Fedor von Zobeltitz
Besser Herr als Knecht
Fedor von Zobeltitz

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III

Als Schöningh am nächsten Morgen, wieder in Zivil, im Coupé saß und noch einen letzten Blick aus dem Fenster auf die öde und ungemütliche Halle des Ostbahnhofs warf, sah er einen langen Herrn den Zug hinabschreiten und spähend in die Waggons schauen. Zu seinem Erstaunen erkannte er Herrn von Rietzow.

Nun sah Rietzow auch ihn, lüftete seinen Zylinder und trat an das Coupé heran, Emich die Hand reichend.

»Dritter Klasse –?« sagte er. »Sakri, wie schlicht bürgerlich! Wenn das Ihr Ohm, der Fürst, wüßte!«

Schöningh lachte.

»Herr von Rietzow, Sie glauben wohl, mein Onkel in Stubbach sei so eine Art Schreckgespenst für mich! Ich fahre dritter Güte, weil ich auf ein Militärbillett reise. Das nehme ich mit. Unter uns gesagt: der Abschied von Berlin hat mir die Taschen geleert.«

»Aber, liebster Graf, ein Wort hätte doch genügt –«

»Davon bin ich überzeugt, Herr von Rietzow. Aber ich sehe nicht ein, weshalb ich mein Staatsbillett unbenutzt in die Tasche stecken soll. Übrigens sitzt es sich hier ganz gut; Sie sehen, ich bin sogar allein ...«

Die Lokomotive pfiff. Herr von Rietzow eilte mit langen Schritten neben dem sich langsam in Bewegung setzenden Zug her.

»Also die Hauptsache,« sagte er, »– weshalb ich herkam. Ich möchte keine Mißverständnisse hervorgerufen haben, lieber Emich. Was ich da gestern mit Ihnen sprach, bleibt unter uns – nicht wahr?«

»Wenn Sie es wünschen, selbstverständlich, Herr von Rietzow –«

»Ja, mir liegt daran. Die Leute sollen nicht glauben, daß ich... Die Leute verkennen oft die besten Absichten... Also nichts weiter darüber!... Grüßen Sie schön in Stenzig! Und auf baldiges Wiedersehen!... Addio, liebster Schöningh!...«

Der Zug sauste aus der Halle hinaus ins Freie. Emich lehnte sich auf die harte Bank zurück, die ihn nicht drückte. Das Kadettenkorps hatte ihn nicht verwöhnt. Der Kottauer amüsierte ihn. Rietzow hatte es wahrscheinlich mit der Angst bekommen, daß Wiegel ihn stellen würde. Denn ein so eifriger Katholik Rietzow war, ein so strenger Protestant war Wiegel. Der Graf hatte sich alle Mühe gegeben, seine Gattin als junge Frau zur Konversion zu bewegen, aber obwohl Gräfin Irmela in geistlichen Dingen ziemlich liberal dachte, hatte sie sich doch nicht zu einem Übertritt entschließen können. Sie wollte die Freiheit ihrer Seele bewahrt wissen.

An dem geöffneten Fenster glitten in rasender Hast, auf und nieder steigend, die Drahtlinien der Telegraphenleitung vorüber. Der Apriltag brachte die ersten Grüße des erwachenden Frühlings. Überall in der Natur lichtgrüne Flecken im Sonnenschein. Auf den Wiesenniederungen sproßte junges Gras, und im Buchenwalde brachen die Knospen auf. Auf dem satten Blau des Himmels schwammen ein paar vereinzelte schneeweiße Wolken; ein warmer Odem, würzig durchtränkt vom Duft der lenzfeuchten Erde, quoll zum Fenster hinein.

Emich war noch todmüde von gestern. Er streckte sich auf der Bank aus, rollte seinen Mantel als Kopfkissen zusammen und versuchte das Manko der Nacht nachzuholen. Und es gelang ihm auch. Das Dröhnen der rollenden Räder in seiner rhythmischen Gleichförmigkeit war sein Schlummerlied.

Er schlief stundenlang. Als er wieder aufwachte, sah er, daß die Bank ihm gegenüber dicht besetzt war. Es waren einfache Leute, die da Platz genommen hatten, aber keiner hatte ihn gestört.

Er richtete sich auf und strich das Haar aus der Stirn.

»Sind wir schon hinter Kreuzwalde?« fragte er.

Ein alter Mann antwortete ihm:

»Schon lange. Die nächste Station ist Krugdorf.«

»Donnerwetter,« fluchte Emich, »da muß ich ja meine Siebensachen zusammensuchen!«

Der Alte gegenüber sah ihn schärfer an.

»Wollen Sie denn auch nach Krugdorf?« fragte er.

»Ja, – und dann weiter nach Stenzig.«

»Auch –? Sie woll'n wohl den Oberförster besuchen?«

Schöningh nickte lächelnd. »So etwas Ähnliches«, entgegnete er ausweichend.

Der Alte schloß seine Tabakspfeife, überlegte ein Weilchen und meinte sodann:

»Wenn Ihnen der Oberförster einen Wagen an die Bahn geschickt hat, könnten Sie mich eigentlich mitnehmen, junger Herr. Ich habe bloß ein kleines Bündel bei mir und wiege nicht schwer.«

Schöningh betrachtete die knochige Gestalt und das faltenzerrissene lederfarbige Gesicht des Greises und nickte zustimmend.

»Gut – ich nehme Sie mit. Woll'n Sie zum Grafen Wiegel?«

»Ja – das heißt, nicht zum Herrn Grafen selbst. Aber mein Jüngster ist Diener bei ihm und soll jetzt zum Militär. Da möcht' ich ihn noch mal besuchen!«

Emich machte die Unterhaltung Spaß.

»Wie heißt er denn?« fragte er; »vielleicht kenn' ich ihn.«

»Franz Evert heißt er, aber er wird Bob genannt, weil der Kammerdiener des Herrn Grafen schon Franz heißt.«

Emich entsann sich des Burschen, eines aufgeweckten Jungen, der für den kleinen Dienst in Stenzig verwandt wurde.

»Gewiß kenn' ich ihn«, sagte er. »Also der Bob soll zum Militär?«

»Ja, junger Herr, zu den Kürassieren nach Klempin. Wenn ihn der Herr Graf nach seiner Entlassung bloß wieder annehmen wollte! Es ist heuer so schwer, einen passenden Dienst zu finden.«

»Da gefällt sich der Bob also in Stenzig?«

»O ja – er gefällt sich ja soweit. Der Herr Graf ist ein ganz guter Herr, bloß'n bißchen geizig. Er zählt alles nach. Und auf Ordnung hält er auch sehr. Es muß alles immer klappen und wie am Schnürchen gehn. Die Frau Gräfin soll die beste sein. Aber gegen das Fräulein Komtesse läßt sich auch nichts sagen; so etwas hochfahrend gegen die armen Leute ist sie freilich. Und dann kommt noch mannigmal ein Kadett nach Stenzig zu Besuch, ein Neffe des Herrn Grafen – das scheint ein Taugenichts zu sein. Der sitzt am liebsten auf den Bäumen und schießt nach den Krähen und reitet die Ponys zuschanden. Und für den möchte der Franz oder Bob, wie sie ihn nu' mal nennen, durchs Feuer gehen! ...«

Es war gut, daß es pfiff. Aus dem Birkenwald tauchte das Stationshaus von Krugdorf auf. Ein junger Mensch in der Wiegelschen Hauslivree rannte über den Perron und blieb vor der ersten Wagenklasse stehen.

Emich hatte die Coupétür bereits geöffnet.

»Hierher, Bob!« rief er. »Noch immer dritte Klasse!«

Der Diener raste, sich über das ganze Gesicht freuend, herbei.

»'n Tag, Erlaucht«, sagte er. »Haben Erlaucht sonst noch Gepäck?«

»Ja – ein Köfferchen. Hier hast du meinen Gepäckschein. Aber erst sage gefälligst deinem alten Vater guten Tag, dann woll'n wir weiter miteinander reden.«

Der Greis kletterte aus dem Wagen.

»Gnäd'ger Herr Graf,« stammelte er, »Erlaucht – wenn ich – wenn ich hätte wissen können, daß Erlaucht der junge Herr Graf sind, dann hätte ich mein altes Maul gehalten ... Nehmen Sie mir's nur ja nicht von Übel – wie konnte ich mir's denn vorstellen, daß Erlaucht auch dritter Klasse fahren würden –«

Emich lachte. Aber der alte Mann wollte sich durchaus nicht beruhigen, und als auch Bob allerhand Entschuldigungen für seinen Vater vorzubringen begann, wurde er unwillig, hielt sich die Ohren zu und schrie: »Nun laßt mich gefälligst in Ruhe!«

Und dann eilte er, während der Zug weiterbrauste, hinter das Stationsgebäude, wo Komtesse Ruth ein hübsches Rappengespann zügelte. Sie saß auf dem hohen Vordersitz eines eleganten Kabrioletts und schien schlechter Laune zu sein, denn ihr Gruß an Emich klang ziemlich kurz und frostig.

Emich merkte die Verstimmung seiner schönen Cousine wohl. Er schwang sich zu ihr auf den Bocksitz und setzte sich ziemlich dicht neben sie.

»Pardon, Ruth,« sagte er, »wir müssen ein bissel zusammenrücken. Ich habe dem Vater Bobs versprochen, ihn mit nach Stenzig zu nehmen.«

»Wen –?« fragte die Komtesse gedehnt.

»Den alten Evert, den Vater Bobs. Er war mein Reisegefährte. Ich bin nämlich dritter Klasse gefahren – mein Militärbillett gestattete mir keine höhere Nummer!«

Ruth antwortete zunächst gar nicht. Sie schüttelte nur den Kopf. Aber als Evert mit seinem Bündelchen in der Hand hinter der Station erschien und Emich Bob zurief, dem Alten auf den Wagen zu helfen, glitt eine helle Röte über ihr Gesicht, und um die stolzen Lippen zuckte es ärgerlich.

»Ich möchte dir keine Blâme bereiten, Emich«, sagte sie leise, ihren Kopf ein wenig zu ihm hinüberneigend. »Also bleibe es so. Aber du würdest mich doch verbinden, wenn du die Güte haben wolltest, deinen Freund Evert nicht für morgen zum Diner zu laden.«

»Schade,« entgegnete Emich ebenso leise, »das hätt' ich gar zu gern getan. Er ist ein so prächtiger alter Kavalier. Aber dein Wille ist mir Befehl.«

Sonderlich wohl fühlte sich niemand auf dem Kabriolett: Evert nicht, der ängstlich zusammengekrümmt auf seinem Platze saß, und Bob hinter ihm auch nicht. Die Liebenswürdigkeit des jungen Grafen lag wie ein Alp auf beiden. Sie wagten kaum zu atmen und machten verlegene Gesichter.

»Theaterfuhre«, murmelte Ruth und biß sich auf die Lippen. Ihre Peitsche knallte und ringelte sich über den blanken Rücken der Rappen, die schnaubend und die Köpfe werfend ausgriffen. Auch Schöningh hatte ein leichtes Gefühl des Unbehagens, das erst schwand, als man Krugdorf im Rücken hatte und in den Wald einbog.

Man war nun schon auf Stenzigschem Revier. Der Wiegelsche Besitz umfaßte gegen fünfzehntausend Morgen, und da der Graf ein guter Wirtschafter war, so standen Wald, Feld und Wiese in hoher Kultur. Der Wert der Herrschaft stieg alljährlich.

Emich fiel es nicht auf, daß seine holde Nachbarin geflissentlich wortkarg war. Der Wald nahm ihn in Anspruch. Das war sein Revier während der Urlaubszeit. Schon als elfjähriger Junge war er ein leidenschaftlicher Jäger gewesen und hatte nächtelang auf dem Anstand gelegen. So kannte er den Plenterwald in allen seinen Winkeln, Ausläufern und Dämmerungen und in seinem meilenweiten Umfange bis zur Kottauer Grenze. Kannte auch die feuchten Niederungen jenseits der Strebnitzer Furt, das Gehege der Wildsäue und das dicke Röhricht, durch dessen ineinandergeballtes Gespinst sich der Fluß wand – eine Landschaft, wie sie der Spreewald bot, bevölkert von Scharen wilder Gänse und Enten, zum Ärger der Förster, die sich über den mangelnden Abschuß grämten. Denn der Graf selbst war nicht passioniert für die Jagd und auch kein Freund allzu großer Geselligkeit. Ein paarmal im Jahre kamen die Offiziere aus Klempin herüber, um in den Stenziger Forsten aufzuräumen, aber auch dann begleitete Wiegel sie selten in den Wald, sondern überließ das Protektorat gewöhnlich dem Kottauer Rietzow oder seinem Vetter, dem Etatsmäßigen der Kronprinzen-Kürassiere, Major von Blohme.

Der Wagen rollte an einer Försterei vorüber, einem kleinen, von wildem Wein umbuschten Häuschen, an das sich zwischen Drahtgehegen eine Anschonung veredelter Koniferen schloß. Der Förster stand vor der Tür und riß seine Mütze vom Kopf, als er die Komtesse erkannte.

»'n Tag, Griebenow«, antwortete Ruth, und auch Emich grüßte zurück und setzte hinzu: »Morgen abend an der Königseiche, Griebenow! Ich möchte mal Umschau halten ...«

Noch ein kleines Weilchen schwieg die Komtesse; dann kräuselte sich ihr Mund spöttisch und sie sagte:

»Willst du wieder Tag und Nacht im Walde liegen, Emich?«

»Wenigstens dann und wann, Cousine. Ich denke, du wirst nichts dawider haben, zumal du dir aus meiner Unterhaltung nicht viel zu machen scheinst.«

»Sonderlich viel Mühe hast du dir mit dieser Unterhaltung noch nicht gegeben, Vetter.«

»Ich wage nicht recht zu sprechen, solange ich Wolken des Zorns auf deiner gräflichen Stirn sehe.«

»Die Wolken waren sehr angebracht. Wenn du morgen nacht auf den Anstand gehst, findest du vielleicht Zeit, einmal des längeren über die Grenzen der Schicklichkeit und des guten Takts nachzudenken.«

Emich blieb ruhig; er wollte sich nicht ärgern.

»Du bist etwas kratzbürstig, Mademoiselle Ruth,« erwiderte er, »aber ich bleibe trotzdem in Stimmung. Ich bin in glücklicher Laune. In einigen Jahren wird mir die Kadettenkorpszeit vielleicht in sehr angenehmer Erinnerung stehen. Augenblicklich aber komme ich mir vor wie ein Gefangener, der nach langer Haft endlich einmal wieder ins Freie kommt. Der Wald dünkt mich schöner als je. Und diese famose Beleuchtung! Ich glaube, ich hätte Maler werden sollen!«

»Meine auch, daß du den aristokratischen Berufszweigen nicht allzuviel Begabung entgegenbringst«, erwiderte die Komtesse unwirsch.

Emich zog die Brauen hoch und schwieg.

In das Sonnenrot, das durch den Wald glühte, waren die ersten Schatten gefallen und rückten langsam vor. Es wurde Abend. Aber Stenzig war bald erreicht. Schon seit einiger Zeit hatte der Weg sich verbreitert und wurde rechts und links von einem Gatter begleitet. Damit stieg auch der parkmäßige Eindruck; nun tauchte ein Torweg auf, der einen sich quer in den Wald hineinziehenden Drahtzaun durchschnitt; die Baumgruppen lichteten sich und gewährten weite Durchblicke auf frischgrüne Wiesenstrecken; zu den Eichen, Buchen, Birken und Linden trat edleres Laub: Silbereschen, Blutulmen, Christusdorn und echte Kastanien; die vielfach verschlungenen Wege und Pfade waren mit hellem Kies bestreut; hie und da schillerte auch schon das Marmorweiß einer Statue durch die sich mehrenden Boskettanlagen – und bei einer plötzlichen Wendung der Straße sah man am Ende einer Rüsterallee Schloß Stenzig liegen: die große Terrasse mit ihrer Doppeltreppe aus Sandstein und darüber die Fensterfront des Parterregeschosses.

Man hatte den Wagen kommen hören. Aus der Ferne sah Emich dunkle Gestalten auf der Terrasse geschäftig hin- und herhuschen. Ein prächtiger, gelbbrauner Bernhardiner karrierte in gewaltigen Sätzen den Weg hinauf; kläffend folgte eine Teckelmeute. Ein weißes Taschentuch flatterte oberhalb der mit dichtem Moos wie mit einer Patinaschicht bedeckten Karyatide, die die Freitreppe trug: da stand die Tante und winkte und winkte.

»Vorsicht, Ruth!« rief sie. »Diese infamen Köter! Hierher, Montez! Hierher, Dackel, Waldmann, Perzel, Schnauzel, Messerl! August, pfeif doch den Hunden! Franz, daß die Köter die Pferde nicht scheu machen! ...«

Die Pferde ärgerten sich zwar über das sie umtönende Gekläffe, standen aber, als die Komtesse parierte. Mit einem Satz sprang Emich vom Wagen und in die Arme der Gräfin.

»Dickerchen – Allmacht, du rennst mich um!... Noch einen Kuß! Aber nicht so stürmisch! Herr Leutnant, ich gratuliere! Bist ein braver Junge – bist ein braver Junge, mein Dickerchen! Daß du mir nicht durchfallen würdest, wußte ich ja!«

Sie gab ihn weiter an ihren Gemahl. Der konnte nicht anders, sondern mußte auch die Arme ausbreiten und ihn an sich ziehen. Aber er tat es mit Würde. Nicht ein Härchen der graugrünen Favoris geriet dabei in Unordnung, und die helle Weste mit den Streublümchen verschob sich nicht.

»Gratuliere gleichfalls, mein lieber Emich«, sagte er; »hast manches gut gemacht – von früher – hast korrekt gehandelt, mein Junge...« Und sofort wandte er sich an Franz, seinen Kammerdiener. »Die Sachen von Erlaucht in das gelbe Zimmer. Bob soll sich zur Verfügung von Erlaucht halten...« Dann fiel sein Blick auf den alten Evert, der mit vieler Mühe von der Höhe des Kabrioletts geklettert und, immer sein Bündelchen in der Rechten, bescheiden zur Seite getreten war. »Wen hast du denn da mitgebracht, Emich? –«

»Einen Reisegefährten, Papa«, erwiderte Ruth. »Den Vater Bobs...«

Graf Wiegel zog sein Taschentuch und schnauzte sich. Das tat er gewöhnlich, wenn er die Situation nicht zu beherrschen wußte. Er verstand wirklich nicht. Einen Reisegefährten? Den Vater Bobs? – Er schnäuzte sich nochmals.

Bob trat vor. Sein Vater hätte ihn besuchen wollen, und Erlaucht hätten die Güte gehabt, ihn mitzunehmen. Ob er, Bob, seinen Vater nach dem Kruge führen dürfe.

Die Gräfin streichelte Emich die Wangen. Sie fand die Leutseligkeit ihres Dickerchens rührend. Auf dem Gesicht des Grafen aber stritten Ärger und das ersichtliche Bestreben, nicht hart zu erscheinen, um die Palme. Die Wirkung war, daß Wiegel sich zum dritten Male schnäuzte. Und plötzlich schien sich auch Ruth für den alten Evert zu interessieren.

»Die Krugzimmer sind alle feucht«, entschied sie. »Kann Bobs Vater nicht im Schlosse wohnen? Im Souterrain stehen ja ein paar Zimmer leer.«

Seiner Tochter widersprach Wiegel nie. Er nickte, und die Gräfin gab ihre Anordnungen. Ein Viertelstündchen später saß man im sogenannten kleinen Speisesaal beim Abendessen. Es war frisch geworden, und der Graf hatte daher befohlen, Feuer in den Kamin zu legen. Emich fühlte sich sehr behaglich. Trotz aller Kühle des Oheims hatte er Stenzig doch immer als seine zweite Heimat betrachtet; hier war ihm am wohlsten. Es ging noch gerade so »korrekt« zu wie immer. Die Tafel war tadellos gedeckt; es glänzte und leuchtete alles. Der Jäger servierte; Franz hielt sich im Hintergrunde und trat nur vor, um dem Grafen den Tee einzuschenken, den er selbst auf dem Samowar am Nebentische bereitete, denn niemand auf der Welt verstand, wie Wiegel behauptete, die Teebereitung so vollendet wie Franz. Es gab gebackenen Schinken mit Rührei; die Tante hatte es sich nicht nehmen lassen, ihrem Dickerchen zur Ankunft seine Leibspeise vorzusetzen. Und da Emich Appetit hatte, ließ er sich nicht lange nötigen, sondern schlug wacker seine Klinge.

Ruth schaute zu, wie er aß. Sein Appetit war schreckenerregend, aber er aß wenigstens manierlich. Er wußte immerhin mit Messer und Gabel umzugehen. Auch jetzt war Ruth noch ziemlich schweigsam. Dafür sprach die Gräfin ununterbrochen. Sie stellte hundert Fragen an Emich und wollte das Unmöglichste wissen. Wiegel warf nur zeitweilig eine Bemerkung in die Unterhaltung. Er sprach überhaupt nicht gern bei Tisch, weil ihn das in der Beobachtung seiner Diät störte. Er mußte immer etwas Besonderes genießen, das auf kleinen silbernen Schüsseln angerichtet wurde. Jedes Souper schloß für ihn mit sieben Backpflaumen – keiner mehr und weniger.

Nach beendeter Tafel zog man sich noch auf eine Stunde in einen kleinen Salon zurück. Das war die Zeit, wo der Graf sich die Brille aufsetzte, um seine Kreuz-Zeitung zu lesen. Dabei mußte leise gesprochen werden. Die Komtesse empfahl sich gewöhnlich schon ziemlich früh, um auf ihr Zimmer zu gehen. Die Langeweile dieser gemeinsamen Abende machte sie nervös. Gräfin Irmela stickte und pflegte gegen zehn einzunicken. Sobald die Barockuhr auf dem Kamin halb elf schlug, erhob sich Wiegel, küßte seiner Frau die Hand und ging zu Bett.

Heut war es indessen ein wenig lebhafter als sonst. Der Graf ließ sich sogar herbei, einiges Interessante aus der Zeitung vorzulesen.

»Ei, ei,« sagte er und schob die Brille auf die Nasenspitze, um über die Gläser hinwegschauen zu können, »zwischen Rußland und der Türkei scheint es doch etwas zu geben. Das ist eine niederträchtige Gesellschaft da unten. Seit man den Abdul-Aziz um die Ecke gebracht hat, hört der Krakeel im Balkan nicht auf. Jetzt geht es wieder in Illyrien los, das seine Souveränität zurückfordert und Rußland als Schiedsrichter aufruft. Natürlich sitzt da der Ignatieff wieder dahinter! ...«

Emich war aufmerksam geworden. Er erzählte von seinem illyrischen Freunde, dem kleinen Veresco – und das interessierte auch Wiegel.

»Illyrien hat sich schon ein dutzendmal selbständig erklärt und ist immer wieder unter türkische Botmäßigkeit gekommen«, sagte er. »Aber es ist ein ganz schlauer Coup, sich an Rußland heranzuschlängeln. In Petersburg wartet man schließlich nur darauf, auf den Moscheen Konstantinopels das griechische Kreuz aufpflanzen zu können. Der Gortschakoff –«

Und er gab Emich eine belehrende politische Übersicht. Emich hörte anfänglich sorgsam zu, während die Tante in ihrer Sofaecke gemächlich einzunicken begann. Ruth benutzte eine Pause in dem Vortrage ihres Vaters, um gute Nacht zu sagen. Plötzlich wurde auch Emich müde. Der Graf hatte, wenn er sich in längeren Ausführungen erging, eine eigentümlich monotone Sprechweise, die unwillkürlich einschläfernd wirkte. Im Herrenhause wußte man das und bereitete sich darauf vor. Aber auf Emich wirkte es neu. Er blinkte noch einige Zeit mit den Augen und schloß sie dann wie seine Tante. Der Graf sprach weiter; erst als er seine Brille wieder zurechtrückte, ersah er die Wirkung seines Vortrags, schwieg, runzelte die Brauen, ließ Gattin und Neffen aber ruhig weiter schlafen.

Es schlug halb elf. Franz trat leise ein. Die Gräfin erwachte zuerst und räusperte sich. Nun fuhr auch Emich in die Höhe. Er schämte sich so, daß er errötete. Wiegel nickte ihm zu.

»Man merkt, daß du eine lange Fahrt hinter dir hast«, sagte er. »Na – schlaf dich aus! Bring' Erlaucht auf sein Zimmer, Franz, und rufe den Bob!« –

Emich freute sich darüber, daß er wieder sein altes Zimmer in Stenzig bekommen hatte. Es war dies eine Giebelstube mit sehr tiefem Fenster, auf den Gemüsegarten hinausführend und mit einer verschossenen gelben Brokattapete. Bob hatte Emich auf das Zimmer geleitet und wollte ihm beim Auskleiden behilflich sein. Aber Emich verbat sich dies und schickte Bob, nachdem er sich nochmals freundlich nach dessen Vater erkundigt hatte, wieder hinaus.

Bevor er zu Bett ging, leuchtete Emich die Stube ab. Er wollte sehen, ob noch alles am alten Platze war. Das war es. Auch die Bilder von Vater und Mutter hingen noch am gleichen Fleck wie früher, und in dem großen Wandschrank wurden noch immer die gebundenen Jahrgänge der »Fliegenden Blätter« aufgehoben. Das amüsierte Emich. Die »Fliegenden Blätter« waren in der Urlaubszeit stets seine Bettlektüre gewesen. Er nahm einen Band aus dem Schrank und legte ihn auf seinen Nachttisch. Dann ging er zu Bett, streckte sich behaglich aus und wollte soeben zu schmökern beginnen, als es nochmals leise an die Türe klopfte.

»Schon im Bette, Dickerchen?« fragte die Stimme der Gräfin.

»Ja, Tantchen; du kannst ruhig hereinkommen!«

Gräfin Irmela trat ein. »Ich wollte mal sehen, ob hier auch alles in Ordnung ist«, sagte sie, Umschau haltend. »Ich hatte heut Wäsche und konnte mich gar nicht um dein Zimmer bekümmern ... Hast du frisch' Wasser?«

»Ja, Tantchen!«

»Und liegst du auch nicht zu hart?«

»I bewahre, Tantchen!«

»Ist denn die Bettdecke warm genug? Früher strampeltest du dich immer bloß.«

»Jetzt lieg' ich stiller, Tantchen. Ich dreh' mich um und wache morgen in der gleichen Lage wieder auf.«

»Na, dann ist's gut ...« Die Gräfin trat an das Bett heran und sah die »Fliegenden«. Sie lachte. »Das könnt' ich mir denken! Onkel wollte die Bände in die Bibliothek schaffen lassen, aber ich protestierte dagegen. Mein Dickerchen muß doch seine Klassiker behalten ... Aber nun lies nicht mehr so lange, Emich! Um sieben Uhr wird geweckt ... Gott behüt' dich, mein Junge!«

Ihre Hand strich liebkosend über den blonden Scheitel Emichs – eine weiche, liebe und zärtliche Mutterhand.


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