Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Reiterliedchen

(1910)

Und dann bist du eine schmerzliche
Witwe geworden und deine
Träume sind stumm wie ein vergittertes
Fenster

 

I

Da lag ein Dorf in der Nähe von Mons.

Man mußte immer die Bahngleise entlang gehen. Zwischen Kies, Wegerich und Nessel. Über einen Bach und an vielen Schutthalden vorüber. Eine halbe Stunde vielleicht.

Das Dorf war unansehnlich und hart. Denn keine Vorgärten belebten die Häuser. Und auch kein Springbrunnen stand auf dem Marktplatz. Nur ein masterhobenes Kruzifix und die große Pumpe. Aber eine Kirche hatte das Dorf und eine Schule. Die Schule lag krüppelhaft krumm unter einem defekten Dach. Auf dem Kirchturm stand einbeinig der Storch.

Und genau vierundzwanzig Häuser waren noch vorhanden.

In dem ersten wohnte der Herr Pfarrer mit dem Meßdiener. Es war ein großes, blauweiß getünchtes Gebäude. Auf den Fensterbrettern prahlten mit Sonne und grellem Rot uralte Blumentöpfe. Dahinter hingen gelbe Tüllgardinen lang herab.

Das zweite Haus gehörte dem Lehrer. Der spielte auch die Orgel, konnte das Vieh heilen und Wunden verbinden. Die Knaben jedoch fürchteten den langen Haselstock.

Das dritte Haus war breit genug für den Maire.

Beide Häuser hatten grüne Dächer und schwarzverzierte Giebel.

In der Mittagsstunde lag fetter Rauch darüber.

Und dann kamen noch zwanzig Hauser, die waren alle wie ein Haus –: schwarz und torfgepicht. Und vor den Fenstern lagen Misthaufen und Geruch von Ziegen und Schweinen.

Das vierundzwanzigste Haus war auch torfgepicht und schwarz.

Aber statt des Düngerhaufens lag immer ein Kind in der Sonne. Und in der offenen Tür, die zweiteilig war, stand die Frau Huysmanns und strickte.

Jean Huysmanns, ihr Mann, war Steiger auf der Anthrazit-Grube und nicht mehr jung.

Jeden Morgen um fünf Uhr fuhr er auf dem Dreirad zur Gewerkschaft. Und kam erst nach sechs Uhr abends zurück auf dem Dreirad.

Er aß und trank wie einer, der viel arbeitet. Und nach dem Essen ging er gleich zu Bett.

Manchesmal küßte er auch noch die Frau, ehe er schlafen ging.

Wenn er ihren versteckten Mund sah und die runden Braunaugen, sagte er immer wie aus der Ferne –: »Liebe Madelaine!«

Und sie kräuselte die Lippen spitz auf und küßte den Mann mit abgewandten Augen.

Ein roter Kater strich pustend an ihrem vorgestellten Bein. Die vorgesteckten Lichter brannten voller Neid.

Nach einem Weilchen putzte Madelaine die Lippen mit dem Blusenärmel ab.

Dachte –: Tabaksaft brennt einem auf den Lippen. Der Huysmanns ist ein Schwein, wenn er küßt.

Jean Huysmanns schnarchte schon tief und von Schweiß überdampft.

An der Lampe suchte Madelaine das Hemd nach Flöhen ab. Die Uhr tat elf helle Schläge. Der rote Kater sprang ins Bett und wärmte das Laken für Madelaine an.

Madelaine löschte mit einem Seufzer die Lampe. Durch das schwarze Loch des Fensters kamen ihr Traumgesichte zugeflogen.

Ihr Schlaf war von warmen Männerleibern überbürdet.

Doch als eines Abends Jean Huysmanns wiederum Frau Madelaines Mund suchte und ein ganz klein wenig näher –: »Liebe Madelaine!« sagte, nahm sie entschlossen seine Hand und zerbrach darin etwas, was Stummheit hineingezwungen hatte.

Und Jean Huysmanns kam noch ein wenig näher, legte ihr die Lider an die Augen und meinte –: »Wir könnten uns doch gut einen Kostgänger halten. Jeder im Dorf verdient damit!«

Madelaine fühlte, wie etwas Schweres sich in ihr ausfüllte. Übermächtiges riß und drängte. Ansengende Funken im Blut von etwas Befreiendem, ein klangloses Summen –: Richte dich auf, trotze mit Stirn und Faust –: sage Kampf an!

Jean Huysmanns sah die Verwirrtheit, deutete sie falsch, wiederholte »Ich weiß einen treuen Kerl für uns. Er kann Zeitung lesen. Harmonika spielen. Säuft nicht. Kann Schweine füttern … Was meinst du zu dem?«

Da schoß ihr Mund aus der Tiefe empor, wie wenn sich eine kleine süße Muschel öffnet. Und die Augen streckte sie wie zwei Fühler aus, zärtelnd in das Gesprochene hinein.

Ihr Blut keimte auf und ein Lachen war darüber gespießt, das war rot wie ein Herz und erkannte die schon nicht mehr herangeträumte Vernehmbarkeit der Farbe ihres Ursprungs. Und es war ihres Mannes Herz.

Ihre Stimme zärtelte kindhaft empor. Suchte Mündung. Jean Huysmanns tappte zurück. Müde. Ungereizt. Ein paar Sekunden lag Trauer zwischen zwei Menschen.

Jean Huysmanns zerkaute unschlüssig den Priem. Zog die Brauen hoch.

Madelaine machte einen Ansatz zu husten.

Darauf küßten sie sich. Huysmanns legte sich schwer zu Bett.

Madelaine hatte wieder Angst vor der Nacht.

An das Fenster schlugen Regenfäuste.

Die Uhr blieb um zwei stehn.

Das wußte Madelaine noch.

 

II

Am anderen Tage, kurz vor dem Mittagläuten kam auch schon der Kostgänger. Er reichte Frau Madelaine die rote, weichfleischige Hand wie ein Bekannter und sagte –: »Der Jean Huysmanns schickt mich. Ganz nett ist es hier. Ich glaube, hier werde ich lange wohnen können. Stappen, Leon Stappen heiße ich.«

Frau Madelaine ließ die warme Hand langsam entgleiten und nickte.

Eine weiche Linie hob sich im Kinn in die ungewisse Welt hinaus und die Lippen lagen gespannt an den ein wenig vorgewiesenen Zähnen.

Der Kostgänger wollte gleich seine Schlafkammer sehen und schien den Zweck dieses jungen Wunsches wirklich ernst zu nehmen.

Madelaine rührte sich noch nicht. Blieb verängstigt, das Hirn voller Unbestimmtheiten. Wie ein Kind plötzlich vor einem großen Tier: darf man streicheln, in den Haaren reißen, sagen: gib Pfötchen! Oder wird es furchtbar bellen. In das Bein beißen?

Als sie Leon Stappen aber die Treppe hinaufführte, über den schmalen Gang leitete und das Zimmer aufriegelte, wo ein frischbezogenes Bett sehr breitbeinig stand, dachte sie schon: Er wird zehn Jahre jünger sein als der Jean Huysmanns. Sein Haar ist ganz anders. Weicher, blonder. Er wird ein Vlame sein. Vielleicht aus St. Amand, wo meine Schwester wohnt.

Sie begann sich an den Besuch dort vor ein paar Jahren zu erinnern.

Kirmes war damals in St. Amand. Durch die Estaminets flutete der Apfelwein. Voller Sterne war die Nacht. Alle Männer so blond und hüftenschlank beim Tanz. Die ganze Nacht war sie mit einem Vlamen zusammen. In Gesprächen beim Wein. Sausend mit Fiedelmusik durch den Saal. Aber nicht mehr. Aber dennoch –: eine Woche lang lag ihr das Blond im Blut. Und schüttete sich mit zusammengedrückten Augen über Jean Huysmanns aus … …

· · · · · · · · ·

Leon Stappen räusperte sich auf der Schwelle.

Madelaine blieb scheu.

Und da er sich umwandte mit blitzenden Zähnen, in denen ein Lächeln, still wie ein Hauch, noch gar nicht lange zu nisten schien, meinte Madelaine schlicht: »Nun wollen wir aber essen gehn. Ich habe Kohlrüben gekocht mit Hammelfleisch. Jean Huysmanns muß jetzt Aufgewärmtes essen. Ich habe sonst des Abends die Mittagskost gekocht.«

Leon Stappen verzog gleichgültig den Mund und trommelte mit den Lippen so wie Jean Huysmanns. Aber diese bartlosen Lippen sagten etwas anderes. Sie konnten ineinandergewirrt so wie ohne Ziel im Endlosen hin- und widerstreichen und dem Unbegrenzten eigene Wege als Grenze geben.

Madelaine beobachtete ihn scharf. Sie empfand es deutlich: er fing ihren Blick auf und war doch mit seinem Denken wo anders.

Für Sekunden schmerzte das. Warum denn nur? Warum denn nur?

Leon Stappen und Madelaine gingen hinunter und aßen zusammen ohne Worte zu bilden, deren Endungen vielleicht zu Brücken aufwachsen könnten.

Nach dem Mahl holte Madelaine das Söhnchen aus der Kammer.

Hielt es Leon Stappen hin –:

»So, das ist unser Pull!«

Und atmete auf.

Leon Stappen lachte gelassen: »Also der Pull ist das? Ganz der Huysmanns. Fabelhaft!«

»Ja, vier Jahre wird er im Herbst, dann bekommt er Hosen an und ein Pferdchen wird ihm der Vater kaufen.«

Lebende Willigkeiten verwandelten das Gespräch und wurden ein Rundes und Knetbares.

Madelaines Blut zischte hoch. Stolz. Mit Fiebern dachte sie verlangend, durchschüttelt, hingegeben: Jean … Jean!

Die Kontur verwischte sich. Hart gezähnte Gitter schoben sich vor. Dahinter blökte Viehisches. Und taube, sternlose Nächte.

Wie lange schon!

Und Leon Stappen sagte ohne Hintergedanken: »Wenn ich wieder zur Stadt komme, bringe ich dem Pull schon ein Steckenpferdchen mit.«

Und nahm, ohne zu bitten, den Buben, prüfte Augen und Gliederchen und ließ ihn auf dem vorgeschobenen Knie retten.

Eine ganze Weile ritt das Söhnchen so auf dem Knie des Kostgängers.

Klatschte mit den Händen und krähte.

Madelaine stand mit dem Rücken am Fenster und wiegte den Kopf zu dem Liedchen, das Leon Stappen achtlos vor sich hinpfiff. Von ihrem Scheitel standen ein paar ganz feine Härchen in der Sonne und leuchteten wie Stahlspitzen.

Aber es war kein Reiterliedchen, das der Vlame pfiff.

Ganz plötzlich hatte Madelaine das Gefühl, als ob jemand ihren Kopf zwischen zwei weiche, rotfleischige Hände nähme und den Mund aus seinem Versteck wie mit einem Pfeifchen lockte.

Es war Leon Stappen, der so pfiff und das Söhnchen auf- und niederwippte mit dem Knie.

Madelaine fröstelte. Ihr Gesicht zuckte. Es war, als müßte ihr Körper mitten durchbrechen. Ein Fremdes sich hineinschieben und den Bruch überwuchern mit einer vollblütigen Gewalt.

Sie spürte Angst von den Zehen bis zum Scheitel herauf.

Warum ist Jean nicht hier?

Mit seinem Tabakmaul, mit seiner Trägheit, mit seinem steifen, maskenlosen Gesicht!

Man müßte um Hilfe schreien!

Wirklich?

Sie sah sich von einem Turm herabfallen.

Sie beobachtete es mit einem blutleeren Gehirn.

Sie schrie wirklich etwas.

Es kam aber nur bis zur Kehle und war nicht einmal mehr stark genug zu seufzen.

Leon Stappen ließ den Buben wippen und dachte, ohne Madelaine anzuschauen: wie hübsch sie aussieht nun sie da vor dem Fenster steht. Ihre Haare sind so blau wie polierter Stahl. Ihre Brüste sind noch so rund und fest, als hätte sie dieses Söhnchen, das dem Huysmanns so ähnlich sieht, gar nicht geboren. Diese Frau, von dem Girren ihrer Blicke aus ihrem eigensten Maße hinausgewiesen … …

An diesem Gedachten vorbei schob sich aber sein umwertendes Gefühl und nahm schon Formen an, in denen Röte vorherrschte. Ein leicht ins Grünliche glitzerndes Grau erfüllte den Hintergrund.

Und Madelaine stand am Fenster und hatte noch immer die weiße knittrige Latzschürze vor.

Ein Brummer stieß an die Scheiben und draußen auf der Landstraße tuckte ein Hahn die Hühner herbei.

Da ließ der Vlame den Knaben plötzlich fahren und richtete sich auf.

Madelaine bebte am ganzen Körper wie eine junge Magd, die den Buhlen hört am Fenster klopfen. Fühlte ein leises zartes Steigen des Blutes und lieh, hörend, ihren Blick dazu.

Halb ärgerlich, als merkte er, daß sie ihn anstarre, wendete sich der Vlame zur Tür und warf sie ins Schloß. Die Bodentreppe knarrte laut auf unter den harten Schritten.

Und Madelaines Kleid wurde schwarz und frostig wie das Gewand einer Witwe. Ihr Herz fiel aus dem Gehirn herab und tat einsame Schläge.

Jean Huysmanns kam mit vergnügtem Lärmen von der Grube und rieb sich, in die Stube tretend, die Hände –: »Nun, meine Liebe, was sagst du zu unserem Kostgänger, he?«

Madelaine mußte sich erst besinnen. Nach einer Pause: »Ich glaube, er schläft schon.«

»Sonst hast du nichts von ihm zu sagen?«

»Er hat schon gegessen.«

»Dann laß ihn schlafen!«

Jean Huysmanns spürte Männlichkeit aufbrausen. Instinktiv: auf alle Fälle muß man ihr zeigen, daß man noch pfeifen kann.

Und er sang mit unreinen Gaumentönen das Bergarbeiterlied.

Setzte sich in den Strohsessel und schlief ein.

Madelaine ließ sich von der Lampe begrellen. Als müßte das Licht das Blut aufglühen zu einer Lust.

Sie hatte es schwer mit dem Schlaftrunkenen, da sie ihn in das Bett stützte.

Die Hände in ihrer Haarmasse verkrallt, schnarchte er weiter.

Oben in der Kammer polterten wieder Schritte.

Durch die Scheiben stieß der Mond und machte die Lampe trüb.

Madelaine schlief mit Tränen aus Ärger.

Warum denn nur! Warum denn nur!

 

III

Am anderen Tage, um die Vesperzeit, betrat Leon Stappen ungerufen die Stube. Das Söhnchen war draußen auf der Gasse. Und der Kater lag zusammengerollt auf dem Sofa.

Madelaine mühte sich den Kopf zu halten. Ein Nervenrieseln zitterte dem Halse zu. Aber sie goß noch ganz ruhig dem Vlamen den Kaffee ein. In die große Tasse, die mit Goldbuchstaben verziert war. Mit gespreizten Fingern warf sie den Zucker hinein und machte einen langen Hals dabei. Ihre Gedanken tanzte sie in ein neues Höherzucken und baute aus ihren Maßen Berge.

Es war ganz still im Zimmer, und die Sonne, die sich durch die gelben Gardinen zwängte, entzündete einen rötlichen Nebel.

Und plötzlich nahm Leon Stappen Madelaines kleine weiße Hand mit einer heftigen Erregung und hielt sie wie ein Geschenk.

So wie ein Geschenk, das ihm schon lange gehörte.

Noch lag in Madelaines Augen eine Frage und wurde zögernd vorgeschoben. Irgendwohin. Und doch nicht ausgesprochen.

Sie dachte nicht mehr an Kampf. Aber die Hände spannten sich über die Brüste, griffen wie mit Krallen in das Fleisch unter der Bluse. Die Augen taten sich auf und setzten Angst und Scham in die Lichter. Kinn und Mund spalteten sich in Furchen. Der Atem begann zu brennen.

Warum denn nur? Warum denn nur?

Und es war eine kleine Lüge, als der Vlame leise antwortend sagte: »Ja, ja, du bist seine Frau!«

Von ihren Lippen prallte es ab wie ein knarrendes Echo in Wänden aus Holz: »Ja, ich bin seine Frau!«

Aber die Gedanken mahlten: ich wollte, ich könnte schon ehrlos sein!

Schon als Ungetanes wirkte es auf die Blutpulse und ließ sie aufklingen.

Und plötzlich stand es zugespitzt wie ein Pfeil auf der Sehne:

Tu deinen Trieb! Du liebst mich! Also hebe, dränge dich in mich!

Und da sie das Gesicht voll zu ihm aufhob, nahm er ihre beiden Hände und wollte sie küssen.

»Nein! O nein!« hauchte Madelaine. »Du, nicht die Hände!«

Und so fuhr er wilden Blutes über ihr Gesicht mit warmen Lippen und fühlte wie ein Gift das feste runde Fleisch der Arme, die jäh seinen Hals schnürten. Und sein Atem schrillte wie ein Pfiff.

Madelaine stöhnte wie unter einem Messer, das die Fasern ihrer letzten Begierde bloßlegte.

Sie gab dem Vlamen alles, wonach ihn dürstete.

Es schrie in jubelnd beglücktem Tumult in ihm auf: jetzt bist du meine Frau!

Und es geschah zum erstenmal, daß er die Seele eines Weibes küßte. Eine Seele küßte, die von dem Getriebe ihrer Blicke aus ihren eigensten Maßen in ein Göttliches hinaufgewiesen wurde.

Und es war ein Vlame, der diese Seele küßte.

Sein Blut übersprang eine Ewigkeit und schwebte.

Die Lust kippte in kindhafte Zärtlichkeiten um.

Madelaines Hände, Brüste, Hals und Wangen lagen wie von einem unendlich zarten Samt umhüllt.

Müdigkeiten gingen darüber hin.

Sterne rieselten durch die Poren.

Wie ein Betrunkener taumelte Leon Stappen aus dem Zimmer.

Und als er die Klinke der Stubentür packte, erhob sich Madelaine und ging ihm nach.

Abermals sich demütigend –: »Hilf mir!«

Ein letztes Wort, wie eine Heimlichkeit zischend, die nur als Fühlbares wirklich war.

Und mitten im Zimmer blieb sie stehen, als er draußen war. Spreitete die Arme in den nunmehr violetten Nebel weit aus und zerfloß und floß hin wie sein Schatten.

Der Geruch seiner blonden Haare aber war in dem Zimmer geblieben wie ein verstörter Duft und wälzte sich über die Polster und Geräte.

Madelaine sprach mit sich selbst, fremd, den Raum ausweitend zu einer Landschaft. Es blühte rosenrot aus schwarzdunklem Grün.

Die Dämmerung wölbte tiefe Himmel, niederbrechend in das weiche, verlächelnde Gesicht.

Die Uhr läutete das Sanktus.

· · · · · · · · ·

Der Steiger Jean Huysmanns sagte nach dem Abendessen ganz langsam und sehr fern sein monotones: »Liebe Madelaine!«

Aber ihr Mund lag verschlossener denn je zwischen den scharfen Winkeln. Und sie fühlte mit einem verbissenen Groll, daß es Nacht wurde und ein klebriger Dunst den fremden Duft von den Geräten und aus dem Zimmer wegfraß mit den leisen Geräuschen des aufgehenden Mondes.

Und mitten in der Nacht, genau in derselben Stunde, da Madelaine mit blauverkrümmten Fingern über die behaarte Brust des Mannes fuhr und einen anderen ferneren Mund suchte, wurde der Hilfssteiger Leon Stappen vom Wetter erschlagen und mit ihm elf andere Männer aus demselben Dorf.

Er hatte seine Grenzen überbaut.

 

IV

Das Dorf hatte wieder ein Ereignis, erniedert und gehemmt von Ernten, die es sich erackert hatte. Und alle Folgen des Geschehens drängten sich zu jener Stelle hin, wo die Urtat wie eine offene gespreizte Körperhülle hing.

Auf fünf Leiterwagen fuhr man die Särge, worin das Zerfetzte von zwölf Männern lag, durch die Gasse.

Hinter dem ersten Wagen, der nur einen schwarzen Sarg über das schlechte Pflaster schleifte, gingen der Pfarrer und die Meßdiener. Und die Grubendirektoren und der Steiger Jean Huysmanns und seine Frau.

Sie trug einen Kranz aus getrocknetem Moos. Ein paar rote Papierblumen zierten das fahle Grün.

Und sie war sicherlich kein richtig gehender Mensch in Schritt und Haltung. Diese Reise war ihr ein somnambules Flüchten –: ich kann nicht länger hier leben allein. Lebe ich noch?

Die Musikanten aber bliesen ein trauriges Lied. Das stolperte über die Misthaufen und zerplatzte an den Fensterscheiben wie ein dummer Landregen.

Aber es war niemand in den schwarzen torfgepichten Häusern, der das Tönen anrief –: zu mir!

Das ganze Dorf schritt den traurigen Blechrhythmus zu Ende. Nur vor dem vierundzwanzigsten Hause hantierte das Söhnchen Pull mit einem Holzpferd. Und es tanzte damit wie nach einer sanften Musik.

Das war aber nicht der traurige Blechregen hinter den Särgen. Der Vlame Leon Stappen pfiff sich selbst sein Liedchen. Und es war ein Reiterliedchen. Und das Söhnchen tanzte mit dem Holzpferd hinterdrein.

Dem Wind war, als sei er mit ihm.

Und eine Verwirrung brach über das Land herein.

Hagel klopfte herab.

Fast zufällig.

 

V

Der Steiger Jean Huysmanns fuhr jeden Morgen um fünf auf seinem Dreirad zur Grube.

Und Frau Madelaine stand wieder am Fenster.

Sie hatte eine knittrige Latzschürze vor. Und die feinen Härchen vom Scheitel standen in der Sonne und waren ganz weiß wie der morsche Reif des Alters.

Und es kamen noch viele Kostgänger in das Haus. Und die dann wieder flohen, hatten weiße Gesichter wie von einer Seuche verheert. Sie trugen die Narben in die Klöster und verbrannten sie im Weihrauch des Zölibats.

Sie ließen keine Spur und keinen Schatten zurück. Der Geruch von ihren Glatzen flog auf die Gasse wie Spreu und wurde vom Atem der Düngerhaufen aufgesogen, bis diese voll waren wie ein Schwamm.

Madelaine aber war allen Reden, die sie zu sich heranschallen ließ, der Gleichklang und der krönende Triumph. Und ihr Mund war ein böses Rattennest. Und ihre Zunge wie ausgeschnitten. Sie lebte eine Einheit, die ohne Körper und darum eine Zweiheit war.

Sie lebte in Greisen und Knaben.

Das Alter war gleichgültig.

Ihr Gesicht fröstelte mit sengenden Augen Eisblöcke.

Und als sie in Pausen eines lauen Wachseins um sich sah, auf die unendliche Eiswüste und die erstarrte Welt, ballte der Atem sich vor ihrem Munde: »Ihr habt den einzigen Weg gewählt, der eine wildverlangte Wanderschaft krönt. Wohin er führt, weiß keiner von uns!«

Das Dorf begann sich zu zerteilen. Für und wider Madelaine.

Sie hatte kein Gefühl mehr dafür.

Nur die Schatten, die um den Tod des Vlamen Leon Stappen zusammentrieben, wurden wandfester und steinern.

Eine Zelle war schon daraus geworden.

Von draußen kam der Gesang des Knaben Pull.

Es war ein Reiterliedchen.

Madelaine kniete davor und empfand Hochamt und Heiligung.

Sie schwebte losgelöst als Taube im Raum.

Der Mond brannte heller als Sonnen im August.

So brausend, daß eine ungeheure Leere über die Welt geisterte.

Und ein Lied schwebte über den Wassern.

Gott ertrank darin.

 

VI

Es begab sich aber einmal, daß man den zwölf Bergleuten, die das schwarze Wetter erschlagen hatte, ein Denkmal setzte.

Der Steiger Jean Huysmanns verbot Frau Madelaine, zur Gedächtnisfeier zu gehen. Denn sie war schwanger im zehnten Monat.

Madelaine zog dennoch das schwarze Brautkleid an, das sie auch zum Begräbnis getragen hatte und ging auf den Kirchhof. Sie warf ein paar sanfte Feldblumen auf das Massengrab und ging siebenmal um das Denkmal herum, so, daß der Pfarrer sie ansah wie eine Irre.

Und so wie eine Irre torkelte sie auch in das Dorf zurück.

Ein fremder Schatten hüllte sie ein wie in eine Wolke. Und sie spürte ihre Stunde wie das Heranbrausen eines Bahnzuges. Sie sah durch violettes Schleiern zwei große weiße Lichter. Die warfen Blitze. Dampf wirbelte durch ihr Blut und machte es sieden. Stand in Zuckungen. Die Hände schossen wie Schlangen empor. Züngelnd mit den gekrümmten Fingern. Nichts warf sich ihnen entgegen. Die Luft zerflatterte raumlos.

Da begann ihr Mund zu wüten. Füllte sich mit unerhörten Schreien.

Posaunte: »Engel, wo bist du?«

Noch einmal: »Ich muß um dich sein!«

Nichts antwortete.

Beulen brachen über ihre Stirn mit Gewölken Eiter auf. Die Lippen wurden blau und stumpf. Die Augen sogen sich am Kruzifix fest, das die ganze Wandflache überschwärzte.

Drohend und mit Verfluchungen geladen hing der Mund des Heilandes herab: Entäußere dich!

Madelaine übersprang eine Ewigkeit. Und ihr Blut sang –: »Nimm mich!«

Sie warf sich unangekleidet auf das Bett, das kühl und hungrig in der Kammer gähnte.

Und sie lag darin wie in einem Sarg.

Aus den wurmzerstochenen Fugen rieselte Blut.

Madelaine schlug mit den Füßen aus.

Es war ein Feind, den sie unter ihre Füße trat. Ein haßerfülltes Herz, das sie mit jedem Stoße durchbohrte. Ein schon Gestorbener, über den sie triumphierte.

Aber dennoch ergab er sich nicht. Er wand sich wie ein siebenköpfiges Ungeheuer in Krampfzuckungen.

Hohnlachen –: Warum denn nur! Warum denn nur!

In Schwäche fallend, demütigte sich Madelaine.

Weinte: »Verzeih mir!«

Und zerfloß wie ein Schatten.

Schichten von ausgelebten Stundenkörpern, die Stein waren, brachen auf und blühten Rosen.

Die Engel schlossen sich zum Reigen.

Ein Stern stand über Bethlehem.

Und das Dorf kam anzubeten.

 

VII

Als der Steiger Jean Huysmanns in das Zimmer trat und die von Schreien und Krämpfen ausgelaugte Luft seinen Atem wegfraß, jagte er schnell zurück und holte die Schwiegermutter.

Als sie kam, war das Kind aber schon da.

Die Greisin hob es hoch empor und wog es in den Händen wie eine billige Ware. Und ihre Wangenfalten fielen tränenlos zum Munde hin.

Dann sagte sie zu dem Steiger Jean Huysmanns, halb im Lachen: »Ja, ja, gestern habe ich der Jeanette auch so ein Kind geholt. Das hat genau so blonde Haare und so blaue Augen. Aber meiner anderen Tochter Mann ist ein Vlame. Aus St. Amand. Du weißt ja!«

Jean Huysmanns nickte nur ganz fern. Gelähmt durch ein ahnendes Gefühl, das, von dieser Runzelalten angebohrt, weiter sägte in den dicken Nerven. Er rang wie ein Bewußtloser nach Worten, die Bewußtlose auf den zerwalkten Kissen damit zu beschmutzen und wegzuwerfen wie ein zerbrochenes Gefäß.

Es war ein irres Heulen in ihm.

Worte kamen nicht.

Speichel spritzte aus.

Er schlug den Kopf auf den Tisch.

Es war schwer, sich aus dem Dunkel zu zerren.

Es nutzte nichts, daß die Finger sich in die Schläfen krallten.

Es kam kein Blut.

Den Mund dörrte Galle aus. Floß Madelaine zu.

Er schrie –: »Ihr Blut ist das Übel meines Lebens gewesen und in seinem Fruchtbarsein das unheilvolle Gebrest geworden.

Geschändet bin ich und mein Stamm.

Durch viele Menschen wird mir nun diese Nachricht kommen.

Ich muß den Balg erwürgen.

Ich muß das Weib zermalmen.

Es ist so ungeheuer viel, daß ich darunter ersticke.

Nur eine kleine Pause noch. Kraft zu sammeln.

Dann aber …«

Madelaine aber achtete nicht darauf.

Sie hörte ein Reiterliedchen pfeifen.

Und es waren des Vlamen Leon Stappen Lippen, die also pfiffen.

Auf einem feurigen Wagen fuhr sie zu ihm empor.

Feuer und Wasser wurden eins.

Jean Huysmanns fühlte, über das Bett rasend, Stücke Eis in der Faust.

Und taumelte in die Nacht. –


 << zurück weiter >>