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»Milljöh.«

Zilles »Milljöh«, ist sprichwörtlich geworden, ist ein allgemein bekannter Begriff. Er umfaßt nahezu sein gesamtes Schaffen. Und Zille ist so volkstümlich geworden, weil er in seinem Werk immer unser Volk, unsere heimatliche Umgebung in ihren besten und oft belustigenden Erscheinungen gezeigt hat. Auch da, wo er als sozialer Warner und Schilderer auftrat, mußte man ihm oft beistimmen.

In fast allen seinen Arbeiten, Zeichnungen und Unterschriften ist er jedenfalls ein prächtiger Mensch und Künstler – wie es ja dieses Buch, das alle seine Schilderungen und Späße aus seinem Milljöh in den verschiedensten Kapiteln zusammenfaßt, beweist.

Hier kann nur auf alle diese Kapitel – besonders auf »Kneipen«, »Mächens«, »Männer«, »Fräuleins«, »der fünfte Stand« und auf die Kapitel hingewiesen werden, die seinen Werdegang schildern. Er bevorzugt mit Vorliebe die nicht Bevorzugten, und um des unmittelbaren Eindrucks willen sei hier noch einiges mitgeteilt, was er außerdem erzählt:

»Das bucklige Lieschen! Ach Jott – nu is sie längst im Hospital . . . Die kleine Hofsängerin! Da hat sie öfters am Tisch gesessen und hat alle die Geldstücke aus die Schürzentaschen geklaubt – und aufgeschichtet – und gezählt – die Sechser – die Zweipfennigstücke und Einpfenniger. Die hatte sie sich ehrlich verdient mit ihrem Gesang auf den Höfen. Sie sang doch zu gern das Lied von dem schwarzen Husaren! Als sie das letztemal bei mir war, fragte sie mich noch, ob sie mir nicht ihr Lieblingslied vorsingen solle ... (Siehe Bild 34.)

Ja – die kleine Hof Sängerin –, und die Hellseherin: die Irene! Die traf ich alle bei der Frau Doktor in der Kopenhagener Straße. Auch so einer armen Eheverlassenen. Der Mann – so ein Ethiker –, mit dem sie als Sekretärin ein paarmal nach Amerika gefahren war, hatte sie schließlich mit den Kindern hier sitzen lassen in Elend und ging allein nach den Vereinigten Staaten und machte nun den Amerikanern schöne große Worte von der großen Liebe und Allmacht.

 

92. Das »Graue Elend«.

Treppe im sogenannten Rattenhaus, der ehemaligen Kaserne in der Alexanderstraße gegenüber der Magazinstraße, in dem Gerhart Hauptmanns »Ratten« spielten und in dem H. Zille als Junge Kommißbrot von den Soldaten kaufte.

Nach der Originalstudie zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Na ja – ich wurde denn nu mal zum ›Tee‹ gebeten zu Frau Doktor, Kopenhagener Straße, Hof, Quergebäude. Ne schmale graue Stube. Ein ausgesessenes Sofa, auf dem die Frau Doktor saß, ein schwächliches ältliches Frauchen, und Zirkel hielt. Kisten als Stühle. Die Beleuchtung ganz herrschaftlich: 'ne Küchenlampe ohne Schirm. Vorm Fenster eine alte Waffelbettdecke gehängt. Vorhänge – dazu reichte es doch nicht ...

Als ich eintrat, kam mir ein ganzes Rudel Katzen entgegen. Ein schwarzer Kater sprang mir an die Brust und schlug mir ins Gesicht. Die Weiber schrien: ›Figaro! Willst du artig sein!‹ Sie taten so, wie wenn es ihre Lieblinge wären. Aber sie werden wohl ab und zu einen in den Topf gesteckt haben ... Die Nachbarn brachten alle Abfälle zum Futtern. Ein ganzer Berg Bücklingsschalen lag vor der Tür. –

Dann wurde an die Wasserleitung geklopft.

Und daraufhin erschienen die Nachbarn. Das bucklige Lieschen – die Hellseherin Irene, die immer wahrsagte, aber schließlich nicht mehr wollte – die Masseuse, die schon Vorstrafen hatte wegen § 186 (Abtreibung) und deren Mutter, die ehemalige Hebamme, die auch schon ein paarmal Z. (Zuchthaus) hinter sich hatte, aber dick und gemütlich hereinwalzte. Die hatte Kundschaft bis hinter Stettin und bis hinter Frankfurt. –

Na – und dann die Männer.

Irene mit ihrem Kohlenträger, einem breiten Kerl mit mächtigem Schnurrbart, der sich auch zu Tode gesoffen hat. Und der sie oft an ihren Haaren durch die Stube schleifte. –

Der Kerl hat sich denn auch an der kleinen Tochter von der Irene vergangen. Sieben Jahre war das kleine Mädchen. Aber das lag so in der Familie. Ihrer Mutter, der Irene, war das auch mit sieben Jahren passiert. Das ist eben Tradition.

Einer von den Männern war tätowiert von den Fingerspitzen bis zum Zeh.

Eine Nichte von der Frau Doktor rief:

›Onkel, zieh doch mal die Hosen runter und zeig deine Abziehbilder!‹

 

93. »Heute jibt's keen Frühstück! Vater is in Tegel un Mutter is nach de Entbindungsanstalt jebracht!«

1. Figur zu dem Bild.

Nach der Originalstudie zum 1. Mal Veröffentlicht.

 

Das Lieschen hatte auch so einen, den sie noch mit ernährte – auch ein strammer Kerl, der sechs Tage nichts tat und am Sonnabend beim Barbier Seifenschaum schlagen half. Zu was anderm war er zu dumm.

Na, schließlich kriegte denn das bucklige Lieschen auch vorn einen Buckel.

Ich sagte: ›Aber Lieschen! Muß denn das sein!?‹

›Na – man will doch ooch 'n Mann haben!‹ trumpfte sie auf. – –

Und denn saßen wir beisammen. Es gab Flaschenbier. Ich kriegte das einzige Glas. Die andern tranken alle aus der Pulle.

Und denn hielt die Frau Doktor von ihrem ausgewuchteten Sofa aus ihre Reden. Und die andern erzählten Erlebnisse aus ihrem Leben.

Da gab's was zu hören. Beim Schein der Küchenlampe. –

Das war der Salon in der Kopenhagener Straße, Hof, Quergebäude.«

*

Freiheit.

»Als der übelste Teil des sogenannten Scheunenviertels noch stand, fristete in einem der engsten Höfe der verkommenen modrigen Gassen ein Eschenbäumchen sein kümmerliches Dasein. Wie die Menschen, mit denen es die Atmosphäre äußerster Armut teilen mußte. Die Rinde zerhackt, zerschnitten, die ärmlichen Äste mit Lumpen behängt, umlagert von Müll und Unrathaufen. In diesem dumpfen Gefängnis, früh bis spät umstrichen von menschlichem Elend, rang es, wie ein Kranker, nach Luft und Sonne.

Es waren hier wohl früher Gärten gewesen und die Esche die letzte Erinnerung an Kieswege und Blumenbeete. Nun ist der ganze Stadtteil abgerissen, das Bäumchen steht wieder in Luft und Sonne. Es hat den Abbruch mit angesehen, wie vor vielen Jahren den Aufbau der elenden Zufluchtsstätten. Es hat Blätter, die bis zum Herbst aushalten. Seine Bedränger, die finsteren Mauern, sind als Bausteine in Haufen aufgestellt und, von der Sonne beschienen, ganz freundliche Nachbarn.

Mancher von denen, die in dem Hause aufgewachsen, als Kind das Messer an der Rinde des Baumes probierten, ist jetzt noch Gefangener in einsamer Zelle.

Von Zeit zu Zeit besuche ich das Bäumchen.«

Z.

»Meine Freundin Radieschen erwarb ihren Lebensunterhalt mit Heben und Ringen auf Rummel- und Schützenplätzen. Ihre Spezialität war Gürtelringen. Ihr Mann war ihr ständiger Partner dabei. Er rang selbst mit ihr, damit nicht andere sie dabei hinwarfen und ihr schadeten. Er unterstützte sie eben, trat immer als ein anderer Mann auf. Wenn einer aus dem Publikum mit ihr ringen wollte, kam er herauf

 

94. Abbruchschilderung aus dem Scheunenviertel.

Nach der Originalstudie zum 1. Mal veröffentlicht.

 

auf die Bretter. Er hatte sechs Anzüge und kam immer als anderer Mann, zog sich inzwischen immer rasch um. Manchmal ›knackte‹ er auch. (Bild 95.)

Als ich sie zeichnen wollte, wurde der Mann zum Bierholen geschickt. Oder er ging mit einem Freunde aufs Dach und ließ seine Tauben fliegen. Trank auch mal feste.

Aber vor allem trank Radieschen. Sie trank so viel, daß ich dachte: Wo trinkt sie denn das nur hin? Sie platzt doch!

Jetzt wiegt sie 565 Pfund, bedient in einem Bierstall. Eisenbahn kann sie nicht fahren. Sie geht einfach nicht hinein.«

*

Der Budenengel.

»Schon zu meiner Jugendzeit gab's die Marktunternehmer, wenigstens solche, die Buden für die Verkäufer aufbauten. In den siebziger und achtziger Jahren baute ein gewisser Engel auf dem Dönhoffplatz den Markt auf. Arbeitslose machten das natürlich. Sie nächtigten vorher in den Hausfluren, um ja zur rechten Zeit zur Stelle zu sein. Gleich früh stellten sie die Buden auf. Um eins wurde wieder abgebaut.

Der dicke Engel paßte nur auf und kassierte bei den Händlern das Budengeld ein.

Die Arbeitslosen lauerten die ganze Zeit auf Bezahlung.

Engel stand da, quatschte mit den Händlern – sah die Hungernden gar nicht.

Schließlich reichte er ihnen ihre Groschen mit abgewandtem Gesicht. Seine Jungs aber ließ er studieren ...«

*

»Einmal saß ich gerade in einem Spielkeller. Vorn war's natürlich 'ne Budike. Nur im Hinterzimmer wurde fleißig ›gezogen‹.

Plötzlich kam einer raus. Brüllte, brüllte:

›Mein Jeld is weg! Falschspieler! ... Mein Jeld – mein Jeld!‹

Der dicke Wirt und der Spanner, der an der Türe aufpaßte, daß kein Unberufener reinkam, hielten ihn fest.

Er schrie noch lauter.

Da schob ihm der Wirt 'ne Handvoll Geld in de Tasche:

›Sie haben ja Jeld! Wat wollen Sie denn noch?‹

Er stutzte – ließ das Geld durch die Finger gleiten – wollte erst die Treppe rauf – raus. Aber dann machte er wieder kehrt und rannte in die Spielstube.«

*

»Irene, die Wahrsagerin, eine Bucklige, hatte eine Hebamme als Mutter. Die durfte aber nicht mehr greifen (bei Geburten helfen). Hatte viel ›Z‹ (Zuchthaus). Die zweite

 

95. Gürtelringkampf zwischen Mann und Frau in der Bude auf dem Rummelplatz.

Nach dem bunten Original zum 1. Mal Veröffentlicht.

 

Tochter hatte auch ›Z!‹. Die massierte ... Irene hatte natürlich 'n ›Bräutigam‹ mit Schnurrbart und breite Schultern.

Als ich einmal zu Besuch bei ihr war, hatte sie 'n ganz spitzen Kürbis (Bauch).

›Nanu» Irene? Wülste ooch wat Kleenes haben?‹ fragte ich.

›Hab' doch 'n Bräutigam!‹ antwortete sie stolz.

Neulich aber erzählte sie mir, daß er tot sei. Sie hatte ihn ja gut gepflegt. Aber das Leben! Der ville Schnaps! Und die wilden Sachen.

Sie lebte noch. Wollte aber nicht mehr wahrsagen für die reichen Leute – Filmautorin wollte sie werden. Ich sollte ihr bei helfen. Das ging doch nicht. Wovon sie jetzt lebt – weeß ick nich ...«

*

»In diesem Haus in der Waisenstraße wohnte eine alte Frau in einer Stube, in die nie Licht, geschweige denn die Sonne hineinkam. Erst als das Haus in der Neuen Friedrichstraße, das davor stand, abgerissen wurde, sagte die Alte freudestrahlend:

»Jetzt scheint mir die Sonne in den Hals!«

Aber es dauerte nicht lange.

Bald wurde ein neuer, noch höherer Komplex in der Neuen Friedrichstraße aufgeführt. Da saß die Alte wieder im dunklen Loch.« (Bild 96.)

*

Aus einer Erzählung in Briefform »Berliner Hochzeit« Aus dem Buch: »Zwischen Spree und Panke«, Verlag C. Reißner. seien hier dazu einige charakteristische Proben mitgeteilt:

»Erinnerst Du Dich noch an Fritz und Lene, die vorm Krieg die verschiedenen ›Bouillonkeller‹ hatten, wo wir, um das ›Müljöh‹ zu studieren, manche Nacht verbrachten – mit und ohne Gefahr? Zu denen war ich zur Hochzeit geladen. Den Kelch durfte ich nicht vorübergehen lassen, die alten Beziehungen mußte ich wieder auffrischen. Also hin nach

 

96. Rückfront von der Waisenstraße nach dem Abriß der Häuser in der Neuen Friedrichstraße, die auf diese Weise das erste Mal Licht bekam.

Nach der Originalstudie zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Berlin O, Nummer 30; das Haus sah bös aus, Revolutionsruine, keine ganze Fensterscheibe, Risse in den Wänden von Fliegerbomben, schien ganz ohne Bewohner, nur im Laden, der geschlossen war – Musike.

Ein junges, recht feierlich aussehendes Mädchen, das mit einem halbwüchsigen, feldgrauen Burschen ein altes, lahmes, müdes, zerrissenes Sofa vom Handwagen lud und gerade erst in das Haus einzog, frug ich, wo Lene wohne: ›Immer da, wo't lustig is!‹ Sie zeigte auf den Laden. ›Ick bringe bloß noch mein Jeschäft in Ordnung un' verklebe det Fenster, denn bin ick ooch dabei.‹

An der Hintertür klopfte ich an. Mit großer Freude wurde ich empfangen und kam gerade recht zum Kaffee: Kaffee, Sahne, Kuchen, alles Marke 1913, noch alles da! Die Festtafel: Bretter mit weißen Tischtüchern. Überall nickten mir, zwischen Grün und Blumenpracht, die Gesichter der alten Bekannten zu. Da gab's keine Vermißten, Internierten, in fremden Ländern Gefangengehaltenen, keine Verletzten, überall blanke Augen, rote Wangen, selbst Totgesagte waren hier, wer fehlte, saß!

*

Die Herren in tadellosen modernen Oberhemden mit funkelnden Knöpfen; der Bequemlichkeit halber hatten sie sich die Röcke ausgezogen. Die Damen waren sowieso luftig kostümiert. Na, und das Hochzeitspaar, Fritze und Lene! Du weißt ja, daß beide nicht heiraten konnten, es war irgendwas dazwischen. Unter der neuen Regierung gings aber nun glatt. Die Kinder, die Du noch klein gesehen, sind jetzt groß und kräftig, Hans zwanzig und Grete neunzehn, der kleine Fritz vierzehn Jahre, alles echt Berlin.

Bouillonfritze ist stärker geworden. Das macht wohl die frische Luft. Das bekommt ihm besser als früher das nächtliche Kellerleben; er spielt noch seine ›1000-Mark‹-Geige, die mal jemand – im Keller ›vergessen‹ hat. Auch die Kinder sind musikalisch, Ziehharmonika, Mandoline, Guitarre, Hans spuckt auch auf den Knüppel, er bläst Flöte. Ich fragte:

 

97. Alt-Berlin. Alte Häuser in der Parochialstraße. In dem kleinsten Hause befindet sich jetzt eine anarchistische Buchhandlung gegenüber vom Stadthaus.

Nach der Originalstudie zum 1. Mal veröffentlicht.

 

›Na, Fritze, was treibste, wie jehts denn?‹

›Bloß Schiebung, Heinrich, fahre Schiebung, schiebe selber. Komm mal uff'n Hof, seh mal, det sin' meine vier Wagen un' meine Pferde, alle viere scheene rund.‹ ›Kann Dir nich mal een so'n früherer hast so'n Pferd zum Pferdeschlächter abholen?‹ ›Kiek, Heinrich, hier schlafe ick, alles Alarmbereitschaft, Jewehr, Revolver, Handgranaten – die Freindschaft kann ick jut erwidern! Un Hans is' Stallknecht, ooch Kutscher. Jrete fährt Reisende mit Jepäck von Bahnhof zu Bahnhof.‹

*

Jetzt kamen auch noch ›Radieschen‹, das noch runder ist als früher und zwei Stühle braucht, Deine gute Bekannte, die ›Liese‹ die ›Kunststopferin‹, die ›Lene‹, die ›Pinkelmartha‹ und unsere ›ehrpusselige Frieda‹, die ›Germaniapuppe‹. Sie ist noch majestätischer, länger und stärker, nebenbei noch verheiratet. Den Schnapsladen hat sie nicht mehr, die geistigen Getränke verschiebt sie in der Wohnung. Du weißt, daß ich sie ›Germaniapuppe‹ taufte – lange vorm Krieg – und sagte: ›Frieda, wenn sie Dich an den Rhein stellen, kommt keen Aas rüber!‹ – na, nu haben wir den Krieg verloren.

Der Glanzpunkt der Feier: Essen und Trinken. Hör, Wilhelm: Schweine- und Kalbsbraten, Spargel, Kohl, Reis, alle Arten Kompotts, alles, alles, bloß keine Kartoffeln. Frau Lene sagte: ›Kinder, Kartoffeln hab'n wir nich, die woll'n wir die arme Leite lassen!‹

Wein, Schnaps, Bier, die besten Marken, Vertrauenssache – Woher? wurde nicht verraten –, aber es schmeckte nach ›Ein- und Ausbruch‹, gut abgelagert. Schneckenmaxe, Du kennst doch noch den Klavierluden aus Lenes Brühkeller, der mit den runden Beinen, der seine Hosen über 'ne Tonne getrocknet hat, der spielte den Hochzeitsmarsch aus ›Lohengrin‹, und das Kauen konnte losgeh'n.

*

Die Toilettengelegenheit noch die alte biedere Art, wie wir's früher im Brühkeller kennenlernten: Faß, Eimer, Topf – Stechbecken.

 

98. Ein Fräuleinszimmer.

Nach der Originalzeichnung zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Lieber Wilhelm, das Fest war gut. Kein Stolz, keine Scheu, sozial, unabhängig, kommunistisch, vertraulich – – rein menschlich.

Aber so schön es war: während des Tanzes und aller anderen Überraschungen drückte ich mich. Wollte nicht, daß vielleicht einer der Gäste, und wäre es auch nur aus Ehrgeiz, vor mir in meiner Wohnung gewesen wäre.«

Z.

*

Über die Umwelt der Kinder in manchen Volksfamilien plaudert Zille in einer schriftlichen Skizze:

»Berlin N, zweites Quergebäude. Schmaler Hof, aber dafür schön hoch, sagt der Hauswirt.

Frau Meyer, die Meyersche, wie man sie im Hause nennt, wohnt hier vier Treppen. Seit Jahren ist sie von ihrem Mann verlassen, trotzdem – die Mutterschaft stellt sich jährlich pünktlich ein.

Kinder leben noch, vom 13jährigen bis zum Flaschenkind. Frau Meyer hat noch Licht. Wenn man sie alle zusammen sehen will, dazu noch die Schlafmädchen, muß man spät abends kommen.

Die größeren Kinder tragen Zeitungen aus, die Kiemen treiben sich auf Rummelplätzen und bei den ›Kintöppen‹ herum, ihre geistige Nahrung. Die leibliche Nahrung holen sie meist aus der Schulküche, wovon Mutter mitißt.

Nach langem Klopfen wird geöffnet.

›Ach Jott doch, hab ick mir erschrocken! Ick dachte schon, die Polente kloppt. Wat sie woll denkt! Ick habe keene Fohsen, bin keene Kuppelbosten (Kuppelmutter)!‹

Küche und Stube, voll von schlechten Betten und alten Matratzen. Elender Hausrat, aus der Brockensammlung erstanden. Schlechte Luft.

 

99. Vier Zillegören vom Wedding.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Dore, die Fünfjährige, die drolligste von den Kleinen, macht sich nicht bemerkbar. ›Nee, Dorchen schläft nich, kommt jleich, is' drei Treppen uffs Kloster, unsert is' verstoppt, heit abend war se im Kintopp.‹ Da kommt sie auch schon, ein Liedchen singend ...

*

›Det wird mal ne richtige Giftige, aber nu rin in de Flohkiste –‹, und Dorchen legt sich zur schwangeren Schlafburschin Ida.«

Z.

*

In der Schilderung einer andern Hochzeitsfeier hat Heinrich Zille in ganz klassischer Weise das Leben der Berliner Unterwelt festgehalten. Um seine wirklich plastische und lebensechte Darstellung zu beweisen, seien hier einige größere Stellen aus »Bindedrahts Hochzeit« Aus dem Buch »Berliner Geschichten und Bilder«, Verlag C. Reißner. zitiert:

»Ja, Bindedraht macht Hochzeit mit Trude, ›die Braut‹. Beide neu eingekleidet. Emils linke Hand, mit Trauring über dem Handschuhfinger, auf der Brust. Alle Leute müssen es sehen, er ›macht ihr (die Braut) ehrlich‹.

Seit sie im ›Karree‹ geht, heißt sie ›die Braut‹. Die großen müden Augenlider, ihr zaghaftes Ansprechen der Männer gab ihr den Namen.

Schläfrig geht sie an seiner Seite. Ihr alter trauriger Vater und zwei Männer, Bindedrahts Bekannte, folgen als Trauzeugen.

An den Fenstern der alten wackligen Häuser lauern die aus den Betten gekrochenen Kolleginnen der Braut, es ist ja Trudes Ehrentag – ›Heite wird sie sittefrei!‹

Das von Ludwig von Hofmann mit Bildern geschmückte Standesamt in Alt-Berlin erlebte manche solche Trauung. Der Stadtbezirk hat viele solche Existenzen.

 

100. Mansardenzimmer eines Mädchens. Aquarell-Studie nach der Wirklichkeit.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

Die allzu aufgeklärte Jugend und neugierige Frauen erwarten beim Amor des Standesamts das getraute Paar. Schiffer, alte Freunde der Braut, die sich am Bollwerk der Spree aufgestellt haben, rufen lachend rüber: ›Trude, wir gratulieren dir! Haste ooch keene Angst vor die Brautnacht?‹

*

Die Krebslene (sie hat den Brustkrebs), die Wirtin von Schnalles Stammkneip«, erwartet das Paar schon vor der Schenke. Mit lauerndem Blick: ›Na, alles dufte? Habt ihr eire Klamotten zusammengeschmissen?‹ Sie eilt befriedigt nach der finsteren Küche, um den Festbraten, eine von einem Freier Trudes gespendete Gans, fertig zu schnuddeln.

Die Freunde Bindedrahts, die Zunft nennt sich unter sich ›Brider‹, sitzen schon, wie alltäglich, saufend, rauchend und bei sonstigen guten Dingen beim Kartenspiel.

*

Dann aber ruft der lange Paul in seinem natürlichen rauhen Ton: ›Emil, nu ran hier, zieh de Handschuh aus, es fehlt een Dummer am Tisch!‹ Emil spielt mit.

*

Trude sitzt in Krebslenes altem Lehnstuhl und schläft, ist sie doch bis gegen Morgen das Karree abgegangen.

In die noch von etwas Frühlingssonne erhellte Gaststube schleicht sich eine kleine, verhutzelte, scheu blickende Frau. Das zerknitterte seidene Kleid zeigt, daß es selten aus dem engen Kommodenkasten rauskommt. Sie schiebt schnell hinter den großen Ofenschirm – Bindedrahts Mutter, Kuppelbosten.

Die Sonne, das große Licht, ist ihr zu hell, ein beinah unbekannter Stern. Ihr Platz ist nachts an der Kochherdecke, horchend auf knarrende Treppenstufen, Tür öffnen – Geld nehmen – Tür schließen. Der fensterlose Liebesalkoven gibt ihr am Tage Nachtruhe.

*

Trude träumt, grübelt. Emil will sie nicht mehr auf den Strich schicken, weil sie immer müde ist. Sie soll ihm alles sauber halten. Aufwartestellen bei alten Herr'n annehmen, alte Kunden kämen noch genug von selbst.

 

101. Treppe im Krögelhaus. Eine der ersten echten Zillekompositionen aus dem Jahre 1891.

Nach dem Original zum 1. Mal veröffentlicht.

 

›Ja – nee – bloß nischt mit die Sitte mehr – und Fröbel (Frauengefängnis) – nee – nich riechen.‹ Sie weiß, er hat noch drei zu loofen, vielleicht lassen sie'n mal alle wer'n – jäh schreckt sie auf –

›Emil, wann ziehste in eire eijene Wohnung?‹ fragt mit schnarrender Stimme Salon-Willi, ihr früherer Liebster, während des Kartenspiels vom Nachbartisch rüber. ›Det hat noch Beene, eene Schwindsichtige is' noch drin, die nibbelt aber bald ab (stirbt bald). Dann muß se ausjewanzt und tapziert wer'n, ooch sind Schwaben drin – so lange kann se noch loofen!«

Mutter Bindedraht wird unruhig – es ist spät, die Pflicht ruft, lautlos, wie sie gekommen, schleicht sie sich weg.

Krebslene macht Feierabend. Nun geht's noch zum Schlesischen Karl, eine Straße weiter, wie alle Abende.

Nach alter Gewohnheit läuft Trude allein auf dem anderen Bürgersteig. Ein Mann spricht sie an, aber Emil ruft rüber: ›Hau ab, Trude, heite nich!‹«

Z.

*

Einige von Zilles Bildunterschriften, die bestimmte Seiten seines Milljöhs beleuchten, seien hier noch mitgeteilt:

Auf dem Flur des Kriminalgerichts in Moabit sagt »Kriminalstudent« Bolle, genannt: »Der Lindenpinscher!«:

»Unter drei Jährikin kommt der da drin nich weg. Junge, Junge – wie mußt du dir amüsiert hab'n!«

Von dem Kulturzustand der Rummelplätze zeugte eine Unterhaltung aus einer Ausstellerfamilie:

Auf dem Rummel.

»Wat schrubberst de denn uff de Lola rum –«

»Na heite als Engel mit det weiße Triko – da scheint ja allens durch!«

 

102. »Heute jibt's keen Frühstück! Vater is in Tegel un Mutter is nach de Entbindungsanstalt jebracht!«

2. Figur zu dem Bild.

Nach der bunten Originalstudie.

 

Was Kinder in gewissen Kreisen zu hören und zu sehen bekommen und was für sie ganz selbstverständlich ist, erläutert:

Frau Storchens Ruhetage.

»Wo is denn eire Mutter, Kinder? Is se uff Kundschaft?«

»Uff Muttern kenn Se diesmal nich rechnen, die sitzt schon drei Wochen, die hat Mißjeburten jemacht!«

*

Und wie Vater und Mutter ohne Rücksicht auf ihre Sprößlinge ihrem Vergnügen nachgehen, kritisiert Zille:

Beim Morgengrauen.

»Ach Jotte ne, Mann, kiek doch, wie munter Erich aussieht, hat der aber ooch gepennt im Geigenkasten!«

*

Das führt dann zu den vielen Kindergräbern und Kinderbegräbnissen, von denen Zille zu melden weiß:

Zur Mutter Erde.

»Besauft eich nich und bringt det Sarj wieder, de Müllern ihre Möblierte braucht'n morgen ooch.«

Die Dürftigkeit, die nicht einmal einen eigenen Sarg fürs Kind der Liebe kaufen kann, macht die Mutter auch oft lieblos, wie das illustriert wird:

Beim Photographen.

»Warum nicht zwee Bilder, Freilein, von die Kleene; vielleicht vor'n Bräutijam eens?«

»Den Affen! Ick will bloß een Andenken von det Kind, heute abend setz' ick die Jöhre aus!«

Das sind die Folgen jener Freuden und Zillefeste, die in mehreren andern Kapiteln geschildert sind und die hier ergänzt seien durch die Unterschrift vom

Erntefest auf dem II. Hof, Berlin O.

Maxe, komm in' Kientopp rin,
Heut' wechselt det Programm,
Wir nehm' 'nen reservierten Platz,
Wir rücken dicht beisamm'.
Maxe, wenn et dunkel wird,
Dann macht es riesigen Spaß,
Wir knutschen, knutschen, knutschen uns,
Bis wieder brennt der Gas.

 

103. Das Fräuleinskind. Meist sah man die kleine Anna in der Gosse spielen. Ihr gekrümmter Rücken und die zusammengezogenen Beinchen ließen sie nicht mit anderen Kindern umherspringen. Nun ist Annekin im Himmel. Die Engel haben den Buckel aufgemacht, die gequetschten Flügel rausgelassen und geplättet. Sie jubiliert in Luft und Sonne. Auf dem Weg zum Kirchhof, ihrer ersten und letzten Wagenfahrt, gab ihr der Himmel Regengeplätscher für Musik und Tränen. Und doch, der Tod, der alte Gleichmacher, erfreute die Mutter noch. Er verbesserte dem Schöpfer sein Werk. Die gekrümmten Glieder streckten sich, grad und schlank lag Annekin zum ersten Mal – aber im Sarg. »Ja, Freilein,« sagte die alte Nachbarin, »so'n kleenet Kind is eijentlich erst scheen, wenn's tot is!«

 

Auch auf die Tanzfeste hat Zille hingewiesen.

Maskenball des Gesangvereins »Hoffnung«
                (gemischter Chor).

»Herr Wirt, jeben Se mir mal von Ihr Zweirad die Luftpumpe; een Herr hat mir soeben den Busen injedrückt!«

*

Ein Lieblingsfeld seiner Studien und Schilderungen waren immer die Freibäder. Deswegen seien auch hier noch einige Scherze mitgeteilt, die Zille im Freibad einfielen:

Man kann auch »zu Hause« naß werden.

*

»Der kleene Dicke – der sieht doch aus, als wenn det Thielscher wäre!«

»Thielscher – der kommt doch nich' her!«

»Na – der will doch ooch mal baden!«

*

»Die Menschen sind doch viel lustiger im Wasser.«

»Gewiß, hier müssen sie den Kopf hochhalten.«

*

»Erst wollte mich der Olle uff Händen tragen, un' nu nimmt er den janzen Buckel dazu.«

*

Die Dichterin Elfriede von Köckeritz wird durch das Gemurmel der Spree und das Rauschen des Schiffes elegisch angehaucht – aber sie kann's nicht bannen – sie hat nichts zum Schreiben. Da kommt ein jovialer Berliner ihr entgegen.

»Mein Herr – bitte – haben Sie vielleicht ein Stückchen Papier?« –

»Och – nehmen Se doch Jras!«

*

Aufklärung.

»Mutter, warum baden die Leite nich' nackicht?«

»Weil se sich dann nich' kenn seh'n lassen.«

 

104. Wochenende.

»Wenn de noch lange kiekst – schielste!« (Luftbad an der Havel.)

Aus Hans Ostwald: Urberliner Band I.

 

*

»Maxe, warum trägt man eijentlich Trikots?«

»Damit et nich so piekt, wenn man sich uff'n Kienappel setzt.«

*

Zille kritisiert oft auch gewisse Mängel, wie das im Kapitel »Zille als Sozialkritiker« ausführlich behandelt wird. Aber seine Kritik klang meist spaßhaft. Sein Ärger über das Gefrierfleisch, mit dem die ärmere Bevölkerung vorliebnehmen muß, machte sich Luft:

*

Das überseeische gefrorene Hammelfleisch.

»Minna, det Fleisch is hart!«

»Mann, vielleicht steckt noch Frost drin!«

*

Und daß Berlin außerdem auch seine k'essen Armen hat, bewies Zille mehrfach und auch mit der Zeichnung vom

Abend im Tiergarten.

»Keene Bleibe, lieber Herr, jeben Sie mir een Jroschen fürs Nachtlager!«

»So? Sie haben ja noch 'ne Zigarette!«

»Aber Mensch, uff die Zigarette kann ick doch nich schlafen!«

*

Ein buntes Kaleidoskop von Menschen, Zuständen, von Irrungen und Wirrungen: das ist Zilles Milljöh. Mit einer bewundernswerten Universalität hat er es »ins Auge geklemmt« und wiedergegeben – was in diesem Kapitel und auch sonst in diesem Buch berichtet, dargestellt und erläutert wird.


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