Fedor von Zobeltitz
Besser Herr als Knecht
Fedor von Zobeltitz

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XVI

Das Arbeitszimmer des Fürsten war ein ernst ausgestatteter Raum mit dunklen Ledertapeten und schweren olivengrünen Vorhängen an den Fenstern. Alle Wände nahmen Bücherschränke ein; nur die eine Wand war freigelassen worden, und hier hing ein lebensgroßes Ölbild Leopolds von Schöningh, des unglücklichen Vorgängers des Fürsten auf dem Throne von Illyrien. Das Porträt stellte Leopold in der sieghaften Schönheit seiner sonnigen Jugend dar, liebenswürdig lächelnd, mit einem leichten Anflug von Spott in den Mundwinkeln, Stirn und Augen hell, den Kopf keck zurückgeworfen, wie im Bewußtsein des Reizes seiner jünglingsfrischen Anmut.

Vor diesem Bilde war Emich stehengeblieben, als ihm Herr von Polzien gemeldet worden war. Wenn der Fürst am Arbeitstische saß, schweifte sein Blick zuweilen nach dem Porträt des Vetters gegenüber; es war immer eine Mahnung für ihn, auf der Hut zu sein vor der Mörderhand, die auch ihn aus dem Hinterhalt treffen konnte. War die Mahnung Maffeo Verescos übertrieben gewesen? Konnte nicht auch Polzien ein Stilett im Ärmel verborgen halten oder plötzlich den Revolver ziehen, um ihn auf den tödlich Gehaßten abzufeuern? –

Er trat hinter den Schreibtisch, dessen mächtige Breite die ganze Mitte des Zimmers füllte, und öffnete ein Schubfach. Ein Helles blitzte ihm entgegen; auch er hatte eine Waffe zur Hand – für alle Fälle...

Die Tür zum Vorzimmer öffnete sich: Polzien wurde eingelassen.

Er blieb mit einer Verneigung in der Nähe der Türe stehen. Emich hatte ihn nie zu Gesicht bekommen, seit er in Illyrien weilte, aber er kannte ihn dennoch ohne weiteres wieder. Die Gestalt war stämmiger geworden; die leichte Neigung zum Embonpoint hatte den Eindruck des Straffsehnigen und Elastischen vermindert; doch der brutale Zug in dem geistig sehr lebhaften Antlitz war geblieben. Und aus dem Auge sprach, unverschleiert und unverhehlt, ein tiefer drohender Groll. Polzien erschien in langem schwarzen Überrock, er war bis auf jede Einzelheit sehr sorgfältig gekleidet.

Der Fürst setzte sich nicht, bot auch Polzien nicht Platz an.

»Ich habe Sie zu mir bitten lassen, Herr Deputierter, um Verschiedenes persönlich mit Ihnen zu besprechen. Wie meinen Vetter und Vorgänger in der Regentschaft, so beehren Sie auch mich in Ihrer Zeitung, auf der Parlamentstribüne und in den Volksversammlungen mit einer wütenden Verfolgung, die ihre Spitze nicht lediglich gegen meine Regierung, sondern auch gegen mich selbst richtet. Darf ich Sie fragen, welche Ursachen Ihrem Haß zugrunde liegen?«

»Ich bin ohne weiteres dazu bereit, Ihnen Antwort zu geben, Durchlaucht«, antwortete Polzien. Er sprach ruhig, nicht respektlos, aber scharf und eindringlich. »Durchlaucht haben das rechte Wort gefunden. Es ist der Haß, der mich leitet. Sie kennen die Stunde, in der ich mir zugeschworen, mich an Ihnen für die mir zugefügten Beleidigungen zu rächen. Aber ich bin kein Bravo; ich breche nicht aus dem Versteck hervor, um Sie zu töten, wie der wahnwitzige Mörder des Fürsten Leopold. Meine Waffen sind rein. Daß sie trotzdem scharf find und gut zu treffen vermögen, haben mir Eure Durchlaucht selbst zugestanden ...«

Diese Offenheit imponierte Emich. Sein helles Auge ruhte forschend auf dem Gesicht Polziens.

»Sie spielen auf die Geschehnisse in Seesenheim an,« sagte er, »um mich über die Gründe Ihres Hasses aufzuklären. Es würde mir wenig nützen, wenn ich versuchen wollte, Sie davon zu überzeugen, daß ich derzeitig im Rechte gewesen bin, und daß nur die Hartnäckigkeit, mit der Sie mir gegenübertraten, mich veranlaßte, schließlich Gewalt zu gebrauchen ... Ich möchte noch eine Frage an Sie richten: bei allem Haß gegen meine Person vertreten Sie politisch und publizistisch doch eine Partei, eine große Partei – die der Unzufriedenen, der Linken im Parlament. Diese Linke will aber geradeso die Interessen des Landes fördern, wie – von ihrem Standpunkte aus – die Rechte, wie die Nationalen und wie endgültig die Regierung selbst. Also haben auch Sie, Herr von Polzien, in gewisser Weise die Interessen des Landes im Auge – nicht wahr? ...«

Der Fürst hatte anfänglich illyrisch gesprochen, aber dann plötzlich deutsch fortgefahren. Wie es schien mit Absichtlichkeit antwortete Polzien auf illyrisch:

»Nicht nur in gewisser Weise, sondern durchaus und lediglich, Durchlaucht. Ich bin kein Tor. Mein Haß ist nur der treibende Faktor. Als ich in Seesenheim einfach vor die Tür gesetzt wurde, ging ich nach Rußland. Ich bin in Russisch-Polen aufgewachsen, beherrsche die meisten slawischen Sprachen und kenne die einschlägigen Verhältnisse. Sie wissen, daß ich vor sechs Jahren als politischer Agent Rußlands hierher kam. Das habe ich nicht zu verbergen. Inzwischen habe ich in Illyrien festen Fuß fassen und mich von drückenden Einflüssen freimachen können. Ich bin mein eigener Herr geworden und treibe die Politik, die mir beliebt. Ich habe mir eine Stellung geschafft. Daß ich eine solche in den Reihen Ihrer Gegner, respektive der Gegner Ihres Bluts- und Namensvetters, suchte und fand, war natürlich. Denn diese Gegner bekämpfen nicht nur Ihr Regiment, Durchlaucht, sondern Sie selbst als Repräsentanten einer ihnen aufgedrängten fremden Dynastie.«

»Sie vergessen, daß ein Plebiszit die Wahl der Volksvertretung gutgeheißen hat, Herr Deputierter.«

»Nicht ich allein, Durchlaucht, sondern die Mehrzahl des Volkes weiß, wie dieses Plebiszit in Szene gesetzt worden und zustande gekommen ist.«

»Sie vergessen ferner, daß meine Wahl gleich der meines Vorgängers unter der Protektion Rußlands erfolgte – und man sagt, daß Ihre ›Volksstimme‹ auch von russischem Gelde gespeist werden soll.«

»Man sagt vieles, was nicht wahr ist, Durchlaucht ...«

Emich schwieg einen Augenblick und spielte mit dem Federmesser, das er vom Tische genommen hatte.

»Gleichviel, Herr von Polzien,« begann er von neuem, den Kopf mit kurzem Ruck in den Nacken werfend und den Blick voll auf den vor ihm Stehenden heftend. »Die Tatsache, daß auch Sie auf Ihre Weise den Interessen des Landes zu dienen hoffen, genau so wie ich, steht fest. Sie haben es mir bestätigt. Und im Interesse des Landes, dem wir beiden Deutschen nunmehr angehören, das unsre neue Heimat geworden ist, schlage ich Ihnen vor, Ihren Frieden mit mir zu machen. Stellen Sie das Land über die Person; begraben Sie Ihren Haß. Sie sind ein Mann von bedeutenden Fähigkeiten, der meines Erachtens irrig auf falsche Wege geführt worden ist. Ich bin bereit, Ihnen den Staatsdienst zu öffnen, damit Sie erkennen lernen können, in welcher Weise die Maschine der Regierung zum Besten des Volkes arbeitet. Ich will keinen Fürstendiener aus Ihnen machen und Ihnen die Freiheit Ihrer Meinung nicht verkümmern. Aber ich möchte Sie lehren, gerecht zu urteilen und unbeeinflußt von Instinkten, die – wenn sie auch tief in der Menschennatur begründet liegen – jedenfalls schlechte sind ...«

Polzien war weiß geworden im Antlitz. Unwillkürlich senkte sich sein Blick. Er war fassungslos geworden. Alles andere hatte er erwartet – das nicht. Er blieb lange stumm. Was mochte in seiner Seele vorgehen? Vielleicht stiegen da allerhand glänzende Bilder empor, von einem raschen Höhenflug, einem gewaltigen Sturmschritt über hunderte von Unterliegenden hin fort; vielleicht sah er sich schon auf dem Ministersessel – auch der alte Veresco hatte dem Tode seinen Tribut zu zahlen, und dann war er der allein Herrschende ... Er machte eine Bewegung nach vorn – und hob den Kopf und schaute den Fürsten an. Ein fast unmerkliches, ganz feines Lächeln huschte um den Mund Emichs. Aber Polzien bemerkte dieses Lächeln – und plötzlich färbte sich sein Gesicht dunkel, und ein Ausdruck abscheulichen Hohnes trat auf seine Züge. Die Linien auf seiner Stirn verdickten sich zu schweren Falten, und das Auge sprühte wieder den alten Haß. Der Gedanke, der ganz plötzlich in ihm aufgezuckt war: das Mißtrauen gegen die Worte des Fürsten, verstärkte diesen Haß zu einem Aufruhr aller Gefühle. Er dachte wieder an Seesenheim zurück – und er hätte Emich mit der Faust niederstrecken können.

»Nun –?« fragte der Fürst gedehnt. »Nehmen Sie die Hand an, die ich Ihnen reichen will – nicht ich als Schöningh, sondern als Regent von Illyrien?«

Da richtete sich Polzien schroff empor und erwiderte:

»Nein, Durchlaucht, ich danke. Ich lasse mich nicht einfangen!«

Eine helle Flamme schlug über Emichs Gesicht. Er vermochte sich dieser Brutalität gegenüber nur mühsam zu beherrschen.

»Das heißt: es bleibt alles wie zuvor?«

»Genau so!«

Der Fürst wandte sich um.

»Es ist gut. Ich danke Ihnen ...«

Im Vorzimmer schlug hell klirrend die Klingel an. Am elektrischen Apparat fiel die Klappe mit dem Aufdruck »Adjutant« nieder. Mac Lewleß eilte in das Arbeitskabinett des Fürsten.

»Durchlaucht befehlen?«

»Ich möchte sofort den Polizeidirektor sprechen! ...«

Mac Lewleß sandte einen Kurier nach der Präfektur. Sein Gesicht zeigte einen bekümmerten Ausdruck: es war das erstemal, daß Fürst Emich nach der Polizei schickte.

Der Fürst hatte den neuen Kasernenbau inspiziert und fuhr nun nach der Stadt zurück, über die stattliche Brücke, die die grünen Wasser des Sareb überspannte und dann den breiten Boulevard hinab, der nach dem Parlament führte. Major Mac Lewleß war des Fürsten einziger Begleiter; auf dem Bock saß neben dem Kutscher noch einer der Leibjäger; zwei Heiducken sprengten dem Wagen voran.

Auf Straßen und Plätzen drängte sich das Volk. Eine bunte, tausendköpfige Masse: zwischen Herren und Damen in modernsten Pariser Kostümen Arnauten mit einem Arsenal schlechter Waffen im Gürtelbund, Griechen in ihrer malerischen Nationaltracht, türkische Juden in blauen Kaftanen, Grenzbosniaken in zerlumpten Fellkotzen, Armenier, Drusen, Mingrelier, Zigeuner, Weiber im Yaschmak und in Pumphosen, verschleiert und unverschleiert – alles das wogte in buntem Gewühl durcheinander, eine Begegnung des Morgen- und Abendlandes, wie man sie in den meisten großen Städten des Balkans findet, ein riesenhafter schimmernder Farbenfleck.

Wo der Fürst sich zeigte, wurde er lebhaft begrüßt. Seine rechte Hand lag fast beständig am Käppi, und als er über den Blumenmarkt fuhr und ein niedliches illyrisches Kind ihm einen Buschen Rosen in den Wagen warf, da lächelte er freundlich und nickte dankend zurück, und ein vielstimmiges, brausendes »Za–ó«, der Hurraruf des Landes, scholl ihm nach.

Im Parlament hatte die Sitzung soeben begonnen, als Emich in die Fürstenloge trat. Sie lag der Ministertribüne gegenüber und war durch einen Purpurvorhang geschützt, hinter den der Besucher sich jederzeit zurückziehen konnte. Dennoch war das Kommen des Fürsten sofort bemerkt worden; die Glocke des Präsidenten gab das dreimalige Zeichen, und die gesamten Insassen des Hauses erhoben sich zum Gruß. Emich verneigte sich von seiner Loge aus und nahm dann wieder Platz.

Von hier aus überschaute man das ganze Haus, das trotz seiner Neuheit und der Marmorverkleidung der Wände einen kahlen und fröstelnden Eindruck machte. Doch die Menge der Anwesenden belebte es nicht nur, sondern gab ihm auch farbige Stimmung – gleich der Welt draußen, die über Straßen und Plätze flutete. In der Ministerloge fehlte die ragende Gestalt des alten Veresco; man sah das verkniffene und gallige Gesicht des Finanzministers über die Balustrade lugen, daneben den grauweißen Schnauzbart des Kriegsministers und das glatte Diplomatenprofil des Staatssekretärs Baron Porohyle. Unten war Platz an Platz besetzt. Auf den Zuschauertribünen dichtes Gedränge; in vorderster Reihe leuchtende Damentoiletten. Auch in der vollbesetzten Loge für das Corps diplomatique sah man einige Damen – und ganz vereinzelt auf einer Art Ehrenplatz eine sehr alte Frau, die aber überall dabei sein mußte und sich einer schier beispiellosen Popularität erfreute: in schwarze Seide gekleidet, mit Witwenschneppe und wallendem schwarzen Schleier, doch mit Brillanten übersät. Das war die Herzogin von Kjurça, der letzte lebende Sprößling jenes heldenmütigen Schafhirten, dessen gewaltige Faust einst den Halbmond niederwerfen half. Der Herzogin erwies man die gleichen Ehren wie dem regierenden Fürsten, und auf allen Hoffesten bei dem unverheirateten jungen Herrscher spielte sie die dame d'honneur, die die weiblichen Besucher empfing. Emich hatte einen großen Respekt vor ihr, denn die Enkelin des tapferen Schafhirten war von einer vernichtend zeremoniösen Steifheit, der auch ihr chronischer Stockschnupfen nicht Abbruch tat.

Durch das Haus ging von Anbeginn an jene gewitterschwangere Stimmung, die auf etwas Gewaltiges und Unerhörtes hindeutet. Man wußte nichts von jenem Ministerrate, der bis Mitternacht im Palais versammelt gewesen war. Aber man wußte, daß dieser heutige Tag die Entscheidung darüber bringen sollte, ob die Nationalpartei gänzlich auf die Seite der Linken treten würde oder nicht. Der Führer der Opposition, der Deputierte Polzien, schien durch den heiteren Triumph, der auf seinen Zügen lag, bestätigen zu wollen, was man sich allseitig zuraunte: daß eine völlige Verschiebung der parlamentarischen Verhältnisse in Aussicht stand. Auch er hatte sich beim Eintritt des Fürsten erhoben, aber ein wilder Blick flog dabei zur Loge hinauf. Es war klar: dieser kleine preußische Leutnant dort oben hatte gehofft, ihn ködern zu können, um dem drohenden Schicksal der heutigen Tagung eine andere Wendung zu geben.

Eine Reihe unerheblicher Anträge leitete die Sitzung ein. Dann kam der Antrag der Nationalpartei an die Reihe. Der Finanzminister erhob sich zum Wort. Man erwartete, er werde nochmals seine alten Gründe für Beibehaltung des bisherigen Steuersystems unter Drohen, Bitten und Schmeicheleien nach rechts und links wiederholen. Die allgemeine Aufmerksamkeit war denn auch anfänglich sehr geteilt. Aber ganz plötzlich trat tiefe Stille ein, eine fast lautlose Stille. Die Hälse reckten sich – aller Augen wandten sich dem Sprechenden zu ... Polzien schnellte von seinem Sitz empor. Fassungslos und totenbleich starrte er den Minister an. Hölle und Teufel, was sprach der Mann?! – Gleichmäßig, in wohlgesetzten schönen Worten, wie ein durch üppige Ebenen strömender Fluß, glitt die Rede dem Minister von seinen Lippen. Man habe in gemeinsamen Konferenzen nochmals das gesamte Material geprüft und sei auf Grund dieser Prüfungen zu entgegengesetzter Ansicht gelangt als vordem. Und man scheue sich auch nicht, den Irrtum von früher ruhig einzugestehen ... Mit eleganten Wendungen und großer rednerischer Kunst – denn er war ein Meister des Worts – erwog der Sprecher noch einmal in allen Einzelheiten das Für und Wider des Antrags, um ihn schließlich in einigen kräftigen Schlußsätzen auf das wärmste zu unterstützen.

Und nun brach der Sturm los. Gewettert hatte es schon lange genug vorher. Jeder im Hause wußte: dem Fürsten allein war dieser unerwartete Gesinnungsumschwung zu danken: der Fürst hatte seinen Willen durchgesetzt, war dem Minister gegenüber Sieger geblieben. Die Zaó-Rufe brausten und donnerten zur Loge empor. Man winkte mit Taschentüchern und Hüten; die Damen ließen ihre Schleier wehen, und die alte Herzogin von Kjurca stieß als Zeichen des Beifalls mit rhythmischer Bewegung ihren Krückstock auf den Boden. Sie war ahnungslos, um was es sich eigentlich handelte, aber sie beteiligte sich trotzdem begeistert an der Ovation. Sie mußte immer dabei sein.

Emich hatte das Haus verlassen. Doch draußen setzten die Kundgebungen sich fort. Im Sturme hatte sich die Nachricht von dem Siege der Nationalen in der ganzen Stadt verbreitet, und die abenteuerlichsten Glossen dazu wurden lautbar. Im türkischen Viertel, wo man nach Lazzaroniart auf offener Straße zu leben pflegte, kam es zu Aufläufen und Zusammenrottungen, und als gegen ein Uhr der suevische Gesandte nach dem Palais zur Audienz fuhr, wurde er von den Volksmassen mit Hohngeschrei begrüßt; denn man wußte, daß die Frage des Natschali-Passes, an der Suevien seit drei Jahren herumzerrte, wieder aufgenommen werden sollte. Vor der Redaktion der »Volksstimme« gab es sogar blutige Köpfe. Polzien hatte sich in seinem wütenden Grimm zu beleidigenden Äußerungen gegen den Fürsten hinreißen lassen. Das wurde ruchbar, und gerade heute war die Menge, die sich sonst gern von dem gewandten Agitator ins Schlepptau nehmen ließ, nicht in der Stimmung, eine Verunglimpfung ihres Herrschers zu dulden. Man warf Polzien die Fenster ein; in seinem Hause kam es zu einer greulichen Katzbalgerei.

Nun hatte Herr Novokowicz, der Polizeidirektor, Gelegenheit, kräftig einzuschreiten. Ihm war der Befehl zugegangen, die Papiere Polziens mit Beschlag belegen zu lassen. Es ließ sich kaum daran zweifeln, daß sich in ihnen genügend Material für eine Rechtfertigung der Ausweisung des gefährlichen Demagogen vorfinden würde. Der Krakeel vor dem Hause der »Volksstimme« kam Novokowicz außerordentlich gelegen. Ein ganzer Schwarm von Polizisten vertrieb die Menge, umzingelte das Haus und besetzte die Redaktion. Polzien selbst wurde vorläufig unter der Anklage der Fürstenbeleidigung und des Versuchs landesverräterischer Umtriebe in Haft genommen. Bei seiner Abführung mühte er sich, zum Volke zu reden; aber die Stimmung war so gründlich umgeschlagen, daß nur seine Wächter ihn vor Prügeln retten konnten. Gegen Abend änderte sich abermals die Situation. Die Freunde Polziens hatten in aller Eile, aber mit großem Geschick, einen Putsch arrangiert. Als der Fürst von seinem Besuche im Paulinenhospital zurückkehrte, wogten drohende Volksmassen durch die Straßen, und die Rufe »Polzien freilassen!« wurden laut. Die Agitatoren der Opposition hatten an den Kais, in den Stadtvierteln jenseits des Sareb, in den Höhlen des Elends ganze Haufen von Gesindel, meist Armenier und Italiener, aufgestöbert, Gold unter ihnen verteilt, sie halb betrunken gemacht und dann mit kurzer Instruktion auf die Boulevards und die Esplanade gejagt. Hier kam es nun zu neuen Schlägereien. Gegen sechs Uhr wurde der Tumult so bedrohlich, daß die Kräfte der Polizei nicht mehr ausreichten. Die Heiduckengarde wurde mobil gemacht; das Leibgarde-Infanterie-Regiment folgte. Aber kein Schuß fiel; im Nu wurden die Straßen gesäubert, und unter Geheul und Gejohle kroch das Gesindel in seine Löcher zurück. Und als dann unerwartet der Fürst zu Pferde, nur von seinem Adjutanten begleitet, auf der Esplanade erschien und langsam den Boulevard bis zur Sarebbrücke hinabritt, da begann der Jubel von neuem. Auf der Esplanade waren schon mit Beginn der Dämmerung einige Fenster illuminiert worden. Das wirkte wie ansteckend. Immer mehr Lichter tauchten hinter den Scheiben auf, bis schließlich der ganze Platz in hellem Glänze schwamm. Es war seltsam genug: Garica feierte seinen Fürsten und zugleich damit eine Blamage des Ministeriums.

Aber Emich rehabilitierte dies arme besiegte Ministerium glänzend. Er sparte auch nicht mit dem wohlfeilen Balsam der Ordensdekorationen und richtete an den glattzüngigen Leiter der Finanzen ein huldreiches Handschreiben, das die offiziöse Zeitung Garicas, die merkwürdigerweise den Titel »Die Wahrheit« führte, an erster Stelle und mit mächtigen Lettern wiedergeben mußte.

Trotz der Unruhe des Tages vergaß Emich nicht sein Versprechen, am Abend die Sommeroper zu besuchen. Der Direktor hatte seit langer Zeit wieder einmal ein ausverkauftes Haus. Beim Eintritt des Fürsten gab es neue Ovationen; die Musik mußte die Nationalhymne spielen – es währte wohl eine halbe Stunde, ehe der Stunn der Begeisterung sich legte und die schöne Carmen mit ihrem Torero zu schäkern beginnen konnte.

Nach dem zweiten Akt entstand eine leichte Bewegung im Parterre. Man hatte gesehen, daß der Fürst sich erhoben und einem großgewachsenen Herrn in Zivil, der in die Loge getreten, mit ausgestreckter Hand entgegengeschritten war. Und man zerbrach sich den Kopf, wer dieser Fremde sein könne.

»Sassenhausen ist soeben eingetroffen, Durchlaucht«, flüsterte der Adjutant dem Fürsten zu. »Darf er herein?«

Sassenhausen stand bereits in der Logentür.

»Untertänigsten guten Abend, Durchlaucht«, sagte er, sich respektvoll verneigend. »Ich bitte zunächst um Vergebung, daß ich es wage, in Reisezivil zu erscheinen.«

»Schon gut, schon gut«, fiel der Fürst ein; »nebenan, wenn ich bitten darf – ich bin sehr begierig –«

Er drängte Sassenhausen in das kleine Kabinett neben der Loge, in dem bei Gala-Abenden der Tee eingenommen wurde.

»So, Saß,« sagte er, »hier sind wir ungestört. Nun sprich!«

»Durchlaucht, ich bin glücklich, vermelden zu können, daß alles ganz über Erwarten gut abgelaufen ist«, begann Sassenhausen seinen Bericht. »Sowohl der Kaiser als auch der Erzherzog kamen mir mit so liebenswürdiger Offenheit entgegen, daß ich mich ohne weiteres meiner diplomatischen Enthaltsamkeit entäußern konnte. Es scheint, daß man der Verbindung nicht nur wohlwill, sondern sie sogar zu fördern sucht – vermutlich, um den russischen Einflüssen an der bosnischen Grenze etwas stärker entgegentreten zu können. Wie die Öffentlichkeit, so soll auch Erzherzogin Marie von der Affäre noch nichts wissen; ich glaube, sie hatte da – sie hatte da eine leichte Herzensneigung für einen Offizier der Esterhazy-Kürassiere gefaßt, und diese Backfischtorheit soll sich zunächst einmal verbluten. Im September besucht sie den königlichen Hof von Rumänien – – über das Weitere habe ich bereits dem Marquis Veresco berichtet ...«

Der Fürst schaute auf die Spitze seines auf- und niederwippenden rechten Fußes.

»Nun – und die Erzherzogin selbst?« fragte er. »Wie sieht sie aus –?«

»Oh,« rief Sassenhausen emphatisch und hob die Hände, »das ist ein süßer Fisch – tausendmal Verzeihung, Durchlaucht, daß ich mich hinreißen ließ – ein geradezu entzückendes junges Mädchen! Zierlich, fein, graziös, mit allerliebstem Gesichtchen – blond und mit so niedlichen Zauslöckchen über der Stirn –«

»Also ganz dein Geschmack, Saß«, sagte der Fürst lächelnd. »Für die Zauslöckchen warst du ja immer ... Hast du nicht wenigstens eine Photographie der Prinzessin mitgebracht?«

»Nein,« entgegnete Sassenhausen verblüfft, »daran hab' ich weiß Gott nicht gedacht! Aber ich will sofort telegraphieren –«

»Um Himmels willen!« fiel der Fürst ein; »das würde unnütz Aufsehen erregen. Wozu auch? – Im Gegenteil: ich will ihr Bild nicht sehen! Hörst du, Saß? ich will nicht. Ich – ich – nimm an, ich will mich überraschen lassen!«

»Durchlaucht, sie ist entzückend – ich wiederhole es ...« Und plötzlich ergriff Sassenhausen des Fürsten Rechte und fügte hinzu: »Emich, wär' sie es nicht – wär' die Prinzessin ein Greuel gewesen – bei Gott, ich hätte gleich wieder kehrtgemacht und einem andern die Mission überlassen! ... So aber bin ich stolz: eine liebreizende Fürstin und den Kanal von Bosnia in Aussicht – das hätte kein Diplomat besser machen können!« Der Fürst lachte wieder.

»Du bekommst deinen Orden auch noch nachträglich, mein Alter«, sagte er. »Und bei deinem nächsten Kinde bitte ich um die Ehre, Pate sein zu dürfen. Aber, Saß, daß du mir deiner kleinen Frau nichts sagst! Hast du ihr etwas mitgebracht?«

»Ja,« erwiderte Sassenhausen mit glücklichem Gesicht und zog ein Etui aus der Tasche, »ein Armband! Eigentlich sollt's eine Perlenschnur sein, aber die war mir zu teuer. Gott, was bin ich vernünftig geworden!«

»Zeit war's, Saß – bleib so! ... Die Oper fängt wieder an. Grüß' deine Frau und hab' schönen Dank! ...«

Er drückte Sassenhausen die Hand und kehrte in seine Loge zurück. – –

Auch in dieser Nacht blieb der Fürst noch lange auf. Er saß in seinem Arbeitszimmer und überdachte die Geschehnisse des Tages: den Sieg, den er durch seinen Herrenwillen zum Besten des Volkes erfochten, die Begeisterung, mit der man die Wirkung seines Machtwortes aufgenommen hatte, den Bericht Sassenhausens ... Und dann nahm er aus einem der letzten Fächer seines Schreibtisches, da, wo seine Privatpapiere lagen, eine Photographie und hielt sie in den Lichtkreis der Lampe. Es war das einzige Bild, das er von Ruth besaß, und das sie ihm geschenkt hatte, als er nach dem Leutnantsexamen »auf die Weide« nach Stenzig gekommen war. Es stellte Ruth als ein ganz junges Mädchen dar, in ihrer ersten Hoftoilette, derselben, in der Emich sie auf jenem Feste zu Ehren des Schahs von Persien im Berliner Schlosse gesehen hatte. Das Bild war gut und noch nicht verblaßt. Emich betrachtete es lange, und Wehmut trat in sein Auge. Er fühlte, daß nichts von seiner heißen Liebe zu dem schönen Mädchen zurückgeblieben war als ein Rest redlicher Zuneigung, ein Empfinden, das vielleicht nur noch freundschaftlich war. Und das stimmte ihn wehmütig und doch zugleich froh – nun, da die Politik ein Opfer seines Herzens verlangte. Dies Herz war frei und gewillt, das Opfer zu bringen. Aber noch ein anderes Opfer war da: die kleine blonde Wiener Prinzessin, die sich die hübschen Augen rot weinen mochte, weil sie ihrem geliebten Leutnant entsagen mußte.

Emich legte das Bild Ruths wieder in den Schreibtisch zurück. Wer konnte sagen, ob er an ihrer Seite nicht dennoch glücklicher geworden wäre als in der Zwangsehe, die ihm bevorstand?!

Niemand ist Herr, jeder ist Knecht.


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