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Das Ereignis

(1913)

Das blatternarbige Antlitz
meiner Wahrheit
enträtselt sich zur Wahrheit.

Franz Werfel

 

Geht man östlich vom Niederrhein die breite Heerstraße hinauf, schrumpfen die braunen Acker krumm zusammen. Heide und Schlehdorn flankieren Gräben. Waldfetzen krümmen sich wie arme Mysterien. Steinadern laufen quer über den Weg, springen ins Feld und heben die Acker höher und höher empor.

Unten der Fluß, gewaltsam in enge zerklüftete Rillen gezwängt, ist ganz schwarz, blau und grün von dem ausgestoßenen Unrat der Färbereien. Giftiger Brodem entsteigt dem Gewässer und beklemmt den Atem aller Kreatur. Geistert eine irre Angst uferentlang.

Und die Menschen, tagsüber in dumpfe Löcher der Werkhäuser gepfercht, leben ein greises Fronleben wie eine strenge mönchische Religion. Sie kleiden sich in stumpfes Schwarz, geben ihren Kindern biblische Namen und sind kalt und verschlossen in Gesprächen mit fremd hier her Gereiften.

Dreimal in der Woche versammeln sie sich im Gebethaus, hören die strafende Prophetie des Predigers und werfen sich zerknirscht in den freudlosen Tag. Ihre innere Ergriffenheit ist eine Wabe voller Buße und einem Murmeln –: Erlöse uns von dem Übel!

In breiten Stromstürzen bricht es hernieder und schluckt alle abseitigen Geschehnisse im Wirbel hinunter. Es dünkt allen unnütz und töricht darüber zu grübeln. Alles ist zu gleicher Zeit so nebensächlich. Gott formt alle Dinge so unmerklich zu einem begreiflichen und widerspruchslosen Sinn, wie aus einer lauen Juninacht ein Sommertag wird. Es ist ein Meer des Schweigens dazwischen und die nebeneinander kreisenden Reize breiten sich in der Stille so ungestört von aller anderen Bewegung aus, als wäre etwas ganz besonders Merkwürdiges um die Stunden, Tage und Jahre in diesem zeitlosen Tal nur für die Abseitigen.

Nur einmal fiel ein dumpfer Schlag in die graue Monotonie ihres Friedens. Lauter als das Geräusch der über Schienen hinratternden Räder war der Mißklang, den das Aufschlages des Ereignisses verursachte. Es lenkte mit seiner Schwere den Pendel-Mensch in eine unerhörte Schwingung, der die Sprache, die hier gesprochen wurde, keinen Namen wußte, und dem Gefühl keine Farbe. Sie vernahmen es und erfaßten es nicht. Sie fühlten es auf der Zunge brennen und schmeckten es nicht.

Und dieser unerhörte, Wellen und Spritzer schlagende Stein war Sahra Wallbrecker.

Sie stand damals in der Zwanzigermitte. Drehte den Webstuhl wie alle anderen Mädchen in der Stadt. Singend und mit frommem Augenaufschlag. Sie war hager, blaß und sommersprossig. Das Haar ohne Kämme, nur von wenig Nadeln gehalten.

In der Weberei sprach sie nur das der Arbeit Gemäße. Ließ sich von den Zungen Männern niemals heimbegleiten, voller Furcht vor etwas Fremdem. Paare betrachtete sie mit Entsetzen. Vor ein paar spielerischen Hunden erbrach sie sich.

Zuweilen duldete sie den Vetter neben sich her. Der war verwachsen und hieß Josua Carnap.

Er hatte ein abstoßendes Gesicht. Seine Stirn war von einer bösen Krankheit zerfressen. Aber die runden wässrigen Fischaugen flammten immer auf, wenn er neben Sahra schritt. Mit affenhaft langen Armen fieberte er hin und her und forderte liebendes Erhören in alles Erflehte hinein, das der Spiegel seiner Sinnlichkeit stellte. Und eine Fäule hatte sich mit der Zeit in seinen Mund gefressen, die fremd in dieser Stadt war und darum anderen nie bewußt wurde.

Sahra aber sprach zu ihm immer hart und ohne Wärme. Wurde er hündisch zudringlich mit Gebärden, dachte sie ihn strafend fort. Oder hob die Fäuste und schlug ihn, wenn er nach ihren Schenkeln tastete. Denn sie allein fühlte, daß sein Blut sah. Durch die schwarze Verkrochenheit und den Kleiderwülsten ihre heimliche Nacktheit sah, die einem Götzen aufgespart war, dem sie den stumpfen Glanz ihrer Augen zuwarf. Lange und ohne Scheu.

Es war einfach unerklärlich, nach einem Erhöhten zu gieren. Und bestärkte sie doch in ihren Vorsätzen: es zu Ende zu tun.

Sie verglich ihn mit den anderen Männern. Er blieb unbeschreiblich.

Er hatte einen Schein um sein Haupt. Und obwohl sie nie Worte miteinander gewechselt hatten, lag seine Stimme ihr groß und mächtig im Blut.

Und das war der Prediger der Stadt.

Zu ihm hin glänzten betend dieses Weibes Brüste. Gähnten die bußbereiten Arme wie Zangen. Und jedes gesungene Lied, das nur in den Worten Gott galt, lenkte mit seiner Melodie den Ruf: »Zu mir!«

Sie sah sich in ihrem Stolz: jemand beherrschen zu dürfen.

Sie träumte davon. Viel und gern.

Sie mußte, seine Nähe fühlend, oft an sich halten.

Sie beobachtete ihn mit zergliedernder Analyse.

Sie hörte sich eisig lachen.

Und verkroch sich schnell mit Tränen hinter Gesangbuchseiten.

Und entschied schließlich: ich kann von ihm nicht lassen!

Aber der Prediger verstand das lange nicht. Sprach er mit Sahra, klapperten seine Lippen wie geronnenes Blut.

Als ein Paulus gewordener Saul hatte er sich in die Herrschaft dieser Stadt verbissen. Und in ihm, ihren Erniederer, sollten sich alle verflogenen Wünsche die Säfte sammeln zu einem nie erahnten Blühen in Jesu.

Dachte, in diese Stadt gebrochen, schon nach wenigen Tagen: ich werde Unendliches ernten. Nie waren Menschen reifer zum Schnitt. Ich werde mit diesen den Papst aus den Angeln heben und meines großen Ahnherrn Martin Luther Betsaal mit goldenen Kuppeln krönen.

Er glänzte wie ein Schneesturm durch alle Häuser. Er war Tag und Nacht voller Betrieb. Zu Sterbenden holte man ihn, bevor man sich entschloß, den Arzt zu rufen. Mit der Hebamme flankierte er das Bett der Wöchnerin.

Die Schulkinder standen voller Furcht Spalier.

Sahra aber witterte magnetisch die schwebenden Lüste unter der Asche seiner falschen Askese, wenn sie im Betsaal hockte und seine Predigt ihr Blut zurückdämmte. Sie hörte das zwiespältige Pochen ihrer Schläfen wie einen fernen Donner.

Sie dachte: die Zähne zusammen, jetzt gerade! Er konnte ja ihr Gesicht nicht sehen. Sie preßte ihr Herz. Stieß die Fäuste hinein, daß es aufhöre.

Er schwebte auf feurigem Mantel über den Betern.

Sahra vergaß das Amen in solchen Augenblicken.

An jenem Abend aber, als die dunkle Wolke des Ereignisses über die Stadt fuhr und klirrend zerplatzte stolperte sie wie eine Konfirmandin über den schmalen Fußsteg, der zum Betsaal führte.

Sie hatte eine weiße, schwüle Nacht verbracht. Ein Traum hatte an ihrem Blut gesägt wie hundert saugende Egel. Und das nüchterne Frostgefühl des Werktags hatte den Rest des Blutes hinweggespült und die Gelenke versteift.

Sie humpelte wie eine gezüchtigte Magd. Ihre Wangen aber strömten eine hektische Röte herauf. Entsetzen brodelte darunter. Wollte alles umfassen. Zitterte und zerbrach unter der Last. Es ging in der Welt, die sie erahnte, schon etwas vor. Ihr Blick zerteilte die aufragenden Blöcke Fels.

Der Betsaal lag am nördlichen Rand der Stadt.

Es war ein alter zermürbter Bau, durch einen Ritter Gustav Adolfs geheiligt. Lange Bänke aus rötlich gemaserten Eichen streckten sich durch den Raum. Auf dem schlecht gedielten Boden gärte der Schleim schwindsüchtiger Greise. Grüne Pilze wucherten in den Löchern, die das Schuhwerk der ekstatischen Beter hineingewühlt hatte. Aus einem schmiedeeisernen Leuchter, der wie ein löchriger Kanal von der Decke baumelte, fiel armes Licht und spiegelte aus den Vertiefungen die Früchte wie Blut herauf.

Sahra Wallbrecker öffnete geräuschlos die Tür und setzte sich, da der Saal schon gefüllt war, auf einen Stuhl unter der Kanzel. Sie sah sich nicht um, und tat so, als wüßte sie nicht, daß jemand noch da war außer ihr. Sie nickte zerfahren vor sich hin. Hatte noch keine Sammlung und vom schnellen und unsicheren Laufen einen heißen, stoßweisen Atem.

Nach einer Weile hatte sie das Gefühl: Heute muß mir der Prediger eine Gewißheit geben …

Bis das Blut sich wieder krampfte und die Hände in ein Zittern brachte. Da fing das Harmonium an zu tönen. Gequetschte Quinten überschlugen sich.

Sahra Wallbrecker fror.

Die anderen Menschen hielten die Gesangbücher fest in den heißen Händen. Ihr Lied flatterte unruhig durch den Raum. Schlüpfte durch die offenen Fenster. Stolperte hinaus auf die dunkle Gasse. Und blieb an den herabgebeugten Häusern hängen wie ein Vogelbalg, dem der Atem ausgegangen war.

Der Prediger erhob sich rasch und fuchtelte mit seinen schwitzigen Färberhänden in der Luft herum. Er sah hinunter in die aufgerissenen Gesichter der Betenden, bis er das eine fand, darin die Augen wie Irrlichter tanzten.

Er sprach von der Fleischeslust und von dem Fürsten der Sünde, der umhergeht wie ein brüllender Löwe. Er weissagte, daß das Gericht über Nacht kommen würde und ein Keuchen ohne Ende wird sein unter der Skorpionengeißel des Satans. Es werden alle ohne Worte sein, so, als ob ihnen ein böses Fieber Gebet und Glauben wegschwären würde.

Um der Menschen willen hat Christus die Stufen der Angst überwunden und sich selbst entleibt und vor den edlen Eingang des hohen, reinen Gartens gestellt. Aber noch immer donnert die Sünde in starren raschen Läufen über die Zeiten hin, bis die herbeiposaunte Entscheidung des jüngsten Gerichts scharf, ein blitzendes Beil, in dieses Dasein fällt und alles Ungläubige tötet, die Wand der vielen Heidenjahre zersplittert …

Er klappte das große Buch auf und las:

»Und ein starker Engel hub einen großen Stein auf als einen Mühlenstein, warf ihn ins Meer und sprach: Also wird mit einem Sturm verworfen die große Stadt Babylon, und nicht mehr erfunden werden. Und die Stimme der Sänger und Saitenspieler soll nicht mehr gehöret werden, und kein Handwerksmann einiges Handwerk soll mehr in dir erfunden werden, und die Stimme der Mühle soll nicht mehr in dir gehöret werden; und das Licht der Leuchte soll nicht mehr in dir leuchten, und die Stimme des Bräutigams und der Braut soll nicht mehr in dir gehöret werden; denn deine Kaufleute wären Fürsten auf Erden; denn durch deine Zaubere! sind verwirrt worden alle Heiden; und das Blut der Propheten und der Heiligen ist in ihr erfunden worden, und aller derer, die auf Erden erwürget sind.«

· · · · · · · · ·

Ein Weib schrie: »Herr, nimm diese großen, feurigen Augen von mir!«

Es gab Tränentumulte. Die Männer ballten die Fäuste, und der Schweiß stand ihnen in großen Schaumflocken auf den Stirnen.

Des Predigers Gesicht aber blieb fest und entschlossen. Er schnarrte ein zermalmendes Gebet.

Die Gemeinde duckte sich tiefer.

Solche Schuld, wie die der Kinder aus Israel abzuwälzen und Erleuchteten Wege zu ebnen, Satanas zu fliehen und Jesus zu dienen, war der Gedanke ihrer Zerknirschung, die Farbe ihres Ursprungs und die Kurve ihrer Vorsätze, die täglich neu gefaßt wurden.

Gehirnmassen der Rotsucht, noch denkend, aus zerhämmerten Schädeln gestoßen, standen als ein verflucht Verödendes in ihren Tagen.

Wie begnadet, jetzt büßen zu dürfen!

Unter den Gewalten dieses Mosesmannes!

Zu einem hellen Feuer herauf, voller Zuversicht Himmel ahnend!

Der Prediger ragte mit vorgebeugtem Körper von der Kanzel, und im Taumel sprach er nach, was die Gläubigen in der Ekstase des Blutrausches schrien.

Er wollte die Arme auseinanderreißen, meilenweit, und dann den geschwächten Haufen Menschen zusammenpressen wie einen Schwamm. Blut sollte hinausfließen. Breite Ströme Blut. Das faule vereiterte Blut der Sünde.

Er stand mit vorgeworfenem Schädel, Wolkenhaare um die Stirn. Seine Lippen mahlten gefräßig und dahinter gähnte der Moloch.

Sahra Wallbrecker war verletzt. Unentrinnbar hatte sich die Rede des Predigers in ihre Seele gefressen. Unentrinnbar. Und allen fremden Sinnen fielen die Lebenskeime ab wie verbrannt. Ihr Körper dehnte sich aus der schlaffen Gedrücktheit und wuchs empor und bäumte sich ins Ungeheuerliche. Sie schlug alles nieder mit der Entflammung herausgewälzter Augen. Irgendeine Litanei zersägte ihre Zähne, daß sie wegsprangen wie Funken einer Rakete –:

»O unbefleckte Jungfrau! O Unbefleckte! … Erlöse mich! … Ich knie nieder vor dir! … Ich glaube … du … du … du … O Unbefleckte: Küsse mich! Frei! Sprich mir! Leuchte mir zu dir!

Ich glaube … Du … Du!«

Das Poltern der ausgelaugten Beter jagte an ihrer Betäubung vorüber wie ein Orkan, pfeifend, johlend, gröhlend. Als wären nur Münder da und die nächsten Gesichtsstellen, die als ein Hereingebildetes ans Außen stießen, während die kärglichen Gepläne der Glieder zerfault am Boden lagen.

Schmerzhaft enttäuscht zerkräuselte sie die Stirn über den Augen. Ihr Gesicht kämpfte mit den Erschütterungen des Herzens und der Erschrockenheit im Gehirn. Ihre Arme griffen nach vorn über und zerdrückten die seitwärts abspringenden Knie.

Und dann stand der Prediger da.

Mit straff gezogenen Brauen und züngelnden Händen stand er da. Und plötzlich knarrte ihr Handgelenk in seiner mulmigen Faust –:

»Sahra … Sahra!«

Sie schreckte auf. Hatte zugleich etwas Aufstoßendes, Gespanntes, zäh Horchendes. Und ihre Gedanken fuhren raschelnd auf und wurden hell im Horchen.

Und noch einmal schrie er: »Sahra … Sahra!«

Da sprang die Höhle ihres Geschlechts weit offen. Grellend rot und wie der Rachen eines bösen Tieres gierig aufzunehmen, was sich nähern würde. In den gefüllten Biegungen der Schultern gärte die Kraft: zu töten.

Da sie sich noch nicht erhob, wurden die Mienen des Predigers strenger. In den Augen war wieder der Ton des Jeremias. Der Mund versuchte zu strafen: Gott will es!

Log aber: »Deine Mutter wird sich ängsten, Sahra. Der Weg ist voller Schwärze der Hölle. Wir werden mit Gebeten das Wandern übersternen.«

Da stiegen sie den Waldhang hinauf.

In den verhängten Wipfeln funkelte der Vollmond wie ein reifer geborstener Kürbis. Fledermäuse huschten vorüber. Spätnebel rieselte in zwirnigen Strähnen. In verwischten Schatten lag das Feld, und die Brücke schaukelte zitternd über den Fluß.

Sahra spürte etwas Fremdes ins Blut brechen wie den matten Widerschein einer ganz fernen Erkenntnis.

Sie riß sich für einen Moment von der Seite des Predigers. Schritt für Schritt von seiner Gemessenheit zurück.

Er merkte nichts davon. Seine Schläfen lagen im Kampf mit der Kühle.

Der Weg war lang. Der Weg zu Sahras Behausung steil hinauf.

Sie stolperten über die Baumwurzeln, die den Weg bekrochen und giftig zischten.

Ihre Bewegungen hielten sich in der Schwebe. Weit öffneten sich ihre Gesichter. Der Nebel mischte sich mit dem grauen Blätterrauch der Gebüsche.

Sahra stolperte mit einem Fuß.

Da nahm der Prediger sanft zupackend Sahras Arm. Sie stützte sich schwer auf seinen Körper.

Der Mund seufzte wortlos –: »Laß mich doch nicht so allein …!«

Erleuchtend durchfuhr den Prediger die Suggestion ihres Gehirns. Er begann Schicksal um Schicksal seines Lebens zu erzählen. Hirnlos kühl. Ein Monolog.

Sahra hörte schweigend zu. Die Kühle kroch über ihren Rücken und kroch hinauf und riß eine breite rote Schramme durch ihr Gesicht. Und aus dem Klaffenden brach es ungestüm –: »Oh, einen Menschen haben …! Nicht immer so allein sein …! Oh, einen Menschen warm und stark!« Sie ächzte wie ein zertrümmertes Schiff seufzt. Nach den Orgien mit vielerlei Wind seufzt. Und ihre Hand zerbrach die seine vor Unruhe und Begierde.

Danach sprach sie abgerissene Worte wie durch einen Schleier. Ein toller Schwindel nahm ihr alle Gedanken. Ihr Atem ging kurz. Wie tausendmal abgeschnitten.

Und auf einmal wußte sie es, daß dieses der Anfang war von jenem heimlichen Rausch, der ihren Körper in den Sommernächten verwüstete. Die lobende Erkenntnis traf sie unbarmherzig mit gewaltigen Stichen in den Lungen. Es flog ihr Atem in spitzen Feuerstrahlen.

Dieses Gefühl –: nicht auszuhalten.

Immer hatte sie es niedergekämpft in der Ekstase der Gebete. Aber dieser Augenblick machte sie wissend. Ihre Lippen zitterten gereizt. Die großen Pupillen zerrissen. Das Herz kroch herauf und blähte die Kehle auf –: »Oh, einen Menschen haben! Einen Menschen haben!«

Die Schenkel rieben die Röcke in Brand. Die ganze Erde flammte auf, und mit einem wilden Aufschrei stürzte sie sich in den Mund des Predigers.

Der preßte ihre Hände fest in seine Kehle. Überrumpelt, angesteckt, emporgerissen zu einem Turm.

Die purpurne Welle schlug schreiend zusammen.

Zwei Körper flogen wie geworfen.

· · · · · · · · ·

Die Nacht wallte in kalten Dünsten. Durch die grau verriegelte Mauer stapften klumpige Schritte. Auf dem steilgewölbten Hügel schnellte eine Silhouette empor, tauchte unter im Moos, wo die Zuckungen der Umschlungenen verrollten. Kroch näher und stellte einen runden weißen Kopf an den Eichenstamm.

Dicht zu den Füßen der Zwei, die eine wirbelnde Einheit waren. Und die Schattensträhnen der verworrenen Wolken dunkelten tiefer herab. Die Eulen schrien sich heiser. Der Wind knarrte wie durch Eisentüren.

Da hörte der Prediger plötzlich fremde Atemzüge. Und als er in die weißen leeren Augen Sahras sah, regte sich in ihm der schwarze Saft der Scham. Ein Eisenstück bohrte sich in sein Gehirn in wilden Drehungen.

Brüllend sprang er auf. Wie ein Tier, das sich losgerissen aus Ketten und Mauern, schlug es aus und stürzte den Abhang hinunter. Der Wald verhundertfachte das Echo eines Geschreis, das nicht mehr Erde war.

Die Hölle tobte und schlug in den Himmel empor.

Sahra stöhnte.

Da reckte sich der dunkle Schatten zwischen den Stämmen. Der weiße Kopf schwoll an und schlug auf Sahra nieder.

Mit verwischten Augen sah sie sich um und sah das Unheil.

Sie dachte irr –: Ob der gesehen hat? Hat er es gesehen? Was hat er gesehen?

Ihr Gesicht zog sich nach allen Seiten auseinander. Ihr Mund zerfloß mit jeder Bewegung. Und dann hob sie sich empor wie zu einem Tier und schrie –: » Josua

Der Bucklige lachte.

Eine Menagerie brüllte durch die Nacht.

Die Bäume stürzten ineinander.

Die Luft gefror vor Schreck.

Sahra packte zu.

Der Buckel lachte wilder.

Sie wälzte sich durch seine fingernden Schrauben und warf ihm die Fäuste ins Gesicht. Kratzte und spie.

Josua Carnap drehte sich wie ein flügelschlagender Kreisel.

Dann verbiß sich etwas in seinem Rücken. Schlug ihn zu Boden.

Er krümmte sich zusammen wie ein Igel und rollte den Abhang hinunter.

Klatschend schlug der zerschundene Körper in den Strom.

Die Wassermassen über ihm zusammen.

Der Mond fiel ins Schwarze hinab und färbte die Schatten blutig rot.

Sahra stand momentelang betäubt. Dann breitete sie die Arme riesenweit und flog den Abhang hinunter wie ein massiver Raubvogel.

Über Geröll, Gräben und Zäune.

Die Erde leuchtete phosphorbunt.

Fern zerschlug ein Gewitter die Trägheit der Nacht.

Am anderen Morgen fanden Waldarbeiter Sahra ohnmächtig zwischen Weidengebüsch und Dorn. Der Schaum stand vor ihrem Mund wie gefrorener Schnee. Das ganze Tal lief zusammen.

Alte Weiber glaubten an ein Wunder.

· · · · · · · · ·

Unten bei der Mutter lag Sahra wochenlang im Fieber. Und die spitzen, widerhakigen Worte, die dem offenen Munde entquollen, schossen durch die Stadt wie Brandpfeile. Sie nahmen den Tagen den grünmorschen Schimmer. Sie röteten die gewellte Fläche des Staunens. Sie hießen alle Weiber in die Blutflut tauchen im Wunsch nach einer von Gott verfemten Lust. Zwängten sie in Netze, in deren Knüpf-enden scharfgespitzte Nadeln staken. Und sahen mit zirkelnden Augen des Wahnsinns in alles vor Schmerzen sich Krümmende hinein.

Sie fielen, wie von Satan heraufgeschleudert, den Prediger endlich an. Sie umgaben ihn soweit, als seine Augen aufgerissen reichten. Sie rollten mit seinem Puls, seinem Denken, Schreiten und Fliehen weiter. Er glaubte sie vor sich her zu schieben, er machte Schritte ins Dunkel zurück, sie glitten ihm nach und schoben sich wieder vorwärts – immer zugleich mit seinem Fliehn, unwissend wohin. So währten sie fort, an ihm hin, er watete in ihrer dunklen Verruchtheit und gab sich auf.

Danach wurde Sahra ruhiger.

Sie ließ sich von Kälte vernichten. Daß sie noch sei, war nicht mehr nötig.

Die Holzpuppe, die man ihr zum Spielen gereicht hatte, schlug sie, in unbewachten Augenblicken, ans Fensterkreuz und sprach mit schnalzenden Lippen, wie zwischen zwei Küssen.

Deine Küsse, Herr Jesu!

Durch die Stadt wehklagten Glocken. Jetzt konnte ihr nichts mehr geschehen. Die Feinde, unter denen sie lebte, wann würden sie ihr ein Beil, eine Waffe geben?

Unter stierenden Gesichtern wurde Sahra langsam gesund. Verließ das Bett, Mutter und Haus und zog in die Wohnung des Predigers. Er hatte sich inzwischen einen Vollbart wachsen lassen, und der Ruhm seiner Kanzelreden schwebte über die Provinz.


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