges und langweiliges Leben wieder aufgenommen und erwähnte niemals den Befehl des Kaisers, daß er in Paris bleiben solle. Er beklagte nur, daß sein Vorhaben gescheitert sei, daß sich der Urbarmachung der Heide in den Landes angeblich Hindernisse entgegenstellten, und hierüber konnte er stundenlang reden. Welche Hindernisse konnten das sein? Er sah keines. Er ereiferte sich sogar gegen den Kaiser, von dem er keine Erklärung habe erlangen können, wie er klagte. Fürchtete Seine Majestät etwa, das Unternehmen unterstützen zu müssen?

Inzwischen besuchte ihn Clorinde immer häufiger. Jeden Nachmittag schien sie von ihm eine Nachricht zu erwarten und sah ihn erstaunt an, wenn er schwieg. Seit ihrem Besuche in Compiègne lebte sie stets in der Erwartung eines plötzlichen Triumphes, sie hatte ein ganzes Drama ersonnen: den jähen Zorn des Kaisers und Marsys aufsehenerregenden Sturz, worauf sofort der große Mann wieder ans Ruder berufen werde. Dieser Weiberplan schien ihr unfehlbar. Ihr Erstaunen war daher grenzenlos, als sie nach Verlauf eines Monats den Grafen noch immer im Ministerium sah, und sie begann den Kaiser zu verachten, der sich nicht zu rächen wußte. Sie an seiner Stelle würde ihrem Grolle schon Luft gemacht haben! Woran dachte er nur in dem ewigen Schweigen, in das er sich hüllte?

Doch verzweifelte sie noch nicht. Sie witterte ihren Sieg, einen unvorhergesehenen Glücksfall. Die Stellung des Herrn von Marsy war erschüttert. Rougon umgab sie mit Aufmerksamkeiten wie ein Ehemann, der betrogen zu werden fürchtet. Seit dem befremdenden Anfalle von Eifersucht zu Compiègne überwachte er sie mit einer mehr väterlichen Sorgfalt, tränkte sie mit Moral und wollte sie täglich sehen. Die junge Frau lächelte in der Überzeugung, daß er jetzt nicht mehr daran denke, Paris zu verlassen. Mitte Dezember jedoch nach Wochen schläfriger Ruhe begann er auf sein großes Unternehmen zurückzukommen. Er hatte mit Bankiers gesprochen und dachte daran, auf die Unterstützung des Kaisers zu verzichten. Wieder fand man ihn in Karten, Plänen und Fachwerken vergraben. Gilquin sagte, er habe schon über fünfhundert Arbeiter zusammengetrommelt, die bereit seien, sich da draußen anzusiedeln: es sei die erste Handvoll Menschen eines ganzen Volkes. Da hetzte ihm Clorinde, auf ihren Plan versessen, die ganze Schar der Freunde auf den Hals.

Es war eine gewaltige Arbeit; jeder bekam seine besondere Rolle, worüber man sich mit halben Worten in den Ecken von Rougons eigener Wohnung, Sonntags und Donnerstags, verständigte. Man teilte sich in die schwierigeren Aufgaben und stürzte sich täglich in das Gewühl von Paris, fest entschlossen, irgendeinen Menschen von Einfluß zu gewinnen. Nichts wurde gering geschätzt, die unbedeutendsten Erfolge zählten mit. Man benutzte alles, verwertete die geringfügigsten Ereignisse nach Kräften; man verwendete den ganzen Tag vom Gutenmorgen- bis zum Gutenachtgruß. Mit den Freunden verbündeten sich ihre Freunde und weiter die Freunde der letzteren. Ganz Paris wurde auf die Reine gebracht. In den entlegensten Stadtteilen gab es Leute, die nach Rougons Sieg verlangten, ohne selbst zu wissen, warum. Die Schar, zehn bis zwölf Menschen, hielt die ganze Stadt in Händen. »Wir sind die Regierung des morgigen Tages«, bemerkte Du Poizat im Ernst.

Er zog Vergleiche zwischen den Freunden und den Leuten, die das Kaiserreich emporgebracht hatten, und schloß:

»Ich werde Rougons Marsy sein.«

Ein Prätendent sei nur ein Name; eine Regierung einzusetzen, dazu gehöre eine Schar. Zwanzig Kerle mit starkem Appetit seien mehr wert als die festesten Grundsätze, und wenn sie überdies ein Prinzip zum Vorwande hätten, würden sie unbezwinglich. Er lief in der Stadt herum, ging zu den Blättern, wo er Zigarren rauchte und insgeheim gegen Herrn von Marsy wühlte; er wußte stets interessante Geschichten über ihn, klagte ihn der Undankbarkeit und der Selbstsucht an. Nachdem er dann Rougons Namen erwähnt hatte, ließ er halbe Worte fallen und versprach das Blaue vom Himmel; wenn der nur einmal die Hände auf tun könne, werde er die ganze Welt mit einem Regen von Belohnungen, Geschenken und Unterstützungen überschütten. So lieferte er der Presse Nachrichten, Aussprüche und Geschichten, welche die Leser beständig mit der Persönlichkeit des großen Mannes beschäftigten; zwei kleine Blätter berichteten über einen Besuch bei Rougon, andere über sein berühmtes Werk, die Vergleichung der englischen Verfassung mit der vom Jahre 1802. Nach zwei Jahren feindseligen Schweigens wurde ein dumpfes Beifallsgemurmel vernehmbar, das seine wachsende Beliebtheit ankündigte. Du Poizat warf sich dann auf andere Geschäfte, unsagbare Schwindeleien, den Kauf gewisser Stimmen und Helfer, ein leidenschaftliches Börsenspiel auf den mehr oder minder sicheren Eintritt Rougons in das Ministerium.

»Laßt uns nur an ihn denken!« wiederholte er oft in seiner freien Redeweise, welche die schüchternen Seelen der Schar verstimmte. »Später wird er an uns denken.«

Herr Beulin d'Orchère kämpfte mit schweren Waffen, er rief gegen Herrn von Marsy einen Skandal hervor, den man sich zu unterdrücken beeilte. Geschickter zeigte er sich darin, daß er verbreiten ließ, er könne leicht eines Tages Justizminister werden, falls sein Schwager wieder zur Macht gelange. Dies verschaffte ihm die bereitwilligste Unterstützung seiner Amtsgenossen. Herr Kahn führte ebenfalls eine Truppe zum Sturm: Geldmänner, Abgeordnete und Beamte, deren Reihen sich durch alle Unzufriedenen, die er unterwegs fand, verstärkten, er machte sich einen gelehrigen Schüler aus Herrn Béjuin, er verwandte sogar die Herren von Combelot und La Rouquette, ohne daß diese die geringste Ahnung von den Zielen hatten, die sie verfolgen halfen. Er bearbeitete die Spitzen der Beamtenwelt bis in die Tuilerien und wühlte tagelang hintereinander, damit ein Wort von Mund zu Mund endlich bis zum Kaiser gelange.

Mit der größten Leidenschaft aber wirkten die Frauen. Sie legten schreckliche Minen und stifteten die verwickeltesten Abenteuer an, deren Endziel man niemals recht erkennen konnte. Frau Correur nannte die niedliche Frau Bouchard nur noch »mein Kätzchen«, führte sie, wie sie sagte, aufs Land, so daß Herr Bouchard eine Woche lang als Strohwitwer leben mußte. Selbst Herr d'Escorailles war gezwungen, die Abende in den kleinen Theatern zu verbringen. Eines Tages hatte Du Poizat die beiden Frauen in Begleitung ordengeschmückter Herren gesehen, worüber zu reden er sich wohl hütete. Frau Correur hatte jetzt zwei Wohnungen: eine in der Weißen Straße, die andere in der Mazarinstraße; letztere war sehr verführerisch eingerichtet, und Frau Bouchard begab sich nachmittags dorthin, wo sie den Schlüssel beim Pförtner fand. Man erzählte, sie habe an einem regnerischen Morgen, als sie mit aufgeschürzten Röcken die Königsbrücke überschritt, einen hochgestellten Beamten erobert.

Auch der Anhang der Freunde begann sich zu regen und machte sich nach Kräften nützlich. Oberst Jobelin begab sich in ein Boulevardcafé, um alte Freunde aufzusuchen, besonders Offiziere, und redete beim Piketspiel ihnen ins Gewissen, und wenn er den Tag über ein halb Dutzend geangelt hatte, versicherte er abends händereibend, »die ganze Armee sei für die gute Sache«. Ähnlich trieb es Herr Bouchard im Ministerium; allmählich hatte er den Beamten, ja selbst den Bureaudienern glühenden Haß gegen Herrn von Marsy eingeflößt, so daß sie alle nach dem goldenen Zeitalter seufzten, von dem er sich mit seinen Vertrauten flüsternd unterhielt. Herr d'Escorailles bearbeitete die reiche Jugend, der er den weiten Gesichtskreis Rougons rühmte, sowie seine Nachsicht gegenüber gewissen Fehlern und seine Liebe zu Kühnheit und Kraft. Sogar die Charbonnels fanden auf den Bänken am Senatspalast, wo sie jeden Nachmittag auf den Ausgang ihres endlosen Prozesses warteten, Gelegenheit, die kleinen Rentner aus dem, Odéonquartier anzuwerben.

Clorinde begnügte sich für ihr Teil nicht damit, in der Schar die erste Rolle zu spielen. Sie führte sehr verwickelte Pläne aus, ohne jemandem ein Wort davon zu sagen. Niemals hatte man sie morgens in so unordentlichen Hausröcken ihre aufgeplatzte und geflickte Mappe emsiger durch verdächtige Stadtviertel schleppen sehen wie jetzt. Sie gab ihrem Gatten die seltsamsten Aufträge, die er mit wahrer Lammsgeduld ausführte, ohne etwas davon zu verstehen. Sie schickte Luigi Pozzo mit Briefen fort, sie bat Herrn von Plouguern um seine Begleitung und ließ ihn dann stundenlang irgendwo auf dem Pflaster stehen und warten. Einen Augenblick kam ihr der Gedanke, den Einfluß der italienischen Regierung zu Rougons Gunsten aufzubieten. Im Briefwechsel mit ihrer Mutter, die noch immer in Turin wohnte, entwickelte sie eine fieberhafte Tätigkeit. Sie träumte davon, Europa auf den Kopf zu stellen, und ging ein- bis zweimal täglich zum Ritter Rusconi, um dort die Diplomaten zu treffen. Während dieses in so seltsamer Weise geführten Feldzuges schien sie sich jetzt ihrer Schönheit zu erinnern. An manchen Nachmittagen erschien sie dann im Putz, gekämmt, strahlend. Wenn ihre Freunde, selbst überrascht, ihr sagten, sie sei schön, erwiderte sie mit einer sonderbaren Miene geduldiger Müdigkeit:

»Man muß wohl!«

Sich selbst bewahrte Clorinde als unwiderstehliches Argument. Sich hinzugeben war für sie ohne alle Bedeutung. Es machte ihr so wenig Vergnügen, daß sie es als ein Geschäft ansah wie die anderen, nur noch etwas langweiliger. Als sie von Compiègne zurückgekehrt war, wollte Du Poizat, der den Hergang des Jagdabenteuers kannte, wissen, in welchen Beziehungen sie seitdem zu Herrn von Marsy stand. Er träumte davon, Rougon dem Grafen zu opfern, wenn Clorinde die allmächtige Geliebte des letzteren, werde. Aber sie war darüber fast zornig geworden, und leugnete die ganze Geschichte hartnäckig. Er hielt sie für so dumm, ihr eine solche Liebschaft zuzutrauen? Und sie gab zu verstehen, daß sie Herrn von Marsy nicht wiedersehen wolle. Früher hätte sie ja daran denken können, ihn zu heiraten. Ein Mann von Geist sorge nach ihrer Meinung niemals ernstlich für das Glück einer Geliebten. Übrigens habe sie einen anderen Plan.

»Sehen Sie,« sagte sie zuweilen, »es führen oft mehrere Wege zum Ziel, aber immer nur einer, den man mit Vergnügen einschlägt ... Ich für mein Teil habe vielerlei Ansprüche zu befriedigen.«

Sie ließ Rougon nicht aus den Augen, sie wollte ihn groß sehen, als denke sie daran, ihn für ein künftiges Festmahl mit Macht zu mästen. Sie bewahrte ihre Schülerunterwürfigkeit, stellte sich mit schmeichelhafter Demut in seinen Schatten. Er selbst schien von der ganzen Wühlarbeit der Schar nichts zu merken. Ganz in die Karten versenkt, machte er Donnerstags und Sonntags sein Spielchen und schien von dem Geflüster hinter ihm nichts zu hören. Die Freunde redeten von der Sache, gaben sich über seinen Kopf hinweg allerlei Zeichen, verschworen sich an seinem eigenen Herde, als ob er gar nicht da sei, so einfältig schien er; er blieb davon unberührt und all den Dingen, wovon man flüsterte, dermaßen fern, daß man schließlich lauter sprach, um sich über seine Zerstreutheit lustig zu machen. Kam man auf seine Rückkehr zur Herrschaft zu sprechen, so wurde er heftig und versicherte, er werde sich nicht von der Stelle rühren, selbst wenn an der Straßenecke ein Triumphzug ihn erwarte; und in Wirklichkeit spann er sich immer mehr in seine Häuslichkeit ein Und stellte sich, als wisse er nicht das geringste von den Ereignissen draußen. Das Haus in der Marbeufstraße, von dem eine so fieberhafte Propaganda ausstrahlte, war selbst still und schläfrig, und an seiner Schwelle nickten sich die Vertrauten verständnisvoll zu, um den kriegerischen Geruch, den sie in ihren Kleidern mitbrachten, draußen zu lassen.

»Geht doch!« rief Du Poizat, »er hält uns alle zum besten. Er hört uns sehr gut. Achtet am Abend nur auf seine Ohren; man sieht ordentlich, wie sie sich spitzen.«

Wenn sie sich um halb elf Uhr alle gemeinschaftlich verabschiedeten, war dies gewöhnlich der Gegenstand ihrer Unterhaltung. Es sei nicht möglich, daß der große Mann die Ergebenheit seiner Freunde nicht beachte. »Er spielt den lieben Gott«, fuhr der ehemalige Unterpräfekt fort. »Der verteufelte Rougon lebt wie ein indischer Götze, selbstzufrieden die Hände über dem Bauche faltend und scheinheilig auf die Schar seiner Getreuen herablächelnd, die ihn anbeten und sich dabei den Leib aufschneiden.« Man fand diesen Vergleich sehr treffend.

»Ich werde ihn überwachen!« schloß Du Poizat.

Doch vergebens studierte man Rougons Gesicht, man fand ihn stets verschlossen, friedlich, fast naiv. Vielleicht war es keine Verstellung. Übrigens war es auch Clorinde lieber, daß er sich in nichts mischte. Sie fürchtete, er möge ihre Pläne durchkreuzen, wenn man ihn eines Tages zwinge, die Augen zu öffnen. Man arbeitete gleichsam gegen seinen Willen an seinem Glücke. Es handelte sich darum, ihn unter allen Umständen vorwärts zu bringen, ihn gewaltsam auf den Gipfel zu setzen. Dann werde man abrechnen.

Da die Sache jedoch zu langsam vom Flecke rückte, begann die Schar, endlich ungeduldig zu werden. Die beißenden Bemerkungen Du Poizats brachten sie auf. Man zählte Rougon nicht geradezu alles her, was man für ihn tat, aber man spickte ihn mit Anspielungen und bitteren, zweideutigen Worten. Jetzt kam der Oberst zuweilen mit weißbestäubten Stiefeln in die Gesellschaft, er hatte sich nicht Zeit genommen erst heimzugehen, er hatte sich den ganzen Nachmittag lahm gelaufen, ohne daß man es ihm danken werde. Ein andermal klagte Herr Kahn mit vor Müdigkeit geschwollenen Augen, daß er seit vier Wochen zu lange wach bleiben mußte; er gehe viel in Gesellschaft, nicht etwa zu seinem Vergnügen – Gott bewahre! – sondern um gewisse Leute in gewissen Angelegenheiten zu sprechen. Oder Frau Correur trug rührende Geschichten vor von einer armen jungen Frau, einer sehr ehrenwerten Witwe, der sie Gesellschaft leiste; und sie bedauere, ihr nicht helfen zu können; wenn sie die Regierung sei, werde sie Ungerechtigkeiten schon zu verhindern wissen. Dann erzählten alle Freunde ihr eigenes Elend. Jeder beklagte sich und schilderte, in welcher Lage er sich befinden würde, wenn er sich nicht so dumm gezeigt hätte; ein endloses Jammern, das durch die Blicke, die man Rougon zuwarf, noch nachdrücklicher gemacht wurde. Man spornte ihn bis aufs Blut, man verstieg sich so weit, Herrn von Marsy zu rühmen. Rougon bewahrte demgegenüber lange seine Seelenruhe und schien nichts zu verstehen. Nach einigen Wochen aber überflog bei gewissen Wendungen, die er in seinem Salon vernehmen mußte, ein leichtes Zucken seine Züge. Er wurde nicht heftig, er biß nur die Zähne zusammen, wie wenn er Nadelstiche verspüre. Mit der Zeit wurde er so nervös, daß er die Karten liegen ließ; er hatte kein Glück mehr damit und ging lieber langsam auf und ab, plauderte mit seinen Gästen und ließ sie plötzlich stehen, wenn die versteckten Vorwürfe begannen. Zuweilen überkam ihn eine geheime Wut; er schien gewaltsam die Hände auf dem Rücken ineinanderzulegen, um nicht dem Triebe nachzugeben, die ganze Gesellschaft hinauszuwerfen.

»Kinder,« sagte der Oberst eines Abends, »ich komme vierzehn Tage lang nicht wieder ... Man muß es mit dem Schmollen versuchen. Wir wollen sehen, wie er sich allein unterhält.«

Rougon hatte schon daran gedacht, seine Tür zu verschließen; aber jetzt, da man ihn verließ, war er sehr verletzt. Der Oberst hielt Wort, andere folgten seinem Beispiele, und so war der Salon fast immer halb leer, fehlten stets fünf, sechs Freunde. Wenn einer von ihnen wiederkam und der große Mann ihn fragte, ob er krank gewesen sei, verneinte er mit überraschtem Ausdruck, ohne sich weiter zu erklären. Eines Donnerstags kam niemand. Rougon verbrachte den Abend allein damit, daß er in dem weiten Gemach mit den Händen auf dem Rücken und gesenkten Hauptes auf und ab ging. Zum erstenmal empfand er, wie stark das Band war, das ihn an seine Freunde fesselte. Er zuckte verächtlich die Achseln, wenn er an die Dummheit der Charbonnels, die neidische Wut Du Poizats und die zweideutige Süßlichkeit der Frau Correur dachte; Aber so gering er diese Vertrauten auch schätzte, dennoch fühlte er das Bedürfnis, sie zu sehen, über sie zu herrschen, das Bedürfnis eines eifersüchtigen Gebieters, der im Geheimen über die geringste Treulosigkeit in Tränen ausbricht. Im Grunde seines Herzens rührte ihn selbst ihre Dummheit, liebte er ihre Laster. Sie schienen ein Teil seines Wesens, oder vielmehr, er fühlte sich langsam aufgesogen, so daß er sich selbst verringert schien, wenn sie ihn mieden. Er schrieb ihnen also endlich, als sie länger fortblieben; ja, er besuchte sie sogar, um sie zu versöhnen, nachdem sie ernstlich geschmollt hatten. Man lebte in dem Hause in der Marbeufstraße beständig auf dem Kriegsfuß unter jenem fieberhaften Abbrechen und Wiederanknüpfen der Beziehungen, wie es bei Eheleuten vorkommt, deren Liebe zu erkalten beginnt.

Ende Dezember war eine besonders ernste Verstimmung eingetreten. Eines Abends hatte ohne rechten Grund ein Wort das andere gegeben, und schließlich hatte einer den andern zähnefletschend angefallen. Fast drei Wochen lang sah man sich nicht. Der wahre Grund war der, daß die Schar anfing zu verzweifeln. Die pfiffigsten Bemühungen führten zu keinem greifbaren Erfolge. Die Lage schien sich noch lange nicht ändern zu wollen, und so mußte die Schar dem Traum von einer unvorhergesehenen Katastrophe, die Rougon zum Mann der Notwendigkeit machen könne, entsagen. Sie hatte die Wiedereröffnung des gesetzgebenden Körpers abgewartet; aber die Prüfung der Wahlvollmachten hatte kein anderes Ergebnis gehabt, als daß zwei republikanische Abgeordnete die Eidesleistung verweigerten. Nunmehr glaubte auch Herr Kahn, dieses geschmeidige und tiefblickende Mitglied der Gruppe, nicht mehr daran, daß die allgemeine Politik noch eine ihnen günstige Wendung nehmen werde. Rougon warf sich ganz außer sich mit verdoppeltem Eifer auf seinen Plan der Urbarmachung der Heide, wie um das Zucken seines Gesichtes zu verbergen, das nicht mehr enden wollte.

»Ich fühle mich nicht wohl«, sagte er öfter. »Sie sehen, meine Hände zittern ... Mein Arzt hat mir Bewegung verordnet. Ich bin den ganzen Tag im Freien.«

Wirklich ging er viel aus. Man begegnete ihm oft, die Hände schlenkernd, den Kopf erhoben, zerstreut blickend, und wenn man ihn anhielt, erzählte er von endlosen Gängen. Als er eines Morgens von einem Spaziergange nach Chaillot heimkehrte, um zu frühstücken, fand er eine Visitenkarte mit vergoldetem Rande, auf welcher der Name Gilquin, in schöner, englischer Schrift zwischen Spuren von Fettfingern und anderem Schmutz prangte. Er klingelte dem Diener und fragte:

»Der Überbringer dieser Karte hat nichts gesagt?«

Der Diener, der noch nicht lange im Hause war, lächelte.

»Es war ein Herr in grünem Überrock. Er war sehr liebenswürdig und hat mir eine Zigarre angeboten ... Er hat nur gesagt, er sei ein Freund des Herrn des Hauses.«

Als der Diener das Gemach verließ, fiel ihm noch etwas ein.

»Ich glaube, es ist auf der Rückseite etwas geschrieben.«

Rougon drehte die Karte um und las die mit Bleistift gekritzelten Worte: »Kann unmöglich warten. Komme Abend wieder. Sehr dringend, komische Geschichte.«

Rougon machte eine gleichgültige Gebärde. Nach dem Frühstück fielen ihm jedoch die Worte »sehr dringend, komische Geschichte« wieder ein; sie fingen endlich an, ihn zu beunruhigen. Was mochte Gilquin komisch finden? Seitdem er den einstigen Handlungsreisenden mit dunkeln und verwickelten Angelegenheiten beauftragt hatte, sah er ihn regelmäßig einmal wöchentlich des Abends; niemals war er des Morgens gekommen. Es handelte sich also um etwas Außerordentliches. Als er mit seinen Vermutungen zu Ende war, entschloß er sich, von einer Ungeduld ergriffen, die er selbst lächerlich fand, auszugehen, um womöglich Gilquin noch vor dem Abend zu treffen.

»Irgendeine Saufboldgeschichte!« dachte er, indem er die Elyseischen Felder hinabging. »Aber ich bin schließlich beruhigt.«

Er ging zu Fuße der Vorschrift seines Arztes gemäß. Es war ein schöner, klarer, sonniger Januartag. Gilquin wohnte nicht mehr in der Passage Guttin zu Batignolles. Auf seiner Karte stand zu lesen: Guirardestraße, Vorstadt St.-Germain.

Es kostete Rougon viele Mühe, diese abscheulich schmutzige Straße in der Nähe von St.-Sulpice zu entdecken. Im Hintergrunde eines schwarzen Ganges fand er eine Pförtnerin liegen, die ihm aus dem Bett mit fieberisch zitternder Stimme zurief:

»Herr Gilquin? ... Ach, ich weiß nicht. Sehen Sie im vierten Stock nach, die Tür links!«

Im vierten Stock war der Name Gilquin an der Tür angeschrieben, mit Arabesken umgeben, die flammende, pfeildurchbohrte Herzen darstellten. Aber er klopfte vergebens; er hörte von drinnen nur das Ticktak einer Kuckucksuhr und das leise Miauen einer Katze. Er hatte im voraus vermutet, daß er einen vergeblichen Weg mache, aber es gewährte ihm dennoch Erleichterung, daß er gekommen war. Er stieg also ruhig wieder hinab und sagte sich, er könne recht gut den Abend erwarten. Draußen verlangsamte er seinen Schritt, ging über den Markt St.-Germain, die Seinestraße entlang, ohne Ziel, schon etwas müde, doch entschlossen, zu Fuß heimzukehren. Als er die Jakobstraße erreichte, dachte er an die Charbonnels. Seit zehn Tagen hatte er sie nicht gesehen, weil sie mit ihm schmollten. Er entschloß sich also, bei ihnen vorzusprechen und ihnen die Hand zur Versöhnung zu bieten. Das Wetter war heute so mild, daß er sich milde gestimmt fühlte.

Das Zimmer der Charbonnels im Périgordhotel sah auf den Hof hinaus, einen dunklen Schacht, aus dem ein Geruch von schlecht gespülten Rinnsteinen aufstieg. Es war schwarz, groß, mit verkrüppelten Mahagonimöbeln und verschossenen roten Damastvorhängen ausgestattet. Als Rougon eintrat, war Frau Charbonnel damit beschäftigt, ihre Kleider sorgfältig in einen großen Koffer zu packen, während Herr Charbonnel sich im Schweiße seines Angesichtes mit dem Zuschnüren eines kleineren Koffers abquälte.

»Sie wollen abreisen?« fragte er lächelnd.

»Gewiß!« versetzte Frau Charbonnel mit einem tiefen Seufzer. Diesmal steht unser Entschluß fest.«

Inzwischen bemühten sie sich sehr eifrig um ihn, durch seinen Besuch sehr geschmeichelt. Alle Stühle waren mit Kleidern, Wäschebündeln und bis zum Platzen vollgestopften Körben bedeckt. Er setzte sich also auf den Rand des Bettes und fuhr gutmütig fort:

»Lassen Sie doch, ich sitze hier sehr gut ... Bleiben Sie ruhig bei Ihrer Arbeit, ich will nicht stören! ... Sie wollen mit dem Achtuhrzuge fort?«

»Ja«, bestätigte Herr Charbonnel. »Wir müssen noch sechs Stunden in diesem Paris bleiben! ... Herr Rougon, wir werden noch lange daran denken!«

Er, der sonst so Schweigsame, ereiferte sich schrecklich, ja, er reckte die Faust gegen das Fenster und sagte, man müsse in ein solches Nest kommen, um nachmittags zwei Uhr in seiner Wohnung nicht sehen zu können. Dies trübe Licht des engen Hofschachtes: Das ist Paris. Aber Gott sei Dank, er werde die Sonne wiederfinden in seinem Garten zu Plassans. Dabei sah er sich um, ob er nichts vergessen habe. Am Morgen hatte er einen Fahrplan gekauft und wies auf den Kamin, wo in fettigem Papier ein Huhn lag, das sie unterwegs verzehren wollten.

»Meine Liebe,« wiederholte er, »hast du alle Schubladen ausgeleert? ... Ich hatte meine Pantoffel in den Nachttisch gestellt ... Ich glaube, einige Papiere sind hinter die Kommode gefallen ...«

Rougon sah vom Bettrande aus gepreßten Herzens den Vorbereitungen der beiden Alten zu, deren Hände beim Packen zitterten. Ihre Erregung empfand er als einen stummen Vorwurf. Er hatte sie in Paris zurückgehalten, und es endete mit einem vollständigen Schiffbruch, einer wahren Flucht.

»Sie haben unrecht«, murmelte er.

Frau Charbonnel sah ihn bittend an, als wolle sie ihn zum Schweigen bringen, dann sagte sie lebhaft:

»Hören Sie, Herr Rougon, versprechen Sie uns nichts! Unser Unglück würde nur von vorn anfangen ... Wenn ich bedenke, daß wir seit dritthalb Jahren hier sind! Dritthalb Jahre in diesem Loche – mein Gott! Mein ganzes Leben lang werde ich die Schmerzen im linken Beine behalten; ich lag nach der Mauerseite, und die Mauer trieft von Wasser. Nein, ich kann Ihnen nicht alles erzählen, es würde zu lange dauern! Wir haben ein Heidengeld verbraucht! Sehen Sie hier, ich habe noch diesen großen Koffer kaufen müssen, um all den Trödel unterzubringen, dessen wir in Paris bedurften, und für den man uns die Augen aus dem Kopfe abgefordert hat, Wäsche, die mir die Wäscherin in Fetzen zurückgab ... Nach Ihren Wäscherinnen werde ich mich nicht zurücksehnen! Sie verbrennen alles mit ihren Säuren!«

Damit warf sie einen Ballen Lumpen in den Koffer und schrie:

»Nein, nein, wir reisen! Sehen Sie, noch eine Stunde hier würde mich umbringen!«

Aber Rougon begann hartnäckig wieder von ihrer Angelegenheit zu reden. Sie hätten also sehr schlechte Nachrichten bekommen? Darauf berichteten sie ihm fast weinend, daß die Erbschaft von dem Vetter Chevassu ihnen endgültig zu entgehen drohe. Der Staatsrat sei im Begriffe, die Schwestern von der heiligen Familie zur Übernahme des Vermächtnisses von fünfhunderttausend Franken zu ermächtigen. Was ihnen schließlich alle Hoffnung genommen habe, sei die Nachricht, daß der Bischof Rochart zum zweiten Male nach Paris gekommen sei, um die Sache zu betreiben.

Da stieß Herr Charbonnel in plötzlicher Aufwallung den kleinen Koffer beiseite und wiederholte händeringend mit gebrochener Stimme:

»Fünfhunderttausend Franken! Fünfhunderttausend Franken!«

Beide waren einer Ohnmacht nahe. Sie setzten sich, er auf den Koffer, sie auf ein Wäschebündel, das mitten in dem Durcheinander lag. In langen, bekümmerten Reden begannen sie sich zu beklagen; wenn der eine schwieg, fing der andere wieder an. Sie erzählten von ihrer Zärtlichkeit für Chevassu. Wie hatten sie ihn geliebt! In Wirklichkeit hatten sie ihn siebzehn Jahre vor der Nachricht von seinem Tode nicht gesehen. In diesem Augenblick jedoch waren sie von ihrer Zärtlichkeit gegen ihn überzeugt, sie glaubten, ihn während seiner Krankheit mit Aufmerksamkeiten aller Art umgeben zu haben. Dann beschuldigten sie die Schwestern von der heiligen Familie schändlicher Umtriebe; sie hätten sich in das Vertrauen ihres Verwandten eingeschlichen, seine Freunde von ihm fern gehalten und einen beständigen Druck auf den geschwächten Willen des Kranken ausgeübt. Die fromme Frau Charbonnel erzählte sogar eine abscheuliche Geschichte, nach der ihr Verwandter vor Furcht gestorben sei, nachdem er seinen letzten Willen unter dem Diktat eines Priesters niedergeschrieben, der ihm am Fußende des Bettes den Teufel gezeigt hatte.

Der Bischof von Faverolles, Msgr. Rochart, treibe ein unsauberes Gewerbe, indem er rechtschaffene, in ganz Plassans geachtete Leute, die im Ölhandel eine Kleinigkeit erspart hatten, ihres Eigentums beraube.

»Aber vielleicht ist noch nicht alles verloren«, sagte Rougon, als er sie erschöpft sah. Msgr. Rochart ist doch nicht der Herrgott ... Ich habe mich mit Ihnen nicht beschäftigen können. Ich habe soviel zu tun! Lassen Sie mich sehen, wie die Sache steht. Man wird uns nicht fressen.«

Die Charbonnels blickten einander mit leichtem Achselzucken an. Der Gatte murmelte:

»Es ist nicht der Mühe wert, Herr Rougon.«

Als Rougon in sie drang und versicherte, daß er alles aufbieten werde und nicht verstehe, warum sie so abreisen wollten, wiederholte die Frau:

»Ganz gewiß, es lohnt nicht die Mühe. Sie würden sich ganz umsonst bemühen ... Wir haben mit unserem Advokaten über Sie gesprochen. Er sagte lachend, Sie vermöchten jetzt gar nichts gegen Monseigneur Rochart.«

»Wenn man ohnmächtig ist, was wollen Sie?« bemerkte Herr Charbonnel seinerseits. »Besser nachgeben.«

Rougon hatte das Haupt geneigt. Die Worte der alten Leute trafen ihn wie Ohrfeigen. Noch niemals hatte er seine Machtlosigkeit schwerer empfunden.

Inzwischen fuhr Frau Charbonnel fort:

»Wir kehren nach Plassans zurück, das ist viel vernünftiger ... Wir gehen nicht in Groll auseinander, Herr Rougon. Wenn wir daheim Ihre Mutter, Frau Felicité, sehen, werden wir ihr sagen, daß Sie sich alle mögliche Mühe für uns gegeben haben. Und wenn andere uns fragen – fürchten Sie nichts, wir werden Ihnen niemals schaden. Unmögliches kann man doch von niemandem verlangen.

Das fehlte noch! Er stellte sich vor, wie die Charbonnels in der Provinz ankommen. Gleich am ersten Abend schwatzte das ganze Städtchen. Das sei ein Mißerfolg für ihn persönlich, eine Niederlage, von der er sich kaum im Laufe von Jahren erholen werde.

»Bleiben Sie!« rief er. »Ich will, daß Sie bleiben! Wir wollen sehen, ob der Bischof Rochart mich auf einen Bissen verschlingt!«

Er lachte so beunruhigend, daß die Charbonnels erschraken. Trotzdem sträubten sie sich noch immer. Endlich willigten sie ein, noch einige Zeit in Paris zu bleiben, acht Tage, nicht länger. Der Gatte löste mühsam wieder die Schnüre, womit er den kleinen Koffer zusammengebunden hatte, die Frau zündete, obgleich es kaum drei Uhr war, ein Licht an, um die Wäsche und die Kleider wieder in die Schreine zu legen. Beim Abschiede drückte ihnen Rougon warm die Hand, wobei er seine Versprechungen wiederholte.

Zehn Schritte von der Haustür überkam ihn schon die Reue. Warum hatte er diese Charbonnels zurückgehalten, da sie durchaus reisen wollten? War das nicht die beste Art, sie sich vom Halse zu schaffen? Jetzt hatte er sich mehr als je verpflichtet, ihnen zum Siege zu verhelfen. Am ärgerlichsten war er gegen sich selbst, indem er sich vorwarf, er habe den Einflüsterungen der Eitelkeit nachgegeben. Das schien ihm seiner Kraft unwürdig. Indessen, er hatte es versprochen, also mußte er zu helfen suchen. Er ging die Bonapartestraße hinab, am Ufer entlang und über die Brücke der heiligen Väter.

Das Wetter war noch milde, auf dem Strome jedoch blies ein heftiger Wind. Mitten auf der Brücke knöpfte er seinen Überrock zu, als er vor sich eine starke Dame, in Pelze gewickelt, gewahrte, die ihm den Weg versperrte. An der Stimme erkannte er Frau Correur.

»Sie sind es!« sagte sie mit kläglicher Miene. »Ich muß Ihnen begegnen, um Ihnen guten Tag zu sagen ... Ich wäre eine Woche lang nicht zu Ihnen gekommen. Nein, Sie sind nicht erkenntlich genug.«

Sie warf ihm vor, ihr einen schon seit Monaten geäußerten Wunsch noch nicht erfüllt zu haben. Es handelte sich noch immer um das Fräulein Herminie Billecoq, ehemalige Schülerin von St. Denis, die ihr Verführer, ein Offizier, heiraten wolle, wenn ein Menschenfreund die vorschriftsmäßige Mitgift beschaffen werde. Übrigens werde sie von allen übrigen Damen verfolgt: Frau Witwe Leturc erwarte ihren Tabaksladen; die anderen, Frau Chardon, Frau Testanière, Frau Jalaguier, besuchten sie täglich, klagten ihr ihre Not und erinnerten sie an die Versprechungen, die sie ihnen geben zu können geglaubt hatte.

»Ich habe auf Sie gerechnet«, sagte sie zum Schluß. »Sie haben mich schön in der Tinte sitzen lassen! ... Wissen Sie, ich gehe jetzt zum Unterrichtsministerium wegen des Stipendiums für den kleinen Jalaguier. Sie haben es mir versprochen.

Seufzend fügte sie hinzu:

»Wir müssen uns auf die Strümpfe machen, wenn Sie nicht mehr unser aller lieber Herrgott sein wollen.«

Rougon, dem der Wind lästig wurde, neigte sich über das Geländer und sah in den Hafen St. Nicolas hinab, der dort ein Handelsviertel für sich bildet. Beständig Frau Correur zuhörend, betrachtete er aufmerksam eine mit Zuckerhüten beladene Pinasse, die eben ihre Ladung löschte, indem der Zucker in einer aus zwei Brettern gebildeten Rinne hinabgelassen wurde. Dreihundert Menschen sahen dieser Arbeit vom Ufer herab zu.

»Ich bin nichts, ich vermag nichts«, versetzte er. »Sie tun unrecht, mir zu zürnen.«

Sie aber erwiderte stolz:

»Lassen Sie nur, ich kenne Sie! Wenn Sie nur wollten, wären Sie alles! Spielen Sie nicht den Heuchler, Eugen!«

Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Die Vertraulichkeit der Frau Melanie, wie er sie einst nannte, erweckte in ihm Erinnerungen an das Hotel Kibitz, als er keine Stiefel an den Füßen hatte und auszog, um Frankreich zu erobern. Er vergaß die Vorwürfe, die er sich eben gemacht hatte, als er die Charbonnels verließ.

»Also, was haben Sie mir zu erzählen?« sagte er gutmütig ... »Aber bitte, lassen Sie uns nicht hier bleiben, man erfriert hier. Da Sie in die Grenellestraße gehen, begleite, ich Sie bis zum Ufer.«

Dann wandte er sich um und ging neben Frau Correur, ohne ihr den Arm zu bieten. Sie fuhr fort, ausführlich ihre Kümmernisse zu berichten:

»Die anderen kümmern mich schließlich nicht! Die können warten ... Ich würde Sie nicht quälen, ich würde vergnügt sein wie früher, Sie erinnern sich wohl, wenn ich nicht selbst soviel Verdruß hätte! Was wollen Sie? Man wird am Ende erbittert ... Mein Gott, es handelt sich immer um meinen Bruder. Der arme Martineau! Seine Frau hat ihn völlig zum Narren gemacht. Der reine Strohmann!«

Damit vertiefte sie sich in die Einzelheiten eines neuen Aussöhnungsversuches, den sie letzte Woche unternommen hatte. Um die wahre Stimmung ihres Bruders ihr gegenüber kennenzulernen, hatte sie sich entschlossen, eine ihrer Freundinnen, die Herminie Billecoq, deren Verheiratung sie seit zwei Jahren betrieb, nach Coulonges hinauszuschicken.

»Ihre Reise hat mir hundertsiebzehn Franken gekostet«, fuhr sie fort. »Und was glauben Sie, wie man sie aufgenommen hat? Frau Martineau hat sich zwischen sie und meinen Bruder gestürzt und wütend geschrien mit schäumendem Munde, wenn ich Straßendirnen schickte, würde sie sie durch die Polizei verhaften lassen ... Meine arme Herminie zitterte noch am ganzen Leibe, als ich sie vom Bahnhof Montparnasse abholte, so daß wir in ein Kaffeehaus gehen mußten, um etwas zu uns zu nehmen.«

Sie waren am Ende der Brücke angekommen und erhielten von den Vorübergehenden manchen Rippenstoß. Rougon suchte nach Worten, um sie zu trösten.

»Das ist sehr ärgerlich. Aber Ihr Bruder wird sich Ihnen wieder zuwenden, Sie sollen sehen. Die Zeit bringt alles in Ordnung.«

Als sie ihn gerade an der Ecke inmitten des Gerassels der umbiegenden Wagen festhielt, kehrte er langsam auf die Brücke zurück. Sie folgte ihm und wiederholte:

»Sobald Martineau die Augen geschlossen hat, ist sie imstande, alles zu verbrennen, wenn er ein Testament hinterläßt ... Der arme Mann besteht nur noch aus Haut und Knochen. Herminie fand, daß er sehr schlecht aussah ... Kurz, ich bin sehr beunruhigt.«

»Man kann nichts tun, man muß warten«, versetzte Rougon mit unbestimmter Gebärde.

Sie hielt ihn von neuem mitten auf der Brücke an und flüsterte ihm zu:

»Herminie hat mir etwas sehr Merkwürdiges berichtet. Es scheint, daß Martineau sich jetzt auf die Politik geworfen hat. Er ist Republikaner. Bei den letzten Wahlen hat er die Gegend auf den Kopf gestellt ... Das ist mir nahe gegangen. Man könnte ihn beunruhigen? Wie?«

Sie sah ihn scharf an. Seine Augen verfolgten einen vorüberrollenden Landauer, als ob er ihre Blicke meiden wolle; und erst nach einer Weile erwiderte er mit harmloser Miene:

»Beruhigen Sie sich. Sie haben Freunde, nicht wahr? Nun denn, zählen Sie auf diese!«

»Ich zähle nur auf Sie, Eugène«, sagte sie zärtlich und sehr leise.

Das schien ihn zu rühren. Er blickte ihr ins Gesicht und fand ihren fetten Hals, ihr geschminktes Gesicht, dessen Schönheit nicht altern wollte, sehr anziehend. Sie machte seine ganze Jugend aus.

»Ja, rechnen Sie auf mich!« wiederholte er, ihr die Hände drückend. »Sie wissen, daß ich für alle Ihre Klagen ein Ohr habe.«

Er geleitete sie bis zum Voltaireufer zurück. Als sie ihn verlassen hatte, überschritt er endlich langsam die Brücke und betrachtete nochmals das Abladen des Zuckers im Hafen Saint-Nicolas. Er stützte sich sogar ein Weilchen auf das Geländer. Aber die Zuckerhüte, welche die Rinnen hinabrutschten, das grüne Wasser, dessen Fluten beständig unter den Brückenbogen hinströmte, die Maulaffen umher, die Häuser: alles floß bald ineinander, und er versank in eine unwiderstehliche Träumerei. Die wunderlichsten Vorstellungen gingen durch seinen Kopf: er stieg mit Frau Correur in dunkle Tiefen hinab. Und er bedauerte nichts mehr; sein Traum war, sehr groß, sehr mächtig zu werden, um seine Umgebung über die Grenzen der Natürlichkeit und der Möglichkeit hinaus zu befriedigen.

Ein Schauer weckte ihn aus seinem Brüten auf. Er fror. Die Nacht brach an. Der Odem des Stromes warf kleine weiße Wölkchen auf die Ufer. Indem er das Tuilerienufer entlang ging, fühlte er sich sehr müde, so daß ihm der Mut versagte, zu Fuß heimzukehren. Aber es kamen nur besetzte Droschken des Weges, und er verzichtete schon darauf, noch einen Wagen zu finden, als ein Kutscher sein Pferd gerade vor ihm anhielt. Aus dem Wagen streckte sich ein Kopf. Es war Herr Kahn.

»Eben wollte ich zu Ihnen«, rief er. »Steigen Sie doch ein! Ich bringe Sie heim, und wir können unterwegs plaudern.«

Rougon stieg ein. Kaum saß er, als der ehemalige Abgeordnete in heftige Worte ausbrach, während der Wagen wieder in schläfrigem Trabe vorwärts rasselte.

»Ah, lieber Freund, mir ist eben ein Vorschlag gemacht worden... Sie werden es im Leben nicht erraten. Uff, ich ersticke!«

Er ließ die Scheibe des einen Fensters nieder und fuhr fort:

»Sie erlauben doch?«

Rougon schmiegte sich in seine Ecke und blickte durch das Fenster auf die graue Mauer des Tuileriengartens, die langsam vorbeizog. Sehr rot im Gesicht fuhr Herr Kahn mit heftigen Bewegungen fort:

»Wie Sie wissen, bin ich Ihrem Rate gefolgt... Seit zwei Jahren führe ich einen hartnäckigen Kampf. Ich war dreimal beim Kaiser; ich bin bei meiner vierten Denkschrift über die Frage angelangt. Habe ich auch bis jetzt die Konzession nicht erhalten, so habe ich doch verhindert, daß Marsy sie der Westbahngesellschaft erteilte... Kurz, ich habe mich bemüht abwarten zu können, bis wir wieder die Macht in Händen haben, wie Sie mir sagten.«

Er schwieg einen Augenblick, da der Lärm eines eisenbeladenen Wagens seine Worte übertäubte. Erst als das Gefährt vorüber war, fuhr er fort:

»Eben jetzt kam ein mir unbekannter Herr, ein dicker Unternehmer zu mir und stellte mir ganz ruhig im Namen Marsys und des Direktors der Westbahn das Anerbieten, ich solle die Konzession erhalten, wenn ich diesen Herren eine Million in Aktien geben wolle... Was meinen Sie?«

»Das ist etwas teuer«, murmelte Rougon lächelnd.

Herr Kahn kreuzte die Arme und fuhr achselzuckend fort:

»Nein, Sie haben keinen Begriff von der Frechheit dieser Leute. Ich müßte Ihnen meine ganze Unterhaltung mit dem Unternehmer berichten. Marsy verpflichtet sich für die Million, mich zu unterstützen und meine Angelegenheit binnen Monatsfrist zum Abschluß zu bringen. Er fordert einfach seinen Anteil... Als ich vom Kaiser sprach, fing unser Mann zu lachen an. Er sagte mir kurz und bündig, wenn ich den Kaiser für mich hätte, wäre ich geliefert.«

Der Wagen hatte eben den Eintrachtsplatz erreicht. Rougon fuhr aus seiner Ecke auf, während das Blut ihm ins Gesicht schoß, und fragte:

»Sie haben den Herrn vor die Tür gesetzt?«

Der vormalige Abgeordnete sah ihn einen Augenblick starr an, ohne zu antworten. Sein Zorn hatte sich plötzlich gelegt. Er drückte sich in seine Ecke, der Stöße des Wagens nicht achtend, und murmelte:

»O nein, man setzt die Leute nicht so ohne weiteres vor die Tür... Ich wünschte übrigens, Ihre Meinung zu erfahren. Ich für mein Teil habe Lust anzunehmen.«

»Niemals, Kahn!« schrie Rougon wütend. »Niemals!«

Sie stritten über die Sache. Herr Kahn führte Ziffern an: ein Trinkgeld von einer Million war allerdings ungeheuer, aber er wies nach, daß man dieses Loch durch gewisse Geschäfte leicht ausfüllen könne. Rougon hörte nicht darauf und winkte ihm zu schweigen. Er fragte nichts nach Geld, aber er wollte nicht, daß Marsy diese Million einsackte; denn wollte er sie ihm lassen, so würde er damit seine Ohnmacht eingestehen, sich als besiegt erklären, den Einfluß seines Nebenbuhlers außerordentlich hoch anschlagen und um so höher, je weniger er selbst vermochte.

»Sie sehen, er beginnt zu unterhandeln«, sagte .er. »Er gibt nach... Warten Sie noch eine Weile. Wir werden die Konzession umsonst bekommen.«

In fast drohendem Tone fügte er hinzu:

»Wir würden uns entzweien, das sage ich Ihnen im voraus. Ich kann nicht zugeben, daß einer meiner Freunde in dieser Weise geplündert wird.«

Beide schwiegen, während der Wagen die Elyseischen Felder hinauffuhr. Die beiden Männer schienen nachdenklich die Bäume zu zählen, an denen sie vorbeifuhren. Erst nach einer Weile begann Herr Kahn leise von neuem:

»Hören Sie, ich würde für mich nichts Besseres verlangen, als auf Ihrer Seite zu bleiben; aber Sie müssen doch zugeben, seit bald zwei Jahren...«

Er brach ab und schloß:

»Es ist schließlich nicht Ihre Schuld. Ihnen sind jetzt die Hände gebunden... Lassen Sie uns die Million daran setzen, glauben Sie mir!«

»Niemals!« wiederholte Rougon nachdrücklich. »In vierzehn Tagen werden Sie Ihre Konzession haben, hören Sie?«

Der Wagen hielt eben vor dem kleinen Hause in der Marbeufstraße. Sie blieben jedoch noch sitzen und plauderten, als ob sie sich sehr gemächlich daheim befänden. Rougon hatte Herrn Bouchard und Oberst Jobelin zum Essen geladen und wollte auch Herrn Kahn da behalten. Der aber lehnte ab, da er zu seinem größten Bedauern schon versagt sei. Darauf ereiferte sich der große Mann in Sachen der Konzession. Als er endlich ausgestiegen war, schloß er freundschaftlich die Türe und nickte dem ehemaligen Abgeordneten zum Abschied zu.

»Auf morgen, Donnerstag, nicht wahr?« rief dieser zurück, als der Wagen sich schon in Bewegung gesetzt hatte.

Rougon hatte sich ein leichtes Fieber geholt. Er konnte nicht einmal die Abendblätter lesen. Obgleich es kaum fünf Uhr war, ging er in den Salon, wo er seine Gäste erwartete, und schritt hier auf und ab. Die erste Sonne des Jahres, diese blasse Januarsonne, hatte ihm einen Anfall von Migräne gebracht. Der Nachmittag hatte ihn sehr aufgeregt. Die ganze Gesellschaft war da: die Freunde, welche er duldete, die, welche er fürchtete, und die, welche seinem Herzen wirklich nahe standen. Alle drängten ihn zu einer schleunigen Lösung. Und es mißfiel ihm keineswegs; im Gegenteil, er gab ihrer Ungeduld recht, er fühlte, daß ihr Zorn den seinen erregte. Er hatte die Empfindung, als werde der Raum vor seinen Füßen nach und nach verkürzt, so daß er binnen kurzem einen gewaltigen Sprung werde wagen müssen.

Da fiel ihm plötzlich Gilquin ein, den er ganz vergessen hatte. Er klingelte und fragte, ob »der Herr im grünen Überrock« während seiner Abwesenheit wieder gekommen sei. Der Bediente hatte niemanden gesehen. Darauf befahl er, wenn jener kommen sollte, ihn in sein Arbeitszimmer zu führen.

»Sie benachrichtigen mich sofort!« schloß er, »selbst wenn wir bei Tische sein sollten.«

Seine Neugier war wieder rege geworden, und er holte Gilquins Karte von neuem hervor. Er las mehrere Male: »Es ist dringend, eine komische Geschichte«, ohne etwas Weiteres ergründen zu können. Als Herr Bouchard und der Oberst kamen, schob er die Karte in die Tasche, unwillig gereizt durch diese Worte, die sich wieder seinem Hirn eingeprägt hatten.

Das Essen war sehr einfach. Herr Bouchard war seit zwei Tagen Strohwitwer, da seine Frau zu einer kranken Tante hatte reisen müssen, von der sie früher nie gesprochen hatte. Der Oberst, für den der Tisch bei Rougon stets gedeckt war, hatte diesmal seinen August mitgebracht, der gerade Ferien hatte. Frau Rougon überwachte das Mahl schweigend und aufmerksam wie immer. Die Bedienung vollzog sich unter ihren Augen gemessen und genau, ohne daß man einen Teller klirren hörte. Man sprach vom Unterrichte an den Gymnasien. Herr Bouchard führte Verse aus Horaz an nebst den Preisen, die er bei dem allgemeinen Wettkampf im Jahre 1813 errungen hatte. Der Oberst wünschte eine mehr militärische Zucht und erklärte, weshalb August bei der Reifeprüfung im November durchgefallen war: der Junge war so klug, daß er immer über die Fragen der Lehrer hinausgriff, und das verdroß diese Herren. Während sein Vater so seinen Durchfall erklärte, verspeiste August mit dem verhaltenen Lächeln eines befriedigten Hungerleiders eine Hühnerbrust.

Beim Nachtisch schien ein Läuten im Flur den Hausherrn, der bis dahin zerstreut gewesen, zu erregen. Er glaubte, es sei Gilquin und faltete schon mechanisch seine Serviette zusammen, dessen Anmeldung erwartend. Aber es war Du Poizat, der als Freund des Hauses am Tische Platz nahm. Er kam oft abends beizeiten sogleich nach seinem Abendbrot, das er in einer kleinen Pension der Faubourg-St.-Honorius-Vorstadt einnahm.

»Ich bin wie gerädert!« seufzte er, ohne zu erklären, was für verwickelte Geschäfte er am Nachmittag gehabt. Ich würde zu Bett gehen, wenn mir nicht eingefallen wäre, noch einen Blick in die Blätter zu werfen... Sie liegen in Ihrem Zimmer, Rougon, nicht wahr?«

Er blieb jedoch vorläufig noch sitzen, nahm eine Birne und etwas Wein an. Das Gespräch drehte sich um die Teuerung der Lebensmittel: seit zwanzig Jahren hatten sich alle Preise verdoppelt; Herr Bouchard entsann sich aus seiner Jugend, daß das Paar Tauben fünfzehn Sous gekostet hatte. Sobald jedoch der Kaffee und die Liköre aufgetragen waren, entfernte sich Frau Rougon unbemerkt. Die Herren kehrten in den Salon zurück; man war ganz unter sich. Der Oberst und Bouchard rückten selbst den Spieltisch an den Kamin und waren alsbald ganz in ihre Karten und Berechnungen vertieft. August hatte ein illustriertes Blatt vor sich, Du Poizat war verschwunden.

»Sehen Sie doch diese Karten!« sagte der Oberst plötzlich. »Ganz außerordentlich! Nicht wahr?«

Rougon trat herzu und nickte. Als er an seinen Platz zurückgekehrt war und eben die Scheite im Kamin durchrütteln wollte, kam der Bediente leise heran und flüsterte ihm ins Ohr:

»Der Herr von heute früh ist da.«

Er fuhr auf. Er hatte die Klingel überhört. In seinem Zimmer fand er Gilquin, ein spanisches Rohr unterm Arme, vor einem schlechten Stiche, »Napoleon auf Sankt-Helena« darstellend, den er blinzelnd mit Kennermiene musterte. Sein langer grüner Überzieher war bis zum Kinn zugeknöpft, sein Seidenhut war fast neu und saß sehr schief auf einem Ohre.

»Nun?« fragte Rougon lebhaft.

Aber Gilquin hatte es nicht so eilig. Er sagte kopfschüttelnd, noch immer auf das Bild blickend:

»Das ist immerhin gut getroffen! ... Er scheint sich da verdammt zu langweilen!«

In dem Gemache befand sich nur eine Lampe, die auf einer Ecke des Schreibtisches stand. Bei Rougons Eintritt war ein leises Rascheln von Papier aus einem sehr hochlehnigen Sessel, der vor dem Kamin stand, vernehmlich geworden; dann herrschte eine solche Stille, daß man das Geräusch für das Prasseln eines brennenden Scheites hätte halten können. Gilquin weigerte sich übrigens, Platz zu nehmen. Beide standen nahe der Tür im Halbschatten eines Bücherschreines.

»Nun?« wiederholte Rougon und berichtete dann, daß er am Nachmittag in der Guisardestraße gewesen sei, um Gilquin aufzusuchen. Darauf redete sein Gast von der Pförtnerin, einer ausgezeichneten Frau, die in dem feuchten Erdgeschoß an einer Brustkrankheit zugrunde gehe.

»Aber welches ist die dringende Angelegenheit?«

»Warte nur! Deshalb bin ich ja gekommen. Wir plaudern ein bißchen ... Du bist hinaufgeklettert und hast die Katze gehört? Denke dir, das Tier ist an der Dachrinne zu mir gekommen. In einer Nacht, als ich das Fenster offen gelassen, fand ich sie neben mir liegen. Sie leckte mir den Bart, und das schien mir so drollig, daß ich sie behielt.«

Endlich entschloß er sich, zur Sache zu kommen. Aber die Geschichte war sehr lang. Er begann damit, seine Liebe zu einer Plätterin zu erzählen, die er beim Verlassen des »Gemischten Theaters« kennengelernt hatte. Die arme Eulalia hatte ihre Möbel dem Hauswirt lassen müssen, weil ihr Liebhaber sie im Stiche gelassen in einem Augenblick, als sie die Miete für fünf Vierteljahre schuldete. Seit zehn Tagen wohnte sie in einem Gasthause in der Nähe ihrer Plättstube; und bei ihr hatte er die ganze Woche geschlafen im zweiten Stock am Ende eines Ganges in einem Kämmerchen, das auf den Hof hinausging.

Rougon hörte ihm ergeben zu.

»Vor drei Tagen also«, fuhr Gilquin fort, »brachte ich einen Kuchen und eine Flasche Wein mit ... Wir haben es im Bette verzehrt, verstehst du. Wir sind früh zu Bett gegangen ... Eulalia stand kurz vor Mitternacht auf, um die Krumen vom Bette zu schütteln. Gleich darauf schlief sie wie ein Bär. Ein wahres Murmeltier, dies Frauenzimmer! ... Ich aber schlief nicht. Ich hatte das Licht ausgeblasen und blickte ins Dunkel, als sich im anstoßenden Zimmer ein Wortwechsel erhob. Unsere Kammer steht nämlich mit jener durch eine Tür in Verbindung, die jetzt immer verschlossen ist. Die Stimmen wurden leiser, der Friede schien wieder hergestellt, aber ich vernahm so sonderbare Geräusche, daß ich meiner Treu durch eine Türritze lugte. Nein, du wirst in deinem Leben nicht erraten ...«

Er hielt inne und genoß mit weit geöffneten Augen den Eindruck, den er hervorzubringen gedachte.

»Nun denn, es waren ihrer zwei, der eine etwa fünfundzwanzig Jahre alt und recht hübsch; der andere mußte über die Fünfzig hinaus sein und war klein, mager, kränklich ... Die Kerle untersuchten Pistolen, Dolche, Säbel, kurz, neue Waffen aller Art, deren Stahl im Lichte blinkte. Sie redeten eine eigene Sprache, die ich anfangs nicht verstand. Aber an gewissen Worten erkannte ich sie bald als italienisch. Du weißt, ich habe Italien in Pasteten bereist. Ich strengte mich also an und verstand, mein Lieber ... Die Herren sind nach Paris gekommen, um den Kaiser aus dem Wege zu räumen. Heraus ist's!«

Und die Arme kreuzend, drückte er seinen Stock gegen die Brust, indem er mehreremal wiederholte:

»Na, ist das nicht eine drollige Geschichte?«

Das also war die Angelegenheit, die Gilquin drollig fand. Rougon zuckte die Achseln; zwanzigmal hatte man ihm Verschwörungen hinterbracht. Aber der ehemalige Handlungsreisende gab genaue Auskunft.

»Du hast mir gesagt, ich solle dir das Geschwätz aus dem Viertel melden. Ich möchte dir gern einen Dienst erweisen, ich teile dir alles mit, wie? Du brauchst nicht den Kopf zu schütteln ... Glaubst du, wenn ich zur Polizeibehörde gegangen wäre, daß ich nicht ein hübsches Trinkgeld erschnappt hätte? Indessen, ich will lieber, daß ein Freund seinen Vorteil davon hat. Hörst du, es ist ernst! Geh hin und erzähle die Geschichte dem Kaiser, er wird dich umarmen, wahrhaftig!«

Seit drei Tagen überwachte er die netten Herren, wie er sie nannte. Bei Tage kamen noch zwei andere, ein jüngerer und ein älterer, sehr schön, blaß und mit langem, schwarzem Haar, welcher der Führer zu sein schien. Alle diese kamen ganz abgehetzt und redeten kurz, in gedämpften Worten. Am Abend vorher hatte er sie »kleine Maschinen« von Eisen laden sehen, die er für Bomben hielt. Er hatte sich von Eulalia den Schlüssel geben lassen und blieb ohne Schuhe mit gespitzten Ohren im Zimmer. Um neun Uhr abends sorge er dafür, daß Eulalie schnarche, um die Nachbarn zu beruhigen. Nach seiner Ansicht dürfe man Weiber niemals in die Politik mengen.

Je länger Gilquin redete, desto ernster wurde Rougon. Er glaubte. Unter der Angetrunkenheit des vormaligen Reisenden und inmitten der sonderbaren Einzelheiten, von denen die Erzählung unterbrochen wurde, fühlte er eine Wahrheit heraus, die sich ihm unwillkürlich aufdrängte. Nunmehr erschien ihm sein gespanntes Harren, die ängstliche Neugier, worin er den Tag verbracht hatte, als ein Vorgefühl. Wieder erbebte er im Innern, wie schon am Morgen; es war die unwillkürliche Erregung des starken Mannes, mit dem das Schicksal ein gewagtes Spiel treibt.

»Dummköpfe, welche sicherlich die ganze Polizei auf den Fersen haben!« murmelte er, die äußerste Gleichgültigkeit heuchelnd.

Gilquin begnügte sich zu grinsen. Dann brummte er zwischen den Zähnen:

»In diesem Falle würde die Polizei gut tun, sich zu beeilen.«

Er schwieg noch immer grinsend und gab seinem Hute einen vertraulichen Klaps. Der große Mann begriff, daß jener noch nicht alles gesagt hatte, und sah ihm ins Gesicht. Aber der andere öffnete die Tür und fuhr fort:

»Nun, du bist jetzt unterrichtet ... Ich gehe zu Tische, mein Lieber, denn ich habe noch nicht gegessen, wie du mich da siehst. Ich habe meine Leute den ganzen Nachmittag verfolgt ... Und ich habe einen Hunger!«

Rougon hielt ihn zurück, bot ihm etwas kalten Braten an und ließ im Speisesaal sogleich ein Gedeck auflegen. Gilquin schien sehr gerührt. Er schloß die Türe wieder und sagte leise, daß der Diener ihn nicht hören sollte:

»Du bist ein guter Junge ... Höre zu! Ich will dich nicht belügen. Hättest du mich übel aufgenommen, wäre ich zur Polizei gegangen ... Aber jetzt sollst du alles wissen. Das ist ehrlich, wie? Du wirst dich hoffentlich dieses Dienstes erinnern. Freunde bleiben Freunde, da mag man sagen, was man will.«

Dann bog er sich zu ihm und wisperte ihm zu:

»Morgen abend soll Badinguet Spottname des Kaisers. (Anm. des Übers.) hinweggefegt werden in dem Augenblick, da er die Oper betritt. Der Wagen, die Adjutanten, die Begleitung – alles wird in die Luft geblasen.«

Während Gilquin es sich im Speisesaale bequem machte, blieb Rougon mitten in seinem Zimmer stehen, unbeweglich, mit erdfahlem Gesicht. Er überlegte, er zögerte. Endlich setzte er sich an seinen Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier, schob es aber sogleich wieder weg. Einen Augenblick schien er an die Tür eilen zu wollen, wie um einen Befehl zu geben, aber er kehrte langsam um und versank in Gedanken, die tiefe Schatten über sein Gesicht breiteten.

In diesem Augenblick wurde der Lehnstuhl vor dem Kamine jäh zurückgestoßen. Du Poizat erhob sich und faltete ruhig eine Zeitung zusammen.

»Wie, Sie haben da gesessen?« fuhr Rougon ihn an.

»Versteht sich, ich habe die Blätter gelesen«, antwortete der ehemalige Unterpräfekt lächelnd, wobei er seine schiefen Zähne zeigte. »Sie wußten es ja; Sie müssen mich doch gesehen haben, als Sie eintraten.«

Diese unverschämte Lüge schnitt jede weitere Erklärung ab. Sie sahen sich einige Sekunden lang schweigend an. Als Rougon in seiner Verlegenheit ihn befragen zu wollen schien und abermals an seinen Schreibtisch trat, gab ihm Du Poizat einen Wink, der offenbar bedeutete: »Warten Sie, es drängt nicht, wir müssen erst sehen.« So kehrten sie denn, ohne ein Wort gewechselt zu haben, in den Salon zurück.

Zwischen dem Oberst und Herrn Bouchard war über die Prinzen von Orleans und den Grafen Chambord ein so heftiger Streit ausgebrochen, daß sie die Karten auf den Tisch warfen und schwuren, nie wieder zusammen zu spielen. Sie saßen zu beiden Seiten des Kamins und warfen einander drohende Blicke zu. Als Rougon eintrat, versöhnten sie sich, indem sie ihm überschwengliche Lobsprüche spendeten.

»Es macht mir nichts aus, ich sage es in seiner Gegenwart«, fuhr der Oberst fort. »Es gibt jetzt keinen solchen Menschen mehr, wie er ist.«

»Wir verlästern Sie«, wandte sich Herr Bouchard schlau lächelnd an ihn.

Und die Unterhaltung wurde fortgesetzt:

»Ein Scharfsinn sondergleichen!«

»Ein Mann der Tat mit dem Blicke des Eroberers.«

»Es wäre sehr nötig, daß er sich ein wenig um unsere Angelegenheiten kümmere!«

»Ja, der Wirrwarr wäre dann nicht so arg ... Er allein kann das Kaiserreich retten.«

Rougon hob seine breiten Schultern und zog aus Bescheidenheit ein unzufriedenes Gesicht. Dieser mit vollen Händen gestreute Weihrauch war ihm sehr angenehm. Niemals fühlte seine Eitelkeit sich so wonnig gekitzelt, als wenn der Oberst und Herr Bouchard sich so ganze Abende lang in Ausdrücken der Bewunderung überboten. Ihre Dummheit machte sich breit, ihre Gesichter nahmen einen komischernsten Ausdruck an; und je abgeschmackter er sie fand, ein desto größeres Vergnügen fand er an ihrer eintönigen Stimme, die ihn beständig fälschlich feierte. In ihrer Abwesenheit spottete er zuweilen darüber; aber es befriedigte nichtsdestoweniger alle seine hochmütigen und herrschsüchtigen Triebe. Es war gleichsam ein Düngerhaufen von Lobsprüchen, groß genug, daß er seinen gewaltigen Leib bequem darin wälzen konnte.

»Nein, nein, ich bin ein armer Tropf«, sagte er, das Haupt schüttelnd. »Wenn ich wirklich so stark wäre, wie Sie glauben ...«

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Er saß am Spieltisch und legte sich mechanisch die Karten, was er nur noch sehr selten tat. Herr Bouchard und der Oberst ließen inzwischen ihren Zungen freien Lauf, sie erklärten ihn für einen großen Redner, groß in der Verwaltung, im Finanzwesen und in der Politik. Du Poizat, der daneben stand, nickte zustimmend. Endlich sagte er, ohne Rougon anzusehen, als ob dieser nicht anwesend wäre:

»Mein Gott, ein Ereignis würde genügen ... Der Kaiser will Rougon sehr wohl. Bräche morgen eine Katastrophe herein, würde er die Notwendigkeit eines starken Armes fühlen, so wäre Rougon übermorgen Minister ... Mein Gott, ja!«

Der große Mann erhob langsam die Blicke. Er ließ sich in den Sessel zurücksinken, ohne sein Spiel zu beenden; sein Gesicht war wieder grau bewölkt. Aber in seiner Träumerei schienen die unermüdlichen Schmeichelstimmen des Obersten und des Herrn Bouchard ihn zu wiegen, ihn zu irgendeinem Entschlüsse zu treiben, den auszuführen er noch schwankte. Er lächelte schließlich, als August, der eben das liegengelassene Spiel zu Ende geführt hatte, ausrief:

»Es ist gelungen, Herr Rougon!«

»Natürlich,« sagte Herr Du Poizat, das Lieblingswort des großen Mannes gebrauchend, »es gelingt immer!«

In diesem Augenblicke meldete ein Diener Rougon, ein Herr und eine Dame wünschten ihn zu sprechen. Als er die Karte las, stieß er einen leisen Schrei aus und rief:

»Wie, sie sind in Paris?«

Es war der Marquis d'Escorailles und dessen Gattin; er beeilte sich, sie in seinem Zimmer zu empfangen. Sie entschuldigten sich, daß sie so spät kämen, gaben zu verstehen, daß sie schon zwei Tage in Paris seien, aber die Furcht, ihren Besuch bei einer der Regierung nahestehenden Persönlichkeit mißdeutet zu sehen, habe sie ihr Kommen bis zu dieser ungewohnten Stunde verschieben lassen. Dies Geständnis verletzte Rougon keineswegs. Die Anwesenheit des Marquis und seiner Gemahlin in seinem Hause war für ihn eine unverhoffte Ehre. Hätte der Kaiser in Person an seine Tür geklopft, seine Eitelkeit wäre weniger befriedigt gewesen. In diesen alten Leuten, die als Bittsteller kamen, huldigte ihm ganz Plassans, das aristokratische, kühle, aufgeblasene Plassans, das ihm von Kindesbeinen auf als ein unnahbarer Olymp vor der Seele stand; und er fand so eine Befriedigung seines alten Ehrgeizes, er fühlte sich entschädigt für die Geringschätzung, die er in der Kleinstadt als schlappschuhiger, unbeschäftigter Advokat hatte erdulden müssen.

»Wir haben Jules nicht getroffen«, begann die Marquise. »Wir hatten uns im voraus gefreut, ihn zu überraschen ... Er hat nach Orleans reisen müssen in Geschäften, wie es scheint.«

Rougon wußte hiervon nichts. Aber er begriff alles, indem er sich erinnerte, daß die Tante, bei der sich Frau Bouchard befand, in Orleans wohnte. Er entschuldigte denn Jules; er erklärte ihnen sogar die wichtige Angelegenheit: es sei eine Arbeit über die Frage des Mißbrauchs der Amtsgewalt, die ihn zu der Reise gezwungen habe. Er stellte ihn als einen begabten jungen Mann hin, der eine schöne Laufbahn erwarten dürfe.

»Er muß sich seinen Weg selbst bahnen«, sagte der Marquis, ohne bei dieser Anspielung auf den Ruin des Hauses nachdrücklicher zu verweilen. »Wir haben uns mit schwerem Herzen von ihm getrennt.«

Darauf beklagten Vater und Mutter mit einiger Zurückhaltung die Forderungen unserer schrecklichen Zeit, welche die Kinder hinderten, in den Überzeugungen ihrer Eltern heranzuwachsen. Sie hätten seit Karls X. Tode keinen Fuß wieder nach Paris gesetzt. Sie wären gewiß nicht gekommen, wenn es sich nicht um Jules' Zukunft handelte. Seitdem der liebe Sohn ihrem heimlich erteilten Rate gemäß dem Kaiserreiche diente, mußten sie ihn vor der Welt verleugnen, aber im stillen arbeiteten sie beständig an seinem Fortkommen.

»Wir spielen mit Ihnen nicht Versteckens, Herr Rougon«, fuhr der Marquis mit liebenswürdiger Vertraulichkeit fort. »Wir haben unser Kind lieb, das ist sehr natürlich ... Sie haben viel getan, und wir danken Ihnen. Aber Sie müssen noch mehr tun. Wir sind Freunde und Landsleute, nicht wahr?«

Rougon verbeugte sich tief bewegt. Die demütige Haltung der alten Leute, die er früher Sonntags so majestätisch hatte zur St.-Markuskirche schreiten sehen, ließ seine eigene Person in seinen Augen bedeutend wachsen. Er gab ihnen also ein förmliches Versprechen.

Als sie sich nach etwa zwanzig Minuten verabschiedeten, ergriff die Marquise eine seiner Hände, hielt sie einen Augenblick in der ihren und murmelte:

»Also, es ist abgemacht, lieber Herr Rougon. Wir sind ausdrücklich deshalb aus Plassans gekommen. Wir wurden ungeduldig bei unserem Alter, was denken Sie! Jetzt werden wir vergnügt heimkehren ... Man sagte uns, Sie könnten gar nichts mehr erreichen.«

Rougon lächelte. Er sagte ihnen zum Abschied mit einem Ausdruck der Entschiedenheit, der seinen geheimsten Gedanken zu entsprechen schien:

»Der Mensch kann, was er will ... Rechnen Sie auf mich!«

Als er jedoch wieder allein war, glitt abermals ein Schatten des Bedauerns über seine Züge. Mitten im Vorzimmer stehen bleibend, gewahrte er einen anständig gekleideten Mann, der achtungsvoll in der Ecke stand und einen kleinen runden Filzhut zwischen den Fingern drehte.

»Was wollen Sie?« fragte er heftig.

Der sehr große und starke Mensch murmelte, die Augen niederschlagend:

»Der gnädige Herr kennt mich nicht mehr?«

Als Rougon grob verneinte, fuhr er fort:

»Ich bin Merle, der ehemalige Türsteher des gnädigen Herrn im Staatsrat.«

Rougon erwiderte milder:

»Sehr gut. Sie tragen jetzt einen Vollbart ... Also, was wünschen Sie?«

Darauf erklärte sich Merle im höflichsten Tone. Er war am Nachmittag Frau Correur begegnet, und sie hatte ihm geraten, noch am Abend zu Herrn Rougon zu gehen; andernfalls würde er sich niemals erlaubt haben, um diese Zeit zu stören.

»Frau Correur ist sehr gut«, wiederholte er mehrmals.

Endlich rückte er damit heraus, daß er keine Stellung habe. Wenn er jetzt einen Vollbart trage, so sei der Grund der, daß er seit etwa einem halben Jahre den Staatsrat verlassen habe. Als Rougon ihn nach dem Grunde seiner Entlassung fragte, gestand er nicht, daß er wegen seiner schlechten Aufführung vor die Tür gesetzt worden sei, sondern er sagte, die Lippen zusammenkneifend:

»Man wußte, wie sehr ich dem gnädigen Herrn ergeben war. Seit Ihrem Abgange verursachte man mir allerlei Ungelegenheiten, weil ich niemals meine Gefühle habe verbergen können ... Eines Tages hätte ich einem Kameraden, der Unziemliches sagte, beinahe eine Ohrfeige gegeben ... Darauf bin ich entlassen worden.«

Rougon sah ihn fest an und fragte:

»Also um meinetwillen sitzen Sie jetzt auf dem Pflaster, mein Lieber?«

Merle lächelte nur.

»Also schulde ich Ihnen eine Stelle? Ich muß Sie irgendwo unterbringen?«

Er lächelte wieder und sagte nur:

»Gnädiger Herr wären sehr gütig ...«

Während des kurzen Schweigens, das folgte, klatschte Rougon nervös mit den Händen. Endlich machte er sich in einem herzhaften Lachen Luft. Er hatte zu viele Schulden, er wollte alles bezahlen und sagte:

»Ich werde an Sie denken, Sie sollen Ihre Stelle haben. Sie haben wohlgetan, daß Sie gekommen sind, mein Junge.«

Damit entließ er ihn. Jetzt schwankte er nicht länger. Er trat in den Speisesaal, wo Gilquin eben mit einem Topf voll eingemachten Obstes zu Ende war, nachdem er eine Pastetenschnitte, einen Hühnerschenkel und kalte Kartoffeln zu sich genommen. Du Poizat hatte sich zu ihm gesellt und plauderte mit ihm, rittlings auf einem Stuhle sitzend. Sie redeten sehr rückhaltlos von den Frauen und von der Kunst, ihre Liebe zu gewinnen. Gilquin hatte seinen Hut auf dem Kopfe und schaukelte sich, auf seinen Sitz zurückgelehnt, mit einem Zahnstocher zwischen den Lippen, um seine gute Lebensart zu zeigen.

»Ich gehe also«, sagte er, sein volles Glas leerend und mit der Zunge schnalzend. »Ich will in der Montmartrestraße nachsehen, was meine Vöglein treiben.«

Aber Rougon, der sehr gut gelaunt schien, lachte ihn aus. Glaubte er auch jetzt nach dem Essen noch an seine Verschwörergeschichte? Du Poizat stellte sich ebenfalls ganz ungläubig und verabredete für den folgenden Tag eine Zusammenkunft mit Gilquin, dem er ein Frühstück schulde. Gilquin wiederholte mit dem Stock unterm Arme:

»Also Ihr wollt nichts verlauten lassen?«

»Ei ja!« versetzte Rougon schließlich. »Aber man wird sich über mich lustig machen, weiter nichts ... Keine Eile. Morgen früh.«

Der ehemalige Handlungsreisende hielt schon die Türklinke in der Hand. Noch einmal wandte er sich grinsend um und sagte:

»Ihr wißt, meinetwegen mag Badinguet in die Luft fliegen. Es wäre noch drolliger.«

»Oh!« entgegnete der fromme Mann mit überzeugter, fast frommer Miene; »der Kaiser fürchtet nichts, selbst wenn die Geschichte wahr wäre. Solche Anschläge sind nie geglückt ... Es gibt eine Vorsehung.«

Das war sein letztes Wort.

Du Poizat verabschiedete sich mit Gilquin, den er freundschaftlich duzte. Als Rougon eine Stunde später um halb elf Uhr Herrn Bouchard und dem Oberst gute Nacht sagte, reckte er die Arme und sagte gähnend, wie er zuweilen tat:

»Ich bin ganz erschöpft. Diese Nacht werde ich mal gut schlafen.«

Am folgenden Abend platzten drei Bomben vor der Oper unter dem Wagen des Kaisers. Kopflose Bestürzung bemächtigte sich der Menge, die sich in der Le Peletierstraße drängte. Über fünfzig Personen waren verwundet. Eine Frau in blauseidenem Kleide lag mausetot im Rinnstein. Zwei Soldaten wanden sich im Todeskampfe auf dem Pflaster. Ein Adjutant, am Hinterkopfe verwundet, zeichnete seinen Weg mit einer Blutspur. Im fahlen Gaslichte stieg der Kaiser heil und gesund aus dem zertrümmerten Wagen und grüßte. Nur sein Hut war von einem Bombensplitter durchlöchert.

Rougon hatte den ganzen Tag ruhig daheim verbracht. Nur am Morgen war er etwas erregt und bezeigte zweimal Lust, auszugehen. Nachdem er jedoch gefrühstückt hatte, kam Clorinde, und mit ihr verbrachte er den ganzen Nachmittag in seinem Arbeitszimmer. Sie wollte ihn über eine verwickelte Angelegenheit befragen und schien sehr niedergedrückt. Sie komme zu gar nichts, sagte sie. Sehr gerührt von ihrer Traurigkeit, tröstete er sie, zeigte sich sehr zuversichtlich und gab zu verstehen, daß alles sich wenden werde. Die Ergebenheit und die Dienste seiner Freunde seien ihm wohlbekannt; er werde selbst die Geringsten unter ihnen belohnen. Beim Abschiede küßte er sie auf die Stirn. Nach dem Essen fühlte er ein unwiderstehliches Bedürfnis auszugehen. Er schlug den geradesten Weg zu den Ufern ein, die kühle Luft am Strome suchend. Es war ein sehr milder Winterabend, dessen schwer bewölkter Himmel in düsterer Stille auf der Stadt zu lasten schien. In der Ferne erstarb der Lärm der Hauptstraßen. Er ging auf dem öden Fußwege mit gleichmäßigem Schritt immer vor sich hin, wobei er mit seinem Rocke die Steine der Brüstung streifte; die Lichterreihen, die sich im Dunkel der Nacht gleich Sternen in die Unendlichkeit hinzogen und die Grenzzeichen des malten Himmels zu sein schienen, gaben ihm eine ins Endlose erweiterte Vorstellung von diesen Plätzen und Straßen, deren Häuser er nicht mehr sah; je weiter er schritt, desto riesiger schien ihm Paris, desto mehr nach seiner Größe zugeschnitten und Luft genug für seine Brust bietend. Das tiefschwarze Wasser, im Goldglanze lebendiger Schuppen schillernd, hatte den tiefen, sanften Atem eines schlummernden Riesen, der zu seinem ungeheuerlichen Traume die Begleitung gab. Als er gegenüber dem Justizpalast stand, schlug eine Uhr neun. Er erzitterte und wandte sich lauschend um; ihm war, als fühle er die Dächer unter der Wucht eines plötzlichen Schreckens erbeben, als höre er den Knall ferner Explosionen und Schreie des Entsetzens. Ganz Paris schien ihm plötzlich über ein ungeheures Verbrechen außer Fassung geraten. Er erinnerte sich jenes Juninachmittages, des hellen, glänzenden Nachmittages der Taufe, als die Glocken im warmen Sonnenscheine läuteten, die Ufer mit Menschenmassen bedeckt waren, da auf dem Gipfelpunkte die ganze Herrlichkeit des Kaiserreiches stand, unter der er sich einen Augenblick so winzig klein gedünkt hatte, daß er den Kaiser beneidete. Jetzt war die Stunde der Vergeltung gekommen, ein mondloser Himmel, die Stadt schreckensstarr, stumm, die Ufer menschenleer, von einem Schauer überrieselt, der selbst die Gasflammen zittern machte, so daß sie in der Nacht den schielenden Augen eines Meuchelmörders glichen. Er atmete tief, er liebte diese Mördergrube Paris, in deren Entsetzen erregendem Schatten er seine Allmacht wiederfand.

Nach zehn Tagen wurde Rougon an Marsys Stelle zum Minister des Innern ernannt, letzterer zum Präsidenten des gesetzgebenden Körpers.


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