Fedor von Zobeltitz
Besser Herr als Knecht
Fedor von Zobeltitz

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II

Im Hofkalender stand über die Familie Schöningh folgendes:

Schöningh-Stubbach.

(Residenz: Stubbach. – Stammvater: Herbrand Ferdinand Graf von Schüningh, geboren 24. Februar 1608, † 5. März 1658. Erwerbung von Stubbach 1638; Reichsfürst 22. August 1719, bestätigt 3. November 1779).

Herbrand Ferdinand Graf von Schöningh, Fürst zu Stubbach, Freiherr von Griesbergen und Loitz (führt laut Königl. Kabinettsorder vom 6. April 1865 den Titel Fürst von Schöningh-Stubbach), geboren 1. September 1829 zu Stubbach, Sohn des Fürsten Herbrand Leopold und seiner Gemahlin Amalia, geb. Prinzessin von Reitz-Bopfingen; Kgl. Preuß. Oberst à la suite der Armee; Durchlaucht. Vermählt zu Wendhusen 16. September 1855 mit Karoline Adelaide Prinzessin von Wendhusen, geb. 7. Mai 1834, † 16. Juni 1867.

Kinder: 1. Erbprinz Herbrand Heinrich, geb. 8. August 1857 zu Stubbach.

2. Prinz Herbrand Leopold, geb. 26. Juli 1858 zu Stubbach.

Geschwister.

1. † Herbrand Ehrenreich Graf von Schöningh-Stubbach (Erlaubnis zur Führung des Doppelnamens laut Kgl. Kabinettsorder d. 6. April 1865), Herr auf Seesenheim, Kgl. Preuß. Major der Landwehr-Kavallerie, Rechtsritter des Johanniterordens, geb. 11. September 1831, † 27. Juni 1866; vermählt zu Seesenheim 8. Oktober 1854 mit Leontine Camilla Prinzessin von Reitz-Bopfingen, geb. 19. Juli 1832, † 18. Januar 1867.

Kinder: 1. Grf. Herbrand Emich, geb. 7. Oktober 1856 zu Seesenheim, Kgl. Preuß. Kadett; Erlaucht.

2. † Grfn. Leontine Charlotte, geb. 20. Februar 1858, *†23. Juni 1860.

2. Gräfin Irmela Friedrike Agnese, geb. 3. August 1832 zu Seesenheim, vermählt 5. Januar 1850 mit Bolko Augustus Reichsgrafen von Wiegel.

3. Herbrand Hans-Carl, geb. 7. September 1840 (entsagte laut Familien-Übereinkommen von 1864 dem Sukzessionsrecht und dem Grafentitel und führt den Namen Freiherr von Griesbergen ), Kgl. Preuß. Leutnant a. D., vermählt 18. Februar 1867 mit Ermyntrud Leslie, Tochter des Francis Leslie und seiner Gemahlin Kate, geb. Schultze (Hawthorne, Kentucky).


Graf Ehrenreich oder Erich, wie er genannt wurde, hatte als zweitgeborener Sohn des alten Fürsten Leopold Zeit seines Lebens mit Sorgen zu kämpfen gehabt. Zur Herrschaft Sessenheim gehörte ehemals noch das Gut Wallhaide mit seinem prachtvollen Waldbestand und seinen Mergelgruben; aber die Wallhaide war schon lange der Streitpunkt zwischen den Erben des Fürstentitels und der gräflichen Deszendenz gewesen, und schließlich war der schwebende Prozeß endgültig zugunsten des Fürsten Ferdinand entschieden worden. Damit verlor Seesenheim sein Rückenmark, die Kraft der Erhaltung. Graf Erich, der eine arme Cousine, die Prinzeß Leontine Reitz, geheiratet hatte, mußte äußerst vorsichtig wirtschaften, um auf seiner Scholle nicht zugrunde zu gehen. Aber er war ein tüchtiger Landwirt, und so gelang es ihm denn, freilich unter Entbehrungen aller Art, die, wie er selbst zuweilen scherzend äußerte, nicht immer »standesgemäß« waren, die schlechten Jahre zu überwinden und sich über Wasser zu halten.

Schlimmer erging es, wenigstens auf dem alten Kontinent, seinem jüngeren Bruder Hans-Carl. Er war Offizier bei einem Husaren-Regiment, das in einer kleinen Garnison Schlesiens stand, wo man auch mit wenigem ganz vergnüglich leben konnte. Aber Herr Hans-Carl verstand es nicht, so wie der Graf Erich sich einzurichten; er lebte in Saus und Braus, und eines schönen Tages erschien er blaß und gedrückt in Stubbach und erklärte dem Fürsten, nun sei es aus mit ihm, wenn Bruder Ferdinand ihm nicht hilfreiche Hand zu bieten geneigt sei. Vielleicht hätte der Fürst sich dazu verstanden – aber als er hörte, daß Hans-Carl nicht nur Schulden, sondern auch Dummheiten recht ärgerlicher Art gemacht hatte, Dummheiten, die sich mit der Ehre eines preußischen Offiziers und Edelmanns schwer vereinigen ließen, da berief er schleunigst einen Familienrat zusammen. Die Folge war, daß Hans-Carl seinen Abschied einreichte und auswanderte. Der Fürst arrangierte seine Schulden und gab seinem Bruder auch noch ein wohlgefülltes Portefeuille mit auf den Weg; dafür mußte Hans-Carl auf jede weitere Erbberechtigung verzichten und sich verpflichten, den Namen eines Freiherrn von Griesbergen – übrigens ein Familienname – anzunehmen. Hans-Carl sagte zu allem ja, ging über Monte Carlo nach Amerika und ließ nichts mehr von sich hören. Erst später erfuhr man, daß er sich dort mit der Tochter eines reichen Spekulanten verheiratet habe und Minenbesitzer geworden sei. Er schrieb niemals seinen Verwandten, wohl aber ließ er durch ein Hamburger Haus dem Fürsten die Summen zurückzahlen, mit der jener seine Schulden beglichen hatte. Für die Familie existierte er nicht mehr.

Die einzige Schwester des Grafen Erich hatte sich achtzehnjährig mit dem Reichsgrafen Wiegel verheiratet, dem »langen August«. Als Graf Erich bei Langensalza gefallen war und ein Jahr später auch dessen Witwe starb, nahm Gräfin Irmela den verwaisten Emich an Kindesstatt an. Das geschah nicht ganz im Einverständnis mit ihrem Gatten, der es wenigstens durchsetzte, daß Emich baldigst in das Kadettenkorps gesteckt und somit dem Einfluß entzogen wurde, den er etwa auf die aufblühende Komtesse Ruth hätte ausüben können. Emich war dies im Grunde genommen recht: er liebte die Tante, vergötterte die Cousine, hatte aber für den Onkel August immer nur eine heimliche Antipathie übrig. Im hohen Rat der Familie war beschlossen worden, Emich sollte ein paar Jahre aktiv dienen, sich dann reich verheiraten und hierauf erst Seesenheim übernehmen. Denn auf Seesenheim, so behauptete Graf August, ließe sich nur mit großen Kapitalien wirtschaften oder aber man müsse zurückgezogen wie ein Klosterbruder leben, was sich mit dem Namen Schöningh nicht vertrüge. Inzwischen wurde Seesenheim administriert; Wiegel fuhr als Vormund Emichs alle Jahre einmal hinüber, die Rechnungen und den Stand der Ernte zu prüfen, und wenn er dann wieder heim kam, pflegte er den Bericht an seine Frau gewöhnlich in die gleichen Worte zu kleiden: »Auf dem Boden gedeihen nur Kiefernkuscheln, und Kienäppel sind die einzigen Früchte, die da wachsen. Ferdinand ist ein Gaudieb. Hätte er Seesenheim nicht den Buchenwald und die Mergelgruben lassen können? Aber nein – er mußte die Wallhaide auch noch haben! Ein schmutziger Mensch. Ich gönn's ihm, daß er niemals die Generalskandillen kriegt! Ist's nicht ein Skandal? Ein Regierender und nicht mal General! ...«

Emich kam also in das Kadettenkorps: zuerst nach Potsdam und dann in die Hauptanstalt nach Berlin. Er besaß einen regen, anschlägigen Kopf, und das Lernen wurde ihm nicht schwer. Aber er war auch ein ziemlich wilder Bursche, und so ging es denn in seinen Führungsattesten selten ohne Tadel ab. Seine Dummheiten ergrimmten den Grafen Wiegel, dessen drittes Wort »korrekt« war. »Siehst du, Irmela,« sagte er gelegentlich, beim Eintreffen einer Osterzensur Emichs, »ich hab' es gewußt: da steht wieder unter Führung ›mangelhaft‹. Ein junger Edelmann aber hat sich allzeit und immer korrekt aufzuführen. Es schadet nichts, wenn er in der Mathematik ein bißchen zurück bleibt oder mal im Extemporale ein paar Fehler macht. Aber die Aufführung soll korrekt sein. Emich ist neulich einmal bestraft worden, weil er eine junge Katze in seine Schulmappe versteckt und während des Unterrichts hat laufen lassen. Sie ist an der Tafel in die Höhe geklettert und hat den Lehrer heftig erschreckt. Nun frage ich dich im Ernst, Irmela, ist das eines Schöningh würdig? Emich hat die Ausrede gebraucht, es seien Mäuse im Klassenzimmer. Man hat ihn trotzdem ins Loch gesperrt, und das mit Recht. Ein Schöningh im Loch! Wäre dein Bruder Erstgeborener gewesen, so würde Emich den Titel Prinz führen. Und nun bitt' ich dich: ein Prinz, der eine Katze mit in die Schulstube bringt, um sie auf die Tafel klettern zu lassen! Kann man sich da über das Anwachsen der Sozialdemokratie wundern?«

»Mein lieber August,« entgegnete die Gräfin, die die kühnen Schlußfolgerungen ihres Gatten kannte, »ich bin in meiner langen Ehe dahin gekommen, mich über nichts mehr zu wundern, am allerwenigsten über die Sozialdemokratie, die in unsern Angelegenheiten auch gar nichts mehr zu suchen hat. Im übrigen spricht aus deinem scharfen Urteil über Emich einfach deine alte Antipathie gegen die Schöninghs. Du kannst sie nun einmal nicht leiden, und ich glaube, wenn sie nicht allesamt so dagegen gewesen wären, würdest du mich auch gar nicht geheiratet haben«.

»Aber, Irmela, was soll das bloß –«

»Ach was, wir wollen nicht streiten: schließlich hast du mich nun einmal und mußt dich mit mir abfinden. Daß ich mir nicht die Butter vom Brote nehmen lasse, weißt du ja. Und der Emich ist die Butter auf meinem Hausmannsbrote. Ich laß nichts auf ihn kommen. Es freut mich, daß er kein Drücker und Schleicher und Streber und Bücker ist. Er hat in allen Fächern immer Ia und II – da kann er schon mal ein bißchen ausschlagen und sich auch mal ins Loch sperren lassen, was ihm ganz gesund ist und Bebeln mit seinen Sozialdemokraten sehr gleichgültig sein kann, selbst wenn Emich Prinz wäre, was er aber gar nicht mal ist. Das wollt' ich bloß sagen, August.«

»Gewiß, Irmela, du sagst es, aber trotzdem, nimm mir's nicht übel: von Pädagogik verstehst du nicht viel. Ich bin nur gerecht und liebe ein korrektes Verhalten. Die Schöninghs haben sich nicht immer eines solchen befleißigt – ich möchte dich nur an Hans-Carl erinnern, der mit seiner merkwürdigen Schwiegermutter den ganzen Hofkalender verschandelt. Wär' es dir angenehm, wenn dein geliebter Emich auch einmal so endete?«

»Er wird nicht. Hans-Carl hat einen Hofmeister gehabt und noch einen Kaplan dazu. Der eine sollte über sein leibliches Wohl und der andre über seine Seele wachen, und sie haben beide nichts zuwege gebracht. Solange Hans-Carl zu Hause war, tat er scheinheilig und klapperte mit den Augen, und dann kam das dicke Ende nach. Besser, der Emich tobt sich jetzt aus und wird später vernünftig. Warten wir's ab! ...«

Frau Irmela behielt recht: Emich tobte sich aus, und als er in das fünfzehnte Jahr ging und nach Berlin kam, fing er an, vernünftig zu werden. Er bestand das Fähnrichsexamen so glänzend, daß er zur Selekta vorgeschlagen wurde – und nun triumphierte die Gräfin und sagte leuchtenden Auges zu ihrem Gatten: »Na, siehst du, August!?«... worauf dieser ihr mit ihren eigenen Worten entgegnete: »Warten wir's ab!...«


Während der letzten vierzehn Tage vor dem Examen wurde im Kadettenkorps wahrhaftig fieberhaft gearbeitet. Die Offiziers- und Fähnrichs-Examina fielen zusammen; Primaner und Selektaner schlichen mit blassen, übernächtigen Gesichtern auf dem Karreehofe umher, und selbst die Sonntage wurden zur Arbeit benutzt. Man blieb zu Hause; die Konditorei von Josty an der Schloßfreiheit war an diesen Aprilsonntagen gar nicht wiederzuerkennen; in die Kuchenbatterien auf dem Büfett wurden nicht wie sonst gewaltige Breschen gelegt, und die Nachfrage nach Schlagsahne war lächerlich gering...

Jeglicher hatte seinen besonderen kleinen Kummer. Schöningh und Sassenhausen fürchteten sich am meisten vor der fortifikatorischen Prüfung, und der kleine Veresco glaubte an eine Blamage im Terrainzeichnen. Veresco hatte sich seit dem letzten gemeinschaftlichen Pagendienst bei Hofe enger an die beiden anderen angeschlossen. Er lag zwar auf der vierten Kompagnie, aber in den freien Nachmittagsstunden fand man sich gewöhnlich auf dem Karreehofe zusammen, klagte sich die Seele frei und plauderte von der Zukunft.

Die Leutnantsequipierung bildete stets den Hauptpunkt der Unterhaltung. Veresco war reich und hatte keine Rücksichten zu nehmen; auch erforderte seine Equipierung, da er zur Artillerie wollte, an sich schon eine weniger bedeutende Summe als die der beiden zukünftigen Kürassiere, die zudem rechnen mußten. Sassenhausens Vater war zwar ein vermögender Landwirt, hatte aber drei Söhne und zwei Töchter. Bei den Kronprinzen-Kürassieren wurden fünfzig Taler Monatszulage gefordert; damit konnte man in einer kleinen Garnison wie Klempin schon ganz gut leben, wenn auch keine Sprünge machen. Es gab bei den Kronprinzen-Kürassieren übrigens auch Offiziere, die weniger Zulage erhielten und sich doch durchzuhelfen wußten. Der ärmere Adel schickte seine Söhne gern in die Stille von Klempin; das Regiment galt für vornehm und billig, und das war beides viel wert...

Nun stand das Examen dicht vor der Tür. Auf dem Karreehofe tauchten bereits allerhand unbekannte Gestalten auf: ein paar alte Offiziere, denen die Uniform nicht so recht zu Gesicht stehen wollte, und eine ganze Masse Zivilisten, die von den Kadetten mit einer gewissen ängstlichen Scheu betrachtet wurden.

Man wußte Schreckliches von ihnen zu erzählen. Der Greis mit dem verknitterten Antlitz und der weißen Löwenmähne war der Professor Vossius, dem es eine entsetzliche Freude machte, seine Examinanden durch die verzwicktesten Fragen in tödliche Verlegenheit zu bringen. Aber noch viel ärger war der alte Oberstleutnant Schneewisch, der wie ein Nußknacker aussah und in der Taktik prüfte; man war sich einig darüber, daß er die jungen Leute aus reiner Niederträchtigkeit durchfallen ließ. Die Primaner hatten die größte Angst vor dem Mathematik-Examinator, dem Professor Gallenkopf. Das war ein langer, ganz dürrer, merkwürdig eingetrockneter Herr, und wenn er einen Arm erhob, glich er aus der Entfernung einem ungeheuren Wurzelzeichen. Hatte man etwas falsch gemacht, so sagte er es nie, sondern ließ seinen Examinanden in folternder Ungewißheit; bei sehr großen Dummheiten schnupfte er aber und zwar mit eigentümlich heftiger Bewegung. Wenn er seine breite Horndose hervorzog, wurden die Gesichter blaß.

Es gab freilich auch Examinatoren, die man nicht ungern auftauchen sah. Zum Beispiel den Fechtlehrer, Hauptmann von Smolinsky, einen sehnigen kleinen Menschen, der bei jedem Schritt in die Knie knickte und beständig mit den Armen fuchtelte, als wollte er eine Prim oder eine Terz durch die Luft hauen. Und dann vor allem den Tanzlehrer, den berühmten alten Médoc, Königlichen Tänzer und Ballettmeister der Hofoper, bei dem sich das halbe Offizierskorps der Armee in Polka, Walzer und Quadrille geübt hatte; gerade Médoc war sehr beliebt, und wenn des Sonntags ein Ballett im Opernhause stattfand, ging man an die Litfaßsäulen, um nachzusehen, ob Médoc einen asturischen Prinzen zu tanzen oder einen indischen Zauberer zu mimen hatte, und war dies der Fall, so besetzte man zu Haufen das Parkett und klatschte ihm rasenden Beifall. Darüber freute sich der alte Médoc gewöhnlich so, daß er den Kopf verlor und das ganze Ballabile in Unordnung brachte, und Herr von Hülsen in seiner Eckloge freute sich auch über die enthusiastischen Kadetten.

Das Examen dauerte mehrere Tage. In den Pausen tauschten Schöningh, Sassenhausen und Veresco ihre Ansichten aus. Sie waren guten Muts; im allgemeinen war alles prächtig gegangen. Der letzte Tag brachte nur noch die Prüfung in unwichtigeren Disziplinen und als Abschluß des ganzen Examens die Tanzvorstellung des Herrn Médoc im Feldmarschallsaal. Das war die Krönung des Werks. Bei dieser Gelegenheit war der Kommandeur, Oberst von Peuken, selber der Prüfende. Er erschien in seinem großen, weiten Reitermantel, in dem der kleine Mann mit dem buschigen Schnauzbart wie ein lebendiger Tintenwischer aussah, und sagte: »Na, nu' tanzt mir mal zum Abschiede wat recht Hübsches vor!...« Und dann ging die Hopserei los. Und Médoc stand dabei, sehr elegant in Frack, weißer Binde und Lackschuhen, und machte ein bedeutendes Gesicht, das zu sprechen schien: ›Kinder, unterschätzt mir das Tanzen nicht! Das braucht man so notwendig wie das Studium, und wenn man nicht viel im Kopfe hat, ist's immerhin gut, man hat wenigstens etwas in den Beinen...‹

Schöningh und Sassenhausen tanzten gut, aber dem kleinen Veresco gelang es weniger. Namentlich beim Walzer konnte er nie so recht herumkommen, und beim Rheinländer machte er immer einen Pas zu viel und geriet dann aus dem Takt, wurde verlegen, sah sich mit seinen braunen Augen hilflos um und blieb schließlich stehen. Das fiel natürlich auch dem Oberst von Peuken auf, und er winkte Veresco zu sich heran.

»Na aber, Veresco,« meinte er schmunzelnd, »nu' sagen Sie mir bloß, Sie tanzen ja wie ein Känguruhweibchen, das sein Kleines im Beutel hat, aber nich', wie man als Königlich Preußischer Offizier tanzen soll. Damit werden Sie den hübschen kleinen Mädeln in Ihrer Garnison keine Freude machen. Tanzt man denn überall in Illyrien so trampedeilich?«

Und nun erzählte Veresco, daß man in Illyrien die deutschen Tänze nicht liebe und auch wenig kenne. Aber den Stratpotka und die Sassapulka tanze man mit Leidenschaft. Jetzt wollte der Oberst wissen, was das sei und bat, Veresco sollte ihm einmal den Stratpotka vortanzen. Veresco sagte: »Zu Befehl, Herr Oberst«, und dann legte er los. Das war nun ein ganz toller Tanz, halb Czardas und halb Krakowiak, ein seltsames Springen, Hopsen, Chassieren, Neigen und Beugen und alles mit lebhafter Mimik und ausdrucksvoll südländischer Gestikulation verbunden. Der Oberst war sichtlich verwundert über diesen närrischen Nationaltanz, und hierauf lachte er, daß ihm das Wasser in die Augen trat.

»Hören Sie auf, Veresco!« schrie er, »ich bitt' Sie, hören Sie auf! Ich komme um! So wat hab' ich mein Lebtag noch nicht gesehn! Und dat tanzt man auch am Hofe bei Ihnen?! Da verwechselt man ja die Beene, Veresco« –, und er begann von neuem zu lachen und schüttelte sich, daß der Kragen seines Reitermantels wie ein großes Flügelpaar um seine Schultern flog.

Unten auf dem Hofe wartete schon der Hauptmann von Döring auf Schöningh. Er hatte gleichfalls bereits seine Erkundigungen eingezogen: Schöningh wie Sassenhausen hatten glänzend bestanden. Der Jubel war groß. Hauptmann von Döring lud die beiden mitsamt ihrem Freund Veresco zum Abendessen ein. Vorher aber sandten die drei noch Depeschen nach der Heimat ab; Schöninghs Telegramm an Wiegels lautete nur kurz: »Examen bestanden; reise übermorgen ab; bitte Wagen 6,20 Krugdorf ...« Döring ließ Sekt auffahren, und alle vier kauften sich einen kleinen Spitz. Veresco, der nicht viel vertragen konnte, war am ausgelassensten, sang illyrische Lieder und tanzte zu guter Letzt noch einmal den Stratpotka. Dabei stolperte er aber, fiel hin und blieb auch gleich liegen. Er war einfach eingeschlafen. Schöningh und Sassenhausen mußten ihn in den Schlafsaal tragen und wie ein Kind zu Bette bringen.

Das war die letzte Nacht im Kadettenhause in der Neuen Friedrichstraße zu Berlin. Aber in die Träume unserer drei Helden mischten sich keinerlei sentimentale Erinnerungen. Sie schlummerten fest und friedlich, die drei, und als das Dröhnen der Trommel sie am nächsten Morgen weckte, klang ihnen dieser gelle, ach, wie tausendmal gehörte Wirbel gleich einer Fanfare der Freiheit...


Ja, nun waren sie frei. Die sogenannten Examenferien begannen; sie währten gewöhnlich sechs bis acht Wochen – dann traf die Einberufung zum Regiment zusammen mit dem Ernennungspatent ein. Es war noch mancherlei zu besorgen: zuerst die dienstliche Abmeldung, dann der Abschied von den Offizieren der Kompagnie und den befreundeten Kameraden, dann das Packen der Koffer und zwanzigerlei mehr. Man hatte beschlossen, sich noch einen Tag in Berlin zu amüsieren. Das Zivil lag schon bereit. Veresco sah in dem seinen wie ein Japaner aus, der zum ersten Male europäische Tracht trägt.

Hauptmann von Döring begleitete die drei bis zur Droschke. Im Hauptportale gab es den allerletzten Abschied – vom alten Hahnemann und seiner großen Trommel und seinem schwarzen Pudel, der immer über den abstehenden Säbel des Obersten zu springen pflegte. Nun fuhr man in das Hotel, um die Koffer unterzubringen, und hatte hierauf noch einen wichtigen Geschäftsgang: zu dem Militärschneider Robrecht in der Jägerstraße, wo die Equipierung bestellt werden mußte. Das dauerte lange – es war viel zu überlegen. Am schnellsten wurde Veresco fertig; er gab einfach einen Gesamtauftrag: doppelte Equipierung – komplett. Aber den beiden Kürassieren wurde die Auswahl schwer; sie hatten mit einer bestimmten Summe zu rechnen, und die vollständige Ausrüstung verlangte vielerlei.

Dann ging man frühstücken, selbstverständlich zu Hiller unter den Linden. Sassenhausen als Feinschmecker bestellte das Menü: die ersten Kiebitzeier und die ersten Spargel und ein saftiges Entrecôte, dazu eine Cliquot. Man war sehr vergnügt. Herrgott, war das ein wonniges Gefühl, sich einmal als freier Mann bewegen zu dürfen, nachdem man jahrelang immer nur hatte gehorchen müssen! Veresco trank mit Schöningh und Sassenhausen Brüderschaft; dann bestellte man eine neue Flasche, und nun wurde Sassenhausen elegisch.

»Kinder,« sagte er, »ich taxiere, wir sitzen zum letzten Male für längere Zeit zusammen. Der Emich und ich, wir werden ja, so Gott will und unser Kommandeur, noch ein paar Jährchen beieinander bleiben; aber du, Masseo Marquis von Veresco, Herr auf Kapataz und Baron von Tórczek – wer kann wissen, wie lange du zu unserer Armee zählen wirst?! In zwei Monaten gehörst du zwar zur preußischen Garde-Artillerie und wirst dich dicke tun mit deinem silbernen Kragen und dem Gardestern auf deinem bombengekrönten Helm und wirst des Abends zwischen sieben und neun die Linden herabbummeln und anständigen Bürgermädchen, die es hier noch gibt, die Köpfe verdrehen. Doch bist du sicher, daß in deiner grünen Heimat nicht bald wieder ein klein bissel rebelliert wird, daß man dem Gouverneur-Pascha unversehens eine Platzpatrone irgendwohin steckt, seinen Palast anzündet und seine Bostandschis – oder sagt man Khawassen?– schlankweg abmurkst? Nein, lieber Veresco, dessen bist du nicht sicher, zumal du selber zugestanden hast, es sei die allerhöchste Zeit, daß in Illyrien wieder einmal eine Revolution ausbräche ... na, und dann wird dir dein Papa einfach telegraphieren: Komm 'runter, mein Sohn, hier geht es los – und du wirst gehorchen müssen. Du wartest ja sozusagen nur darauf. Und bist du erst einmal unten, dann ist es doch sehr zweifelhaft, wann wir wieder einmal die Ehre haben werden, mit dir eine Flasche Sekt bei Hiller zu trinken, und deshalb schlage ich vor: schließen wir zu dieser Stunde so eine Art Rütlibund und geloben wir uns Freundschaft und Treue für alle Lebenszeit bis zum Tode! ...«

Diese schöne Rede ließ Emich ziemlich kühl, rührte aber dafür Veresco in hohem Maße.

»Bravo, Max,« sagte er lebhaft, »das war mir aus dem Herzen gesprochen. Und nun hört mal zu: wenn wir diesen Bund für das Leben schließen, so muß sich auch einer auf den anderen verlassen können. Ich meine damit, wenn einer den andern ruft, weil er seiner Hilfe bedarf, so muß der andere kommen und wenn selbst der Papst dagegen sein sollte! Habt ihr verstanden?«

»I gewiß, Maffeo,« erwiderte Schöningh, der auch allmählich einen roten Kopf bekam, »aber der Papst hat bei uns nichts zu sagen, sondern die verschiedenen Kommandeure und der Kriegsminister. Gesetzt nun den Fall, du säßest da unten irgendwie und irgendwo in der Klemme und telegraphiertest uns, schleunigst illyrisch zu werden – ja, glaubst du denn, daß man uns ohne weiteres den Abschied bewilligen würde?«

»Aber natürlich, Emich,« eiferte Sassenhausen erregt, »aber natürlich! Der Abschied behufs Auswanderung wird immer gewährt, wenn man gewichtige Gründe vorschiebt. Und was mich anbetrifft: ich halte meinen Schwur! Wenn der Veresco ruft, komm' ich – nota bene, wenn wir nicht gerade in einen Krieg verwickelt sind!«

»Selbstverständlich«, sagte der kleine Illyrier; »Krieg im eigenen Lande entschuldigt alles. So ist's auch nicht gemeint. Ich verlange nur, daß jeder von uns dreien sich die erdenklichste Mühe gibt, dem etwaigen Hilferuf des anderen zu folgen –«

»Aber natürlich,« fiel Sassenhausen ein, »aber natürlich –«

»Einverstanden«, sagte auch Schöningh. »Veresco, fülle die Gläser!«

Sassenhausen reichte ihm die Kelche hinüber. »Aus bis zur Nagelprobe – und dann Handschlag: so ist's deutsche Sitte!« meinte er.

Sie tranken und reichten sich über den Tisch die Hände. Nebenan wurde man bereits aufmerksam auf die drei jungen Herren. In der Tür stand ein schöner, glatt rasierter Kellner und wunderte sich. Aber er machte sofort ein ergebenes Gesicht und sprang mit wedelnder Serviette herbei, als Veresco die dritte Flasche befahl.

»Ihr gestattet wohl,« sagte Veresco, »daß wir auf die deutsche Sitte die gut illyrische folgen lassen –«

»Aber natürlich, natürlich«, bekräftigte Sassenhausen, dem die Augen zu funkeln begannen.

»Na, und wie ist die?« fragte Schöningh.

»Einfach und hübsch, lieber Emich. Wir trinken nochmals aus, sehen uns dabei in die Augen, legen die rechte Hand auf das Herz und sagen › sricoccio‹. Das ist unübersetzbar und heißt ungefähr soviel wie ›auf ewig‹ –«

»Das ist reizend«, fuhr Sassenhausen auf; »also sri – sprich mir's nochmal vor, Veresco!«

»Sricoccio, Max. Und zuletzt zerbrechen wir unsre Gläser, denn die Gläser, aus denen man den Sricoccio getrunken hat, darf kein Mensch mehr gebrauchen; die Sage geht, daß derjenige, der sie dennoch benutzt, an der Pest stirbt.«

»Das geht nicht«, meinte Sassenhausen. »Wir können nicht die Pest in Berlin einschleppen. Also zerbrechen wir die Gläser, wenn wir sri – sri – – glaubst du, ich kriege es 'raus, Veresco?«

Emich schüttelte etwas bedenklich den Kopf.

»Austrinken will ich«, sagte er, »und auch die rechte Hand aufs Herz legen und Dingsda rufen – –Veresco muß uns das Wort erst noch ein paarmal vorsprechen ... Aber die Gläser zertöppern – hier im Lokal – Herrschaften, das würde man uns vielleicht übelnehmen!«

»Gehn wir auf den Hof!« schlug Sassenhausen vor.

»Nein, wir bleiben hier«, entschied Veresco. »Schöningh, du hast es immer mit der Angst! Unsere Gläser können auch aus Versehen vom Tische fallen. Um jedwedes Aufsehen zu vermeiden, verteilen wir die Prozedur: Max wirft sein Glas herunter; du, Emich, zerschlägst das deine am Sektkühler, und ich meines an der Fluchtschale. Und nun bitte, kein Zögern mehr! Ihr beleidigt mich. Der Sricoccio ist eine ernste Sache.«

»Aber natürlich, Schöningh«, rief Sassenhausen; »daß du niemals ernst sein kannst! ...«

Nun mußte Schöningh sich fügen; die beiden Kameraden hätten sonst noch mehr Skandal gemacht. Veresco wiederholte das illyrische Wort noch einige Male, bis die anderen es sich eingeprägt hatten, und dann tranken sie den Sricoccio mit großer Begeisterung.

Aber die Vernichtung der Gläser rief doch einiges Aufsehen hervor. Im Übereifer zerschlug Veresco auch noch die Fruchtschale, und ein paar Birnen hüpften munter zur Erde. An den Nebentischen amüsierte man sich – Kellner sprangen herbei, und auch der junge Herr Hiller erschien und befahl mit ernster Miene, den Tisch neu zu decken. Im anstoßenden Zimmer hatte man den Spektakel gleichfalls gehört: ein paar Gesichter lugten durch die Portieren. Und dann entstand ein neues Hallo. Nebenan hatten Prinz Waldegg, Herr von Rietzow und ein junger Sekretär der illyrischen Gesandtschaft, Baron Porohyle, gefrühstückt und waren jetzt erst auf ihre jungen Freunde aufmerksam geworden.

Selbstverständlich setzte man sich zusammen. Aber Herr von Rietzow protestierte entschieden gegen ein weiteres Pokulieren. Heimlich raunte er dem Baron Porohyle zu: »Nehmen Sie sich Ihres Landsmannes an, cher ami! Ich bringe Schöningh in sein Hotel – Waldegg kann sich mit dem Dritten im Bunde schleppen. Das geht so nicht weiter. Ich begreife, daß die drei ihr Glück ein wenig anfeuchten wollten, aber sie sind ja bereits vollkommen – na also, sie sind meines Erachtens nicht mehr direktionsfähig. Schaffen wir sie nach Hause.«

Das ging leichter, als man erwartet hatte. Veresco war schon wieder müde geworden und schlief bereits halb; er ließ sich von Herrn von Porohyle willig in eine Droschke packen. Schöningh hatte sich in der Toilette das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen und erklärte sich nunmehr mit allem einverstanden. Am hartnäckigsten war Sassenhausen, der sich nicht vom Platze rühren wollte. Aber als Prinz Waldegg ihm vorschlug, mit ihm hinüber in das Panoptikum zu gehen, um ihm eine tätowierte Kanadierin von auserlesener Schönheit zu zeigen, wurde er lebendig und folgsam.

Schöningh und Rietzow gingen zu Fuß nach des ersteren Hotel. Rietzow erzählte, daß er auch demnächst nach Hause zurückkehren werde; er habe nur noch einige Tage in Berlin zu tun: es solle eine neue Wochenschrift für das katholische Volk begründet werden, an der er sich beteiligt habe.

»Dabei fällt mir ein,« sagte er, leicht seitwärts schielend und an seinem strohblonden Schnurrbart zupfend, »ich wollte Sie schon lange einmal fragen: wie kommt es eigentlich, daß Komtesse Ruth nicht katholisch ist?«

»Weil der Vater protestantisch ist«, entgegnete Emich; »ganz einfach deshalb.«

»Aber die Mutter ist doch katholisch geblieben, als sie Wiegel heiratete«, fuhr Rietzow fort. »Sind denn vor der Hochzeit keine bindenden Abmachungen wegen des Glaubens der Kinder gemacht worden?«

Schöningh zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß es wahrhaftig nicht, Herr von Rietzow. Wahrscheinlich hat die Tante zugestimmt, daß Ruth in der Konfession ihres Vaters erzogen werden solle.«

Rietzow schüttelte den Kopf.

»Unbegreiflich. Vor allem unbegreiflich, daß der Fürst das zugegeben hat.«

»Aber, Herr von Rietzow, was geht denn das den Fürsten an!?«

»Ja, du lieber Gott, ist er nicht der Chef des Hauses? Es hat Ärger genug verursacht, daß Ihre Frau Tante nicht in den katholischen Adel hineingeheiratet hat. In Stenzig ist nicht einmal eine katholische Kirche!«

»Die Tante geht in den protestantischen Gottesdienst. Ich meine, es ist im Grunde genommen ziemlich gleichgültig, wo man zu seinem Gotte betet.«

»Sehen Sie, Schöningh, das verstehe ich nun wieder nicht. Wie können Sie so sprechen! Gerade Sie, der Sie einem altkatholischen Geschlechte entstammen, das sogar einmal einen Kardinal hervorgebracht hat. Bei einer derartigen Leichtfertigkeit der Empfindung muß sich der Kitt, der den katholischen Adel zusammenhält, naturgemäß immer mehr lockern. Glauben Sie, daß Komtesse Ruth übertreten würde, wenn sie einen katholischen Gatten heiratet?«

Die beiden waren vor dem Eingang des Hotels stehengeblieben. Schöningh hatte Eile, sich von Herrn von Rietzow zu verabschieden.

»Ich kann Ihnen keine Antwort auf Ihre Frage geben«, sagte er. »Hätte ich den geistlichen Beruf erwählt, dann würde ich vielleicht versucht haben, meinen Einfluß auf Ruth geltend zu machen. So aber glaube ich, daß es wenig schicklich sein dürfte, wollte ich mich in die intimsten Angelegenheiten der Wiegelschen Familie mischen ... Adieu, Herr von Rietzow. Herzlichen Dank für Ihre liebenswürdige Begleitung!«

Mit gesenktem Kopf, eine schwere Falte auf der Stirn, schritt Rietzow die Linden hinab, während Schöningh auf sein Zimmer ging, um sich ein Stündchen auf dem Sofa auszustrecken. Er wollte schlafen, aber er vermochte es nicht; die kurze Unterhaltung mit dem Kottauer beschäftigte ihn lebhaft. Daß Rietzow die Proselytenmacherei liebte, war bekannt. Aber daß ihm das Seelenheil Ruths so nahe ging, machte Emich stutzig.


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