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Das verschleierte Bild

(1913)

In einer dunklen Kammer
erwachte ich. Das Korn war süß gedroschen.
In Seelen schrillstem Jammer
tobte mein Herz. Die Kerze war erloschen.

Paul Adler

 

Nach dem zeremoniellen Schlußakt jener peinlichen Geschehnisse der letzten Tage war Arnold Mittelsten-Scheidt mit ein paar zuverlässigen Freunden in das Klubhaus gefahren.

Er dachte –: ein wenig Zerstreuung wird meine demolierten Nerven wieder ordnen, Musik, das dumme Quälen der Gehirnmaschinerie stoppen … Es gibt Mittel, die unfehlbar sind. Z. B.: Ich tanze mit Ruth. Oder: der Kakadu fordert mich auf, mit ihm über den Ursprung der Blattlaus zu diskutieren. Aus Negativem muß sich Positives destillieren. Wenn man nur den Atem zur Zeit einsetzt, da der Puls einhundertdreizehn schlägt … Nach Hause zu gehen, jetzt, nach dem noch frischen Eindruck des Begräbnisses, darin ich eine verzweifelt lächerliche Rolle gespielt habe, ist mir unmöglich. Es gibt Hindernisse, die Sterne rieseln, wenn man sie mit angezogenen Beinen überspringt …

Er war zudem froh, mit knapper Not den wehleidigen Gesichtern der Verwandten entronnen zu sein, die sich nicht gescheut hatten, ihm die Vorzüge, die körperlichen wie seelischen Kostbarkeiten der »teuer Entschlafenen« möglichst tief in den Schädel einzuhämmern.

Diese unglaublichen Barbaren! Diese verfetteten Bürger –: Ihm die Vorzüge seiner Frau einzubläuen mit den vergifteten Ruten taktloser Manieren.

Diese Eintaglinge –: Denn die Frau hatte wirklich nicht des Todes bedurft, um sich von eines Mannes Brust zu lösen. Sie hatte ihre Höhe in Schwindeln überstiegen. Ihre Liebe belichtete andere Gestirne mit einem Mai voller Kirschblüten und Stechapfel.

Wie sehr hat sich doch alles geändert.

Was sind das für Zufälle, was ist das für eine Erde!

Arnold Mittelsten-Scheidt sagte darum zu den versammelten Freunden, Dumpfes und Bohrendes abschüttelnd –: Da man von den Toten nicht sprechen darf, reden wir von Java. Die erste Sorge muß die sein, von seinem Curacao den Alkohol abzubrennen.

Man bemühte sich, nachdem die Zigarren funkelten und der Likör in den Kelchen irisierte, den flüchtig eingesogenen Inhalt der Mittagsblätter wiederzukäuen.

Pegoud, Eisenbahnkatastrophen, Denkmaleinweihung und die letzte Filmattraktion hielten geduldig hin. Die Zigeunergeige, mild von Baß und Cello geregt sang Siegmunds Kußverstiegenheit.

Die Hande drehten sich zu den Stirnen herum. Und die Gehirne versuchten krampfhaft die geregten Dinge so zu ihren Gefühlen herzu zu leben, daß sie sich weiteten.

Aber es wurden nur Klüfte, durch die der Wind der Seelen hinzog an den Hängen, deren Verschiedenheit zueinander klar erfühlend. Es gab daher keinen Zusammenklang der Gefühle und Meinungen.

Zugleich kam ein pfeifenhaftes Zischen von außen herein und schlug einen Hauch von Kühle auf die Gesichter. Die Kinnladen sanken fröstelnd herab. Die Unterhaltung stockte und zerschellte schließlich an dem Felsen Unsicherheit. Das Licht des freien Willens erlosch in jedem. Der Tod bewohnte die Ampeln.

Die Freunde verharrten noch ein paar Minuten in der drückenden Leere. Ermunterten sich manchmal zu einem Witz. Hänselten die Kellnerin. Eine Blondine am Kamin räusperte sich –: macht die Augen auf!

Und dann kam ein räusperndes Sich-Erheben aus dem zwecklosen Sitzen auf Sesseln. Man entschuldigte sich mit dringenden Geschäften. Der eine hatte die Geliebte im Tiergarten bestellt. Ein anderer war von der Schwiegermutter zum Bahnhof beordert. Rotlauf, der Demokrat, schließlich hatte eine Audienz beim Kaiser.

So warfen die Worte, die jeder sagte, den anderen Schatten zu, hinter denen sie sich verkrochen.

Arnold Mittelsten-Scheidt, ärgerlich, daß er immer wieder versank, wo Auffahrt ins Magische Opiat hätte sein können, pfiff endlich ein Auto heran.

Das betäubende Schaukeln der Karosse auf dem feuchten Asphalt, das daktylische Knattern des Motors und der ohne Genuß hinuntergeschüttete Alkohol bewirkten einen verschütteten Halbschlummer, aus dem der auf solch merkwürdige Art trauernde Witwer erst erwachte, als das Gefährt im Vorgarten seiner Villa hielt, die ihm der seriös veranlagte Schwiegerpapa als Hochzeitsgeschenk präsentiert hatte.

Das Haus, etwas abseits von der viel befahrenen Allee und tief im Wipfelschwarz alter Kiefern, lag wie ein Riesensarg da. Nur aus dem Vestibül drang durch die Buntglasscheiben abgedämpftes Licht.

Hastig betrat Arnold Mittelsten-Scheidt die Diele und ließ sich von dem stereotyp schielenden Diener den Überrock aufknöpfen. Jedes weitere Harren auf Befehle schnitt er dem Burschen ab.

Unbestimmtheiten verwickelten sich. Ohne bewußte Überlegung schritt er den Gemächern seiner verstorbenen Frau zu. Betrat den kleinen, grünseidenen Salon, der ihr als Lese- und Empfangzimmer gedient hatte und knipste Licht.

Die Möbel tönten –: »über allen Gesetzen ist Ruh'«.

Schneidend und wie strafend blänkerte das weiße Zifferblatt der um den Schlag gebrachten Uhr.

Es roch nach Rotklee.

Die Decken auf den Tischen spreizten sich unverrückt. Und da fand er noch alle Gegenstände unverändert auf ihren Ruheplätzen, so, als ob die gewesene Wohnerin gleich wieder hereinkommen müßte, um die abgebrochene Lektüre oder eine angefangene Stickerei zu einem gefälligen Finis zu vollenden.

Ein peinliches Gefühl von Unsicherheit befiel Arnold Mittelsten-Scheidt, als er sich in das Fauteuil niederließ, darin Lydia lange Winterabende einsam verträumt oder grüblerisch durchwacht hatte.

Mit starren, raschen Läufen glitt sein Denken über die Zeiten hin und stolperte über die Stunde, da die Entscheidung scharf – ein Beil – in dieses Frauendasein gefallen war. Und er war nur Zeuge des langen, grauenvollen Zuckens gewesen.

Da begann der wunschlose Wille, der ihn hierher geführt hatte, sich zu wenden. Er war mitten in der Erregung heikler Erwartungen. Ein Abgrund riß sich auf. Ein Schrei wie von der Ewigkeit her. Ein Nervenrieseln fuhr Arnold Mittelsten-Scheidt um die Augen und zitterte dem Halse zu.

Mechanisch hob er den Kopf empor und spannte das Bild in seinen Blick hinein, das er von einem verrückten Maler hatte malen lassen kurz nach der Heirat.

Er hatte das Bild schon in der Entstehung gehaßt, und nach der Vollendung war es nur zufällig der Vernichtung durch seine Fäuste entgangen. Er hatte das Bild verlogen und literarisch empfunden. Die Farben, wie ihre Töne auch klangen, hatten Übelkeiten erregt. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Linien waren jener faule Zauber von Freud her. Scharfe Ränder, des Profils wuchsen zur Unzucht aus. Es war einfach unerträglich.

Der Maler durfte sich nie mehr sehen lassen. Für dergleichen Schweine gab es einfach keine Beachtung des Höflichen.

Frau Lydia aber war anderer Meinung gewesen und hatte sich geschmeichelt gefühlt, als das Bild von Ausstellung zu Ausstellung gehetzt, in unzähligen Journalen vervielfältigt wurde und den Urheber in den Vorraum der Kaltwasserheilanstalt gebracht hatte.

Arnold Mittelsten-Scheidt wog die Konturen des Gesichtes auf diesem Bilde, dessen Kurven er sich eingeprägt hatte bis auf den letzten Schlagmuskel des Gehirns, noch einmal prüfend nach. Es wölbte sich vor ihm, brach nieder, drang tief ein.

Er betrachtete die schmalen, fast grausamen Lippen, die von einer unglaublichen Hellröte waren, die lange Nase, deren Flügel zu vibrieren schienen, die großen mandelförmig geschnittenen Augen, in denen der Widerschein einer schlummernden Traurigkeit und dahinter verlangende Besessenheit glimmte, den Turmbau des Haars, von dem schwarze Nattern herabzüngelten.

Ein leicht ins Grüne glitzerndes Blau erfüllte den Hintergrund, zog sich sanft violett ins Nähere und war dann wie ein Schleier. Und nun hatte er an dem einmal summierten Resultat nichts zu ändern –: Der Lump, der diese sadistische Fratze als das Porträt der Frau Lydia ausgegeben hatte, war der feigste Lügner auf Gottes Erde.

In gewissen Stunden hätte man diese Lüge schon lieben können. Näher aber lag der Haß, weil das Reale, das oft ersehnt wurde, sich versagte. Zumal in solchen Nächten, wenn ein Traumbild ähnlicher Lust als ein Anreger in ihm hineingefallen war und als Tat aus ihm hinausspringen wollte.

Den Hebel hatte er jetzt wieder in der Hand. Nun soll er entscheiden. Darum sagte er ruhig vor sich hin –: »Der Tod war ihre Bestimmung. Lydia war eine von jenen Frauen, die sterben müssen, ehe das Alter, dessen Last sie nicht fähig sind, zu tragen, die leicht zerstörbaren Madonnenzüge durchfurcht und zu mütterlicher Milde stimmt. Kann so etwas ein Unglück sein, was natürlich ist? Nein, was notwendig ist, ist berechtigt und in der Ordnung. Warum denn also dieses Grübeln hier? Ich bin nicht bei Verstand. Es ist zu heiß hier.«

Er betrachtete das Bild unruhig von der Seite. Sein Gehirn schmerzte unerklärlicherweise von irgendwoher.

Gewiß, er erinnerte sich gern einer Lydia im Anfangsstadium. Ihrer scheuen mimosenhaften Art, ihrer kindlichen Ehrfurcht und Bewunderung, mit der sie zu ihm emporgeblickt hatte. Und es war ihm mancher Nervenstrang gesprungen, ehe er sich daran gewöhnen konnte, sie wie ein Kind, wie eine leicht zerbrechliche und unalltägliche Sache zu behandeln. Zweifel –: Könnten neben diesen fürchterlichen Fehlern auch noch andere Seiten in ihrem Dasein gespannt sein? kamen ihm zwar. Das war jedoch ein Gehen zu unerwünschten Zielen. Wer aber sucht in Nächten der Not einen unbekannten Weg? Wer noch spricht dann von Seele? Frommt es, unwissend sich zu stellen, oder frommt es, die Erkenntnis aller Menschlichkeit bloßzulegen bis auf die letzten Fasern? Gibt es eine Wiedergeburt jener sinnlichen Trägheit, die alle Empfänglichkeit für revoltierende Reize zurückgestoßen hatte, weil das Gehirn sich in geistige Anstrengungen hinaufzuckte, auch unter dem Anhauch einer fröstelnd bigotten Frau?

Ihr Körper verbindet Blut nicht zu einem Weg, ihr Gehirn Mut nicht zu einem Wald.

Es ist das Schicksal einer ermüdeten Zeit, ein Leben voll Muskeln daran zu verschwenden.

Ein kaltes Leben ohne Wasserfall und Alpenglühen. Der Tod steht darin wie ein kirchenbestandener Sandhügel.

Es vernichtet Gefühle und Dinge.

Es ist ein trockener, schmerzhafter Grind …

An diesen Gedanken vorbei hatte sich Arnold Mittelsten-Scheidt allmählich zu einem fast Alternden gewandelt. An der Frau nur die nie herangeträumte Verehrbarkeit ausgeübt. Denn so erbat eine (wenn auch edle) Kranke die Tat des Einheitsseins.

Oft hatte er auch in wilden Sturmnächten, wenn die Fenster klirrten und Blitze den Ampelschein zerfetzten, aufgeschrien und der traurigen Gefährtin seines Weges verraten, was sein Blut sich ersah. Aber sie, die nichts mitzuteilen hatte, wo elementare Wucht die empfindsamen Schatten der Weltseele zerbrach, blieb finster und unnahbar im Schleier der Scham und des Tränenspiels.

Und als er einmal hinterhaltslos zwischen zwei Küssen gestammelt hatte: »Deine Küsse!« war sie aufgefahren wie eine Purpurwolke –: »Was ist Dir? Du! Was ist? Was ist? Was …?!«

Und zog sich dann wieder zurück hinter den grauen Flor ihrer Augen und ließ seine unbändige Bluterhebung in unklarer Ferne weiterschwimmen. Unter den Panzerungen der Herzkälte bewegten sich nur verdächtig die Brauen und wölbten sich zu spitzen Bögen.

Das zermalmte ihn maßlos.

Dieses Nichthineindringenkönnen in ihre Haut bis auf die Muskeln zum Geschwelltsein.

Leise Gespräche gingen dann nach einer langen Pause. Der Tonfall eines von Weiden überschatteten schwarzen Wassers.

Lydia griff nicht häufig zu diesen Mitteln. Aber die Dynamik des Hirns zu ihnen hin war unbeirrter im Anlauf und so wie tausendfach durchgeprobt.

Arnold Mittelsten-Scheidt konnte sich nur mit einem unflätigen Wort aus dieser ihm peinvollen Situation retten.

Er wußte, daß er damit den ganzen Abend zerbrach.

Und dann verschwand Lydias Gesicht aus dieser Maske. Sie war wieder ächzende Empfindlichkeit, jeder Laut stach sie wie eine Nadel, jedes Ding, das sie sah, vermannigfaltigte sich zu ermüdenden Massen, die über sie stürzten und dort, weit weg war es wieder da, das Drohende, Seltsame, vor dem ihr Gedanke in flatternder Unruhe zurückprallte, obgleich sie kaum mehr davon wußte, als der Stunde geschlagene Bezeichnung.

Arnold Mittelsten-Scheidt lief hinaus. Nahm den Wagen und tobte sich in verrufenen Lokalen aus.

Doch wenn er anderer Frauen Trunkenheit als Zerknirschter erlebte, mieden ihn die spukhaften Gesichte auf der Stirn Lydias.

Und dann strafften sich seine Sehnen wieder für Wochen. Und Lydia gegenüber blieb ein harter Haß und stand als Strich Verzicht in klaren, straffen Linien des Geschickes über ihrem Haupt. Dieser Zaun zwischen zwei Individuen war wenigstens greifbar.

Und fühlte sich in Wirbeln vorwärts gestoßen.

Manches Mal konnte er noch keuchen: Befehlen kann ich es dir nicht. Gott noch hat nicht die Macht, befehlend zu zerstören, was er schuf.

Und darum war Arnold Mittelsten-Scheidt gar nicht so sehr erstaunt, die Trauer über ihren Tod nur als eine lästige Angelegenheit eines unglücklich begonnenen Tages zu empfinden. Der Gedanke an ihren Fortgang wirkte wie die erlösende Tat eines Selbstmörders, der die Grenze der Möglichkeit vor Menschen erreicht hat.

Und vor der Erinnerung an den entseelten, farblosen Körper bebte er heftig zurück wie vor etwas Aussätzigem, Beschmutzendem.

Dachte, die Stirn zerfaltend –: »Warum eigentlich bin ich in dieses Zimmer getreten? Hörte ich mich von irgendwem gerufen? Ja, es ruft wer! Jemand, der langsam auf und ab geht. Mir näher kommt. Noch wundere ich mich, wer es sein mag. Ich fühle, daß das Warten meinetwegen da ist. Aber ich mag noch nicht näher treten. Ich will nicht, daß mich etwas berührt. Mich an sich zieht. Ohne daß ich ein Wort sage, mir Antwort gibt …

Da fängt das Herz an zu klopfen. Der Blutpuls dringt in meine Ohren. Ich höre viele Worte. Eine Melodienkette. Die Möbel beginnen zu tönen. Die Luft tönt, wie wenn ein Strom schmutziges Februar-Eis durchbricht. Ich fühle schon, wie es mit Krallen die Stirn befährt, wie es in meinen Angst-Rillen sich vorwärts tastet in Kurven zu den Konturen der Vergangenheit …«

Arnold Mittelsten-Scheidt verzog den Mund zu einer schmerzhaften Wunde.

Waren das Fragen einer verzweifelten Seele? Oder der gebliebenen Maske sieghaftes Glühn aus eigener Macht?

Er zündete sich eine Zigarette an. Sah dem Rauch nach, der einen Schleier um die Glühkrone hüllte. Er webte mit Anstrengung aller Phantasie Figuren und Ornamente in dieses Rauchgespinst und glaubte damit die quälerische Spannung des Gehirns abschneiden zu können.

Es geriet jedoch nicht. Die grinsenden Mundwinkel schnitten das Gesicht bis in die singende Gasflamme hinauf.

Da griff er plötzlich nach einem aufgeschlagenen Buch, das breit auf dem zierlichen Diwantisch lag. Alle seine Gedanken fest verknotend, versenkte er sich darin, bis er bei einem Satz innehielt und ihn mechanisch wiederholte –:

»Jedes Ding hat eine begrenzte Weite. Am Ende fehlt es. Die Gefräßigkeit der Zeit, welche die körperhaften Umrisse zerstört, wird auch dich verschlingen wie morsches Gras.«

» Non sum qualis eram,« setzte er unwillkürlich zu.

Und wußte wirklich nicht, woher ihm diese jähe Gedankenwandlung gekommen war. Aber er fühlte plötzlich, daß sie, an deren verzwickter Psyche sein kühles Gehirn vorübergerast war, mit unerbittlicher Klarheit auf den Tod vorbereitet hatte.

»Warum nur?« fragte er sich verletzt.

Habe ich gelogen, daß sie häßlich war, wenn sie küßte? Und daß sie tötete, wenn sie sich verweigerte?

Oder rufen die ihrer Art so ihre Gier, ihre Wollust und ihren Triumph?

Dann wären sie allerdings keine schmähbaren Felsen mehr. Dann könnte ein Gott Priesterinnen besonderer Lust daraus züchten!

Das mühsam aufgezimmerte Gleichgewicht seiner Seele geriet ins Schwanken und zerbrach klirrend. Und er sah wie in einem fremden Spiegel seine ganz menschlich gemeinten Taten und Absichten in wahnsinniger Verzerrung durcheinander wirbeln. Sah sie sich zu einem Bilde sammeln, das von satanischer Entsetzlichkeit war.

Er schrie auf: »Die Vergangenheiten sind Weckuhren! Wir wachen nach und nach zu den schmerzhaftesten Sensibilitätsformen auf. Warum beendet kein realer Ruf von draußen diesen hellwachen Schlaf?«

Eine grenzenlose Furcht fröstelte ihn an und trieb alles Blut aus dem Herzen in die Schläfen hinauf.

In zitternder Hilflosigkeit zwang er seinen Blick wieder zu der Wand empor, von der das Bild herabstarrte.

Aber er erschrak plötzlich vor dem jäh veränderten Ausdruck des Gesichtes von Lydia.

Der scharfe Schnitt des Mundes war zu einem begehrlichen Riß geklafft über den hergewiesenen Zähnen. Zu Wünschen schien Hals und Kinn gereckt. Die Augen zischten wie Schlangenzungen vor, und wie Gipfel von einer Gebirgskette standen die zwei bläulich erglänzenden Brüste? Vor ihnen breitete sich die schimmernde Fläche des einer weiten Kuppel gleich gewölbten Leibes. Und hoch darüber brannte das Haar in grün-gelb-rot und blau-bengalischer Lohe.

Eine Stimme zuckte empor. Umstrickte ihn mit von innen heiß zischenden Schaumperlen.

»Zerstöre sie!« war sein Gedanke jetzt. Er dehnte die Brust –: um ihn stauten sich Wassermassen. Er keuchte nach Luft. Und brach zusammen unter dieser mörderischen Halluzination. Er fühlte jetzt klar und deutlich, warum sie geflohen war vor ihm.

O Schwächling!

Blinder Krüppel!

Woran sie gestorben war?

Ha … ha … ha … ha!

Heute forderte sie ihn heran!

Felsen ins Tal zu wälzen!

Hier war kein störendes Widerspiel.

Hier sprach eine das, was ihre Form ersehnte, entbrannt an ungespürten Dämonen der Liebe.

Wird ihr Gehirn ihm heute gut entgegenspielen, ihr ihn halten helfen? So, daß die Schemen von den Visionären, denen das heiße Blut im Kopf sich entzündete, gesehen würden?

Besessen brüllte er auf: »Ja du, erlöse mich! Dein Umfang ist höher und tiefer als dein einst wandelnder Leib!«

Ein langer, dürrer Zeigefinger bohrte sich in seine Stirn. Jemand blies seinen trockenen, heißen Atem in seinen Mund. Jemand, der sich über ihn beugte, auf die Ellenbogen gestützt. Jemand, mit Augen, die in der Schwärze weißglühende Nadeln spießten.

Und plötzlich hakte es sich in ihn und zog den Willen zurück vor diesem letzten Sprunge.

Wie wuchtig gestoßen stürzte er hintenüber und färbte mit seinem Blut den Teppich rot.

Und die Lampe erlosch und beschwor seine Seele aus dem Traum der Nacht.

Unendlich scheinend rauschte, ihn feuriger zu umhalsen, ein Bündel goldner Sterngarben.

Und auf den fünf weißen Strähnen, die der Mond durch das Zimmer spannte, spielte ein dumpfbesinnungsloser Schlaf –:

» O quantum est in rebus errare


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