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Henriette

Eine Geschichte vom Niederrhein

(1912)

Ja, meinem Herzen am nächsten sind
jetzt die Verlorenen,
die, von denen ich weiß, daß ich sie
nicht retten werde.

Carossa

 

I

Das flache, dunstverschleierte Kohlenrevier wurde von einem Kanal durchschnitten. Es war ein breites schmutziges Gewässer, das in einer starken Krümmung von Norden kam und leichtgekräuselte Wellen auf den schlechtgepflasterten Kai warf. Zu beiden Seiten erhoben sich die schwarzen Schachttürme und Gasometer. Silos steilten feurige Massen des Profits. In schroffgezackten Gebirgen schnitten Schlackenhalden und Kohlenläger den Himmel. Es kreischten die Lastwagen und auf Drehscheiben rollten aus fauchender Schwerfälligkeit die plumpen Ladekräne.

An den Strandmauern lungerten die Schleppkähne mitschwarzgefüllten Bäuchen. Flohhaft hopsten die Stauer über die Laufplanken. Unten warfen sie die schweren Lastkörbe nieder. Vermengt mit den kraftvollen Flüchen rollten die Erzstücke. Die Gesichter der Träger dunkelten tierhaft unter der Rußschicht. Ungeheuer weiß nur blitzten die Augen. Wie Höhlen, hinter denen ein blaues Licht gloste.

Früh um acht begannen die Männer ihr Tagewerk. Schütteten scharfen Schnaps wie Öl hinunter und spuckten kräftig in die Schwielen. War ein Kahn gefüllt, schaukelten sie lässig die Treppen empor und bevölkerten die Schenke. Manchesmal gab es dort eine wüste Keilerei. Aber der Wirt hatte flinke Arme und Füße eines Elefanten.

Mit den Puddlern, Luppenschiebern und Walzern stand er auf »Du«. Die Stauer duldete er nur. Wegen ihres Anhangs von Weibern und dem riesenhaften Konsum an Alkohol. Durch die schwarzen Lithurgien des Suffs und brünstigen Umarmungen spektakelte das Orchestrion Stunde um Stunde dasselbe zotige Chanson.

Mittags heulten die Stauer: »Es ist zum Kotzen langweilig in diesem Bau!« Und warfen sich schlafschwer auf die Mole. Sie schnarchten mit offenen Mäulern und beschliefen alle Launen einer Luft, die unter dem ranzigen Gestank von Fetten, Kohlengasen und Ölen wellenhaft aufflirrte.

Einer aber war unter der Schar der Stauer, der erhob sich immer, wenn die anderen schnarchten und spazierte auf den Kai hinaus. Mit bedächtig gesetzten Schritten wie ein Bauer hinterm Pflug.

Unter dem plumpen Signalmast stand eine braune Bank. Die hatte er sich aus alten Bootsplanken gezimmert. Hier saß er Tag für Tag einige Stunden und spannte mit verloren weitsichtigen Augen auf das Wasser, musterte die Kähne, die vorüberfuhren, die Schleppdampfer und großen Frachtschuten, die von Holland kamen.

Seine Augen konzentrierten sich immer geraffter auf den einen Punkt. Hin und wieder blitzte es wild in ihnen, ein Aufleuchten, das kam und ging. Seine Stirn war gerunzelt, daß die Brauen wie eine Falte über den Augen hingen. Wenn das wilde Aufleuchten kam, war es, als ob krampfhafte Zuckungen über die Stirn liefen.

Von den Hochöfen fiel der Rauch breitzottig hinunter. Schwamm lange wie eine riesige Blase auf dem Wasser. Legte sich dann wie graue Nacht auf Mast und Schiffsrumpf. Eine lange Weile, plötzlich klemmte er sich durch die Brückenpfeiler, zerplatzte ohne Laut und vergurgelte in der Stromschnelle.

Und neue Blasen schwollen auf. Die Wellen wuchsen empor mit einem lodernden Tumult.

Das alles sah der Stauer mit auffliegender Spannung. Und jedesmal, wenn eine neue Rauchwolke stieg und sich fahnenhaft zerteilte, den Wind durcheinander warf und auf die Brückenwölbungen stieß, zuckte sein Körper jäh auf. Er bemühte sich den Kopf zu halten. Das Weiße in seinen Augen blänkerte mit dem Geleucht von Glasscherben. Angst schien darin zu vibrieren. Und fast jede fünfte Sekunde ging dieses Blitzen durch das geschwärzte Gesicht und riß den Kopf auf die linke Schulter zurück. Und um die Schläfen war ein Nervenrieseln und flog dem Halse zu wie um ihn zuzuschnüren.

Dann sprang er auf und drehte die Windmühlenflügel der Arme in rasender Erschütterung.

Im Windgestöber summte ein banger Ton: Ist er verrückt? Von der Stelle seines Wesens gerückt?

Die Signalglocke zerschlug das Summen und riß ihn wach empor. Wie ein von Rädern Durchschüttelter schaukelte er zu den Ladekähnen zurück und suchte unter den Körben den handfestesten. Die Genossen, die ihn kommen sahen, brüllten in unbändigem Spaß: »Der Krischan hat einen zuviel gesoffen, oder mit der dicken Marie gehurt!«

Sie hatten blanke, rotverschlafene Gesichter mit Augen, die wie auf Stielen staken.

Krischan warf Zote um Zote in das Hänseln und lockerte den Gurt zum Prügeln.

Minutenlang tobte der Tumult der Mäuler, bis der gleichmäßige Lastentrab und die Staubspritzer die losen Gurgeln wieder fest verschnürte.

Abends, wenn alles sich den schwarzen Dreck aus Gesicht und Nacken spülte und das fettsteife Kamisol über die Schulter warf, blieb Krischan allein auf dem Ladeplatz zurück.

Er hatte noch eine Stunde Wache zu schieben bis der Nachtwächter mit zwei Hunden kam und ihn ablöste.

Gleichgültigen Schritts stapfte Krischan in die Kolonie hinunter und trat in seine Behausung. Er war, obschon in der Dreißiger-Mitte, immer noch Junggeselle. Stand bei der blonden Witwe eines Bergmanns in Kost und Logis, an die zehn Jahre. Und das war so lange her, wie jener Tag, da man ihren Mann, den eine abstürzende Gesteinswand zerquetscht hatte, ins Haus brachte, um ihn anderen Tags auf dem Kirchhof zu verscharren.

Krischan, der zur selben Zeit in das Dorf gekommen war, und auf der Grube Arbeit gefunden hatte, schien der Frau wie ein Trost. Sie nahm ihn, ohne viel zu fragen auf, schon wegen der hungrigen vier Kindsmäuler. Das andere, hierorts immer selbstverständliche, war vorerst nur ein Gedanke.

Dennoch setzte die Witwe einen eigensinnigen Ehrgeiz darein, den Mann zu erobern. Gegen seine Sprödigkeit bot sie die katzenhaften Annäherungen einer Dirne auf, die sich den Passanten anbietet. Sie erfand täglich neue Listen, ihn in ihre Fallen zu zerren.

Aber Krischan bezahlte lediglich das blanke Kostgeld und überließ weniger Wählerischen Weibsbrünste und Kindergeschrei. Sein ewiges Schweigen verdroß die Witwe. Sie versuchte wenigstens ein Wörtchen aus diesem stummen Brunnen zu fischen. Aber entweder lief er ihr mit zerpreßten Lippen davon oder kaute ein »Ja« oder »Nein«, ohne sich weiter einzulassen. Krischan hatte Furcht vor diesem bodenlos verkommenen Weibe, das ihn mit seiner unwandelbaren Brunst erstaunte, und das ihm so klar und offen ins Auge sah, ohne eine Spur von Scham zu zeigen.

Eines Morgens, da Krischan nach einer durchschufteten Nacht in das Zimmer der Witwe trat, schlug sie die Decken zurück und entblößte ihre Lenden vor ihm. Da packte ihn die Wut und er spie auf das heftig zuckende Fleisch.

Sie preßte sich mit ungestümer Erschütterung Tränen ab, warf nach einer Weile den Kopf zurück und maß Krischan herausfordernd mit einem zynischen Lächeln. Was sie ihm getan hätte? Er solle sich erklären … Diese Ungeheuerlichkeit ließ Krischan in die Höhe schnellen. Er warf die Tür ins Schloß und beschloß das Quartier zu wechseln.

Vor dem Hause kam ihm die sechsjährige Melie entgegen, schweißrauchend unter den frischen Broten. Er nahm dem Kind die Last ab, und sein Herz strömte über in aufquellender Weichheit. Sein ganzer Groll auf das Weib war mit seiner Kraft dahingeschmolzen.

Die Witwe fühlte ein heißes Rieseln über ihre Brüste, da Krischan mit der kleinen Melie in die Stube trat. Sein vaterhaftes Getu mit dem Kinde hitzte ihren Mut empor, und es war ihr, als reichte man ihr eine Stange zum Anklammern entgegen, daran sie sich aus der durchstandenen Enttäuschung emporschwingen könnte. Ihr Sieg machte sie triumphieren und schlug auf den Frühstückstisch über, den sie anschwellen ließ von einer fetten Mahlzeit. Krischan wurde von Tag zu Tag zärtlicher um das Kind. Aber immer noch versagte er sich der Frau.

Sie hielt sich schadlos an den Stauern, die in den Nachbarhäusern lümmelten, nachts, wenn Krischan bei dem großen Paternoster wachte.

Jeden Morgen, wenn er schweißverklebt in die Stube trat, überfiel sie ihn mit dreisten Anträgen.

Einmal zeterte sie betreten: »Keinen Mann gibt's im Dorf der sich rühmen kann, dies Strumpfband gelöst zu haben!«

Sie schlug sich mit einer listigen Miene auf ihre Blößen, auf die Knie und rief bei jedem Schlage: »Nicht ein einziger! nicht einer!«

Krischan pfiff sich Luft vor Galle.

Mit einem, der später jeden Abend in der Stube hockte, mit der Witwe Koteletten fraß und ein paar mal auch des Nachts blieb, bekam er unten im Schacht einen Handel. Da setzte er ihm das Messer zwischen die Rippen und verdingte sich bei den Kohlenstauern. Die Witwe hielt von da ab die Stube rein und alterte. Die Kinder flogen aus.

Manchmal, wenn Krischan nach dem Abendessen sich eine Pfeife anzündete, den Strohsessel breitdrückte und mit nachdenklichen Mienen die schwarze Decke betastete, faßte sich die Witwe und befragte ihn um Heimat und Geschick.

Anfangs gab er, da die Brunst in ihren Worten verraucht war, ein paar gleichgültige Details.

Als sie zudringlicher wurde mit der Zeit, hob er wegwerfend die Hand und schwieg sich aus.

Späterhin gab sie alles Fragen auf.

Er wird ein beschmutztes Gewissen haben, vielleicht ist er ein Mörder, dachte sie. Oder ein Weib hat ihn schwer betrogen.

Ihr jahrelanges Kämpfen um den Besitz seines Körpers wies sie auf diesen Weg. Es konnte nur die Existenz eines Weibes sein, das sein Herz gekältet hatte. Dieses Geheimnis zu lösen, entflammte ihr Blut mit einer hektischen Brunst. Sie wurde durch schwerschwächende Krampfe geworfen, ohne daß ihr der Mann näher kam. Nach ein paar Wochen gab sie auch dieses Manöver wieder auf. Der Mann wurde ihr schon gleichgültiger als erotischer Exzeß.

Aber seine Geschichte … von ihren bohrenden Gedanken schon heldenhaft romantisiert … die reizte sie noch.

Da Krischan sich bei einem harmlosen Sonntagsausflug aus den Kanal geschickt im Rudern und Schwimmen bewiesen hatte, stand es bei ihr fest, daß er einmal Seemann gewesen sein mußte. Und plötzlich kam es ihr freudeglänzend hoch: trug er sein Halstuch nicht immer wie ein Schiffer geknotet?

Sie sagte es ihm eines Abends geradezu auf den Kopf: »Also ein Schiffer warst du?«

Er witterte hinter diesem Überfall, der ihm das Blut aus dem Gesicht jagte einen Augenblick, einen neuerlichen und raffinierter angelegten Vorstoß ihrer Begierden. Und wurde ausfallend. Und zum erstenmal hob er die Hand, sie auf das Weib zu schlagen.

In den nächsten Tagen rauschte es durch das Dorf und auf den Kai, daß Krischan ein entlaufener Matrose sei.

In der Schenke hetzte man die holländischen Schiffer auf ihn. Die braunen Suffköppe tranken ihm zu.

Dies alles berührte ihn nicht. Er sah darüber hinweg und lebte den Tag auf seine Weise.

Nur verschlossener noch und mit einem ewigen Vergalltsein der Stimme.

 

II

Als Krischan eines Mittags wieder auf der Ruhebank am Signalmast saß und mit weitaufgesperrten Augen den Kanal abtastete, jedes Schiff gebührlich lange betrachtete und die Namen an der Bordwand mühsam entzifferte, blieb sein Blick an einem schweren holländischen Kasten hängen. Er war ein unwahrscheinlich alter Kahn wie ihn nur wenige noch den Kanal befuhren. Eine Schute, deren Bauart in mehrere Jahrzehnte hinunter wies. Nur die Kajüte hatte neumodische Proportionen. Und die Lage der Mastbäume und Ankerwinden verriet, daß das Boot oft repariert war in den Jahren.

Krischan betrachtete die sonderbare Form des Schiffes mit durch die Schläfen sausender Unruhe. Als er die Schnörkel auf der grünen Planke entziffert hatte, kaute er dutzendmal den Namen. Immer wieder mahlten und hackten die Zahne: »Henriette … Henriette …«

Wie eine verwünschte Kindermelodie: »Henriette … Henriette.«

Er hätte es pfeifen können: »Henriette … Henriette … zum Teufel Henriette …«

Er hätte es laut hinaussingen können.

Es zertrümmerte seinen Kopf.

Und mit den zusammengesunkenen Schultern, unbeweglich in der Folter des Denkens, glich er einem zertrümmerten Gefäß aus Ton.

Er stand wie in Nebel.

Seine Augen wurden dunkler wie unter einer Nacht voll Eis; so gefühllos kalt wurden sie, wie die geblendeten Äpfel eines Blinden, wie ein Bündel durchhauener Sehnen.

Plötzlich faltete er seine Hände und fühlte nichts von dieser Zeremonie. Und wußte nicht, daß er ein Höherstehendes suchte … einen Gott – den Gott, den er vergeudet hatte in durchgrübelten Jahren.

Und miteins stand er in einer Frühlingslandschaft, die keine Helle war.

Nur Wolken hingen darüber. Schwarze Wolken wie Totenköpfe und mit Drachenflügeln. Und ein Boot glitt durch das Dunkel. Silbern wie ein Mond. Musik flog hinterdrein. Laute, schallende Hochzeitsmusik. Die zerschellte an einem Felsen. Droben stand ein grauer Leuchtturm. Im obersten Gelaß, zwischen Lampen und Ölgefäßen lag Einer angeschmiedet. Ein Schwert stach ihm in der Brust und ekles Gewürm soff das warme rote Blut, das in Strömen rann. Unten am Strande standen sechs Männer mit einem Sarg bereit. Sie trotzten dem Wind und wehrten die Wellen nicht, die wie Brandpfeile geflogen kamen. Sie bohrten sich fest in den Turm, plötzlich ging er in Flammen auf. Der Felsen barst und rollte langsam ins Meer. Fern schwebte ein tiefroter Ball herab. Schob sich langsam in das grüne Wasser, das zäh wie Schleim war. Ein Halbkreis stand noch auf. Und dann ein gewölbter Strich. Und gleich darauf nichts mehr. Aus der grünen Masse sprangen Funken empor. Die sangen immerzu: »Henriette … Henriette …«

Wie in großen Orgeltönen. Und diese Melodie wurde ein Weg. Seine Verkörperung war eine Landstraße. Dörfer zu beiden Seiten. Immer weiter. Und schließlich in halbheller, endender Frühherbstnacht. Voll Reifgefunkel und Sternenschauer.

Wie von Millionen Insekten gestochen schoß er empor und fuhr sich über die Stirn, wie wenn er einen heftigen Schweiß wegfegen wollte. Henriette … Henriette …

Als wenn dieses eine Wort all seine früheren Gedanken zurückriefe, begann er zu schluchzen, während die Augen ihm aus dem Kopf traten, als würden sie von den Schlägen seines Herzens aus den Höhlen herausgetrieben.

Er griff, um nicht zu kippen, in die Tasche und zog die Hand wieder heraus. Stampfte mit den Füßen und knackte mit den Gelenken.

Das Gefühl einer grenzenlosen Schwäche überkam ihn. Erschütterungen der Seele packten ihn mit aller Gewalt.

Henriette … Henriette …

Er versuchte mit dem letzten Muskel von Kraft die Augen von dem Kanal abzudrehen. Unsagbar zögernd kam ein Stück Uferfläche heran. Eine Baumreihe … Die Industrie … Die gehäuften Berge Profit … Schamlose Schau.

Sandkörner voll Frost rannen über seine Haut und zwängten sich durch die Poren in das Blut.

Nur diese Fratze des Molochs jetzt nicht!

Wieder zog der Kanal den geschliffenen Stahl des Wassers.

Krischan sprang ein paar Schritte vor. Seine Augen wurden vor Qual ganz klein. Wie zwei rote Zündköpfe. Er reckte sich auf und fühlte sich wachsam wie eine überirdische Macht.

Das holländische Boot fuhr ganz dicht vorüber.

Ein strohblonder Ruderknecht hantierte am Steuerbaum. In der offenen Kajüte hockte eine junge Dirne mit langen braunen Zöpfen. Sie ließ ein dünnes Messer durch Kartoffeln gleiten und hatte den Mund voller Lieder. Der kleine Blechschornstein dampfte. Auf einer kurz gespannten Leine schaukelte frisch gewaschene Leibwäsche. Ein weißborstiger Kapitän saß am Bug und ließ die Beine baumeln. In sträflichem Phlegma glotzte er den grauen Rauchlinien nach, die ringelnd dem Pfeifenstumpf entkrochen. In Pausen spuckte er braune Saftbögen ins Wasser.

Auf dem Tauwerk lag ein struppiger Köter und sonnte sich in beschaulichem Schlaf.

Krischan wuchs und wuchs im Betrachten.

Doch je weiter sich das greisenhaft träge Schiff entfernte, um so bedenklicher neigte er sich zur Seite.

Ein starkes weißes Licht fiel auf sein Gesicht. Aus graugewürfeltem Vormittagsgewölk war plötzlich Sonne. Der Strom hatte über die Maßen Glanz. Beschwingter erschienen die Dinge im Raum. Die Hypnose des Lichts bohrte sich tief in Krischans Gehirn.

Etwas schrie in ihm mit himmlischer Stimme.

Ein Bündel unverwischbarer Momente, die er in Gräbern verstorbener Stunden wähnte, hielt er plötzlich wie Halme.

Wie frischgrünes Gras und Blüten.

Und das holländische Schiff war noch immer im Kanal, wie ein Hügelrücken anzusehen.

Dann flog das Ruder halblinks. Der Rumpf machte eine Wendung und schob sich durch die stumpfen Pfeiler. Der dünne Rauch des Kajütenschornsteins verdichtete sich. Die weiße Mädchenschürze dunkelte.

Donnernd jagte ein jäher Zusammenprall von Gewalten über den Kanal.

Entsetzliche Schreie zersägten die Luft. Knarren und Bersten von Holzplanken tobte. Rauch trieb geballt empor. Die Sirenen der Rettungswache hallten lang angezogen; dann mit voller Lungenkraft.

Die Stauer am Ladeplatz sprangen wie angesengt aus dem Schlaf empor.

Einer riß die Glocke.

Die ganze Hafenseite raste.

Krischan überschlug sich und rannte den Kai hinunter. Er verlor die Mütze. Dann den einen Stiefel. Er brüllte wie ein Besoffener.

Er wandte sich nach der Richtung der Brücke mit versagenden Beinen, die an den Waden wie abgesägt schmerzten und von wütenden Koliken gepeinigt. Die Knie knickten ihm ein, doch sich aufraffend jagte er weiter, keuchend und pustend wie die großen Dynamos, während in seinen Schläfen das Blut mit Keulenschlägen hochpumpte.

Irgend jemand schrie: »Vorwärts!«

Aus den Lägern und Speichern und Schenken stürzten die Männer in Scharen. Mit stierhaft gesenkten Köpfen stürzten sie vor. Ein Erdbeben von Tumult raste über den Hafen.

Unten am Ufer stand es schon schwarz und ein wirres Geruf wogte wie Sturmessausen.

Boote flogen vom Ufer an. Eine helle Kommandostimme schwebte darüber hin wie Kreischen eines Raubvogels.

Krischan arbeitete sich durch das Gewühl mit geballten Fäusten. Seine Haare klebten wie harte Teerfetzen an der Stirn. Die Augen standen weit ab vom Kopf, raubtierhaft schwebend.

»Der dumme Kerl am Ruder hat geschlafen,« schrie es durcheinander.

»Nein, der verfluchte Dampfer hat zu kurz beigedreht,« brüllte ein kyklopischer Schiffer.

»Von Mannheim kommt er. Hat schon einmal Boote gerammt!«

»Wie hieß doch das Boot?«

»Ein Holländer war's!«

»Die Methusalem-Arche!«

»Dieser Dreckkasten!«

»Wie hieß doch das Boot?«

»Wie?«

»Henriette … Henriette! Ich hab's genau gesehen! Henriette!«

Das war Krischan, der also den Namen der Schute hinschrie und sich durch die streitenden Gaffer boxte.

Die Boote kamen zurück.

Aus dem ersten huben sie das Mädchen. Sie hatte die Besinnung verloren. Aber ihr Herz klopfte noch unter der prall an die Brust geklebten Bluse. Die weiße Schürze hing wie ein Strick herab.

Man legte das Mädchen auf Segeldecken. Der Hafenarzt bemühte sich mit sanftschweifenden Händen.

Und dann wurde der Alte gebracht. Aus einer klaffenden Kopfwunde schoß Blut. Seine Augen waren geschlossen. Arme und Rumpf waren von einer argen Schwäche gelähmt.

»Der arme liebe Kerl,« heulten ein paar Huren, »ganz weg ist er schon.«

»Platz da!« radauten die Stauer.

Krischan machte vor der Bahre, auf die der Alte gelegt wurde, eine unbestimmte Bewegung in die Luft, als ob er jemand einen Faustschlag versehen wollte.

Die beiden Schifferknechte paddelten aufs Land. Sie hatten sich durch Schwimmen gerettet. In triefenden Kleidern zogen sie mit den Strombeamten ins Bureau.

Sie fluchten und fuchtelten mit den Händen.

Auch der Dampfer wurde beschlagnahmt. Kapitän und Matrosen kamen ans Land.

Die Menge drohte giftig.

Die Schiffer lockerten die Messer.

Die Wachmänner aber standen wie eine Mauer.

Indes schaffte man die Geretteten in die Kolonie. Der Alte kam ins Spital. Das Mädchen trugen vier Männer.

Als man die Last pausend absetzte, stieß Krischan einen der Träger beiseite und faßte die Tragbahre.

Seine Hände gingen wie Räder. Und er taumelte, als trüge er eine ungeheure Last. Wie festgeklebt hingen seine Augen an der Ohnmächtigen. Bis man vor dem Hause der Frau Holsten Halt machte.

»So,« sagte einer der Träger, »dies junge Ding kriegen wir schon durch. Aber ob ihr Oller sich noch einmal aufrappeln wird, steht anderswo!«

»Mir tut das nette Ding da leid,« schwatzte der andere Träger.

»Pst … Pst,« flüsterte eine Stimme hinter ihm.

Es war Krischan. Er half beim Überführen in die Stube. Ein Lächeln glitt über sein Antlitz, ein Lächeln von Wehmut oder von mildem Schmerz: »Wie weiß und ruhig ist doch diese Stube!«

Er bewegte den Kopf ganz wenig, er wagte ihn nicht zu wenden. Und er fühlte eine Scheu oder beinah Angst, die er nicht erklären konnte, als man das weiße Bett in der Ecke aufdeckte.

Dann jagte man ihn hinaus.

Er ging diesen Tag nicht mehr auf den Ladeplatz, sondern setzte sich auf die Bank, die vorm Fenster stand und saß dort bis zum Abend. Zusammengeduckt wie ein Hund.

Er sah die Menschen kommen und gehen wie einen Insektenschwarm. Unzählige Arme und Beine, die ein ekelhaftes Summen erregten, das seine Sinne betäubte. Und eingesponnen von der Monotonie der Geräusche und dem herabrieselnden Abendnebel warf er den Kopf zurück und verlor die Sinne.

So fand ihn die Witwe und rüttelte ihn wach. Sie zog ihn ins Haus und drückte ihn in den Strohsessel.

Er ließ das Essen stehn. Glotzte wie ein Trunkener blöde in die Lampe und zischte mit den Lippen unzusammenhängende Laute. Die Frau versuchte durch allerlei Fragen seine Apathie aufzupeitschen. Er nickte nur und verdrehte die Augen.

Langsam schlich er in die Schlafkammer und warf sich unausgekleidet aufs Bett.

Mitten in der Tracht wurde die Frau, die in der Kammer nebenan schlief, durch einen heftigen Schrei aufgerissen.

Sie warf sich hastig den Unterrock über. Schlich vorsichtig zu Krischan und schlug Licht.

Da lag er mit geschlossenen Augen und raste mit Armen und Beinen.

Schaum stand vor seinen Lippen wie Kreide. Und der kalte Schweiß funkelte auf der Stirn wie große, schnellgeschmolzene Hagelkörner.

Die Frau wartete einige Zeit mit dem Licht.

Auf einmal entfuhr es den blauen Lippen wie Gurgeln eines Ertrinkenden. Die Augen sprangen weit auf. Die Zunge gluckste.

Und aus dem Würgen schoß es hell herauf:

Henriette … Henriette …

Das war wie der Schrei eines Wahnsinnigen.

Sie ließ vor Schrecken das Licht fallen und floh aus dem Zimmer. Verriegelte die Tür und atmete auf.

Drinnen brüllte es die ganze Nacht. Man konnte kein Auge zutun. Und die Kinder in dem Nachbarhaus erwachten.

Gegen die Dämmerung zu übermannte ihn das Traumfieber mit aller Heftigkeit. In den blutroten Paroxysmen tauchte das Bild des gerammten Bootes gespenstisch auf. Ertrunkene umschlangen ihn mit frostigen Armen und rissen ihn in die schauerhafte Tiefe hinunter.

Dann ward es ganz still.

In der Früh, als die Witwe am Herd das Feuer schürte, kam Krischan durch die Tür in die Küche. Aufrecht und mit harten Tritten. Aber sein Haar war schneeweiß.

Die Frau schlug die Hände über dem Kopf zusammen und fing an zu flennen.

Er wusch sich und verzehrte das Frühstück.

Die Frau getraute sich keine Frage ob des Vorfalls während der Nacht.

Er wird sich erschrocken haben bei dem Unglück, dachte sie.

Aber ihr Erstaunen wuchs ins Unermessene, als Krischan während der Mittagspause ins Haus trat und den Rock wechselte.

»Nanu Krischan, will er aufs Amt? Oder ist ein Begräbnis heut?«

Wie lange ist das schon her, grübelte sie, daß er sich Feiertags angezogen hatte?

Krischan ging ohne Antwort hinaus. Etwas vornüber gebückt. Mit einem leisen Gemurmel auf den Lippen.

Die Frau machte ein langes Gesicht und zermahlte ihr Gehirn. Das unsichtbare Kreuz schweren Kummers krümmte ihren Rücken. Ihre Augen verdunkelten sich wie Gewässer, über die ein rascher Regenschauer huscht. Die verhaltene Leidenschaft trostloser leerer Jahre sprang in weiten Blitzen auf. Ahnungen donnerten hinterdrein.

 

III

Die Gerettete lag noch immer in Apathie. Und Krischan durfte nur die Schwelle der Krankenstube betreten. Zwischen den rotkarierten Kissen sah er das weiße Gesicht mit den geschlossenen Augen. Er stand ein paar Minuten wie angewurzelt.

Und wie der leise Flügelschwung eines kleinen Vogels, so zitterte sein wachsames Herz und flog empor bis in die Wangen. Die beiden Frauen, die das Mädchen pflegten, sahen sich erstaunt an. Aber sie sagten absolut nichts zu dem Gebaren Krischans. Ohne jemand anzuschauen, schlich er wieder hinaus.

Es war, als ob alle Sehnen und alle Gelenke seiner Glieder schmerzten und ihn peinigten. Er schleppte sich durch die Straßen als trüge er an einer unsagbaren Bürde. Und sein Gehirn war leer, als ob alle Gedanken es verlassen hätten, alle, ausgenommen der eine: daß er vergessen wollte.

Er ging früh zu Bett ohne das Essen berührt, ohne die Witwe noch einmal gesehen zu haben. Er goß ein paar Gläser Genever hinunter. Aber der Schmerz, der sein Herz verbrannte, schlugen Blasen nach außen, und bedeckte seinen Körper wie mit einem Aussatz und quälte ihn, als würde er mit Nadeln gestochen. Halb im Schlaf stand er wieder auf und füllte das Glas von neuem und leerte es mit einem Zuge wie ein Dürstender.

Dann sank er bewußtlos hin.

Ein leichter Schaum lag auf den halbgeöffneten Lippen.

Am Mittag schritt er wieder, sonntäglich schwarz und gebügelt, die lange Straße auf und stand im Krankenraum.

So kam er jeden Mittag. Reckte den Hals und suchte das weiße Gesicht in den Kissen. Wie ein lieber Freund warb er um sie. Aber die hingeworfene Jungfräuliche konnte sein stummes und nur im Unbewußtsein wühlendes Fragen und Flehen nicht fühlen, schmecken oder erhören.

Nur manchmal sah er einen weißen kühlen Arm, der hastig emporfuhr und wieder zerbrach.

Da schwirrte ein Sonnenblitz herein.

In dem zittrigen Schein hob sich das Krankenbett und formte ein Profil. Das brannte aus den Kissen heraus wie das Bild einer Madonna im Chorfenster.

Er faltete dann die Hände.

Und das war seine Andacht. Tag für Tag.

Die Frauen zerdrückten ihr Lächeln wie heimliche Leckereien.

Als Krischan eines Mittags wieder kam, stand das Mädchen mitten im Zimmer mit großen Augen, die sich fest in sein Gesicht bohrten. Ohne Flackern und Flimmern.

Sie mußte es schon von den Frauen erfahren haben, daß dieser hier der Mann war, der sie in das Haus getragen hatte und dann jeden Mittag wieder gekommen war.

Sein hartnäckiges Schweigen war herausfordernd. Er drehte die Mütze hin und her in den harten Händen. Ein ganz kleines Lächeln stand urtief in seinen Mundwinkeln. Aber seine Brust arbeitete heftig. Eine ganze Ewigkeit.

Endlich schien das Mädchen zu begreifen. Streckte die Hand aus und ließ die Zähne blitzen.

Die letzte Fremdheit wich aus dem Zimmer.

Das kam Krischan unerwartet. Sein ganzes Gesicht verzerrte sich.

Aber dann nahm er doch die Hand. Für eine Sekunde nur.

»Ich danke dir!«

Drehte sich um und verließ das Haus und kam nicht wieder.

Der alte Kapitän lag noch immer im Spital. Einsam frierend und fiebernd. Er würde vor vier Wochen kaum ausgeheilt sein, meinte der Arzt.

So lange mußte das Mädchen nun schon bei Holsten bleiben. Aber es gefiel ihr hier nicht mehr. Sie fand alles herzlich langweilig in dem Zimmer. Die Mildheit der ersten Tage erstarb unter der ewigen Ereignislosigkeit. Sie sah dieselben drei Gesichter, hörte dieselben Stimmen. Dieselben Stimmen von morgens bis mitternachts. Die schwerfällige Behutsamkeit in den Worten und Gebärden der knochigen Frau Holsten reizte sie beständig.

Schreien vor Zorn hätte sie mögen, wenn die Frau in der Stube einherging, wie ein Riesentier, das in steter Angst ist, etwas zu zertreten. Und sie litt unter der Zärtlichkeit dieser ungefügen Hände, sie schauerte, als berührte sie eine Schlange oder als legte sich etwas Feuchtes, Klammes über sie.

Sie fing sich an zu schmücken … setzte sich ans Fenster und sah hinaus. Draußen aber stand nur die rußige Straße gehöht wie auf Stelzen.

Kein Farbenspiel trat in ihre dunklen Augen.

Immer nur die hypnotisierende Unverrückbarkeit der schmutzigen Straße wie ein gewaltiges, starrendes Auge, das jeden fremden Blick im Bann hielt.

In einer glückhaften Pause, da Himmel in ihren Blick fuhr, dachte sie an den entlaufenen Krischan: ich werde morgen mal an den Hafen gehen. Vielleicht wird mir der alte Geruch des Wassers etwas sein.

Wäre doch wieder rauschende Fahrt durch die Wiesen und Wälder daheim!

Krischan, der eines Abends wieder auf der Bank saß und auf den Wächter wartete, den Kopf tief vergraben in den gestützten Händen, fühlte halb ungewiß, wie jemand an seinem Rockärmel zupfte.

Als er sich brüsk umwandte, sah er das Mädchen vor sich. Sie war noch etwas blaß. Aber ihre Augen hatten einen hellen Glanz.

»Bist du immer hier?« zärtelte sie mit unbefangener Stimme.

»Hast du mich denn gesucht?«

»Nein, ich suche niemand. Aber willst du nicht ein wenig mit mir durch die Kolonie gehn? Ich kenne ja niemand hier und zu dir habe ich Vertrauen!«

Er sah sie lange und groß an: ratlos.

Das Mädchen fragte schüchtern: »Aber woran denkst du denn immer? Deine Augen werden immer dunkler von dem vielen Denken!«

»Ich denke daran, daß wir uns wieder begegnen mußten,« sagte er, der ganz leise sprach wie jemand, der im Dunkeln geht, oder jemand, der träumt. Und sein Gesicht wurde wie das von Leuten, die entweder taub geworden sind oder das Geschwätz der Menschen nicht mehr anhören mögen.

Das Mädchen ließ nicht nach. Ihre prachtvoll geschwungenen Lippen bewegten sich nur unendlich schwach als sie lächelte:

»Wie blau ist doch das Wasser heute!«

»Bloß dieses wolltest du mir sagen? Dieses?« Seine Stimme zitterte schwach und schmerzlich.

»Ich wollte überhaupt nichts sagen. Da du jedoch so anders bist, sagte ich es eben.«

Sie stand mit niedergeschlagenen Augen und glättete eine Schleife an ihrem Kleid.

Er zögerte einen Augenblick –:

»Was soll ich bloß zu ihr reden? Was nur?

Wird sie glauben wollen, daß wir alle lernen müssen uns selbst zu weihen?«

Dann sprang er plötzlich auf wie von einer jähen Erleuchtung betroffen und sagte ganz sicher: »Wenn du willst, dann komm nur!«

Sie gingen zusammen durch die Kolonie und weiter und ins Feld hinaus. Die Pappelallee welkte unter der herabbrennenden Sonne.

Die helle Stimme des Mädchens flog schmetterlingshaft vorauf.

Krischan brach auf mit seinem ganzen Innen und gab die Fahrten seines Lebens preis. Erzählte von seinen Reisen. Vom Rhein und von Holland und fremden Ländern.

Als er zuletzt schwieg, stand er eine Weile mit einem traurig träumenden Lächeln.

Und dann erzählte er das Ganze noch einmal, als gäbe es auf den Walzen seiner Seele nur diese einzige Melodie.

Das Mädchen horte sie auch das zweitemal bis zu Ende an.

Sie sah jedes Bild, als stände es neben ihr auf der Fläche.

Krischan bewegte hie und da seine Hand, als wollte er über das Wasser hin deuten auf alles, was er aufbaute.

Plötzlich sah ihn das Mädchen scharf an mit einem gläubigen und gefaßten Lächeln:

»Dann bist du früher wohl auch zu Schiff gefahren und bist wohl gar noch ein Holländer?«

Er stand leicht gebückt, die Arme noch ausgestreckt, die großen Hände geöffnet. Etwas Dumpfes stieg herauf, als hätte jemand einen fremden Saft in sein Blut gegossen, das die roten Teile zersetzte und wegfraß. Erst nach einer Weile sagte er ganz entfernt: »Aber das ist doch schon lange her und bald nicht mehr wahr.«

»Auf welchem Schiff bist du denn gefahren?«

»Henriette!«

Alle ihre Gefaßtheit schwand im Nu. Und sie zitterte vor Erregung.

Ein gräßlicher Gedanke schnellte in ihrem Bewußtsein hoch … ihre Finger krümmten sich zu Fäusten. Bor ihren Augen drehte es sich im Kreis. Sie mußte sich an einen Baum stützen. Sie biß die Zähne zusammen gegen das Wühlen in ihrer jungen Brust.

Krischan stand schwerfällig und klotzig etwas abseits. In sich gekehrt nach dem da drinnen, das sich um Ewiges drehte.

Er murmelte abwesend: »Was versuchst du mich … was versuchst du mich?«

Und scharf das Profil des Mädchens umspannend: »Woher kenne ich dich? Was weiß ich von dir? Weshalb lebst du so sehr in mich, als wäre dein Bild von jeher in meiner Seele? Warst du nicht alle Jahre in mir, ich deine ruhige Wohnung?«

Seine Augen liefen aus vor Innerlichkeit. Und plötzlich dieser Schein in seinem Gesicht!

Das Mädchen schrie auf vor Schreck, da sie ihn so sah. Und jagte den häßlichen Verdacht von sich, riß ihn aus ihrem Herzen heraus und schmiegte sich mit Zärtlichkeit in seine Versunkenheit.

Nach einer kurzen Pause wiederholte sie: »Auf welchem Schiff bist du denn gefahren?«

Er sagte es, mit aufwachenden Bewegungen, noch einmal wie ein Echo: »Henriette!«

»Aber so hieß doch unser Boot auch?!«

»Ich weiß es!«

»Kennst du denn meinen Vater?«

»Ja, einmal kannte ich ihn.«

»Wann?«

»Da warst du noch nicht!«

»Aber mein Vater doch?«

»Ja, dein Vater und deine Mutter!«

»Meine Mutter?«

Ihr Gesicht wurde fahl wie eine Laterne im Nebel.

Mit halber Stimme schluchzte sie:

»Meine Mutter ist früh gestorben. Ich war noch kein Jahr alt. Ein Knecht soll sie ins Wasser gestoßen haben …

Das sagte mir einmal die Großmutter. Aber der Vater darf es nicht wissen … Er wird wütend, wenn man davon spricht.«

»Das stimmt schon,« sagte Krischan merkwürdig fest.

Er stieß die Zähne langsam in die Unterlippe und spannte die Mundwinkel. So blieb er eine Weile stehn. Schweigend und still.

Plötzlich flüsterte er verloren, während Lächeln auf Lächeln über sein Gesicht flatterte wie Sonnenschein über weiche Wiesen: »Deine Mutter war gerade so, wie du jetzt bist! Und sie hieß auch Henriette wie du und das Schiff.«

Auf sprang das Mädchen. Griff mit beiden Händen in sein Haar, hob seinen Kopf und schaute ihn an.

Krischan hauchte mit letzter Anstrengung seines Hirns: »Nur ein wenig heller war ihr Haar … aber die Augen … der Mund … ganz genau!«

Sie drückte seinen Kopf stark nach hinten, so daß die Augen wie in Verwirrung stierten.

Die Haut seines Gesichts wurde straff und bleich, und der Mund stand offen. Sie konnte an dem gebogenen Halse sehen, wie seine Kehle sich bewegte.

»Henriette … Henriette …« keuchte er in seiner Qual.

Da gab sie ihn frei. Ganz ruhig wieder. Nahm das ganze so auf, wie es war.

Ihr Gesicht begann in halber Anbetung zu leuchten.

Krischan bereute im selben Augenblick diesen Ausbruch.

Aber das verfluchte Dunkel hatte die Herausforderung grimmig angenommen und ließ nicht locker. Wie er sich auch wehrte und krümmte und zusammenkroch, sich klein zu machen.

»Willst du meinen Vater nicht einmal besuchen? Er darf schon wieder sprechen.«

Krischan verfinsterte sich noch mehr und schüttelte etwas ab. Wie wenn zwanzig Jahre schweren Lebens auf seinen Schultern gelegen hätten.

»Warum antwortest du nicht?« sagte das Mädchen und sah ihn fest an.

Wie still es in der Landschaft war. Nach dem Brausen, Schlingen und Rollen am Hafen hörte sich diese Stille fast kirchenfeindlich an – als ob die Zeit hier vorübergefahren wäre und sie beide hinausgefallen in den wetten, stillen Raum. Sein Gesicht arbeitete. Die Lippen tobten. War er stumm geworden plötzlich? Wollte die Zunge nicht mehr? Er raffte sich gewaltsam auf. Er nahm den Hut vom Kopf und fuhr sich durch die Haare.

Henriette sah ihn einen Moment von der Seite an.

Er schien wieder ruhig.

Sie gingen nebeneinander, sprachen nichts und waren tief befangen.

Der Weg ging sanft bergab. Zu beiden Seiten unter den Laubgewalten stand langhalmig rauhes Gras, das man niemals mahle. Der Boden war ausgetreten in solchem Maße, als werde er von Koppeln Pferde belaufen. Silhouetten eines Gehöftes wurden sichtbar.

»Wo kommen wir hin?« flüsterte Henriette.

Krischan erwachte aus einem innerlichen Gewühl.

Und plötzlich schoß es heraus wie das Wasser eines verstopften Brunnens. Zischte und brodelte und sprang im Schwall –:

»Dein Vater hat sie ins Wasser gestoßen. Dein Vater, mein Töchterchen. Nicht der Knecht … wie sollte er auch …

Oh, die schöne Henriette …

Die Henriette …!«

Das war die Stunde.

Wie ein Krieger schwoll Krischan von Starke.

Das Herz blieb einen Augenblick blutleer. So furchtbar wirkte die Stunde.

Krischan lachte das plötzliche Lachen eines Rächers.

Henriette war bis in die letzten Gelenke erschrocken. Alles Blut war ihr aus dem Gesicht getreten. Sie taumelte. Ihre Lider glitten über die Augen. Über die Pupillen lief ein matter Schauer, als versänke sie widerstandslos in einen unendlichen Abgrund von Leid.

Krischan sah sie an – ratlos. Fing sie auf, die kraftlos umsank. Strich über ihren Scheitel. Sang: »So lag deine Mutter auch einmal in braunen, haarigen Armen. Und sie hieß auch Henriette. Wie du, mein Töchterchen und das Schiff.«

All seine Liebe quoll in ihm auf.

Der Abend war wunderbar mild.

»Kleine Henriette, kleine Henriette,« murmelte er, indem er sie an sich preßte.

Ihm war, als würde in ihnen beiden ein Ton angeschlagen – doch von ganz verschiedenem Klang.

Er rang nach Atem, zuckte, als schwände jede Kraft aus seinen Knien, als würde jeder Blutstropfen aus seinen Poren gesogen.

Henriette bewegte die Lippen.

Seine Arme glitten herab. Stöhnend richtete er sich empor und starrte auf diesen Mund, der in dem beginnenden Dämmer rot wie Blut schimmerte.

»Vorbei,« flüsterte er.

Henriette stand mit hocherhobenen Armen.

· · · · · · · · ·

Sie schritten den gleichen Weg langsam zurück. Aus den schmalen Wiesenstreifen stieg der Nebel. Die Bäume erloschen ganz. Am Himmel fuhr eine breite schwarze Wolke auf. Die griff immer weiter aus. Zähen Willens wie eine Mörderhand. Die Gräser begannen zu zittern. Der Wind schrie auf. Der Flammenatem der Hochöfen schwoll an und wälzte die roten Wirbel wie Blutbäche hinaus. Die kleinen Fenster der Kolonie erbrannten kerzenhaft flackernd.

Es war ganz kühl.

Als Krischan und Henriette an eine sumpfige Stelle kamen, nahm er hastig die Hand des Mädchens, um sie zu leiten. Und wie sie dann vorüber waren, hielt er noch immer ihre Hand. Und sie ließ es gern. Das fühlte er.

Dann standen sie vor ihrem Hause.

Der Wind pflückte ein paar Schluchzer von seinen Lippen.

Das Mädchen verstand ihn. Und es war, als wäre die letzte Befremdung von ihr abgeglitten wie ein Kleid.

Ganz hüllenlos und leise sagte sie: »Lebewohl!« Krischan blieb stumm.

Ihre Seelen tauchten eine Sekunde ineinander unter.

Lebe wohl, flüsterte Henriette noch einmal. Dann knarrte das Tor.

 

IV

Sie sahen sich eine Woche lang nicht.

Und an einem Sonnabend wurde der alte Schiffer aus dem Krankenhause entlassen. Da ein ihm befreundeter Kapitän ihm freie Heimfahrt auf seinem Frachtdampfer anbot, beschloß er, noch am gleichen Abend mit Henriette abzureisen.

Sie flog am Nachmittag durch die Kolonie schnell zum Hafen hinaus. Sie fragte einen Stauer nach Krischan. Der wußte nichts. Sie ging auf den Kai. Die Bank war leer.

Krischan war nirgend.

Sie lief wieder einige Schritte wett den Hafen hinunter.

Dann blieb sie wieder stehen. Und kehrte wieder um.

In ihrem Gesicht war ein früher Gram tief eingegraben. Aber sie empfand eigentlich doch nichts. Weder Schmerz. Weder Qual. Sie erinnerte sich nur, und das wurde zu Tränen. Minutenlang.

Als das Schiff abfuhr, stand Krischan unten am Ufer. Versteckt. Er sah den Alten und das Mädchen auf dem Achterdeck stehn. Von der Landungsbrücke wehten Tücher. Ein kleiner Trupp hatte sich zum Abschied eingefunden. Die beiden Frauen, die das Mädchen gepflegt hatten, gestikulierten heftig.

Krischan sah noch immer das Mädchen und den Alten. Sein Gesicht verdunkelte sich mehr und mehr. Seine Brust barst und zwanzig Jahre seines Lebens fielen von ihm ab wie Geröll. Und es blieb nur ein Tag, der wie dieser Tag des Lebens gewesen war. Und es war noch jemand, der wußte auch um diesen einen fernen Tag. Der blieb auch diesmal Sieger und stand auf dem Deck wie ein Drachen mit der Jungfrau.

Krischan bebte. Eine heiße, reißende Wut heulte in ihm auf und begann zu gewittern.

Hinter ihm tönten Schritte.

Das waren die Jahre, die wieder zurückkamen.

Er schloß die Augen und brach zusammen unter der Last. Die purpurne Finsternis schlug über ihn. Die Ufer begannen zu rasen, zu fliegen. Das Kanalbett sprang weit auseinander, plötzlich stieg irgendwo ein weißes Segel auf. Musik jauchzte. Glocken jubilierten.

Er breitete die Arme klafterweit und schrie: »Henriette … Henriette … Henriette …!«

Dreimal wiederholte er den Ruf.

Das Unerwartete geschah:

Aus der Flut kam wimmernd Antwort.

Wimmern und Gurgeln eines Ertrinkenden.

Da kam die Freude in ihn. Er fühlte sich verstanden. Und hob die Arme und sprang von Kribbe zu Kribbe. Und stieg hinab in das grün schäumende Tal.

Schwimmend schrie er etwas.

Das klang aber nicht wie: »Hilfe … Hilfe …!«

Ein Schiffer machte sein Boot los und ruderte angestrengt heran.

Der gellende Ruf zerschlug die Ohren des Schiffers.

Aber er horte nur: »Henriette … Henriette …!«

Er dachte blitzschnell: Warum nicht Hilfe? War's Wahnsinn, war's Mord? Und der Schiffer fühlte plötzlich ein Entsetzen und schrie:

»Blut … Blut …!«

Er ruderte stärker.

Krischan sank unter, ehe ihn das Boot erreichte.

Der Mann bekreuzte sich.

Noch einmal hob eine riesige Welle den Körper empor –:

»Henriette … Henriette …!«

Das war nur ein Gurgeln.

Die dritte Welle war stärker als dieses irre gebrochene Herz.


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