Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6. Kapitel.

Es wird an einigen Beispielen die Art der sokratischen Dialektik gezeigt, die immer darauf hinzielt, durch genaue Unterscheidung der Begriffe das eigenthümliche Wesen der Dinge nachzuweisen (Gespräch mit Euthydemos).

1. Daß Sokrates seine Schüler auch in der Kunst der Unterredung Dies war Meletos, ein Dichterling, Anytos, ein Gerber und Lykon, ein Redner. weiter ausbildete, hierfür will ich Beweise liefern. Er glaubte nämlich, daß der, welcher einen richtigen Begriff von einem jeden Dinge habe, dies auch andern erklären könne, wenn aber der Begriff fehle, da sei es kein Wunder, wenn einer sich und andere täusche. Daher betrachtete er stets mit seinen Schülern den richtigen Begriff eines jeden Dinges. Alle seine Begriffsbestimmungen nun anzuführen, würde zu weitläufig sein; nur so viel will ich mittheilen, als nöthig ist, um daraus die Art und Weise seiner Untersuchungen kennen zu lernen. –

2. Den Begriff der Gottesfurcht behandelte er z. B. folgendermaßen:

Sage mir, Euthydemos, was meinst du, daß die Gottesfurcht sei? – Beim Zeus, sagte er, etwas sehr Schönes. – Kannst du mir wohl auch sagen, was ein gottesfürchtiger Mann ist? – Ich denke einer, welcher die Götter ehrt. – Steht es einem jeden frei, die Götter zu ehren, wie er will? – Nein, sondern es giebt Gesetze, nach denen man dies thun muß. –

3. Wer also diese Gesetze kennt, der weiß auch, wie man die Götter ehren muß? – So meine ich. – Und wer dies weiß, glaubt der auch wohl, daß er die Götter auf keine andere Weise D. i. Dialektik ehren darf, als wie er es weiß? – Ohne Zweifel. – Ehrt nun einer die Götter anders, als wie er glaubt, daß er dürfe? – Ich glaube, nein. – Wer also weiß, was in Rücksicht auf die Götter gesetzlich ist, der wird wohl auch die Götter gesetzlich ehren. – Allerdings. –

4. Und wer sie in gesetzlicher Weise ehrt, der ehrt sie, wie er soll? – Ganz natürlich. – Und wer sie ehrt, wie er soll, der ist gottesfürchtig? – Gewiß. – So würde also der Begriff richtig definirt sein, wenn wir sagen, der sei gottesfürchtig, welcher wisse, was in Rücksicht auf die Götter gesetzlich sei? – So scheint es mir wenigstens. –

5. Aber mit den Menschen, fuhr Sokrates fort, kann jeder umgehen, wie er will? – Nein, sagte Euthydemos, sondern auch in dieser Hinsicht muß einer wissen, was die Gesetze über den Verkehr der Menschen unter einander bestimmen, um gesetzlich zu sein. – Und diejenigen Menschen, welche nach diesen Bestimmungen unter einander verkehren, benehmen sich, wie sie sollen? – Ohne Zweifel. – Und wer sich benimmt, wie er soll, benimmt sich gut? – Unstreitig. – Und wer sich gegen die Menschen gut benimmt, dem wird es auch in den menschlichen Verhältnissen gut gehen? – Natürlich. –

6. Handeln wohl die, welche den Gesetzen gehorchen, gerecht? – Allerdings. – Weißt du, was man gerecht nennt? – Ja, was die Gesetze befehlen. – Wer also thut, was die Gesetze befehlen, der thut was gerecht ist und was er soll? – Ohne Zweifel. – [Und wer thut, sagte Sokrates, was gerecht ist, der ist gerecht? – Ich denke, antwortete Euthydemos. – ] Die eingeklammerte Frage und Antwort halten Weiske, Schütz und Herbst mit Recht für unecht. Kann nun einer den Gesetzen gehorchen, ohne daß er weiß, was dieselben verordnen? – Nein. – Und wenn einer weiß, was er thun soll, kann er glauben, er sollte es nicht thun? – Ich denke nicht. – Kennst du aber Leute, die etwas anders thun, als ihnen zu thun nöthig erscheint? – Nein, sagte Euthydemos. – Wer also weiß, was in Rücksicht auf die Menschen gesetzlich ist, der thut auch, was gerecht ist? – Allerdings. – Sind nun aber nicht die, welche das Gerechte thun, gerecht? – Ganz gewiß. – Werden wir also den Begriff richtig definiren, wenn wir sagen, gerecht seien diejenigen, welche wissen, was in Rücksicht auf die Menschen gesetzlich ist? – So scheint es mir wenigstens. –

7. Wie könnten wir aber Weisheit erklären? Sage mir, scheinen dir die Weisen nur darin weise zu sein, was sie wissen, oder sind einige auch in dem weise, was sie nicht wissen? – Natürlich nur in dem, was sie wissen; wie könnten sie es auch in etwas sein, was sie nicht wissen? – So macht also das Wissen die Weisen? – Was könnte auch sonst anders die Weisen machen als das Wissen? – Glaubst du aber, daß Weisheit etwas anders sein könne, als wodurch man weise ist? – Ich glaube es nicht. – So ist denn also das Wissen Weisheit? – So glaube ich. – Scheint es dir nun möglich zu sein, daß ein Mensch alle Dinge wisse? – O beim Zeus, nicht einmal den tausendsten Theil davon. – So kann es also einen Menschen, der in allen Dingen weise wäre, nicht geben? – Gewiß nicht. – Jeder ist also nur in dem weise, was er weiß? – So denke ich wenigstens.

8. Ist nun nicht, Euthydemos, auch der Begriff des Guten auf diese Weise aufzusuchen? – Auf welche? – Meinst du, daß ein und dasselbe Ding allen nützlich sei?

– Nein. – Ist vielleicht sogar, was für das eine nützlich ist, für ein anderes bisweilen schädlich? – Natürlich. – Meinst du aber wohl, daß gut etwas anderes ist, als was nützlich ist? – Ich denke nicht. – Gut ist also das Nützliche für denjenigen, welchem es nützlich ist? – So scheint es mir, sagte Euthydemos.

9. Könnten wir das Schöne wohl anders definiren? oder kannst du mir etwas Schönes nennen, sei es ein Körper, ein schönes Geräth oder sonst etwas, was in jeder Beziehung schön wäre? – Ich weiß in der That nichts. – Wozu also ein jedes Ding brauchbar ist, dazu muß es gebraucht werden? – So ist es. – Ist nun überhaupt etwas in anderer Beziehung schön, als in Bezug auf das, wozu es schön zu gebrauchen ist? – Auch nicht in einer einzigen. – Schön ist also das Brauchbare in Bezug darauf, wozu es brauchbar ist? – So dünkt mich wenigstens. –

10. Hältst du ferner die Tapferkeit für etwas Schönes? – Ja, für etwas sehr Schönes. – Du glaubst also, daß es nicht die geringsten Dinge sind, wozu die Tapferkeit brauchbar ist? – Im Gegentheil, vielmehr die wichtigsten. – Meinst du denn,' es sei in Noth und Gefahren gut, seine Lage nicht zu kennen? – Nicht im mindesten. – Wenn also einer, fuhr Sokrates fort, die Gefahr nicht fürchtet, weil er sie nicht kennt, der ist auch nicht tapfer? – Auf keinen Fall, denn sonst müßte mancher Rasende und Feige tapfer sein. – Und wenn einer sich auch da fürchtet, wo keine Gefahr ist? – Der wahrhaftig noch viel weniger. – So hältst du wohl diejenigen für tapfer, welche in Noth und Gefahren brav sind, und diejenigen, welche in solchen Fällen schlecht sind, für feige? – Allerdings. –

11. Glaubst du aber, daß in solchen Fällen andere gut sind, als diejenigen, welche sich dabei recht benehmen können? – Nein, nur diese. – Und schlecht also diejenigen, die sich dabei schlecht benehmen? – Welche sonst? – Benimmt sich nun nicht jeder, wie er glaubt, daß er muß? – Natürlich. – Wissen nun wohl die, welche sich nicht schön benehmen können, wie sie sich benehmen sollen? – Nicht wohl. – Wer also weiß, wie er sich benehmen soll, der kann es auch? – Ja. – Nun, und wer nicht auf einen falschen Weg gerathen ist, benimmt sich der in solchen Fällen schlecht? – Ich meine nicht. – Auf einem solchen Wege sind also die, welche sich schlecht benehmen? – Natürlich. – Demnach sind also die, welche sich in Noth und Gefahren recht zu benehmen wissen, tapfer, die aber, welche hierin den richtigen Weg verfehlen, feige? – So scheint es mir.

12. Das Königthum und die Tyrannenherrschaft erkannte er als Herrschergewalten an, glaubte aber, daß ein Unterschied zwischen beiden sei. Königthum nannte er diejenige Herrschergewalt, welche mit dem Willen der Menschen und nach den Gesetzen bestehe, Tyrannenherrschaft dagegen eine solche, die gegen den Willen der Menschen und nicht nach den Gesetzen, sondern nach der Willkür des Herrschers gehandhabt werde. Wo die oberste Gewalt in den Händen derer sei, welche die Gesetze erfüllen, da nannte er die Verfassung eine Aristokratie (Herrschaft der Besten), wo die Reichen die Oberhand haben, eine Plutokratie (Geldherrschaft), an welcher aber alle teilnehmen, eine Demokratie (Volksherrschaft).

13. Wenn ihm einer in irgend einem Punkte widersprach, ohne einen bestimmten Grund zu haben, sondern ohne einen Beweis z. B. behauptete, daß der von ihm Genannte ein größerer Weiser, Staatsmann oder Held, oder in sonst etwas dergleichen besser sei als der, welchen Sokrates nannte, so führte er gewöhnlich die ganze Streitsache auf die Voraussetzung zurück, ungefähr so:

14. Hältst du den, welchen du rühmend nennst, für einen besseren Bürger als den von mir genannten? – Allerdings, sagte jener. – Wollen wir also nicht zuerst untersuchen, was zu einem guten Bürger gehört? – Ja wohl. – Wird nicht z.B. bei der Verwaltung der Staatskasse derjenige besser sein, welcher das Staatsvermögen vermehrt? – Natürlich. – Und im Kriege der, welcher seinem Vaterlande den Sieg über die Feinde verschafft? – Ohne Zweifel. – Und bei einer Gesandtschaft der, welcher aus Feinden Freunde macht? – Selbstverständlich. – In der Volksversammlung endlich der, welcher den Parteiungen ein Ende macht und Eintracht stiftet? – Natürlich. –

15. Durch diese Zurückführung der Reden auf die Grundfragen machte er auch den Gegnern die Wahrheit einleuchtend; wenn er aber selbst etwas auszuführen suchte, so ging er von den am meisten anerkannten Wahrheiten aus, indem er glaubte, daß dies die rechte Sicherheit der Rede sei. Daher weiß ich auch keinen, der es so verstanden hätte, die Zustimmung seiner Zuhörer zu erringen, wie er, wenn er sprach. Darum habe auch Homer, sagte er, dem Odysseus das Lob eines sicheren Redners zuertheilt, Odyssee VIII, 171, wo sich Odysseus selbst schildert. weil dieser es verstanden habe, seine Reden auf allgemein angenommene Wahrheiten zu stützen.


 << zurück weiter >>